Alte Wunden - Antonio Manzini - E-Book
SONDERANGEBOT

Alte Wunden E-Book

Antonio Manzini

0,0
7,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 7,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Laune: legendär schlecht. Skrupel: null. Talent, Mordfälle zu lösen: brillant. Zehn Paar Herrenslipper hat Rocco Schiavone an den Schnee verloren, seit er vor acht Monaten in das trostlose Aosta-Tal strafversetzt wurde. Der römische Kommissar hasst die Kälte, das Bergvolk, und vor allem hasst er seinen Job. Doch als die Schülerin Chiara nach einer Nacht in der Disco spurlos verschwindet, ist sein Ehrgeiz geweckt. Denn obwohl alles auf eine Entführung hindeutet, leugnen Chiaras Eltern hartnäckig, dass sie Opfer eines Verbrechens wurde. Aber dann verdichten sich die Hinweise darauf, dass das Mädchen in den Bergen gefangengehalten wird. Und während es, mitten im Mai, erneut zu schneien beginnt, gerät nicht nur Chiaras Leben in Gefahr. Denn jemand aus Roccos Vergangenheit hat noch eine Rechnung mit ihm offen …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 381

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Antonio Manzini

Alte Wunden

Kriminalroman

Aus dem Italienischen von Anja Rüdiger

Über dieses Buch

Laune: legendär schlecht.

Skrupel: null.

Talent, Mordfälle zu lösen: brillant.

 

Zehn Paar Herrenslipper hat Rocco Schiavone an den Schnee verloren, seit er vor acht Monaten in das trostlose Aosta-Tal strafversetzt wurde. Der römische Kommissar hasst die Kälte, das Bergvolk, und vor allem hasst er seinen Job. Doch als die Schülerin Chiara nach einer Nacht in der Disco spurlos verschwindet, ist sein Ehrgeiz geweckt. Denn obwohl alles auf eine Entführung hindeutet, leugnen Chiaras Eltern hartnäckig, dass sie Opfer eines Verbrechens wurde. Aber dann verdichten sich die Hinweise darauf, dass das Mädchen in den Bergen gefangengehalten wird. Und während es, mitten im Mai, erneut zu schneien beginnt, gerät nicht nur Chiaras Leben in Gefahr. Denn jemand aus Roccos Vergangenheit hat noch eine Rechnung mit ihm offen …

Vita

Antonio Manzini, geboren 1964 in Rom, ist Schauspieler, Regisseur und Drehbuchautor. Seine Kriminalromane um den charismatischen Ermittler Rocco Schiavone stehen in Italien regelmäßig an der Spitze der Bestsellerliste.

«Oh, oh, böse, böse Miezekatze!»

 

Tweety

Montag

Ein Blitz zerriss die nächtliche Dunkelheit und tauchte den weißen Lieferwagen, der mit hoher Geschwindigkeit von Saint-Vincent nach Aosta hinunterfuhr, für einen Moment in gleißend helles Licht.

«Es fängt gleich an zu regnen», sagte der Italiener am Steuer.

«Dann fahr langsamer», entgegnete der andere mit ausländischem Akzent.

Es donnerte, und dann klatschte der Regen gegen die Windschutzscheibe. Der Italiener schaltete die Scheibenwischer und das Fernlicht an, drückte aber weiter aufs Gas.

«Bei so viel Wasser wird die Straße so glatt wie Schmierseife», sagte der Ausländer und nahm sein Handy aus der Jackentasche.

Doch der Italiener fuhr noch immer nicht langsamer.

Der Ausländer faltete ein Stück Papier auseinander und gab eine Telefonnummer in sein Handy ein.

«Warum hast du die Nummer nicht eingespeichert wie jeder normale Mensch?»

«Geht nicht. Der Speicher ist voll. Und kümmere du dich um deinen Scheiß!», antwortete der andere, während er die letzten Zahlen eintippte. Der Lieferwagen fuhr durch ein Schlagloch, und die beiden Insassen wurden hin und her geschüttelt.

«Ich kotz gleich!», sagte der Mann mit dem ausländischen Akzent und hielt sich das Handy ans Ohr.

«Wen rufst du an?»

Der Ausländer antwortete nicht. Am anderen Ende der Leitung meldete sich jemand: «Pronto … wer spricht da?» Der Anrufer verzog das Gesicht und beendete das Telefonat. «Falsch verbunden», murmelte er. Nervös steckte er das Telefon wieder ein und blickte aus dem Fenster. Die Straße war extrem kurvenreich, und erst im letzten Moment tauchte ein Schild auf, das vor der nächsten besonders engen Kurve warnte. Der lädierte Motor und der rostige Auspuff des alten Wagens machten Geräusche, als würde ein Haufen Schrott eine Treppe hinuntergeworfen. Die Werkzeugkiste im Laderaum rutschte hin und her.

«Wie es aussieht, sind wir mitten in eine Sintflut geraten, mein Freund!»

«Ich bin nicht dein Freund», entgegnete der Ausländer.

Trotz des Fernlichts war von der Straße so gut wie nichts zu sehen. Der Italiener bearbeitete weiterhin die krachende Gangschaltung und trat aufs Gaspedal.

«Warum fährst du nicht langsamer?»

«Weil es gleich hell wird. Und in der Morgendämmerung will ich zu Hause sein! Rauch eine Zigarette und geh mir nicht auf den Sack, Slawomir.»

Der Ausländer kratzte sich den Bart. «Nenn mich nicht Slawomir, du Arschloch. Slawomir ist ein polnischer Name, und ich bin kein Pole.»

«Polen, Serben, Bulgaren … für mich seid ihr alle gleich.»

«Du bist ein dämlicher Vollidiot.»

«Warum? Hab ich nicht recht? Ihr seid doch alle Abschaum. Diebe und Zigeuner.» Der Italiener lachte dreckig. Dann fügte er hinzu: «Machen dir die Kurven etwa Angst?» Er lachte erneut. «He, Zigeuner, hast du Schiss?»

«Ich habe Angst, weil du ein Scheißfahrer bist. Und ich bin kein Zigeuner.»

«Bist du jetzt etwa wütend? Ist doch nicht schlimm, wenn du ein Zigeuner bist. Du musst dich nicht schämen …»

Ein plötzlicher Knall unterbrach ihn. Der Lieferwagen neigte sich zur Seite.

«Verdammte Scheiße!» Der Fahrer versuchte gegenzulenken.

Der Ausländer brüllte, der Italiener brüllte, und die drei übriggebliebenen Reifen quietschten. So lange, bis der nächste Reifen platzte und der Lieferwagen einen Satz nach vorn machte. Er durchbrach einen Holzzaun, fuhr das Schild um, das die erlaubte Höchstgeschwindigkeit anzeigte, und krachte gegen zwei Lärchen am Straßenrand, die den Wagen abrupt zum Stehen brachten. Der Aufprall hatte die Windschutzscheibe zersplittert und die Scheibenwischer verbogen.

Der Ausländer und der Italiener saßen reglos auf den Sitzen, die Blicke starr irgendwo in die Ferne gerichtet, zusammengesunken wie zwei Marionetten mit durchgeschnittenen Fäden. Aus Mund und Augen lief Blut. Ein weiterer Blitz zuckte über den Himmel und erhellte für einen Moment die erloschenen Gesichter und die starren Pupillen der beiden Männer.

Der Regen prasselte nach wie vor heftig auf das Dach des völlig zerbeulten Lieferwagens. Mit noch immer leuchtenden Scheinwerfern ruckelte das Fahrzeug noch eine Weile auf dem aus der Erde ragenden Wurzelwerk der Bäume hin und her. Dann kamen mit einem letzten Ruck, der die leblosen Körper im Inneren des Wagens noch einmal aufrüttelte, auch die Räder zum Stehen. Der Motor schwieg.

Zwischen dem Moment, da der erste Reifen geplatzt war, bis zu dem Aufprall auf die Bäume waren nur dreißig Sekunden vergangen.

Dreißig Sekunden. Ein Nichts. Ein Seufzer.

 

Dreißig Sekunden brauchte Vicequestore Rocco Schiavone, um zu realisieren, wo er sich befand. Eine Ewigkeit.

Im Moment des Aufwachens erkannte er weder die Wände, die Türen noch den Geruch seiner Umgebung wieder. Mit schlaftrunkenem Blick sah er sich um. Dass der Raum im Halbdunkeln lag, erschwerte das Ganze. Er befand sich in einem fremden Bett, in einem fremden Zimmer, in einer fremden Wohnung. Und mit größter Wahrscheinlichkeit auch in einem fremden Haus. Er hoffte, dass zumindest die Stadt noch die war, in der er sich am Vortag aufgehalten hatte, die, in der er seit fast acht Monaten lebte und die Strafe für seinen Fehltritt verbüßte: Aosta.

Zur Lösung des Rätsels um seinen Aufenthaltsort trug entscheidend der Frauenkörper bei, den er direkt neben sich entdeckte. Sie schlief tief und fest. Das schwarze Haar ausgebreitet auf dem Kissen. Ihre Augen hinter den geschlossenen Lidern zuckten ein wenig. Sie hatte die Lippen leicht geöffnet, als küsste sie jemanden im Traum. Eines ihrer Beine war nicht zugedeckt, der Fuß hing über die Matratze. Anna.

War er etwa bei ihr eingeschlafen? Was war mit ihm los? Ein unverzeihlicher Fehler! Der erste falsche Schritt, der das Risiko der Gewohnheit heraufbeschwor! Die drohende Gefahr der ungewünschten Integration in diese Stadt, der Annäherung an ihre Bewohner. Zutiefst erschrocken fuhr Rocco auf und rieb sich übers Gesicht.

Das gibt es doch gar nicht! In all den Monaten hatte er nicht eine Nacht woanders geschlafen als zu Hause. Wenn er damit anfing … kam der Rest ganz schnell. Wenn er anfing, regelmäßig in Bars zu gehen, mit dem Obsthändler und dem Verkäufer im Tabakladen Bekanntschaft zu schließen oder sogar mit dem Mann im Zeitschriftenkiosk, um dann bei dem fatalen Satz des Barista zu landen: «Dottore, wie immer?» – dann war es passiert! Dann würde er automatisch zu einem Aostaner werden.

Er stellte die Füße auf den Boden. Warm. Haarig. Teppich. Er stand auf, und im bläulichen Halbdunkel, das an den Bauch eines Fisches erinnerte, wagte er sich in Richtung des Stuhls, auf dem ein Haufen Kleider lag. Seine. Er stieß mit dem Zeh gegen irgendeine Kante und wurde von einer Welle des Schmerzes übermannt.

Stumm ließ er sich zurück aufs Bett fallen und hielt sich den linken Fuß. Rocco wusste, dass es sich um die Art Schmerzen handelte, die sich anfangs heftig anfühlten, Gott sei Dank aber schnell wieder nachließen. Es reichte, für ein paar Sekunden die Zähne zusammenzubeißen, dann war es vorbei. Er fluchte, aber nur leise, denn er wollte die Frau neben sich nicht wecken. Nicht weil er ihren Schlaf nicht stören wollte, sondern weil sie garantiert mit ihm würde reden wollen, und dazu hatte er weder Zeit noch Lust. Sie murmelte ein paar unverständliche Worte vor sich hin, dann drehte sie sich um und schlief weiter. Je mehr der unbarmherzige Schmerz an den Zehen abebbte, desto deutlicher zogen vor seinem inneren Auge die Bilder des vergangenen Abends vorbei wie bei einer Diashow.

Die zufällige Begegnung mit Anna, der Freundin von Nora, seiner Ex, im Caffè Centrale. Ihr übliches Lächeln, der übliche Blick aus ihren Katzenaugen, von unten herauf, ein mörderischer Blick. Das übliche Spiel der düster-geheimnisvollen Lady aus der Provinz. Der Wein. Das Gelächter.

«Du weißt schon, Rocco, dass Nora erwartet, dass du sie früher oder später anrufst?»

«Du weißt schon, dass ich nicht mehr bei Nora anrufe?»

«Du weißt schon, dass ihr seit ihrem Geburtstag nicht mehr miteinander geredet habt?»

«Du weißt schon, dass mir das durchaus bewusst ist?»

«Du weißt schon, dass sie ziemlich an dir hängt?»

«Du weiß schon, dass Nora was mit dem Architekten Pietro Bucci-Irgendwas hat?»

Annas Lachen. Ein heiseres, bissiges, spöttisches Lachen, das Rocco ziemlich scharfmacht.

«Du weißt schon, dass du dich irrst. Pietro Bucci-Rivolta ist mein Jagdrevier.» Anna, die auf sich selbst weist und dabei die silberne Kette in ihrem Dekolleté zum Klingeln bringt.

«Warum interessierst du dich so für Nora und mich?»

«Du tust ihr weh.»

«Die Sache musste ein Ende haben. Ich bin eindeutig nicht der Mann, den sie braucht.»

«Woher willst du wissen, was Nora braucht? Es ist nicht viel, Rocco. Nora ist nicht anspruchsvoll. Nur die grundlegenden Dinge, das reicht ihr.»

Anna, die für sie beide noch einen Wein bestellt.

Dann noch einen.

«Gehen wir?»

Die Straße. Wenig Licht. Annas Hauseingang ganz in der Nähe von seinem.

«Ich wohne hier gleich um die Ecke.»

«Na, dann nichts wie nach Hause.»

Anna, die ihn anlächelt, mit ihren dunklen, blitzenden Augen. Der mörderische Katzenblick.

«Ich bin nicht wirklich dein Typ, oder, Anna?»

«Nein. Nicht wirklich. Na ja, du kannst dich sehen lassen. Die schmale Nase, der eindringliche Blick des Möchtegern-Latin-Lovers. Du bist groß, hast breite Schultern und volles Haar. Aber weißt du …? Mit einem wie dir würde ich nicht mal in die Seilbahn zur nächsten Skipiste steigen. Da würde ich lieber auf die nächste warten.»

«Die Situation wird dir erspart bleiben. Ich fahre nicht Ski.» Er streckt die Hand nach ihr aus. «Wir sehen uns.»

«Vielleicht … vielleicht auch nicht.»

Er stürzt sich auf sie. Küsst sie. Sie lässt es zu. Und mit der Hand hinter dem Rücken öffnet sie die Haustür.

Sie gehen hinauf.

Sie vögeln. Fünfundvierzig Minuten, vielleicht fünfzig. Für Rocco ein Erlebnis, das er so schnell nicht vergessen wird.

Annas wohlgeformter Busen. Ihr schwarzes Haar. Die muskulösen Beine.

«Ich mache Pilates.»

Die trainierten Arme.

«Pilates eben.»

Erschöpft und schwitzend auf dem Laken.

«Mädchen, ich bin nicht mehr der Jüngste.»

«Ich auch nicht.»

«Was ist mit Pilates?»

«Reicht nicht.»

«Du bist sehr schön.»

«Du nicht.»

Sie lachen.

«Wasser?»

«Wasser.»

Sie steht auf. Ihr fester Hintern. Er denkt: Aha, Pilates. Den Geräuschen des Kühlschranks entnimmt er, dass sie in der Küche ist. Sie kommt zurück ins Bett.

«Fesselst du mich beim nächsten Mal?»

«Mit Handschellen, wenn es dazu kommen sollte. Meine Spezialität, berufsbedingt.»

Rocco, der die Wasserflasche leert. Sie, die ihm die Bilder an den Wänden zeigt. Blumen und Landschaften. Sie malt, um sich an den langen Nachmittagen die Zeit zu vertreiben. Und er schläft ein wie ein Baby, während sie auf eine toskanische Küste weist.

 

Schnell zog er sich an. Socken, Hose, Hemd, seine Clarks, die Jacke, und auf leisen Sohlen schlich er sich aus Annas Wohnung.

Die Luft war kühl, weil es die ganze Nacht geregnet hatte und die Sonne noch nicht aufgegangen war. Doch ein heller Schimmer kündigte an, dass es ein schöner Tag werden würde. Als er den Blick hob, waren nur ein paar Schäfchenwolken am Himmel.

Er nahm sein Handy und sah nach, wie spät es war. Viertel nach sechs. Zu früh, um frühstücken zu gehen, aber zu spät, um sich noch mal ins Bett zu legen.

Er ging schnell und dicht an den Häuserwänden entlang wie eine von ihrem Streifzug zurückkehrende Katze, überquerte die beiden Straßen, die Annas Wohnung von der seinen entfernt lag, und war endlich zu Hause.

Wie zu erwarten, war die Wohnung leer. Selbst Marina war nicht da. Sie war weder im Bett noch im Wohnzimmer, um sich im Fernsehen die Frühnachrichten anzuschauen, noch im Bad unter der Dusche oder in der Küche, um Frühstück zu machen. Als hätte sie es gemerkt. Als hätte Marina das unberührte Bett gesehen und verstanden, dass Rocco die Nacht in einem fremden Schlafzimmer verbracht hatte. Zum ersten Mal nach all der Zeit hatte er woanders geschlafen, und vielleicht hatte ihr das nicht gefallen. Und nun war sie beleidigt und zeigte sich nicht.

Mit gesenktem Blick ging er ins Bad und stellte das warme Wasser an. Er zog sich aus und trat unter die Dusche, wusch sich die Haare und ließ sich das Wasser mehrere Minuten lang über den Rücken laufen. Er verließ die Dusche erst, als der Wasserdampf das Badezimmer in ein Hamam verwandelt hatte. Anschließend musste er mit der Hand über den Spiegel reiben, damit sich ihm das ganze Elend in seinem Gesicht offenbarte: die dunklen Ringe unter den Augen, die geröteten Lider, die Falten oberhalb der Wangenknochen. Er zog die Lippen hoch, um seine Zähne zu betrachten, und wartete darauf, dass Marina irgendwo in der dichten Dampfwolke auftauchte. Jedoch vergeblich. Also griff er nach der Rasierseife und schäumte sein Gesicht ein.

 

Um acht machte er halt in der Bar auf der Piazza Chanoux, der zweiten obligatorischen Station am Morgen. Dann ging er zu Fuß zur Questura. All das, ohne wahrzunehmen, dass über ihm der Himmel anstatt mit der üblichen Wolkendecke nun mit einem strahlenden Blau aufwartete.

Rocco schlich sich in sein Büro, wich dabei den Fragen von Agente Casella aus, der Pförtnerdienst hatte, und huschte unauffällig über den Flur. Dabei hoffte er, weder D’Intino noch Deruta zu begegnen, den beiden Agenti, die sich den Ehrentitel «Dick und Doof» wirklich verdient hatten.

Bevor Rocco sein Tagwerk begann, musste er einen Joint rauchen, und zwar in seinem Büro, wo er, auf dem Schreibtischsessel sitzend, die Beine ausstrecken konnte, bei geschlossener Tür und in Ruhe. Absoluter Ruhe.

Nach nur drei Zügen sah die Welt schon wieder freundlicher aus. Ja, wie es schien, war es nicht mehr so kalt draußen, und es würde ein ruhiger Tag im Büro werden.

Es klopfte an der Tür. Rocco verdrehte die Augen und drückte den Joint im Aschenbecher aus. «Wer ist da?»

Keine Antwort.

«Ich habe gesagt: Wer ist da?»

Noch immer nichts. Rocco stand auf und öffnete das Fenster, um den Cannabisgeruch abziehen zu lassen.

«Wer ist da, verdammt noch mal?», brüllte er nun und riss die Tür auf.

Es war D’Intino, der Agente aus den Abruzzen, der dort wie ein Wachhund Position bezogen hatte, ohne einen Ton von sich zu geben.

«D’Intino, was ist so schwierig daran, deinen Namen zu sagen?»

«Nichts, warum?»

«Weil ich seit einer Ewigkeit herumbrülle, um zu erfahren, wer an der Tür ist?»

«Ah, damit haben Sie mich gemeint?»

«Du hast doch geklopft, oder?»

«Klar.»

«Und wenn jemand an die Tür klopft und von drinnen jemand fragt: ‹Wer ist da?›, wer könnte dann deiner Meinung nach sonst noch gemeint sein?»

«Ich weiß nicht …»

«Hör zu, D’Intino, ich will diesen Tag nicht ruinieren, der für mich ganz gut angefangen hat. Daher bin ich mal so nett und werde zu verstehen versuchen, was hier schiefläuft. Noch mal von vorn?»

D’Intino nickte.

«Ich mache die Tür jetzt zu, und du klopfst noch mal.»

Gesagt, getan. Rocco schloss die Tür. Wartete etwa zehn Sekunden. Nichts passierte.

«D’Intino, du musst anklopfen!», brüllte er dann.

Nach weiteren zehn Sekunden klopfte es an der Tür.

«Gut. Wer ist da?», rief Rocco.

Keine Antwort.

«Ich habe gesagt: Wer ist da?»

«Ich.»

«Wer ‹ich›?»

«Ich.»

Rocco öffnete erneut die Tür. Wie zu erwarten war, stand D’Intino noch immer dort.

«Also: Wer ‹ich›?»

«Aber, Dottore, Sie wissen doch, dass ich es bin.»

Rocco schlug D’Intino dreimal mit der flachen Hand auf den Kopf.

Der Agente zog den Kopf ein und reagierte mit leichtem Protest auf die Hiebe seines Chefs: «Ja, aber ich habe ‹ich› gesagt, weil Sie mich doch schon gesehen haben, oder? Und jetzt …»

«Stopp!», brüllte Rocco mit einer energischen Geste. «Es reicht, D’Intino! Wir haben jetzt klargestellt, dass du geklopft hast. Jetzt sag mir, was du willst!»

«Ein schrecklicher, wirklich schrecklicher Verkehrsunfall.»

«Und?»

«Zwei Tote.»

«Und weiter?»

«Wir sollen kommen.»

Rocco schlug verzweifelt die Hände vors Gesicht. Dann schrie er: «Pierron!» Er konnte D’Intino keine Sekunde länger ertragen und musste sofort mit jemandem reden, dessen Intelligenzquotient den eines Orang-Utans überstieg.

Zehn Sekunden später steckte Italo Pierron, der beste Agente, der für ihn arbeitete, den Kopf aus der Tür eines der Nachbarbüros. «Was ist, Dottore?»

«Was soll das mit dem Unfall?»

«Auf der Straße von Saint-Vincent … ein Lieferwagen. Zwei Tote.»

«Nimm D’Intino mit und fahr bitte hin.»

«Wirklich …?», meinte D’Intino und wies auf die eigene Brust.

«Was?»

«Dottore, meine Rippen tun immer noch weh.»

Anderthalb Monate zuvor hatte D’Intino nach einem tätlichen Angriff einen Nasenbeinbruch davongetragen. Dabei war er vor Schreck in eine Baugrube gefallen und hatte sich ein paar Rippen gebrochen, die ihm angeblich noch immer Schmerzen bereiteten. An dem Vorfall war außer D’Intino auch dessen schwergewichtiger Kollege Deruta beteiligt gewesen, der mit D’Intino um den Titel des geistig minderbemitteltsten Polizisten in der Questura wetteiferte. Die Aufzeichnung einer Überwachungskamera, die die Szene zufällig aufgenommen hatte, machte seither in der gesamten Questura und bei der Staatsanwaltschaft die Runde und war unter den Polizisten, Staatsanwälten und Richtern im ganzen Tal zum Kultfilm geworden. Die nur wenige Minuten dauernde Szene, in der die beiden Superpolizisten zu Höchstform aufliefen, um zwei junge Dealer festzunehmen, kam immer dann zum Einsatz, wenn jemand einen schlechten Tag hatte. In der Questura lief der Film regelmäßig im nur zeitweise besetzten Meldeamt, das für Italo Pierron und Ispettrice Caterina Rispoli zum heimlichen Treffpunkt für ihre romantischen Stelldicheins geworden war. Und neben Staatsanwalt Baldi zählte seit neuestem auch Andrea Corsi, der Questore, zu den Fans des filmischen Kunstwerks. Er lachte angesichts der Kapriolen seiner beiden Agenti jedes Mal Tränen. Der Einzige, dem sich die Komik dieses drei Minuten dauernden Stummfilms in Schwarzweiß nicht erschloss, war Alberto Fumagalli, der Rechtsmediziner. Ihn stimmte die Aufnahme im Gegenteil eher traurig. Eine Tatsache, der man jedoch keine allzu große Bedeutung beimessen sollte, denn die emotionale Wahrnehmung des Arztes war durch den täglichen Umgang mit Leichen und vor allem durch seine latente und äußerst gefährliche Neigung zur manischen Depression deutlich beeinträchtigt.

«Aber was geht uns der Unfall an?», fragte Rocco. «Ist das nicht Sache der Verkehrspolizei?»

«Genau die hat uns angerufen. Wohl auch weil der Lieferwagen einfach so verunglückt ist. Ohne Beteiligung eines anderen Fahrzeugs. Offenbar stimmt da irgendetwas nicht, deswegen wollen sie uns dabeihaben.»

«Was für eine Scheiße!», schrie Rocco und nahm seinen grünen Lodenmantel vom Kleiderhaken.

«D’Intino, wenn du nicht in der Lage bist, deinen Job zu machen, was machst du dann hier?»

«Ich kümmere mich um den ganzen Papierkram.»

«Er kümmert sich um den ganzen Papierkram», wiederholte Rocco brummend. «Verstanden? Er kümmert sich um den ganzen Papierkram. Los, Italo. Oder hast du auch irgendwelche Beschwerden, die dich davon abhalten?»

«Nein, ich nicht. Aber denken Sie daran, dass Ispettrice Rispoli mit neununddreißig Grad Fieber zu Hause ist. Auf sie können Sie heute nicht zählen.»

Rocco musterte ihn von Kopf bis Fuß. «Du wohl auch nicht, oder irre ich mich? Glaub mir, es ist besser so, am Ende steckst du dich noch bei ihr an.»

Italo wurde rot und senkte den Blick.

Ohne noch etwas hinzuzufügen, ging Rocco in Richtung Ausgang.

Die Liebesgeschichte zwischen Italo und Caterina hatte er noch immer nicht verdaut. Denn auf Ispettrice Rispoli hatte er selbst schon seit Monaten ein Auge geworfen. Und dass einer seiner Untergebenen sie ihm einfach so vor der Nase weggeschnappt hatte, setzte seinem Selbstwertgefühl ziemlich zu.

Während Rocco Schiavone mit schnellen Schritten auf den Haupteingang zuging, drehte er sich noch einmal zu Italo um. «Hauptsache, du amüsierst dich damit, mir immer D’Intino zu schicken!»

«Der eine gönnt sich einen Joint, der andere schickt D’Intino zum Chef, um den Tag auf angenehme Art zu beginnen», entgegnete Pierron lachend.

Rocco beschloss, dass der Moment gekommen war, D’Intinos Versetzung in irgendein Kommissariat in der Majella mit allen Mitteln voranzutreiben. Denn hier ging es schließlich um sein eigenes geistiges und körperliches Wohlergehen.

 

Nicht umsonst wird der Mai auch «Wonnemonat» genannt. Im Mai leuchten die ersten Margeriten wie weißgelbe Tupfen auf den Wiesen, und die Blumen, die im bunten Schwall von den Balkonen herabwachsen, wirken wie ausgedrückte Farbtuben.

Selbst in Aosta. Rocco hob den Blick zum Himmel. Anscheinend hatten die Wolken sich endlich zu einem sommerlichen Winterschlaf verzogen, um der Sonne Platz zu machen, die zärtlich über die Berge und die Hochebenen strich und das wunderbare Farbenspiel erstrahlen ließ. Der Anblick ließ Roccos Laune gleich wieder steigen. Viel zu lange schon hatte er auf diesen Moment gewartet. Seit Ende September des Vorjahres. Dem Moment, als er mit Sack und Pack in der Questura von Aosta angekommen war, strafversetzt aus dem Commissariato Cristoforo Colombo im EUR-Viertel seines geliebten Roms. Es waren Monate extremer Kälte gewesen, mit Schnee, Regen und Eis, was Rocco gut zehn Paar Clarks gekostet hatte, die einzigen Schuhe, die er trug.

Wenn man genau hinsah, waren zwar noch ein paar Wolken am Himmel zu erkennen. Doch die waren schneeweiß und zogen dahin, bis sie von den Bergen aufgehalten wurden und zwischen den Gipfeln eine Pause einlegten. Kein Grund zur Beunruhigung.

«Hast du schon gesehen?», fragte Italo, der, sobald sie unter sich waren, zum Du überging.

«Was?»

«Dass der Frühling tatsächlich irgendwann auch hier in Aosta ankommt. Ich hab’s dir ja immer gesagt. Du hättest mir einfach nur glauben müssen!»

«Stimmt. Ich habe schon nicht mehr damit gerechnet. All diese Farben! Wo waren die bis gestern?»

Italo trat schwungvoll aufs Gaspedal, während Rocco seine Manteltaschen betastete. «Scheiße!» Er griff in Pierrons Jacke und nahm das Zigarettenpäckchen heraus. Chesterfield. «Ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass du mich eines Tages überraschst und ich anstatt diesem Mist ein Päckchen Camel in der Hand halte …»

«Vergiss es!», entgegnete Italo.

Rocco zündete sich eine an und steckte das Päckchen zurück in Italos Tasche.

«Was meinst du, Italo? Sollen wir in den Bergen irgendwo zu Mittag essen?», schlug Rocco vor.

«Wo denn?»

«Wir könnten mal wieder nach Champoluc fahren, ins Charmant Petit Hotel. Die kochen großartig.»

«Warum nicht. Kommt drauf an, wie lange wir brauchen, oder?»

«Das mit dem Verkehrsunfall ist schnell erledigt. Was soll daran schon ungewöhnlich sein? Die sind einfach nur besonders pingelig hier.» Rocco zog an seiner Zigarette.

Es war wirklich ein schöner Anblick, der ihnen da durch die Fenster des Dienstwagens geboten wurde. Sogar die Bäume schienen zu lächeln, nachdem sie endlich die Schneelast auf ihren Ästen losgeworden waren, die sie aussehen ließ wie neunzigjährige Greise, die das Gewicht des Alters niederdrückte. Jetzt reckten sie sich frisch und dynamisch wieder kerzengerade nach oben.

Rocco dachte an die Nacht mit Anna, und sofort spürte er ein angenehmes Kribbeln zwischen den Beinen. «Es ist tatsächlich Frühling!», sagte er und drückte die Zigarette im Aschenbecher aus.

 

Nachdem zwei der abgenutzten Reifen geplatzt waren, war der Lieferwagen der Marke Fiat am Ende der Kurve mit voller Wucht gegen die Lärchen geprallt. Carlo Figus und Viorelo Midea, die beiden Insassen, waren sofort tot. Die Leichen waren bereits weggebracht worden, zurückgeblieben war nur das blutbefleckte Tuch, mit dem sie bedeckt gewesen waren.

Rocco Schiavone und Italo Pierron wandten sich an den Agente der Verkehrspolizei: «Also: Bitte, Kollege, sagen Sie uns, was hier nicht in Ordnung sein soll. Was ist so ungewöhnlich?», fragte Rocco.

«Mehr als ungewöhnlich, die Sache ist ziemlich mysteriös», antwortete der Agente. Mit seiner Spiegelbrille und den strahlend weißen Zähnen sah er aus wie geradewegs der Fernsehserie CHiPs aus den Siebzigern entsprungen.

«Wieso das?»

«Die Nummernschilder sind gestohlen. Sie gehören nicht zu dem Lieferwagen.»

Schiavone nickte.

«Laut Fahrzeugschein gehört der Wagen Carlo Figus, dem Fahrer, aber das Nummernschild passt nicht dazu.»

Ein weiterer Agente der Verkehrspolizei trat zu ihnen. Er war leicht übergewichtig, hatte aber einen wachen, aufmerksamen Blick.

«Ciao, Italo!»

«Ciao, Umberto. Darf ich vorstellen, Vicequestore Schiavone», sagte Italo und wies auf seinen Chef. «Umberto Diotaiuti. Wir sind alte Freunde.»

«Also, Dottore», sagte Umberto mit einem Nicken, «das Nummernschild des Lieferwagens wurde am 27. Februar in Turin als gestohlen gemeldet und gehört zu einer Mercedes A-Klasse und nicht zu einem Fiat Scudo. Der Fiat hat eigentlich die Nummer AM 166 TT.»

«Und ich nehme an, dass die Nummer AM 166 TT gerade nirgendwo rumfährt.»

«Genau.»

«Verdammte Scheiße!», murmelte Rocco und verdrehte die Augen.

«Wie bitte, Dottore?», fragte der Agente irritiert.

«Verdammte Scheiße!», wiederholte Rocco lauter und sah dem Agente in die Augen. «Verdammte Scheiße! Es lief einfach zu gut! Ein Unfall, ein paar Formulare und Ciao. Doch nein, diese beiden Idioten sind mit einem gestohlenen Nummernschild unterwegs. Verfickte Scheiße!» Er trat gegen einen losen Stein. Die drei umstehenden Polizisten sahen sich an.

«Ihr kümmert euch um die Angehörigen, oder?», fragte Umberto schließlich an Italo gewandt.

Rocco, der nur ein paar Meter entfernt war, drehte sich um: «Natürlich kümmern wir uns um die Angehörigen, Italo. Hier geht es nicht um einen simplen Unfall mit den üblichen Formularen, sondern um Diebstahl, und damit bleibt der Mist an uns hängen.»

«Danke!», sagte Umberto erleichtert. «Können wir noch irgendwie behilflich sein …?»

«Da ihr schon mal hier seid, füllt alle Formulare aus, die nötig sind, und dann macht euch vom Acker. Und ich muss zu Fumagalli in die Rechtsmedizin, Scheiße, Scheiße, Scheiße!»

Während Rocco vor sich hin fluchend zum Auto hinüberging, sahen die beiden Verkehrspolizisten Italo an. «Ist der immer so?»

«Nein. Heute ist er gut drauf. Ihr solltet ihn mal bei einem Mord erleben. Dagegen ist das hier lächerlich. Macht’s gut. Ciao, Umberto! Du schuldest mir noch eine Revanche!»

«Wann immer du willst. Poolbillard oder Carambolage?»

«Carambolage.»

 

Ich kann nichts sehen.

Sind meine Augen noch geschlossen? Schlafe ich noch?

Nein, ich weiß, dass ich nicht schlafe. Mir ist schwindelig. Extrem schwindelig. Meine Schläfen tun weh. Die Schwärze wird grau. Es ist nicht mehr ganz so dunkel. Aber ich kann trotzdem nichts sehen. Was habe ich vorm Gesicht? Was ist das? Ein Spinnennetz? Nein, Spinnennetze sind durchsichtig. Das hier ist wie ein Schleier. Dunkel und aus Stoff. Braunem Stoff. Ekelhaft. Ein ekelhaftes Gefühl. Und wenn ich die Augen schließe, dreht sich alles.

Ich kann meine Hände nicht bewegen. Ich kann sie nicht bewegen! Ich habe ein dunkles Tuch vor dem Gesicht und kann es nicht entfernen!

Sie strengte sich an, zog ein-, zweimal, doch ihre Handgelenke hingen fest. In ihren Schläfen pochte es im Rhythmus einer Totenglocke. Ein aus der Tiefe aufsteigender Schmerz, anhaltend und dumpf.

War sie im Bett eingeklemmt, steckte mit dem Kopf im Kissenbezug? Aber was für einen Quatsch dachte sie da? Sie lag ja nicht, sie saß. Aber vielleicht schlief sie doch noch. Draußen war es dunkel, und gleich würde sie aufwachen und zum Frühstück gehen. Es musste noch immer Nacht sein. Keins der vertrauten Geräusche war zu hören. Aus dem Haus nicht und von der Straße her auch nicht.

Dolores? Papa?

Doch hier war nur Stille.

Sie versuchte aufzustehen, aber es gelang nicht. Sie versuchte die Beine zu bewegen. Ebenfalls vergeblich.

Sie hingen genauso fest wie ihre Arme; ihre Fußgelenke waren wie angenagelt. Eine Lähmung vielleicht? War sie gelähmt? Nein, sie konnte die Finger bewegen. Und die Füße auch. Aber die Fußgelenke waren festgebunden. Genau wie die Handgelenke.

Ist das ein Albtraum? Jetzt wache ich auf, jetzt wache ich auf!

Sie versuchte ruckartig aufzuspringen und den Sitz wegzustoßen, doch nichts passierte. Sie spähte angestrengt durch das dunkle Tuch. Aber sie konnte nicht viel mehr erkennen als eine Wand. Eine graue Wand.

Das ist nicht mein Zimmer! Wo sind meine Poster von Coldplay und Alt-J? Und das sind keine gelben Wände. Hier ist alles grau. Grau und schmutzig. Aber ich kann etwas sehen. Dann ist es Tag. Und wenn es bereits Tag ist, wieso kommt dann niemand, um mich zu wecken?

«Mama?», schrie sie, vom Krächzen ihrer eigenen Stimme erschreckt. Sie versuchte es erneut, lauter: «Papa?»

Sie bekam kaum Luft. Dieses furchtbare Ding vor ihrem Gesicht klebte beim Einatmen an ihren Lippen.

Mama? Papa?

Zwecklos.

Sie war wach und nicht zu Hause. Sie konnte sich nicht bewegen und nichts sehen, es roch muffig, und sie war allein.

Chiara begann zu weinen.

 

Die letzte bekannte Adresse von Carlo Figus war eine Wohnung in der Via Chateland. Rocco hatte Agente Scipioni dort hingeschickt, um die traurige Nachricht zu überbringen und irgendeinen Verwandten aufzutreiben, den er zur Identifizierung des Toten mit in die Rechtsmedizin nehmen konnte. Für Scipioni hatte er sich nur entschieden, weil Caterina Rispoli mit Fieber im Bett lag und Italo Pierron der Spur von Viorelo Midea folgte, dem zweiten Unfallopfer. Also blieb nur Scipioni, der erst seit Dezember in Aosta Dienst tat. Rocco hatte bisher kaum mit ihm zu tun gehabt, aber Scipioni schien auf Zack zu sein, auf keinen Fall geistig so zurückgeblieben wie Deruta, D’Intino oder Casella. Er hatte ihn noch nie irgendeinen Schwachsinn reden hören. Auf Scipioni konnte er hoffentlich zählen. Ein brauchbarer Agente mehr in der Questura konnte jedenfalls nicht schaden.

Rocco wartete, eine Zigarette rauchend, am Eingang zur Rechtsmedizin, bis er durch die Milchglasscheibe die unverkennbare Gestalt von Alberto Fumagalli, dem Rechtsmediziner aus Livorno, kommen sah. Wie immer in den vergangenen Monaten begrüßten sie sich nicht. Fumagalli blickte in den Himmel, verzog den Mund, brummte irgendetwas und machte Rocco ein Zeichen. «Kommst du rein, wenn du fertig bist?»

«Nein. Ich warte noch. Auf einen Agente.»

«Auf welchen? Den, der immer kotzen muss?»

«Italo? Nein. Einen anderen. Er bringt einen Verwandten mit zur Identifizierung des Toten.»

Fumagalli sah ihm in die Augen. «Möchtest du es gleich wissen, oder willst du erst zu Ende rauchen?»

Rocco nahm noch einen tiefen Zug. «Los, sag schon!»

«Er ist glücklich gestorben.»

Rocco trat näher an den Arzt heran. «Das bedeutet?»

«Der Italiener ist glücklich gestorben.»

«Und woher weißt du das? Hat er es dir gesagt?»

«Sicher.»

«Könntest du jetzt mal zur Sache kommen? Heute ist nicht mein Tag, das heißt, ich habe absolut keine Lust, mit dir zu debattieren.»

«Na schön. Möchtest du wissen, wie er es mir gesagt hat? Dann komm mit, ich zeig es dir.»

Offensichtlich ließ sich das Rendezvous mit den beiden Leichen nicht länger aufschieben. Rocco warf die Zigarette weg und folgte Fumagalli.

 

Im Autopsiesaal empfing ihn das übliche Geruchsgemisch aus faulen Eiern, sonstigen verdorbenen Nahrungsmitteln und üblem Hafengestank. Die beiden Leichen waren nebeneinander aufgebahrt. Fumagalli trat näher. «Nein, die Toten erspare ich dir heute. Das, was für dich viel interessanter sein dürfte, ist hier … unter dem Mikroskop. Komm mit.» Er wies auf das Okular. Dann sah er hinein und stellte das Objektiv entsprechend ein, bevor er Rocco Platz machte. «Und? Was siehst du?»

«Keine Ahnung. Runde Dinger, teils weiß, teils lila … Ich weiß nicht, sieht aus wie so ein Klecks von diesen Psychotests …»

«Die heißen Rorschachtest und haben damit herzlich wenig gemeinsam. Das, was du da vor der Nase hast, ist das Ergebnis eines Abstrichs von der Penishaut des Italieners.»

«Verfickte …»

«Genau, denn weißt du, was du da siehst?»

«Hast du mir doch gerade gesagt, oder?»

«Nein. Was du da gerade betrachtest, ist Gardnerella vaginalis.»

«Ich weiß zwar nicht, was das sein könnte, aber vom Namen her scheint es mir nicht wirklich zu einem männlichen Geschlechtsorgan zu passen.»

«Bravo! Gardnerella ist ein Bakterium, das in geringer Keimzahl Teil der vaginalen Normalflora ist. In hohen Keimzahlen ist es der hauptsächlich nachzuweisende Keim bei der bakteriellen Vaginose. Dabei kommt es zu einem dünnen Ausfluss, der ziemlich übel riecht, und …»

«Schon gut, Alberto! Das heißt also, der Typ hat es sich besorgen lassen, bevor er das Zeitliche gesegnet hat?»

«Genau. Und wenn man bedenkt, dass die beiden nicht später als um vier Uhr gestorben sind … Dann können wir daraus schlussfolgern, dass das nicht mal eine Stunde vorher passiert ist. Einverstanden?»

«Ist das eine Frage?»

«Nein, eine Erklärung mit einem kleinen Fragezeichen. Das ist eine sehr elegante Art der Äußerung, die in etwa besagt: Ich möchte deine Meinung zwar hören, aber ich habe auf jeden Fall recht. Und was die geheimnisvolle Frau angeht, die dem armen Teufel hier die letzten sexuellen Freuden beschert hat, würde ich da auch mal gern Hand anlegen – um ihr ein Antibiotikum zu verpassen.»

«Denkst du, es war eine Prostituierte?»

«Mit Blick auf die beiden Herren würde ich sagen ja.»

«Wieso?»

«Schau sie dir an, Rocco! Wenn die vögeln wollten, mussten die dafür entweder bezahlen oder es sich selbst besorgen. Willst du mal sehen?»

«Danke. Für heute reicht mir die Gardnerella.»

 

Agente Scipioni geleitete einen Greis unbestimmten Alters den Flur entlang. An den Arm des jungen Polizisten geklammert, trippelte er auf die Tür zur Rechtsmedizin zu und blickte dabei starr geradeaus.

«Dottor Schiavone, das ist Carlo Figus’ Großvater. Die einzige andere Verwandte des Opfers ist seine Mutter, aber die kann das Haus nicht verlassen. Sie hat Diabetes … und ihre Beine wurden amputiert.»

«Gut …», meinte Rocco und breitete hilflos die Arme aus.

Scipioni legte dem alten Mann die Hand auf die Schulter. «Darf ich vorstellen: Signor Adelmo Rosset, Carlo Figus’ Großvater. Adelmo? Das ist Vicequestore Schiavone …»

Der Mann hob nur leicht den Blick. Seine Augen waren blau und schienen von einer zähen, klebrigen Flüssigkeit angefüllt. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich kaum, dafür griff er sich langsam mit der Hand in die Tasche, nahm ein Taschentuch heraus und wischte sich damit über den Mund.

«Er redet nicht viel», sagte Scipioni.

«Das merke ich. Ist er zu der Identifikation überhaupt in der Lage?»

«Ich weiß es nicht, aber ich glaube schon. Carlo Figus’ Mutter, also Adelmos Tochter, sagt, dass er topfit ist und alles versteht, stimmt’s, Adelmo?»

Wie eine hundertjährige Schildkröte drehte der Mann den faltigen Hals in Scipionis Richtung. Er nickte langsam und lächelte, wobei er seine drei übriggebliebenen Zähne zur Schau stellte. Dann zog sich sein Mund wieder zusammen wie eine Blume bei Sonnenuntergang.

«Wie geht’s jetzt weiter, Dottore?»

«Kommt mit. Fumagalli wartet schon.» Rocco bot Adelmo den Arm, der sichtlich dankbar danach griff und dann, auf jeder Seite von einem Polizisten eskortiert, auf die Milchglasscheibe zuging. Rocco klopfte dreimal laut, woraufhin die Alu-Jalousie hochgezogen wurde und Fumagallis Gesicht auftauchte. Der Arzt hatte den Toten bereits entsprechend hergerichtet. Mit einer Geste gab er Rocco zu verstehen, dass er gleich das Tuch von der Leiche nehmen würde. Rocco nickte, ohne Adelmo aus den Augen zu lassen. Das Gesicht des alten Mannes spiegelte sich in der Scheibe. Fumagalli deckte die Leiche auf. Adelmo betrachtete ein paar Sekunden lang das Gesicht von Carlo Figus. Dann streckte er langsam eine Hand aus und legte die Finger an das Glas. Er wandte sich zu Rocco um. Sein milchiger Blick war in die Ferne gerichtet, doch aus einem Auge trat eine Träne hervor und zerrann in einer Falte des alten Gesichts wie in einem trockenen Flussbett. Mehr war nicht nötig. Rocco machte Fumagalli ein Zeichen, den Leichnam wieder zuzudecken.

«Scipioni», wandte er sich dann an den Agente, «bitte bring Signor Rosset zurück nach Hause.»

Scipioni nickte. «Kommen Sie, Adelmo, wir gehen …»

Der alte Mann zog die Hand von der Trennscheibe zurück. Schon nach wenigen Sekunden waren seine Fingerabdrücke auf dem kühlen Glas nicht mehr zu sehen. Er wirkte verwirrt, als wäre er gerade aus einem Albtraum erwacht. Hilfesuchend griff er nach Scipionis Arm und ging mit gleichmäßig langsamen Schritten den Flur entlang zurück.

Rocco brauchte dringend etwas zu trinken.

 

Als er Staatsanwalt Baldi telefonisch von der Sache in Kenntnis setzte, bestellte der ihn gleich in die Staatsanwaltschaft ein. Doch Rocco hatte sich damit entschuldigt, dass er zu tun habe. Er versprach, am späten Nachmittag vorbeizukommen. Dieser blöde Verkehrsunfall brachte ein erschreckendes Ausmaß an bürokratischem Aufwand mit sich. Dabei interessierte ihn im Moment lediglich der Anblick der schmelzenden Eiswürfel in dem Aperol Spritz, den er sich gegönnt hatte, auch wenn es erst kurz vor Mittag war. Auf der Piazza Chanoux war es angenehm ruhig. Zwei Wachleute vor dem Redaktionsgebäude von La Stampa unterhielten sich mit einer Frau, die einen schwarzen Pudel an der Leine führte; drei Arbeiter auf einer Leiter versuchten die Glühbirne einer Straßenlaterne auszuwechseln; mit eiligen Schritten kam Nora auf seinen Tisch zu …

«Oh, verdammt …», sagte Rocco leise. Sie steuerte tatsächlich direkt auf ihn zu, eindeutig. Mit entschlossener Miene und entschiedenem Schritt. Die Hoffnung, dass sie mit dem Fuß umknicken und damit gestoppt werden könnte, schwand, als er sah, dass sie Turnschuhe trug. Blieb nur ein plötzlicher Blitzschlag. Doch auch das war angesichts des wolkenlosen Himmels relativ unwahrscheinlich. Nora erreichte den Tisch. Stumm zog sie sich einen Stuhl heran und setzte sich Rocco gegenüber, ohne auch nur einmal den Blick von ihm abzuwenden.

«Möchtest du etwas trinken?», fragte Rocco kleinlaut.

«Anna? Ausgerechnet sie?», fauchte Nora ihn an.

«Wer hat dir das erzählt?»

«Aosta ist eine sehr kleine Stadt.»

«Dann hat man dich falsch informiert.»

Nora kniff die Augen zusammen. «Tatsächlich?»

«Tatsächlich.»

«Die Bäckerei, bei der ich und Anna einkaufen, liegt direkt gegenüber von Annas Wohnung, und der Bäcker hat mir erzählt, dass er dich um kurz nach sechs wie ein Dieb aus dem Haus schleichen sah. Reicht das?»

Warum sollte er lügen? Warum irgendwelche Ausreden erfinden? Früher oder später hätte Nora es sowieso erfahren. Vielleicht hätte er es ihr sogar selbst gesagt.

«Gut, es stimmt, Nora. Anna.»

«Meine Freundin …» Es war mehr an sich selbst als an Rocco gerichtet.

«Na ja, Freundin …»

«Damit hast du allerdings recht. Eigentlich sollte ich dir dankbar sein. Denn du hast gleich zwei Fliegen mit einer Klappe erschlagen. Ich weiß jetzt, dass unsere Beziehung ein für alle Mal beendet ist und dass es ein Fehler war, Anna als meine Freundin zu bezeichnen.»

«Da ist was dran.»

«Jedenfalls weiß ich nicht, auf wen von euch beiden ich wütender bin. Was mir mehr wehgetan hat. Der Verrat unserer Liebe oder der der Freundschaft.»

«Soll ich dazu etwas sagen?»

«Nein, ich überlege nur laut. Im Grunde war das mit uns ja nie die große Liebe.»

Rocco atmete auf. Er sah Nora in die Augen. «Wohl nicht.»

«Hast du es getan, weil du beleidigt bist oder um dich zu rächen?»

«Mich rächen? Wofür?»

«Du hast doch gedacht, dass ich und der Architekt …»

«Schon gut, Nora. Es war nicht aus Rache. Ich habe es getan, weil ich Lust dazu hatte und irgendwie in ihrem Bett gelandet bin. Und ihr ist es wohl ähnlich gegangen. Das ist alles.»

«Und es gab keine Möglichkeit, die Sache mit uns auf eine weniger traurige Art zu beenden?», fragte Nora, jetzt mit sanfterem Blick.

Es war ihr gelungen, dass er sich wie ein Stück Scheiße fühlte.

«Wahrscheinlich schon, Nora. Irgendwann habe ich solche Dinge einmal besser gekonnt. Genau, irgendwann. Aber das ist schon lange her.»

«Schwer zu glauben.» Eine Träne lief über ihre Wange, bis sie sie mit einer hektischen Geste wegwischte.

Warum wollten sie ihn alle gewaltsam zu einem Leben zwingen, das er nicht führen wollte? Warum ließen sie ihn nicht einfach alle in Ruhe? In diesen letzten Jahren, bevor er alt wurde, allein vor sich hin vegetieren, in der Leere, die er um sich herum erschaffen hatte und die niemand mehr würde füllen können? Er sah Nora an, deren einziger Fehler es war, ihm begegnet zu sein.

«Weißt du, Rocco? Du warst immer sehr ehrlich zu mir. Du hast mir nie wirklich Hoffnungen gemacht, auch wenn ich mir trotzdem gewünscht habe, dass mehr daraus wird. Aber das kannst du mir ja wohl kaum verübeln, oder? Und im Laufe der Zeit habe ich mir gesagt: Hab Geduld, Nora. Noch ist es eine Beziehung, die am seidenen Faden hängt. Wenn man daran zieht, auch nur leicht, wird er reißen. Und alles ist vorbei. Also habe ich gewartet. Ist das verboten? Aber wenn ich dir jetzt, hier an diesem Tisch, gegenübersitze, frage ich mich: Worauf habe ich da eigentlich gewartet? Was hättest du noch aus dem Hut hervorzaubern können? Was könnte ein Mann wie du haben, das eine Frau wie mich dazu bringt zu warten? Nichts. Das Einzige, was uns verbunden hat, war der Sex. Sonst haben wir nichts gemeinsam. Jetzt wird es mir eine Weile schlechtgehen, ich werde mich eine Zeitlang zu Hause einigeln und dir ein paar Tränen nachweinen. Doch dann werde ich wieder rausgehen, einen Termin beim Friseur machen, mir ein neues Kleid kaufen und wieder anfangen zu leben. Vielleicht sogar ohne an dich zu denken. Trotzdem hätte ich eins gern noch gewusst: Besteht die Hoffnung, dass du wieder Mist baust und ans Ende der Welt versetzt wirst?»

Rocco dachte ernsthaft darüber nach. «Ja. Die Hoffnung besteht immer.»

«Das wäre doch mal eine gute Nachricht.» Nun lächelte Nora. «Trinkst du den noch?», fragte sie und griff nach dem Aperol Spritz mit den Eiswürfeln.

Noch bevor Rocco antworten konnte, war die köstliche Mischung aus Aperol, Prosecco und Mineralwasser bereits auf seinem Jackett gelandet, während die Eiswürfel den Weg in seinen Hemdkragen gefunden hatten.

«Einen schönen Tag noch!», rief Nora lächelnd und verließ triumphierend die Terrasse der Bar auf der Piazza Chanoux.

Rocco stand auf. Er zog das Hemd aus der Hose, damit die Eiswürfel herausfielen. Zwei Tische weiter sah der einzige Stammgast ihn ausdruckslos an. Dann lächelte er kurz und wandte sich wieder seiner Zeitung zu. Denn bekanntermaßen ist nichts lächerlicher als das Unglück anderer.

Ugo war bereits herausgekommen. «Soll ich Ihnen noch einen bringen, Dottore?»

«Schon in Ordnung, Ugo. Ich muss zurück ins Büro. Mach’s gut.»

Nicht, dass er überrascht gewesen wäre. Es war so gekommen, wie es kommen musste. Alles wie erwartet. Doch irgendwie tat es doch ein bisschen weh.

 

Kaum hatte Rocco die Questura betreten, kam ihm Deruta entgegen, der wie immer irgendwelche mysteriösen Schriftstücke mit sich herumtrug.

«Dottore? Dottore, warten Sie …» Plötzlich hielt er inne und schnüffelte wie ein Hund.

«Was, zum Teufel, willst du, Deruta? Ist nicht mein Tag heute.»

«Was ist passiert? Sie riechen irgendwie nach Gummibärchen.»

«Ich hab welche in der Tasche, die geschmolzen sind.»

«Aber Sie sind ganz nass!»

«Du hast eine wirklich gute Beobachtungsgabe. Hast du schon mal daran gedacht, zur Polizei zu gehen? Und? Gibt es etwas Dringendes, was du mir sagen willst, oder willst du mir einfach nur auf den Sack gehen?»

«Ja. Es geht um die beiden Toten auf der Straße nach Saint-Vincent. Pierron hat angerufen. Er muss dringend mit Ihnen sprechen.»

«Wo ist er jetzt?»

«In der Mittagspause.»

Rocco nickte und verschwand in sein Büro.

 

Er griff zum Telefon und suchte nach der Nummer.

«Brondo?», meldete sich die verschnupfte Stimme von Caterina Rispoli nach dem dritten Klingeln.

«Caterí, ich bin’s, Schiavone.»

«Buoggiorno, Doddore.»

«Wie geht’s? Hast du eine Wäscheklammer auf der Nase?»

«Sehr witzig!»

«Okay, okay. Gibst du mir Italo?»

Nach einer kurzen Pause war Pierrons Stimme zu hören.

«Ja?»

«Ich rate dir, erst den Telefonhörer zu desinfizieren, sonst fängst du dir Grippeviren ein.»

«Keine Sorge, ich bin geimpft.»

«Wie du meinst. Also, du hast nach mir gesucht?»

«Ja … aber woher wussten Sie, dass ich … egal … es geht um das andere Unfallopfer. Viorelo Midea. Sein einziger bekannter Wohnsitz ist in Bârlad, in Rumänien. Hier ist er nirgendwo gemeldet. Was machen wir?»

«Die Botschaft informieren, den Angehörigen schreiben, was weiß ich, verdammt? Sonst noch was?»

«Ja. Ich habe herausgefunden, wo er gearbeitet hat.»

«Und wo, bitte schön?»

«In der Pizzeria Posillipo. Liegt ganz in der Nähe der Questura.»

«Dann sollten wir da mal hingehen.»

«Jetzt?»

«Nein, nur keine Eile! Warte, ich seh mal in meinem Kalender nach. Hast du am 13. Juli schon was vor?» Damit beendete er das Gespräch.

 

Chiara konnte kaum atmen. Jedes Mal, wenn sie Luft holte, klebte das Tuch an ihrem Gesicht. Ihre Wangen und die Stirn waren schweißbedeckt, und auch ihre Tränen hatten den Effekt eines klebrigen Fliegenfängers. Sie hatte sich stundenlang nicht bewegt. Das anhaltende Pochen in ihren Schläfen hallte gleichmäßig und quälend in ihrem Kopf.

Sie hatte geschrien, bis sie keine Stimme mehr hatte. Doch niemand hatte geantwortet, niemand war zu ihr gekommen. Inzwischen hatte sie ein paar mehr Details um sich herum ausmachen können: Tische, die vor der grauen Wand standen, und jede Menge altes Zeug, das darauf lag: Plastiktüten vielleicht und Werkzeug oder so etwas. Vermutlich befand sie sich in einer Werkstatt oder in einem verlassenen Lager.

Mit der Zeit kam auch die Erinnerung zurück. An das, was am Vorabend geschehen war.

Sie war mit Max unterwegs gewesen, ihrem Freund, und mit Giovanna. Max’ Cousin Alberto war aus Turin gekommen. Sie hatten sich um sieben im Pub verabredet und wollten von dort aus ins Sphere. Sie selbst hatte keine große Lust gehabt, sie wäre lieber mit Max allein gewesen. Aber Giovanna stand total auf Alberto und hatte den ganzen Tag versucht, sie davon zu überzeugen, den Abend gemeinsam zu verbringen.

«Dann bin ich wenigstens nicht allein, wenn er mich abblitzen lässt, und kann mich bei dir ausheulen», hatte Giovanna lächelnd gesagt.

Dabei war es ein Ding der Unmöglichkeit, dass jemand Giovanna abblitzen ließ. Wie Chiara, Max und halb Aosta ganz genau wussten. Die Einzige, die davon keine Ahnung hatte, war Giovanna selbst. Sie war ein Meter siebzig groß und hatte dunkles glattes Haar, keine Locken wie Chiara, die jeden Morgen mindestens eine Viertelstunde brauchte, um ihre Mähne zu bändigen. Zu Giovannas Traumhaar kamen grüne Augen und eine Figur, die in der ganzen Schule für Furore sorgte, weshalb völlig schleierhaft war, woher Giovannas Unsicherheit kam. Aber so war sie nun einmal. Die schönsten Mädchen der Schule waren auch die unsichersten. Anders als sie selbst. Chiara war stark. Sie konnte immer auf die Unterstützung ihrer Familie zählen. Ihre Eltern wollten das Beste für sie, und die Berguets waren in Aosta äußerst angesehen. Chiara gab den Ton an, und ihre Freundinnen hörten genau zu, was sie zu sagen hatte. Trotz ihrer eher kleinen Augen und dem widerspenstigen Haar hatte sie bereits jede Menge Herzen gebrochen. In der Schule war sie der Star, und es gab keine Verabredung, keine Unternehmung und keine Skitour, zu der sie nicht eingeladen wurde.