Alte Rechnungen und falsche Schuldner - Ursula Schmidt - E-Book

Alte Rechnungen und falsche Schuldner E-Book

Ursula Schmidt

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Beschreibung

Tom könnte seinem Pastor schnell dafür vergeben, dass er ihn gestern hat auflaufen lassen. Aber er ist zutiefst enttäuscht, schwer verletzt und macht ihm heftige Vorwürfe, die er auch nicht für sich behalten kann. Toms eigentliche Vergebungsaufgabe besteht jedoch gegenüber seinem cholerischen Vater: Unbewusst überträgt er Gefühle aus seiner Vaterbeziehung auf den Pastor. Die Verletzung, die Lisa durch eine Unhöflichkeit der Seelsorgerin beim letzten Gespräch erlebt hat, wäre schnell geheilt. Aber ihre tiefen Schmerzen, die eigentlichen Wunden aufgrund der Vernachlässigung durch die Mutter, die bleiben weiterhin verdrängt, unbeachtet, ungeheilt. Immer wieder erleben wir in aktuellen Beziehungen aufgewühlte Gefühle, Konflikte oder Enttäuschungen, die eigentlich zu früheren Erfahrungen gehören, die wir aber unwissentlich auf unser gegenwärtiges Gegenüber, den falschen Schuldner, übertragen. Sigmund Freud hat dieses Phänomen beschrieben und dafür den Begriff „Übertragung“ geprägt. Ihren häufig verwirrenden und zerstörerischen Einfluss findet man in Ehen, Gemeinden, Beratungssituationen, unter Arbeitskollegen: überall dort, wo Menschen miteinander zu tun haben. Bleibt Übertragung unerkannt, kann sie verheerende Folgen für Einzelne und Organisationen nach sich ziehen. Ein wichtiges Buch zu einer allgegenwärtigen Thematik, die große Auswirkungen hat, kenntnisreich und gut lesbar geschrieben.

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© Copyright 2016 by Asaph-Verlag

2. Auflage 2017

Bibelzitate wurden der Lutherübersetzung 1984

© 1984 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart, entnommen.

Umschlaggestaltung: joussenkarliczek, Schorndorf

(unter Verwendung eines Motivs von © istockphoto.com/Fosin2)

Satz/DTP: Jens Wirth

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

ISBN 978-3-95459-581-5

Bestellnummer 148003

Für kostenlose Informationen über unser umfangreiches Lieferprogramm an christlicher Literatur, Musik und vielem mehr wenden Sie sich bitte an:

Fontis Media GmbH, Postfach 2889, D-58478 Lüdenscheid

[email protected] – www.fontis-shop.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Einleitung

Kapitel 1: Wie entsteht Übertragung?

Alte Konflikte in heutigen Beziehungen

Bearbeiten oder vergeben?

Kapitel 2: Dynamik von Übertragung

Suche nach dem Happy End

Positive Übertragung

Negative Übertragung

Die destruktive Seite der Übertragung

Kapitel 3: Was löst Übertragung aus?

Situationen

Umfeld

Personen

Kapitel 4: Übertragung in Ehe und Partnerschaft

Kapitel 5: Übertragung in christlichen Gemeinden

Gemeinde – ein Ort der Heilung?

Göttliche und menschliche Liebe

Religiöser Missbrauch?

Kapitel 6: Folgen für den Übertragenden

Typisch!

Vergebliche Versuche geistlicher Bearbeitung

Vergebliche Beziehungsklärung

Einbeziehen anderer

Die Macht der Lügen

Kapitel 7: Folgen für das Opfer einer Übertragung

No-Win-Situation

Weitere Übertragungen werden ausgelöst

Ein allgemeines „Kesseltreiben“

Kapitel 8: Zwei Beispiele

Elsa

Ein Gemeinde-Leitungsteam

Kapitel 9: Umgang mit Übertragung

Was nicht hilft

Was dem Opfer einer Übertragung hilft

Was demjenigen hilft, der verletzt ist und überträgt

Kapitel 10: Eine dringende Warnung vor Missbrauch

Kapitel 11: Übertragung im Kontext Beratung

Das Dramadreieck

Eine andere Sicht einnehmen

Kapitel 12: Übertragung in der Beratungsbeziehung

Geistliche Elternschaft

Klare Angebote?

Den eigenen Mangel füllen

Übertragung beim Berater

Übertragung auf den Berater

Fruchtbarmachen positiver Übertragung

Thematisieren von negativer Übertragung

Schutz vor destruktiven Auswirkungen

Traumatisierte Klienten

Kapitel 13:Gegenübertragung

Was ist Gegenübertragung?

Empathische Gegenübertragung

Reaktive Gegenübertragung

Fruchtbarmachen von Gegenübertragung

Selbstreflexion und Supervision

Kapitel 14: Pflege- und Adoptivkinder und das Thema Übertragung

Kapitel 15: Übertragung in der Gottesbeziehung

Anmerkungen

Weitere Bücher

Vorwort

Ich erinnere mich an etliche unerfreuliche Begebenheiten in meinem Leben, wo sich aus geringem Anlass heftige Konflikte entwickelten, die nicht zu lösen waren. Wurde solch ein Konflikt öffentlich, bildeten sich bald „Fanclubs“, die den Streit weiter eskalieren ließen und neue Konflikte zwischen anderen Personen schufen. Unbeteiligte waren ratlos, Vermittlungsversuche von Freunden und auch fachliche Mediationen verpufften wirkungslos. Alle Beteiligten beanspruchten für sich absolute Aufrichtigkeit, jeder fühlte sich der Wahrheit verpflichtet, jeder wollte nur „das Beste“ – und trotzdem schlitterten die beteiligten Parteien unaufhaltsam in eine Beziehungskatastrophe. Sehr spezifische Erwartungen, unweise Formulierungen, emotionale Entgleisungen, zunehmende Respektlosigkeiten und Unterstellungen, Verdrehen von Tatsachen und Lügen schufen ein Klima des Misstrauens, an dem schließlich Ehen, langjährige Freundschaften, Familienclans und Gemeinden zerbrachen.

Derartige Konflikte waren für mich jahrelang ein Rätsel. – Wie konnte so etwas nur passieren? – Und das bei aufrichtigen Christen! – Welche zerstörerischen Mechanismen waren hier am Werk? – Niemand hatte das katastrophale Ende gewollt, und doch hatte jeder dazu beigetragen.

Bei unserer ersten Seelsorgekonferenz erhielt ich den Schlüssel. Beim Thema Übertragung saßen die Zuhörer gebannt auf der Stuhlkante. Ihre Gesichter spiegelten Betroffenheit, Trauer, Schmerz und Erleichterung. Es war für viele eine Offenbarung: „Aha, endlich verstehe ich, warum …“ Bei den nächsten Konferenzen war es ähnlich. Das Wissen um Übertragung ist der Schlüssel, um die Dynamik vieler unlösbarer Konflikte verstehen zu können. In unserer Beraterausbildung bei Team. F ist es ein wichtiges Thema geworden.

Aus dem Wunsch, dieses Thema vielen enttäuschten, ratlosen und konfliktmüden Menschen zugänglich zu machen, entstand dieses Buch. Ich freue mich, dass Ursula Roderus und Ursula Schmidt dieses Thema so anschaulich und praktisch beschreiben. Beim Lesen werden Sie sicherlich etliche Aha-Erlebnisse haben. Aber vor allem ist es mein Wunsch und Gebet, dass Sie, lieber Leser, nicht nur bei anderen Übertragungsproblematiken erkennen, sondern vor allem Ihren eigenen Übertragungen auf die Spur kommen und sie bewältigen: „Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge und nimmst nicht wahr den Balken in deinem Auge?“ (Matthäus 7,3).

Dirk Lüling, Team. F

Einleitung

Nicht immer gehören aufgewühlte Gefühle, Konflikte oder Enttäuschungen, die wir in aktuellen Beziehungen erleben, tatsächlich nur zum Hier und Heute. Frühere Erfahrungen, vor allem Beziehungserfahrungen, haben ihre Spuren in uns hinterlassen. Entstandene Prägungen bringen wir mit in neue aktuelle Begegnungen und reagieren dementsprechend. So können gute und schlechte Erfahrungen, unerfüllte Erwartungen, frühere Enttäuschungen und Konflikte heutige Beziehungen beeinflussen. Dies spielt in vielen Lebenssituationen eine Rolle, besonders aber dort, wo wir viel von einem anderen Menschen erwarten, erhoffen oder befürchten – im freundschaftlichen Miteinander, in Gemeinden, im Beruf, in der Ehe und in Seelsorge, Beratung und Therapie.

Wenn wir Übertragung als Realität akzeptieren, ihre Dynamik und die damit verbundenen Zusammenhänge verstehen lernen, können wir Verwirrung und Missverständnisse in Beziehungen besser einordnen und Konflikten vorbeugen. Dies ist wichtig, denn Übertragung hat Folgen: für den Menschen, der überträgt, ebenso wie für den Menschen, auf den übertragen wird, und noch dazu auf die Umgebung dieser beiden. Bleibt Übertragung unerkannt, hat sie das Potenzial, Beziehung zu zerstören.

Der erste Eindruck

Wie lange dauert es, bis wir uns einen Eindruck von einem anderen Menschen verschafft haben?

In den Hauskreis kommt heute jemand Neues. Die Teilnehmer wissen nicht so recht, ob sie sich freuen sollen oder eher nicht. Frischer Wind ist bestimmt gut, aber andererseits haben alle sich gerade doch so gut zusammengefunden. Es klingelt, die Tür geht auf …

Laut Untersuchungen brauchen wir 90 Sekunden, um uns eine Meinung über einen Menschen zu bilden. Mit anderen Worten: Wir öffnen eine Schublade, die nach unserer Einschätzung passt, stecken die Person hinein – und dann bleibt sie erst einmal dort. Wir geben Menschen kaum eine Chance, aus der anfangs erfolgten Klassifizierung wieder herauszukommen. In welche Schublade eine Person geschoben wird, hat mit unseren persönlichen bisherigen Beziehungserfahrungen zu tun. Es kann durchaus sein, dass wir uns bei der Einsortierung irren, aber so schnell diese erste Sortierung erfolgt, so schwer ist es, sie später wieder zu verändern.

Kapitel 1

Wie entsteht Übertragung?

Bei Übertragung spielen solche „Schubladen“ eine wichtige Rolle, Schubladen, die gefüllt sind mit bisherigen Beziehungserfahrungen.

Der Begriff Übertragung wurde zum ersten Mal Anfang des 20. Jahrhunderts vom Psychoanalytiker Sigmund Freud definiert. Übertragung und Gegenübertragung sind auch heute noch wichtige Begriffe in Psychotherapie und Beratung. Vor allem in der psychoanalytischen Behandlung werden Übertragungen besonders beachtet und sind Grundlage der gemeinsamen Arbeit.

Alte Konflikte in heutigen Beziehungen

Das Thema Übertragung spielt nicht nur in der Psychotherapie eine wichtige Rolle. In unserem Leben haben wir ständig damit zu tun. Übertragung findet statt, wenn eine Person unbewusst Erwartungen, Hoffnungen, Sehnsüchte, Überzeugungen, Ängste und Befürchtungen aus früheren Beziehungserfahrungen auf ein aktuelles Gegenüber richtet. Alte, oft ungelöste und verdrängte Konflikte führen in gegenwärtigen Beziehungen zur Verzerrung der Wahrnehmung. Meist handelt es sich um tiefe Wünsche, unerfüllte Bedürfnisse, Mangelerfahrungen und Enttäuschungen aus der Kindheit und Jugend. Diese werden in der Begegnung mit dem Partner, mit Kollegen, Vorgesetzten, Gemeindeleitern, Seelsorgern usw. wiederbelebt. So kann die Partnerin wie die überfürsorgliche Mutter wahrgenommen werden, der Arbeitskollege wie ein rivalisierender Bruder, der Pastor wie der dominante Vater.

Eine Person in der Gegenwart wird so erlebt, als wäre sie die Person aus der Vergangenheit. Haltungen und Gefühle, positive wie negative, die zur früheren Beziehung gehören, werden auf die neue Person der Gegenwart verlagert. In der aktuellen Begegnung spürt die übertragende Person den alten Schmerz, Zorn, Ärger, das Misstrauen, die Eifersucht und Zurückweisung, die Empfindung, nicht wahrgenommen zu werden – alles Gefühle, die eigentlich zur Vergangenheit gehören. Auch intensive warme und liebevolle Gefühle, besondere Zuneigung und Sich-hingezogen-Fühlen können dabei empfunden werden. Das, was sich in früheren Beziehungserfahrungen entwickelt hat und damals situationsangemessen war, wird heute in eine andere Situation mit einem anderen Menschen übertragen und ist hier meist nicht angemessen.

Besonders leicht übertragen Menschen, die nicht gelöste Konflikte, Verletzungen, Erschütterungen und Enttäuschungen in sich tragen.

Verdrängt

Meist ist uns nicht bewusst, dass wir Unverarbeitetes, Verletzungen und damit verbundene Gefühle in uns tragen. Wieso ist das so? Typischerweise verdrängen Menschen Erfahrungen, die schwer oder unangenehm waren. Damit verbundene Gefühle wie Schmerz, Scham, Zorn will man nicht mehr fühlen. Verdrängung ist ein Mechanismus, um gut weiterleben und funktionieren zu können. Besonders in der Kindheit werden Erfahrungen, die man nicht verarbeiten und lösen kann, ganz weit „nach hinten“, tief ins Innere geschoben.

Auch als Erwachsener stellt man sich Schmerzhaftem nicht so gerne. „Die Zeit heilt alle Wunden“, heißt es. Warum sich also mit den traurigen Erfahrungen der Kindheit beschäftigen? Das ist doch längst vorbei! Aber Gefühle, die verdrängt sind, arbeiten sich nach oben. Selbst wenn man sich tatsächlich nicht erinnern kann, weil man noch sehr, sehr klein war, als man etwas Schwieriges erlebte, Gefühle und innere Reaktionen sind trotzdem „gespeichert“.

Was verdrängt ist, kann zugänglich werden. Heutige Beziehungsprobleme können zum Hinweis auf frühere Erfahrungen und daraus entstandene Denk- und Verhaltensmuster werden und so zu einer nachträglichen Verarbeitung führen.

Auch wenn für uns „Verdrängung“ eher negativ und ungesund klingt, müssen wir verstehen, dass Verdrängung zu bestimmten Zeiten ihren Platz hat, z.B. wenn man gerade nicht stabil genug ist, um sich einer Wahrheit zu stellen, als Kind damit überfordert ist, die Zusammenhänge zu verstehen und einzuordnen, oder man sich in einer Situation befindet, in der eine Verarbeitung aufgrund äußerer Umstände gerade nicht möglich ist.

(U.R.) Meine Mutter lag unerwartet im Sterben. Wir begleiteten sie als Familie bis zu ihrem Tod. Am nächsten Tag musste ich wieder arbeiten. Als Traumatherapeutin hatte ich mehrere Gespräche zu führen. Ich musste in dieser Situation meinen Schmerz und meine Trauer wegdrängen, um meinen Klienten gerecht werden zu können.

Abgespalten

Manchmal haben Menschen in ihrer Vergangenheit aber derartig schlimme Dinge erlebt, dass sie gar nicht hätten weiterleben können, ohne diese Geschehnisse wegzupacken und tief im Inneren zu vergraben. Wir sprechen von Traumata, sehr bedrohlichen, lebenserschütternden Ereignissen wie emotionalem, körperlichem, sexuellem und geistlichem Missbrauch, Krieg, Flucht, schweren Unfällen, Verlusten oder lebensbedrohlichen Krankheiten.

Je jünger ein Mensch, desto weniger Bewältigungsmöglichkeiten stehen ihm zur Verfügung. Kommen nun noch negative Erfahrungen mit den primären Bindungspersonen (in der Regel den Eltern) dazu, erfährt das Kind also keine Hilfe und Rückhalt bei der Bewältigung des traumatischen Erlebnisses, sind Auswirkungen besonders tief. Die traumatischen Erfahrungen, einschließlich der damit verbundenen Gefühle und Überzeugungen, werden abgespalten und im sogenannten Traumagedächtnis abgespeichert. Dort sind sie dem normalen Bewusstsein nicht direkt zugänglich. Gefühle, Bilder, Überzeugungen und Verhaltensmuster von damals können jedoch ins Heute geschwemmt werden. Dies kann durch äußere Auslöser (bestimmte Situationen oder Umstände, Begegnungen mit Menschen, Geräusche, Gerüche …) oder innere Auslöser (spezielle Gefühle wie Ärger, Angst, Zuneigung …) geschehen. Die Betroffenen können heute plötzlich massiv auftauchende Gefühle und Gedanken nicht der früheren Situation zuordnen. Sie verstehen meist gar nicht, woher diese kommen und womit sie tatsächlich zu tun haben.

Deshalb sind bei traumatisierten Menschen traumabasiert entstandene Denk- und Verhaltensmuster besonders ausgeprägt und oft wenig kontrollierbar. Eine typische Störung, bei der Trauma häufig als Ursache eine Rolle spielt, ist die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Hier kann man beobachten, wie Übertragung in heutige Beziehungen stattfindet, zu Konflikten führt und immer wieder sehr zerstörerische Auswirkungen hat. Erst durch eine Aufarbeitung dessen, was früher geschehen ist, können Zusammenhänge erkannt und verstanden werden. Dazu kann eine traumaspezifische Begleitung in Therapie und Beratung sehr hilfreich sein.

Bearbeiten oder vergeben?

Vergebungsbereitschaft ist für Christen eine wichtige Haltung. Jesus fordert uns auf, unseren Schuldigern zu vergeben. Vergebung kann uns frei machen, sodass wir nicht im Groll und in Vorwürfen gefangen bleiben müssen. Letztendlich ist Vergebung auch ein wichtiger Schlüssel, damit ungelöste Konflikte und alte Verletzungen zur Ruhe kommen können, sodass Übertragung keine Grundlage hat. Unserer Überzeugung nach ist Vergebung allerdings ein Prozess. Dieser beginnt damit, sich den Verletzungen und den eigenen Reaktionen darauf zu stellen. Dies bedeutet, zuerst wahrzunehmen, was eigentlich geschehen ist, welche Verletzungen die Schuld des anderen in mir verursacht hat und welche Folgen dies für mein Leben hatte. Dazu gehört auch, Gefühle von Zorn, Anklage oder Hass auf den anderen erst einmal zuzulassen. Dann geht es darum, von Gott Trost und Heilung zu erfahren. In einem weiteren Schritt überlege ich, welche inneren Überzeugungen, Festlegungen und Verhaltensweisen ich als Reaktion darauf entwickelt habe, sodass auch ich mich ändern kann: Ich will meinen eigenen Anteil in der Problematik erkennen und bekennen. An einem bestimmten Punkt auf diesem Weg (oder immer wieder) ist es notwendig, den anderen bewusst an Gott loszulassen, das heißt, ihn dem gerechten Gericht Gottes zu überlassen1 und selber auf Rache zu verzichten, ihm also zu vergeben.

Oft vergeben wir als Christen pauschal allen, die an uns schuldig geworden sind. Können wir aber wirklich loslassen, was wir noch gar nicht erfasst haben, noch nicht wirklich in Händen halten? Dient Vergebung in einem solchen Fall nicht vielmehr einem trügerischen Seelenfrieden?