Der Gefrierpunkt des Blutes - Antonio Manzini - E-Book
SONDERANGEBOT

Der Gefrierpunkt des Blutes E-Book

Antonio Manzini

0,0
7,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Kalte Füße, schlechte Laune Rocco Schiavone wird strafversetzt, ausgerechnet in das verschneite Aosta-Tal. Ein Albtraum für den römischen Kommissar. Erst, als auf der Skipiste eine Leiche gefunden wird, zermalmt von einer Schneeraupe, ist sein Ehrgeiz geweckt. Steckt eine Beziehungstat dahinter oder das organisierte Verbrechen? Doch Rocco hat nicht nur mit dem verschwiegenen Bergvolk zu kämpfen, sondern auch mit widrigen Wetterverhältnissen, die ihn zwingen, seine Lederslipper gegen unförmige Moonboots einzutauschen. Eine Zumutung, die sich nur mit jeder Menge Grappa ertragen lässt … «Eine außerordentliche Ermittlerfigur.» (Andrea Camilleri) «Er ist sarkastisch, zynisch, untreu, er raucht gern Gras und er hasst seinen Beruf: Rocco Schiavone sprengt alle Regeln.» (Corriere della Sera) «Unkorrekt und jähzornig, mit einer Neigung zu Handgreiflichkeiten und einer Schwäche für die Frauen: Rocco ist ein ganz besonderer Ermittler.» (La Repubblica) «Korrupt und genial.» (La Stampa) «Auf diesen Ermittler wollen wir nicht mehr verzichten.» (La Lettura) «Hat das Zeug zum Serienstar.» (Più)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 327

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Antonio Manzini

Der Gefrierpunkt des Blutes

Kriminalroman

Aus dem Italienischen von Anja Rüdiger

Über dieses Buch

Kalte Füße, schlechte Laune

 

Rocco Schiavone wird strafversetzt, ausgerechnet in das verschneite Aosta-Tal. Ein Albtraum für den römischen Kommissar. Erst, als auf der Skipiste eine Leiche gefunden wird, zermalmt von einer Schneeraupe, ist sein Ehrgeiz geweckt. Steckt eine Beziehungstat dahinter oder das organisierte Verbrechen? Doch Rocco hat nicht nur mit dem verschwiegenen Bergvolk zu kämpfen, sondern auch mit widrigen Wetterverhältnissen, die ihn zwingen, seine Lederslipper gegen unförmige Moonboots einzutauschen. Eine Zumutung, die sich nur mit jeder Menge Grappa ertragen lässt …

 

«Eine außerordentliche Ermittlerfigur.» (Andrea Camilleri)

 

«Er ist sarkastisch, zynisch, untreu, er raucht gern Gras und er hasst seinen Beruf: Rocco Schiavone sprengt alle Regeln.» (Corriere della Sera)

 

«Unkorrekt und jähzornig, mit einer Neigung zu Handgreiflichkeiten und einer Schwäche für die Frauen: Rocco ist ein ganz besonderer Ermittler.» (La Repubblica)

 

«Korrupt und genial.» (La Stampa)

 

«Auf diesen Ermittler wollen wir nicht mehr verzichten.» (La Lettura)

 

«Hat das Zeug zum Serienstar.» (Più)

Vita

Antonio Manzini, geboren 1964 in Rom, ist Schauspieler, Regisseur und Drehbuchautor. Er hat bereits zwei Romane sowie diverse Kurzgeschichten veröffentlicht; nun legt er mit «Der Gefrierpunkt des Blutes» den Auftakt zur Krimireihe um den charismatischen Ermittler Rocco Schiavone vor, mit dem ihm in Italien auf Anhieb der Sprung auf die Bestsellerliste gelang.

Inhaltsübersicht

WidmungMottosDonnerstagEin Anruf auf dem Handy …FreitagSamstagSamstagabendSonntagMontagDanksagungLeseprobeFreitag

Für meine Schwester Laura

Den schreckt der Berg nicht, der darauf geboren.

F. Schiller

 

Sterben ist hienieden keine Kunst.

Schwerer ists:

das Leben baun auf Erden.

W. Majakowski

Donnerstag

Die Skifahrer waren bereits fort, und die Sonne, die gerade hinter den graublauen, von ein paar Wolken verhangenen Felsspitzen verschwunden war, färbte den Schnee rosa. Der Mond stand schon am Himmel, bereit, das Tal bis zum nächsten Morgen zu erhellen.

Die Seilbahnstationen waren geschlossen, und in den Berghütten brannte kein Licht mehr. Nur das Motorengeräusch der Pistenraupen war zu hören, die langsam die Skipisten rauf- und runterfuhren, um sie an den Hängen zwischen Bäumen und Felsen neu zu präparieren.

Am folgenden Tag würde das Wochenende beginnen, und das Skigebiet von Champoluc würde sich mit Touristen füllen, die es kaum abwarten konnten, sich auf die Bretter zu schwingen. Und dafür war diese Geduldsarbeit notwendig.

Amedeo Gunelli war für die längste Piste eingeteilt worden, die Ostafa-Piste. Die Hauptpiste von Champoluc war bei einer Breite von etwa sechzig Metern gut einen Kilometer lang. Die Skilehrer nutzten sie mit den Anfängern für erste Fahrversuche genauso wie die Profis zum Speedskifahren. Sie erforderte am meisten Arbeit, da ihre Schneeschicht bereits zur Mittagszeit nicht mehr gut zu befahren war. Dementsprechend war auch jetzt hier und dort der Boden zu sehen. Und vor allem in der Mitte gab es einige unschöne Stellen, an denen Steine und Erde die Piste verunzierten.

Amedeo hatte am oberen Ende begonnen. Er machte diese Arbeit erst seit drei Monaten. Es war nicht schwierig. Man musste sich nur die Handgriffe merken, die dieses Monstrum auf Ketten bewegten, und man musste Ruhe bewahren. Das war das Allerwichtigste. Immer ruhig bleiben und nur nichts überstürzen.

Er hatte die Kopfhörer seines iPods in den Ohren und lauschte den Hits von Ligabue. Dazu zündete er sich den Joint an, den ihm Luigi Bonaz geschenkt hatte, der Chef der Pistenraupenfahrer und sein bester Freund. Ihm war es zu verdanken, dass Amedeo diesen Job bekommen hatte und tausend Euro im Monat nach Hause bringen konnte. Auf dem Beifahrersitz hatte Amedeo das Funkgerät deponiert und den Flachmann mit dem Grappa. Damit war er bestens für die Arbeit gerüstet.

Amedeo holte den Schnee von den Rändern der Piste und besserte damit die dünnen Stellen aus. Mit der Fräse wurde der Schnee zerkleinert, sich bildende Hügel planierte er gleich, sodass die Schneefläche glatt wurde wie eine Tischtennisplatte. Amedeo mochte diese Arbeit, nur das ständige Alleinsein gefiel ihm dabei nicht. Viele Leute glaubten, dass die Menschen in den Bergen die Einsamkeit in der Natur liebten, was absoluter Quatsch war. Zumindest was Amedeo anging. Er war lieber dort, wo etwas los war, war gern unter Menschen und verquatschte sich manchmal bis zum Morgengrauen.

«Una vita da medianooo», sang er aus voller Kehle gegen die Einsamkeit an. Seine Stimme dröhnte in der verglasten Fahrerkabine. Er blickte konzentriert auf den Schnee, der im Licht des Mondes immer bläulicher wurde. Hätte er aufgesehen, wäre er Zeuge eines atemberaubenden Schauspiels geworden: Der Himmel über ihm war dunkelblau wie der tiefe Ozean; um die Berggipfel herum glühte er jedoch in strahlendem Orange. Die letzten schrägen Sonnenstrahlen färbten das ewige Eis violett, und die Wolken waren von einem metallischen Grau. Das alles wurde von den mächtigen Flanken der Alpen beherrscht. Amedeo gönnte sich einen Schluck Grappa und richtete den Blick ins Tal. Eine Spielzeuglandschaft aus Straßen, kleinen Häusern und Lichtern. Ein traumhafter Anblick für jemanden, der nicht in diesen Tälern geboren war. Für ihn jedoch ein ödes, eintöniges Panorama.

 

«Certe notti la radio che passa Nil Jàng sembra avere capito chi seiii …»

Mit dem oberen Teil der Piste war er fertig. Er wendete das Fahrzeug, um zum nächsten Abschnitt hinabzufahren, und sah sich einer beängstigend steilen schwarzen Piste gegenüber. Eis und Schnee so weit das Auge reichte.

Das Funkgerät auf dem Sitz blinkte. Jemand versuchte, ihn zu erreichen. Amedeo nahm die Stöpsel aus den Ohren und griff nach dem Apparat. «Hier Amedeo.»

Das Funkgerät rauschte, dann war die Stimme des Chefs zu hören: «Amedeo, wo bist du?»

«Noch ziemlich weit oben an der Piste.»

«Lass gut sein. Fahr runter ins Tal und mach den unteren Teil. Ich übernehme das da oben.»

«Danke, Luigi.»

«Hör mal», fügte Luigi hinzu, «denk dran, runter ins Tal die Abkürzung zu nehmen.»

«Du meinst den Seitenweg.»

«Ja, den, der von Crest aus nach unten führt, damit du nicht über die Piste fährst, an der Berardo gerade arbeitet.»

«Okay!»

«Du schuldest mir ein Gläschen vor dem Abendessen.»

Amedeo grinste. «Versprochen!»

Er steckte die Kopfhörer wieder in die Ohren, legte einen niedrigeren Gang ein und ließ das Steilstück hinter sich.

«Balliamo un fandango … ohhh», nahm er den Gesang wieder auf.

Am Himmel hatten sich unterdessen die Wolken verdichtet und verdeckten den Mond. In den Bergen änderte sich das Wetter von einem Moment auf den anderen. Amedeo war nicht überrascht. Für das Wochenende war extrem schlechtes Wetter vorhergesagt.

Die starken Scheinwerfer des Kettenfahrzeugs erleuchteten die Piste und die dicht stehenden Nadelbäume an den Seiten. Durch die dunklen Äste schimmerten die Lichter von Champoluc.

«Balliamo sul mondooo ohh.»

Er musste an der Skischule und den Garagen der Pistenraupen vorbeifahren, um zur Abkürzung über Crest zu kommen. Crest war eine Bergstation an der Piste. Die wenigen Häuser waren derzeit fast alle unbewohnt, abgesehen von einer Schutzhütte und den Unterkünften einiger Genueser, die lieber Ski fuhren, als sich in der Stadt aufzuhalten. Von Crest aus würde er durch den Wald über die Abkürzung schnell achthundert Meter weiter nach unten gelangen. Er würde mal eben über das Ende der Piste unten im Ort kämmen und dann endlich auf ein Glas und ein bisschen heiteres Geplauder mit den bereits betrunkenen Engländern einkehren.

«Ti brucerai, piccola stella senza cielo …»

Langsam fuhr er die kleine Zufahrt hinab, die im Sommer von den Geländewagen genutzt wurde, um die Hütten von Crest zu erreichen. Die Scheinwerfer auf dem Dach des Pistenfahrzeugs ließen die Strecke taghell erscheinen. Die Gefahr, vom Weg abzukommen, war gleich null.

«Ti brucerai …»

Dann stieß die Fräse auf etwas Hartes, und ein Ruck ging durch die Ketten. Amedeo drehte sich um, um festzustellen, was da im Weg gewesen war. Ein Felsstück oder ein Brocken Erde? Das Rücklicht erhellte den aufgewühlten Schnee. Da war etwas.

Ein dunkler Fleck, der sich über ein paar Meter erstreckte.

Amedeo bremste.

Er nahm den iPod ab, machte den Motor aus und stieg aus dem Fahrzeug, um nachzusehen.

Absolute Stille.

Seine Stiefel versanken im Schnee. Da war etwas Dunkles mitten auf dem Weg.

«Verdammt, was ist das?»

Er ging darauf zu. Als er näher kam, wechselte der dunkle Fleck auf dem Boden die Farbe. Von Schwarz zu Violett. Durch die Zweige der Tannen blies ein leichter Wind und verteilte ringsherum Federn in der Luft.

Kleine, leichte weiße Federn.

Ein Huhn? Hab ich ein Huhn überfahren?, dachte Amedeo.

Er ging im hohen Schnee noch näher heran. Mit jedem Schritt sank er etwa zehn Zentimeter tiefer ein. Die Federn wirbelten auf. Der Fleck war inzwischen braun geworden.

Was hab ich denn da erwischt?

Ein Tier?

Wie konnte er das übersehen? Mit all den Halogenscheinwerfern? Und warum hatte der Lärm des Motors es nicht verjagt?

Erst als er die Stelle fast erreicht hatte, erkannte er, worum es sich handelte: einen großen roten Blutfleck. Er war riesig, und wenn er nicht gerade ein ganzes Rudel Hühner überfahren hatte, konnte diese Menge Blut kaum von einem Tier stammen.

Amedeo ging um die Lache herum, bis dorthin, wo das Rot am intensivsten war, beinah leuchtete. Er bückte sich, versuchte etwas zu erkennen.

Dann sah er es.

Obwohl er sofort losrannte, schaffte er es nicht mehr bis in den Wald. Mitten auf dem Weg musste er sich übergeben.

Ein Anruf auf dem Handy um diese Uhrzeit war eine bodenlose Unverschämtheit, die ihm richtig auf den Sack ging, beinah so wie eine Zahlungsaufforderung vom Finanzamt. Vicequestore Rocco Schiavone, Jahrgang 1966, lag ausgestreckt auf dem Bett und blickte auf den Nagel seines rechten großen Zehs. Dieser war schwarz, dank des Karteikastens, den D’Intino in seiner Dämlichkeit darauf hatte fallen lassen, als er hysterisch nach irgendeinem Antrag gesucht hatte. Dottor Schiavone hasste Agente D’Intino. Und nach diesem Vorfall, der nur eine von unzähligen Katastrophen war, die dieser Mann angerichtet hatte, hatte Rocco sich selbst und sämtlichen Einwohnern Aostas geschworen, alles daranzusetzen, diesen Hornochsen in irgendein Kommissariat im tiefsten lukanischen Hinterland versetzen zu lassen.

Der Vicequestore streckte den Arm aus und griff nach dem Handy, das keine Ruhe gab. Er sah aufs Display. Die angezeigte Nummer war die der Questura.

Das ging ihm jetzt wirklich richtig auf den Sack. Das war mindestens eine Acht. Wenn nicht sogar eine Neun.

Rocco Schiavone hatte seine eigene, ganz persönliche Messlatte, wie sehr ihm etwas auf den Sack ging. Und das Leben bescherte ihm rücksichtslos jeden Tag aufs Neue genügend Gründe, entsetzlich genervt zu sein. Der niedrigste Wert war eine Sechs und galt für alle Dinge, die im Haushalt zu erledigen waren. Eine Sieben gab es für unvermeidliche Aufenthalte in Einkaufszentren, Banken, Postämtern oder Arztpraxen – und nervige dienstliche oder familiäre Angelegenheiten, wobei sich seine Verwandtschaft Gott sei Dank in sicherer Entfernung, nämlich in Rom, befand. Die Acht stand vor allem für öffentliche Auftritte, Reden vor Publikum, Verwaltungstätigkeiten, Theaterbesuche und für Dienstgespräche mit dem Questore oder dem Staatsanwalt. Eine Neun erhielten geschlossene Tabakläden, Cafés, in denen es kein Eis gab, Leute, die ihn permanent zuquatschten, und vor allem ungewaschene, unangenehm riechende Kollegen. Den absoluten Höhepunkt bildete die Zehn für alles, was ihm wirklich supermegamäßig auf den Sack ging, zum Beispiel, einen Fall lösen zu müssen.

Er stützte sich mit dem Ellbogen auf die Matratze und nahm den Anruf entgegen: «Wer stört?»

«Dottore, ich bin’s, Deruta.»

Ausgerechnet Deruta! Eine völlig unbrauchbare Masse von etwa hundert Kilo Körpergewicht, die mit D’Intino um den Titel des größten Idioten in der Questura wetteiferte.

«Was ist los, verdammt?», brüllte der Vicequestore.

«Es gibt ein Problem. Auf der Skipiste in Champoluc.»

«Wo gibt es ein Problem?»

«In Champoluc.»

«Und wo soll das sein?»

Rocco Schiavone war erst im September aus dem Commissariato Cristoforo Colombo in Rom nach Aosta versetzt worden. Und die einzigen Orte in der Gegend, die er in den letzten vier Monaten kennengelernt hatte, waren seine Wohnung, die Questura, die Staatsanwaltschaft und die Osteria degli Artisti.

«Champoluc im Val d’Ayas», erklärte Deruta leicht entrüstet.

«Das heißt? Wo bitte ist Val d’Ayas?»

«Val d’Ayas, das Tal oberhalb von Verrès. Champoluc ist der bekannteste Ort dort. Zum Skifahren.»

«Na gut. Und?»

«Na ja, vor ein paar Stunden ist dort eine Leiche gefunden worden.»

Eine Leiche!

Schiavone ließ die Hand, in der er das Handy hielt, auf die Matratze sinken, schloss die Augen und murmelte resigniert: «Eine Leiche … verdammte Scheiße!»

Eine Zehn. Das ging ihm jetzt wirklich gewaltig auf den Sack! Im höchsten Maße, summa cum laude sozusagen!

«Hören Sie mich noch, Dottore?», quakte es im Telefon.

Rocco nahm das Gerät wieder ans Ohr. Er schnaufte.

«Wer fährt mit mir hin?»

«Sie können wählen: ich oder Pierron.»

«Pierron, gar keine Frage!», entgegnete der Vicequestore eilig.

Deruta quittierte die Beleidigung mit längerem Schweigen.

«Deruta? Bist du eingeschlafen?»

«Nein. Was ist, Dottore?»

«Sag Pierron, er soll mit dem BMW kommen.»

«Im Gebirge wäre der Jeep vielleicht besser, oder?»

«Nein. Der BMW ist bequem, die Heizung funktioniert, das Radio geht, und er gefällt mir. Mit dem Jeep fahren nur Hinterwäldler.»

«Gut. Soll Pierron Sie zu Hause abholen?»

«Sag ihm, dass er nicht klingeln soll.»

Er warf das Telefon aufs Bett und schloss die Augen.

Noras Nachthemd raschelte leise. Dann spürte er, dass sie sich bewegte. Und dann ihre Lippen und ihren warmen Atem an seinem Ohr. Schließlich ihre Zähne an seinem Ohrläppchen. Zu einem anderen Zeitpunkt hätte ihn das sicher erregt, in diesem Moment blieben Noras Bemühungen jedoch ohne jede Wirkung.

«Was ist los?», flüsterte sie.

«Die Questura.»

«Und?»

Rocco richtete sich auf und setzte sich auf den Bettrand, ohne die Frau neben sich auch nur anzusehen. Langsam zog er sich die Socken an.

«Kannst du nicht darüber reden?»

«Keine Lust. Nur der Job. Lass gut sein.»

Nora nickte. Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. «Und du musst jetzt los?»

Endlich wandte sich Rocco zu ihr um. «Was denkst du denn, was ich hier gerade mache?»

Nora lag lang ausgestreckt im Bett, den Kopf auf die Hand gestützt, darunter sah man ihre perfekt epilierte Achsel. Ein seidenes bordeauxfarbenes Nachthemd umschmeichelte ihren Körper und betonte ihre weiblichen Formen. Langes, glattes kastanienbraunes Haar umrahmte ihr Gesicht. Wegen ihrer ausgesprochen hellen Haut wirkten ihre Augen wie zwei gerade vom Baum gepflückte apulische Oliven. Sie hatte eher feine Lippen, schminkte sie jedoch so, dass sie voller schienen. Nora war um die vierzig und eine wunderschöne Frau.

«Du könntest durchaus ein bisschen freundlicher sein.»

«Nein», entgegnete Rocco. «Kann ich nicht. Es ist schon verdammt spät, und ich muss ins Gebirge. Der Abend mit dir ist zum Teufel, und wahrscheinlich hat es auch noch angefangen zu schneien.»

Mit einem Ruck stand er vom Bett auf und setzte sich in einen Sessel, um sich die Schuhe anzuziehen. Clarks natürlich. Etwas anderes kam für Rocco Schiavone nicht in Frage. Nora fühlte sich ein wenig unwohl, geschminkt und im seidenen Negligé. Wie ein völlig umsonst festlich gedeckter Tisch. Sie richtete sich auf. «Wie schade. Ich habe für uns Raclette vorbereitet.»

«Was soll das denn sein?», fragte der Vicequestore düster.

«Hast du noch nie Raclette gegessen? Man lässt Käse in kleinen Pfännchen schmelzen und isst ihn zusammen mit Artischockenherzen, Oliven und Salamistückchen.»

Rocco stand auf, um sich den Rollkragenpullover anzuziehen. «Ziemlich leichte Kost also.»

«Sehen wir uns morgen?»

«Ich hab keine Ahnung, Nora! Ich weiß nicht mal, wo ich morgen sein werde.»

Er verließ das Zimmer. Nora seufzte und sprang aus dem Bett. An der Tür holte sie ihn ein. «Ich warte auf dich», flüsterte sie ihm zu.

«Bin ich ein Bus?», grummelte Rocco. Dann lächelte er. «Nora, entschuldige. Es ist einfach nicht unser Abend. Du bist eine ausgesprochen schöne Frau. Und mit Sicherheit das Beste, was das Aostatal zu bieten hat.»

«Gleich nach dem Augustusbogen.»

«Ich kann keine römischen Triumphbögen mehr sehen. Dich schon.»

Er küsste sie flüchtig auf den Mund und schloss die Tür hinter sich.

Nora musste lachen. So war er eben, Rocco Schiavone. Man musste ihn nehmen, wie er war. Sie sah auf die Uhr. Es war noch früh genug, um Sofia anzurufen und ins Kino zu gehen. Und danach vielleicht noch eine Pizza zu essen.

 

Als Rocco auf die Straße trat, wehte ihm eine eisige Böe ins Gesicht.

«… Scheißkälte!»

Er hatte den Wagen in ungefähr hundert Metern Entfernung abgestellt. Seine Füße in den Clarks verwandelten sich beim ersten Kontakt mit dem von schmutzigem Schnee bedeckten Bürgersteig in Eisklumpen. Es ging ein beißender Wind, und kein Mensch war auf der Straße. Er setzte sich ins Auto und machte als Erstes die Heizung an. Dann blies er auf seine Hände. Die hundert Meter hatten gereicht, um fast zu erfrieren. «… Scheißkälte!», wiederholte er wie ein Mantra, und mit dem kondensierenden Hauch seines Atems schlugen sich seine Worte an der Windschutzscheibe nieder. Er startete den Dieselmotor und schaltete das Gebläse ein, um die Scheibe wieder freizukriegen. Eine Laterne schaukelte im Wind. In ihrem Lichtkegel tanzten Schneeflocken wie Sternenstaub.

«Es schneit! Verdammter Mist, ich hab’s ja gewusst!»

Er legte den Rückwärtsgang ein, fuhr los und ließ den kleinen Ort Duvet hinter sich.

 

Als er vor seinem Haus in der Rue Piave ankam, wartete der BMW mit Pierron am Steuer bereits mit laufendem Motor. Rocco schwang sich auf den Beifahrersitz. Der Agente hatte das Wageninnere auf dreiundzwanzig Grad aufgeheizt. Die angenehme Wärme hüllte den Vicequestore ein wie eine Wolldecke.

«Italo, du hast doch wohl nicht bei mir geklingelt?»

Pierron legte den Gang ein. «Ich bin doch nicht blöd, Commissario.»

«Gut. Jetzt musst du dir nur noch abgewöhnen, mich ‹Commissario› zu nennen. Die Bezeichnung gibt es offiziell nicht mehr.»

Die Scheibenwischer vertrieben die Schneeflocken von der Windschutzscheibe.

«Wenn es hier schon schneit, was mag uns dann in Champoluc erwarten?», sagte Pierron.

«Liegt das sehr hoch?»

«Tausendfünfhundert Meter.»

«Ach du Scheiße!» Die höchste Erhebung, die Rocco Schiavone im Laufe seines Lebens erklommen hatte, waren die 137 Meter des Monte Mario in Rom. Abgesehen natürlich von den 577 Metern Höhe, in der sich das Aostatal befand, wo er die letzten vier Monate verbracht hatte. Ein Leben auf fast zweitausend Höhenmetern schien ihm unvorstellbar. Da musste einem doch schwindlig werden!

«Was macht man auf tausendfünfhundert Metern Höhe?»

«Ski fahren zum Beispiel. Oder eisklettern. Im Sommer wandern.»

«Unfassbar!» Der Vicequestore nahm sich eine Chesterfield aus der Packung des Agente. «Ich bevorzuge Camel.»

Italo grinste.

«Die Chesterfields schmecken doch nach nichts. Du solltest besser auch auf Camel umsteigen, Italo.» Rocco zündete sich die Zigarette an und nahm einen Zug. «Keine Sterne zu sehen», sagte er mit einem Blick aus dem Seitenfenster.

Pierron konzentrierte sich aufs Fahren. Er wusste, dass jetzt der Teil mit dem Heimweh kommen würde, die römische Sonate. Und tatsächlich.

«In Rom ist es zu dieser Jahreszeit auch kalt, aber die Tramontana vertreibt die Wolken. Und dann kommt die Sonne durch. Die Sonne scheint, und es ist kalt. Die Stadt leuchtet in roten und orangenen Farbtönen, der Himmel ist blau, und es gibt nichts Schöneres, als über die gepflasterten Straßen zu spazieren. Die Tramontana bringt alle Farben hervor. Als würde jemand den Staub von einem alten Gemälde wischen.»

Pierron verdrehte die Augen. Er war nur einmal in Rom gewesen, vor fünf Jahren, und wegen des Gestanks war ihm drei Tage lang kotzübel gewesen.

«Und dann all die geilen Frauen. Du hast keine Ahnung, wie viele geile Frauen es in Rom gibt! Da kann nur Mailand mithalten. Warst du schon mal in Mailand?»

«Nein.»

«Nicht gut. Fahr hin. Eine tolle Stadt. Wenn du dich ein bisschen auskennst.»

Pierron war ein guter Zuhörer. Ein Mann der Berge, der wusste, wann es besser war zu schweigen und wann man den Mund aufmachen sollte. Er war siebenundzwanzig Jahre alt, wirkte aber zehn Jahre älter. Er war so gut wie nie aus dem Aostatal herausgekommen, abgesehen von den paar Tagen in Rom und einer Woche auf Djerba mit Veronica, seiner Ex.

Italo mochte Rocco Schiavone. Bei ihm wusste man, woran man war, und man konnte immer etwas von ihm lernen. Irgendwann würde er den Vicequestore, den er hartnäckig Commissario nannte, fragen, was in Rom passiert war. Aber noch kannten sie sich nicht gut genug. Italo spürte, dass es noch zu früh war, um sich nach Einzelheiten zu erkundigen. Vorerst hatte er seine Neugier befriedigt, indem er heimlich ein wenig in der Korrespondenz und den Berichten gestöbert hatte. Rocco Schiavone hatte eine beeindruckende Anzahl Fälle gelöst, Mord, Einbruch, Betrug, und einer glänzenden Karriere schien nichts im Weg zu stehen. Doch plötzlich war alles vorbei gewesen, und er war von einem Tag auf den anderen stillschweigend ins Aostatal strafversetzt worden. Leider hatte Italo nicht herausgefunden, was diesen Schandfleck im Lebenslauf des Vicequestore verursacht hatte. Natürlich hatten sie in der Questura darüber gesprochen. Caterina Rispoli war auf Schiavones Seite gewesen: «Sicher ist er irgendeinem hohen Tier auf die Füße getreten. In Rom kann das schnell passieren.» Deruta dagegen meinte, dass es immer Probleme brachte, wenn man zu gut war und nicht die richtigen Beziehungen hatte. D’Intino vermutete eine Frauengeschichte dahinter: «Vielleicht hat er was mit einer Frau gehabt, von der er besser die Finger gelassen hätte.» Italo hatte seine eigene Theorie, doch die behielt er lieber für sich. Da war zum Beispiel das Haus, in dem Rocco Schiavone in Rom gewohnt hatte. In der Via Alessandro Poerio. Auf dem Gianicolo. Da kostete der Quadratmeter rund achttausend Euro, wie er von seinem Cousin wusste, der als Immobilienmakler in Gressoney arbeitete. Nur mit dem Gehalt eines Vicequestore konnte man sich so ein Haus nicht leisten.

Rocco drückte die Zigarette im Aschenbecher aus. «Woran denkst du, Pierron?»

«An nichts, Dottore. Ich konzentriere mich aufs Fahren.»

Und so blickte auch Rocco schweigend auf die Straße, wo die Schneeflocken tanzten.

 

Die Neuigkeit hatte sich in Windeseile verbreitet. Daher hatte sich bereits eine beeindruckende Menge Leute an der Seilbahnstation versammelt und starrte in den Wald hinauf, wo die Scheinwerfer der Raupen die Stelle markierten, an der es passiert war. Alle mit der gleichen Frage auf den Lippen. Doch eine Antwort darauf würde es so schnell nicht geben. Die Einheimischen grinsten schadenfroh bei dem Gedanken an die Scharen von Mailändern, Genuesen und Piemontesen, die am nächsten Tag gesperrte Skipisten vorfinden würden.

Italo parkte den BMW unterhalb der Seilbahn. Sie waren etwa anderthalb Stunden von Aosta aus unterwegs gewesen.

Während der Fahrt auf der eng gewundenen Straße hatte Rocco Schiavone die Umgebung betrachtet. Die schwarzen Wälder, die Geröllflüsse, die sich von den hohen Felsen aus wie Milchbäche in die Täler ergossen. Wenigstens hatte es im Laufe dieser nicht enden wollenden Bergtour auf der Höhe von Brusson aufgehört zu schneien, sodass das Mondlicht endlich ungestört zur Erde vordringen konnte. Dort wurde es von der weißen Schneeschicht reflektiert, und es schien, als wären unzählige kleine Diamanten in der Landschaft verteilt worden.

Rocco stieg, in seinen blauen Lodenmantel gehüllt, aus dem Auto und spürte sofort, wie der Schnee durch die Sohlen seiner Schuhe drang.

«Commissario, es ist da oben. Sie fahren uns mit der Raupe rauf», sagte Pierron und wies auf das durch die Bäume dringende Licht auf halber Höhe des Berges.

«Mit der Raupe?», fragte Rocco, der die Worte nur mühevoll zwischen seinen klappernden Zähnen hervorbringen konnte.

«Ja, dem Kettenfahrzeug, das die Pisten bearbeitet.»

Schiavone stieß einen tiefen Seufzer aus. Was für ein Scheißort, um zu sterben, dachte er.

«Italo, kannst du mir mal sagen, wie es möglich ist, dass niemand gemerkt hat, dass mitten auf der Skipiste eine Leiche liegt? Ich meine, da fahren doch die ganzen Skifahrer her, oder?»

«Nein, Commissario … Pardon, Vicequestore», verbesserte Pierron sich sofort. «Der Tote wurde im Wald gefunden, auf einer Art Abkürzung, die nur von den Schneeraupen genutzt wird.»

«Ah. Ich verstehe. Und wer kommt auf die Idee, da eine Leiche zu vergraben?»

«Das müssen Sie herausfinden», entgegnete Pierron mit einem unschuldigen Lächeln.

Der Lärm eines Presslufthammers durchbrach die klare kalte Luft. Nur dass es kein Presslufthammer war. Die Schneeraupe war herangefahren. Sie hielt mit laufendem Motor an der Seilbahnstation und stieß dichten schwarzen Rauch aus.

«Das ist die Raupe, oder?», fragte Rocco. Eine solche Maschine hatte er bisher nur in Dokumentarfilmen über Alaska gesehen.

«Jawohl. Und die bringt uns jetzt nach oben, Commissario! Vicequestore, Pardon.»

«Hör mal, wenn du das nicht in deinen Kopf kriegst, nenn mich doch, wie du willst. Das ist mir scheißegal. Und übrigens», meinte Rocco und starrte auf das Kettenfahrzeug, «wieso hat man dieses Ding nach so einem kleinen Tier wie einer Raupe benannt, wenn es doch viel eher aussieht wie ein Panzer?»

Italo Pierron beschränkte sich darauf, mit den Schultern zu zucken.

«Und auf diese Raupe sollen wir nun tatsächlich draufsteigen?»

Der Vicequestore sah auf seine Füße. Die Clarks waren bereits völlig durchweicht, das Veloursleder hatte sich mit Wasser vollgesogen, und die Feuchtigkeit drang ihm in die Socken.

«Dottore, ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie sich besser ein Paar geeignetere Schuhe zulegen sollten.»

«Pierron, geh mir nicht auf den Sack! Solche Betonklötze, wie ihr sie an den Füßen habt, werde ich zum Verrecken nicht anziehen!»

Sie kämpften sich über die buckelige, löchrige Piste. Die Raupe mit den auf dem Dach montierten Scheinwerfern wirkte wie ein großes mechanisches Insekt, das bereit war, seine Beute zu verschlingen.

«Ah, Dottore, steigen Sie auf die Kette und klettern Sie rein», schrie der Fahrer des Ungetüms.

Rocco gehorchte. Er setzte sich ins Führerhaus, Pierron tat es ihm nach. Der Fahrer schloss die Tür und legte den Gang ein.

Rocco schlug die unangenehme Geruchsmischung aus Alkohol und Schweiß entgegen.

«Ich bin Luigi Bionaz und hier in Champoluc für die Schneeraupen zuständig», erklärte der Fahrer.

Rocco sah sich den Mann erst einmal an. Der Kerl hatte einen Dreitagebart und glasige Augen. «Luigi, geht es dir gut?»

«Warum?»

«Weil ich, bevor ich mit diesem Ding mitfahre, wissen will, ob du vielleicht betrunken bist.»

Luigi sah ihn überrascht an. «Ich?»

«Es ist mir scheißegal, ob du trinkst oder Gras rauchst. Ich habe nur keine Lust, in diesem Schrotthaufen auf fünfzehnhundert Metern Höhe in den Tod zu rauschen.»

«Nein, Dottore, es ist alles in Ordnung. Ich trinke nur abends. Das, was Sie riechen, ist von dem Jungen, der heute Nachmittag mit dem Gerät gefahren ist.»

«Natürlich», meinte der Vicequestore skeptisch. «Na gut, dann mal los!»

Die Raupe rumpelte auf die Skipiste. Im Licht der Scheinwerfer sah Rocco eine Wand aus Schnee vor sich und konnte nicht glauben, dass es diesem plumpen Ungetüm gelingen würde, einen derart steilen Abhang hinaufzufahren.

«Sag mal, bist du sicher, dass wir keine Rolle rückwärts machen?»

«Keine Sorge, Dottore. Diese Maschinen schaffen mehr als vierzigprozentige Steigungen.»

Sie fuhren um die Kurve und befanden sich auf einmal mitten im Wald. Die Scheinwerfer erhellten die weiche Schneeschicht und die schwarzen Baumstämme, die dicht an der Piste standen.

«Wie breit ist die Piste?»

«Etwa fünfzig Meter.»

«Und wie viele Leute benutzen die so an einem normalen Tag?»

«Da müsste man im Verwaltungsbüro des Skigebiets nachfragen. Die können uns sagen, wie viele Skipässe am Tag verkauft werden. Ich könnte das nur schätzen.»

Der Vicequestore nickte. Er steckte die Hände in die Manteltaschen, nahm ein paar Lederhandschuhe heraus und zog sie an. Die Piste neigte sich nach rechts. Pierron sagte kein Wort. Er blickte nach oben und schien zwischen den Zweigen der Tannen und Lärchen nach einer Eingebung zu suchen.

Sie fuhren weiter bergauf, nur das Geräusch des Motors war zu hören. Endlich kamen die Halogenscheinwerfer in Sicht, die die Polizisten rund um den Fundort der Leiche aufgestellt hatten.

Die Raupe verließ die Piste und brach durch den Wald. Sie rumpelte über Wurzeln und durch ein paar Vertiefungen.

«Sag mal, wer hat den Toten eigentlich gefunden?», fragte Rocco.

«Amedeo Gunelli.»

«Können wir mit ihm reden?»

«Ja, Commissario. Er wartet unten an der Seilbahnstation. Ist natürlich völlig von der Rolle», meinte Luigi Bionaz und hielt an.

Als der Vicequestore den Fuß auf den Boden setzte, wurde ihm klar, dass sein Kollege nicht umsonst die Stiefel mit den Thermosohlen angezogen hatte, die Rocco «Betonklötze» nannte. Eisige Kälte biss in seine Fußsohlen, die inzwischen schmerzhaft kribbelten, was seine Nerven von den Fersen direkt an sein Gehirn weiterleiteten. Er atmete tief ein. Die Luft war hier noch dünner als im Tal. Die Temperatur lag weit unter null. Das Blut pochte in seinen Ohrläppchen, seine Nase lief. Schnellen Schritts näherte sich seine Kollegin Caterina Rispoli.

«Vicequestore.»

«Ispettore.»

«Casella und ich sind gleich hier raufgefahren, um den Fundort zu sichern.»

Rocco nickte. «Warten Sie hier, Ispettore.» Er drehte sich um. Weit unten waren die Lichter im Tal zu erkennen. Rechts neben ihm stand die Schneeraupe im Wald, die der arme Amedeo gefahren und vor Stunden dort zurückgelassen hatte.

 

Mühsam näherte sich Rocco dem Riesenvieh, wobei er fast bis zu den Knien im Schnee versank. Er betrachtete die Schnauze. Fuhr mit der Hand darüber, begutachtete sie ausführlich, als überlegte er noch, ob er sich zum Kauf entscheiden sollte. Dann bückte er sich und blickte auf die mit frischem Schnee bedeckten Ketten. Er nickte ein paarmal und schritt dann zum Fundort hinüber.

«Wonach haben Sie gesucht, Dottore?», fragte Italo, doch der Vicequestore antwortete nicht.

Ein Polizist, der ein Paar Ski auf der Schulter trug, kam ihm trotz der schweren Skistiefel im flotten Gang entgegen: «Commissario! Ich bin Agente Caciuoppolo!», sagte er in unverkennbar neapolitanischem Dialekt.

«Na toll! Und was machst du hier?»

Der junge Mann grinste. «Ich hab den Fundort gesichert.»

«Sehr gut, Caciuoppolo. Wo hast du Skifahren gelernt?»

«In den Abruzzen. Meine Eltern haben ein Haus in Roccaraso. Und Sie sind aus Rom, Commissario?»

«Trastevere. Und du?»

«Vomero.»

«Gut. Dann sehen wir mal nach, was wir haben.»

 

Was sie hatten, war ein halbgefrorener menschlicher Körper unter einer Schneeschicht von etwa zehn Zentimetern. Wobei man die menschlichen Überreste kaum noch «Körper» nennen konnte. Jetzt, von der Fräse der Schneeraupe zermalmt, war es mehr eine Art Fleischpastete mit Nerven und viel Blut. Und drumherum lagen Federn. Überall. Der Vicequestore zog den Lodenmantel enger um sich. Es wehte nur ein leichter Wind, doch er trug keinen Schal, sodass sich seine Nackenhaare aufrichteten und strammstanden wie Soldaten vor ihrem General. Sein Knie, das sie ihm vor fünfzehn Jahren bei seinem letzten Fußballspiel für seine Mannschaft, Urbetevere Calcio, kaputtgetreten hatten, tat bereits weh.

Vor dem Toten stand Alberto Fumagalli. Der Rechtsmediziner aus Livorno schob mit einem Kugelschreiber die kleinen Fetzen der Outdoorjacke des armen Kerls, der da vor ihm lag, ein wenig zur Seite.

Grußlos trat der Vicequestore neben den Arzt. Sie hatten sich seit ihrer ersten Begegnung vor vier Monaten nicht gegrüßt, warum also sollten sie gerade jetzt damit anfangen?

«Wo kommen die ganzen Federn her?», fragte Rocco.

«War ’ne Daunenjacke», antwortete Fumagalli, noch immer über die Leiche gebeugt.

Das Gesicht des Toten war nicht zu erkennen. Ein Arm war abgetrennt worden, und aus dem Brustkorb quoll der Inhalt heraus.

«Oh Mann, ist der zugerichtet!», sagte Rocco leise.

Fumagalli schüttelte den Kopf. «Ich muss ihn in den Autopsiesaal bringen. Da schau ich ihn mir an, und dann kann ich dir etwas sagen. So auf den ersten Blick, wie der da liegt … uff! Das Ungetüm hat ihn voll erwischt. Den muss ich erst mal mühsam wieder zusammensetzen. Außerdem friere ich mir gerade die Eier ab; ich fahr wieder runter, um etwas Heißes zu trinken. Auf jeden Fall ist es ein Mann.»

«Da bin ich auch allein schon draufgekommen.»

Fumagalli sah Rocco schief an. «Darf ich ausreden? Ein Mann um die vierzig. Seine Uhr zeigt halb acht. Das war, meiner Meinung nach, der Zeitpunkt, als das Monstrum ihn überfahren hat.»

«Das denke ich auch.»

«Er hat keinen Ausweis bei sich. Und wegen der vielen Verletzungen ist er nicht zu identifizieren. Und weißt du was, Schiavone?»

«Sag’s mir, Fumagalli.»

«Das ganze Blut hier.»

«Jede Menge. Und?», fragte Rocco.

«Wegen seiner Bestandteile, Wasser, Zellen und so weiter, friert Blut normalerweise schon bei null Grad. In den Labors wird es vorsichtshalber bei minus vier Grad aufbewahrt. Also, was ich sagen will, ist, dass hier oben Minusgrade herrschen. Unter null Grad Celsius. Und trotzdem ist das Blut noch flüssig. Was bedeutet, dass er noch nicht lange tot ist.»

Der Vicequestore nickte schweigend. Er hatte den Blick fest auf die linke Hand des Toten gerichtet. Eine große, knotige Hand. Sie erinnerte ihn an die Hände seines Vaters, die unter der jahrelangen Arbeit mit Farben und Säuren in der Druckerei gelitten hatten. An der linken Hand des Toten fehlten drei Finger. Die rechte Hand lag etwa zehn Meter von dem noch anonymen Körper entfernt.

«Ich hab schon platt gefahrene Igel auf der Straße gesehen, die besser aussahen!», sagte Schiavone und stieß eine dicke weiße Atemwolke aus. Dann ließ er den Blick über den Bereich wandern, den die Polizisten gesichert hatten.

Das reinste Schlachtfeld.

Neben den tiefen Kettenspuren der Raupe waren überall noch andere Abdrücke zu sehen. In etwa zehn Metern Entfernung stand ein Polizist mit dem Rücken zu ihnen am Waldrand und pinkelte an einen Baum. Von hinten konnte Rocco nicht erkennen, wer es war.

«He!», rief er.

Der Mann drehte sich um. Es war Domenico Casella.

«Scheiße, was tust du da?»

«Pipi machen, Dottore!»

«Super, Casella! Da werden sich die Kollegen von der Spurensicherung aber freuen!»

Alberto Fumagalli warf einen Blick auf Casella und Caciuoppolo, der mit den Ski auf der Schulter in sicherer Entfernung stand, um die zermalmten Überreste des Toten nicht sehen zu müssen. «Was für ein Affenhaufen!», brummte der Arzt aus Livorno.

«Meine Worte! Hat man euch denn gar nichts beigebracht?»

Casella zog sich den Reißverschluss zu und kam zum Vicequestore herüber. «Ich konnte nicht mehr einhalten. Außerdem, Dottore, ist ja gar nicht gesagt, dass sie ihn hier getötet haben, oder?»

«Bist du jetzt Sherlock Holmes, oder was? Leck mich, Casella. Geh möglichst weit weg, da, zu der Schneeraupe rüber, damit du hier keinen Schaden anrichtest! Dahinten hin, zu Ispettore Rispoli! Los! Hast du irgendwas angefasst?»

«Nein.»

«Gut. Da rüber, schön Sitz machen!» In einer Geste der Verzweiflung hob Rocco die Arme. «Weißt du was, Alberto?»

«Sag schon!»

«Was werden wohl die Kollegen von der Spusi sagen, wenn sie hier all die schönen DNA-Spuren von unseren Leuten entdecken: Pisse, Haare von allen möglichen Körperstellen … Am Ende war der Mörder so dämlich und hat auf den Boden gekackt, und wir sind nicht in der Lage, eine Spur zu finden. Dank solch cleverer Burschen wie Casella … Und was ist mit dir, Caciuoppolo? Du sagst, du hast den Tatort gesichert, und dann?»

Caciuoppolo senkte den Kopf.

«Guck mal, was du gemacht hast! Hier sind überall deine Spuren: um den Toten herum, auf dem Weg, überall! Verdammte Scheiße! Und dann sagst du dir einfach, leckt mich, ich hau ab?»

Roccos Schuhe waren inzwischen komplett durchnässt. Mit jeder Minute, die verging, stieg die Kälte rapide an. Die null Grad, von denen Fumagalli gesprochen hatte, waren längst Geschichte, und den Wind spürte er inzwischen bis ins Unterhemd. Rocco wünschte sich mindestens sechshundert Kilometer weit weg. Wie schön wäre es jetzt, in der Via della Frezza bei Antonio in der Osteria Gusto direkt am Lungotevere zu sitzen, irgendwas leckeres Frittiertes mit Sauce tartare zu essen und dazu eine Flasche Verdicchio di Matelica zu trinken!

«Könnte er ein Skifahrer gewesen sein?», erkundigte sich Pierron, der sich bis dahin in sicherer Entfernung von dem Toten aufgehalten hatte, in dem Versuch, die angespannte Stimmung zu lockern.

Rocco sah ihn mit all dem Widerwillen im Blick an, der sich in vier Monaten Exil in ihm angesammelt hatte. «Italo, der Mann trägt Stiefel. Hast du schon mal einen mit Lederstiefeln und dicker Gummisohle Ski fahren sehen?»

«Nein. Das konnte ich von hier nicht erkennen. Entschuldigung!», entgegnete Italo und zog den Kopf ein.

«Und jetzt, anstatt Schwachsinn zu reden, beweg deinen Arsch hier rüber und sieh dir das an. Mach deinen Job!»

«Darauf würde ich gerne verzichten, Commissario!»

Rocco resignierte. Er sah den Rechtsmediziner an. «Und für diese Affen bin ich verantwortlich! Ist gut, Alberto, danke. Ruf mich an, wenn du etwas weißt. Hoffen wir, dass er an einem Infarkt gestorben, hingefallen und dann zugeschneit worden ist.»

«Ja, hoffen wir das.»

Rocco warf einen letzten Blick auf die Leiche. «Viele Grüße an die Spurensicherung.» Dann wandte er sich ab und ging.

Doch etwas pikste ihn, ganz plötzlich, wie ein Mückenstich. Er drehte sich noch einmal um.

«Alberto, du kennst dich doch sicher mit so was aus: Hat er wetterfeste Kleidung getragen? Markenkleidung?»

Fumagalli zog die Augenbrauen zusammen. «Mh, die Hose ist wattiert. Die Outdoorjacke ist was Besonderes. Eine North Face Polar. Kostet ’ne Menge Geld. Ich hab die Gleiche für meine Tochter gekauft. Allerdings in Rosa.»

«Und?»

«Über vierhundert Euro.»

Rocco beugte sich noch einmal über den halbgefrorenen Körper. «Er hat keine Handschuhe an. Warum?»

Der Rechtsmediziner zuckte mit den Schultern. Der Vicequestore erhob sich wieder. «Darüber sollten wir nachdenken.»

«Äh, Commissario», meldete sich Caciuoppolo zu Wort. «Vielleicht wohnt er in einer der Hütten in Crest. Sehen Sie? Die sind nur zweihundert Meter entfernt.»

Rocco blickte zu der kleinen Ansammlung an Dächern, die aus dem Schnee ragten.

«Aha. Da wohnen Leute?»

«Ja.»

«Hier in der Einöde? Oh, Mann …»

«Wenn man die Berge liebt, ist das der perfekte Ort, wissen Sie?»

Rocco Schiavone machte einen angewiderten Gesichtsausdruck. «Mag sein, Caciuoppolo, mag sein. Gut.»

«Danke.»

«Aber es könnte auch sein, dass er woanders zu Tode gekommen ist und hierhergebracht wurde. Oder?»

Caciuoppolo wirkte nachdenklich.

«Selbst wenn …», fügte Rocco hinzu, «… die Jacke könnten sie ihm später angezogen haben. Wenn man irgendwo drinnen stirbt, zum Beispiel, hat man ja im Allgemeinen keine Jacke an. Oder? Vielleicht wollte er ja auch gerade rausgehen, und dann ist es passiert. Oder er ist zu jemandem hingegangen, hatte eben noch Zeit, sich die Handschuhe auszuziehen, und hat dann ins Gras gebissen.» Rocco sah Caciuoppolo an, ohne ihn zu sehen. «Vielleicht wurde er auch gar nicht ermordet, ist einfach so gestorben, und ich erzähle hier einen Haufen Scheiße. Stimmt’s, Caciuoppolo?»

«Commissario, das haben Sie gesagt.»

«Danke, Agente. Aber eine Sache wäre da noch klarzustellen. Ich weiß nicht, inwieweit du auf dem Laufenden bist, aber im Polizeidienst gibt es keinen Commissario mehr. Wir werden jetzt Vicequestore genannt. Das nur zur Information. Mir persönlich ist das scheißegal.»

«Ja, Chef.»

«Caciuoppolo, sag mal, einer, der in Neapel geboren ist und Capri, Ischia und Procida vor der Nase hat, Positano, die Küste, geht der nicht vor die Hunde bei dieser Kälte hier?»

Caciuoppolo sah ihn mit einem mafiösen Grinsen an, das sein perfektes Gebiss zur Schau stellte. «Commissario, Pardon, Vicequestore. Wie sagt man so schön: Wo die Liebe hinfällt …»

«Verstehe.» Rocco blickte in den schwarzen Himmel, wo die Sterne hinter den ziehenden Wolken verschwanden. «Und deine ist in die Berge gefallen?»

«Nein, nach Aosta. In eine Eisdiele.»

«Eine Eisdiele? In Aosta?»

«Ja. Auch hier gibt es einen Sommer.»

«Das wusste ich noch nicht. Ich bin erst seit Ende September hier.»

«Vertrauen Sie mir, Dottore. Er kommt. Und er ist wunderbar.»

Rocco Schiavone stapfte zur Schneeraupe hinüber, die darauf wartete, ihn zurück ins Tal zu bringen. Seine Füße waren inzwischen zwei tiefgefrorene Flundern.

 

Als die Raupe Schiavone und Pierron wieder am Fuß der Seilbahnstation absetzte, war die Menge der Neugierigen deutlich kleiner geworden, was wohl der Kälte und dem Schnee zuzuschreiben war. Nur die Engländer hatten geschlossen ausgeharrt und sangen aus voller Kehle You’ll never walk alone. Der Vicequestore sah zu ihnen hinüber. Rote Gesichter, bierselige Blicke.

Die gingen ihm so was von auf den Sack!

Er erinnerte sich noch genau an den 30. Mai 1984. Conti und Graziani hatten den Ball über die Latte gedonnert, und Liverpool gewann zum vierten Mal die Champions League.

«Pierron, stopf ihnen das Maul!», schrie er. «Da oben liegt ein Toter, diese respektlosen Arschlöcher!»