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Antonio Manzini

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Beschreibung

Die Leiche einer jungen Frau treibt in der Dora, dem Fluss, der durch das beschauliche Alpenstädtchen Aosta fließt. Als Vicequestore Rocco Schiavone und sein Team die Wohnung der Toten im wohlhabenden Teil der Stadt inspizieren, erleben sie eine Überraschung: Das Apartment ist komplett leer, kein Möbelstück, kein Kleid, kein Stück Papier ist mehr da. Doch keiner der Nachbarn will einen Auszug oder Einbruch bemerkt haben. Während Rocco herauszufinden versucht, welches Geheimnis sich hinter der Fassade der Luxuswohnanlage verbirgt, wird der Polizist von seiner dunklen Vergangenheit eingeholt: von den Ereignissen um den Tod seiner Frau Marina und einem ungesühnten Verbrechen, das noch immer nach Rache verlangt …

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Seitenzahl: 472

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Antonio Manzini

In einem dunklen Sommer

Kriminalroman

 

 

Aus dem Italienischen von Anja Rüdiger

 

Über dieses Buch

Tod in den italienischen Alpen

Die Leiche einer jungen Frau treibt in der Dora, dem Fluss, der durch das beschauliche Alpenstädtchen Aosta fließt. Als Vicequestore Rocco Schiavone und sein Team die Wohnung der Toten im wohlhabenden Teil der Stadt inspizieren, erleben sie eine Überraschung: Das Apartment ist komplett leer, kein Möbelstück, kein Kleid, kein Stück Papier ist mehr da. Doch keiner der Nachbarn will einen Auszug oder Einbruch bemerkt haben. Während Roccos Ermittlungen ihn ins Rotlichtmilieu führen, wird der Polizist von seiner dunklen Vergangenheit eingeholt: von den Ereignissen um den Tod seiner Frau Marina und einem ungesühnten Verbrechen, das noch immer nach Rache verlangt …

Die Nummer-1-Bestsellerreihe aus Italien.

 

«Manzini hat eine spektakuläre Figur geschaffen, die in der Welt der Krimiliteratur ihresgleichen sucht.» Focus

 

«Ein Kultermittler (…) ein Lesegenuss.» Wiener Zeitung

 

«Rocco Schiavone macht Montalbano Konkurrenz.» GQ

Vita

Antonio Manzini, geboren 1964 in Rom, ist Schauspieler, Regisseur und Drehbuchautor. Seine im Aosta-Tal angesiedelten Kriminalromane um den charismatischen Ermittler Rocco Schiavone stehen in Italien regelmäßig an der Spitze der Bestsellerlisten und wurden unter dem Titel «Rocco Schiavone. Der Kommissar und die Alpen» erfolgreich verfilmt. Im Rowohlt Taschenbuch Verlag erschienen bisher «Der Gefrierpunkt des Blutes», «Die Kälte des Todes», «Alte Wunden», «Ein kalter Tag im Mai» sowie «Die schwarze Stunde».

 

Anja Rüdiger, geboren in Bonn, hat in Köln, Paris und Santander Übersetzen/Dolmetschen studiert. Fünfzehn Jahre lang hat sie in verschiedenen Verlagen als Lektorin und Programmleiterin gearbeitet. Seit 2011 ist sie als freie Übersetzerin, Lektorin und Literaturscout tätig.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel «Pulvis et umbra» bei Sellerio Editore, Palermo.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, April 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg «Pulvis et Umbra» Copyright © 2017 by Sellerio Editore, Palermo

Redaktion Petra Müller

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung FAVORITBUERO, München

Coverabbildung Shutterstock

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01363-6

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

Wenn ein einziger Hund anfängt, einen Schatten anzubellen, machen zehntausend Hunde eine Realität daraus.

Chinesisches Sprichwort

I

Vor einer halben Stunde waren die abendlichen Lichter angegangen, und die Luft war kühl und angenehm. Ein paar Leute kehrten erst jetzt mit eiligen Schritten nach Hause zurück. Er dagegen stand da, bewegungslos, auf dem Gehsteig der Via Brean, und konnte sich nicht überwinden. Dabei brauchte er nur die Straße zu überqueren und an der Sprechanlage zu klingeln, der Rest würde sich von allein ergeben. Doch er konnte sich nicht zu den wenigen Schritten aufraffen. Die Hände in den Taschen, zerknautschte er weiter den Zettel mit der Adresse: Via Brean 12, Studio M.

Was hielt ihn zurück? Warum schienen seine Sohlen auf einmal auf dem Gehsteig festgewachsen?

«Ciao, Amigo, willst du?»

Die Stimme ließ ihn herumfahren. Ein Afrikaner, der jede Menge in Zellophan verpacktes Zeug dabeihatte, bot ihm ein Paar Baumwollsocken an. Filo di Scozia.

«Wie geht’s? Zehn Euro, Amigo …» Der Mann streckte ihm fragend die freie Hand entgegen.

«Allora, willst du? Zehn Euro!»

Marco verneinte mit einer Kopfbewegung.

«Hast du ein bisschen Kleingeld? Für einen Kaffee?»

Marco nickte, blieb aber mit den Händen in den Taschen stehen, unbeweglich, ein Wachtposten mit präzisem Befehl, ein Lichtmast auf der Straße. Der Schwarze wartete und sah ihn an, dann grinste er mit seinen weißen Zähnen und schüttelte ein paarmal den Kopf.

«Amigo, hast du ein bisschen Kleingeld?», wiederholte er.

Langsam zog Marco seine Brieftasche hervor. Darin waren ein Fünfzig- und ein Zehn-Euro-Schein. Er nahm den Zehn-Euro-Schein und hielt ihn dem anderen hin. Der Straßenhändler schnappte sich wortlos das Geld und gab ihm dafür die Socken, die Marco, ohne den Mann anzusehen, entgegennahm.

«Ciao, Amigo …» Der Schwarze ging mit großen Schritten davon.

Marco wandte den Blick wieder dem Gebäude mit der Nummer zwölf zu. Ein mehrstöckiges Backsteinhaus mit einer verglasten schmiedeeisernen Eingangstür, kein Portier, die Sprechanlage an der rechten Seite.

Wie spät ist es wohl?, fragte er sich.

Viertel nach acht. Wie waren noch mal die Zeiten? Von fünfzehn bis einundzwanzig Uhr oder von fünfzehn bis zwanzig Uhr? Vielleicht war sie ja schon nicht mehr da? Er nahm sein Handy heraus und gab noch einmal die Nummer ein, die er bereits am Morgen gewählt hatte. Er wartete, bis sich der Anrufbeantworter meldete. «Ciao … hier ist Sonya … du findest mich in der Via Brean an der Kreuzung zur Via Monte Grivola. Komm … ich bin sehr schön, eine heiße Latina mit Körbchengröße E. Ich bin immer da und warte auf dich, um Dinge machen, die du magst … Brauchst du jemand zum Kuscheln? Möchtest du sehr lange Liebe machen? Oder doppelt Penetration? Ich habe auch eine Überraschung für dich. Alles, was du willst … sehr entspannte und saubere Zimmer … Komm heute, am Sonntag, zwischen fünfzehn und einundzwanzig Uhr in die Via Brean 12 und klingel an Sprechanlage bei Studio M … M wie Mailand … Ciao, Hubscher, ich warte auf dich!»

Es war noch früh genug. Aber in seinem Magen rumorte es in einem fort, und seine Beine blieben dort, wo sie waren. Vielleicht weil er sich die Szene schon so oft ausgemalt hatte. Wie sie ihn im Korsett und in schwarzen Seidenstrümpfen erwartete. Nur mit Slip und ohne BH. Die dunklen Brustwarzen, die sich unter dem durchsichtigen Negligé abzeichneten, während sie auf schwindelerregend hohen Absätzen, die auf dem Steinboden klackerten, auf ihn zustöckelte. Üppige Lippen, halb geschlossene Lider, offenes schwarzes Haar und eingehüllt in den Duft nach frischen Blumen und warmem Brot. Wie sie ihn bat, sich aufs Bett zu setzen, ihn küsste, ihn entkleidete und stundenlang auf ihm ritt, die riesigen Brüste direkt vor seinen Augen. Dabei wusste er insgeheim, irgendwo tief in seinem Bewusstsein, nur allzu gut, dass eine Frau wie Sophia Loren in Gestern, heute und morgen wohl kaum über eine Anzeige in der Rubrik Online-Dating der hiesigen Zeitung zu finden war. Wer weiß, was ihn im Studio M in der Via Brean tatsächlich erwartete. Ob das Foto auf der Website echt war? Es zeigte eine Frau in Dessous, deren Gesicht im Verborgenen blieb. Und daneben stand Lass dich überraschen!, was ihn am meisten erregte.

Marco hielt es einfach nicht mehr aus. Er war zweiundfünfzig, seit fünfundzwanzig Jahren verheiratet, Vater von drei Kindern und saß seit zwei Jahren auf dem Trockenen. Barbara hatte den Hahn zugedreht und ließ ihn verdursten, nachdem bei ihr fliegende Hitze und ständige Launenhaftigkeit an die Stelle von einem Lächeln und ein paar Streicheleinheiten getreten waren. Sie hatte keine Lust mehr auf Sex, während er immer noch so spitz war wie Nachbars Lumpi. Zwei Jahre absolute Dürre, abgesehen von einem unvollendeten Blowjob einer Vertreterin für Badarmaturen, die er bei einem Kongress für Heizungstechnik in Florenz kennengelernt hatte. Er war an dem Abend so voll wie eine Haubitze gewesen und hatte auf der Piazza della Signoria We Are the Champions gesungen. Er konnte sich nicht mal mehr an den Namen der Frau erinnern, und es war auch kein wirklich herausragendes Erlebnis gewesen. Trotz allem hatte er wochenlang gezögert, bevor er Sonyas Nummer wählte. Er hatte immer wieder mit dem Telefon in der Hand dagestanden und sich dann doch nicht getraut. Nachts hatte er von der erotischen Begegnung geträumt und war am Morgen mit einer derart schmerzhaften Erektion aufgewacht, dass er noch vor dem Frühstück ins Bad rennen musste, um sich Erleichterung zu verschaffen.

Er brauchte dringend einen Fick.

Im Geschäft redeten seine beiden Kollegen Giorgio und Andrea ununterbrochen von feurigen Geliebten, unersättlichen Ehefrauen und zügellosen Geschiedenen, die immer zur Verfügung standen. Er beschränkte sich darauf zu lächeln und dachte an Barbara, die ihre Negligés und die farblich abgestimmten Dessous längst gegen Flanellpyjamas mit Teddybärenmuster oder inzwischen farblose Shirts mit dem Logo ihres Geschäfts für Sanitärtechnik getauscht hatte. Keine High Heels mehr, sondern abgetretene Ballerinas oder Flip-Flops, und der letzte Friseurbesuch war gefühlte Jahrhunderte her. Marco hatte immer wieder versucht, das Problem zur Sprache zu bringen, aber es war, als würde er gegen eine Wand reden. Er hatte es mit einem Ausflug zu den Thermen von Pré-Saint-Didier probiert und gehofft, das warme Wasser und die Massagen würden wenigstens für eine Nacht Tote zum Leben erwecken, aber stattdessen hatte seine Frau um halb zehn bereits tief und fest geschlafen. Auch die Weihnachtsgeschenke vom letzten Jahr waren eine vergebliche Liebesmühe. Barbara hatte Strümpfe und Strumpfhalter aus Spitze zusammen mit dem Negligé in den Laden zurückgebracht und gegen zwei blaue Handtücher und einen gelben Bademantel für Ginevra, ihre jüngste Tochter, umgetauscht. Bei Marco waren indessen Lust und Frust immer größer geworden, sodass er schon bald nicht mehr wusste, wohin mit sich. Also stand er nun hier auf dem Gehsteig und starrte wie versteinert auf den Eingang, der ihm eine halbe Stunde duftende Haut und ins Ohr geflüsterte zärtliche Worte versprach.

Es ist mein gutes Recht, dachte er. Ich brauch das jetzt. Verdammt, sonst gehe ich ein!

Und warum stand er dann wie angewachsen hier rum?

Aus Angst.

Die Angst verfolgte ihn, seit er diesen Entschluss gefasst hatte. Angst, den nackten Körper einer fremden Frau zu berühren, ihren Duft zu riechen, und vor allem Angst, dass ihn jemand sah. Aosta war nicht New York. Zwar kannte er niemanden, der hier wohnte, aber er hatte ein Geschäft, in dem viele Kunden ein und aus gingen. Und was, wenn er klingelte und gerade eine Mutter mit ihren Kindern aus dem Haus kam, während es aus der Sprechanlage tönte: «Komm rein, mein Hubscher, ich warte schon sehnsüchtig, um dich zu verwöhnen»? Das wäre wirklich verdammt peinlich! Oder wenn einer der Nachbarn ihn schief ansah und feststellte: «Den kenn ich doch! Was macht der denn hier? Ist das nicht der mit dem Sanitärgeschäft?» So was sprach sich schnell herum. Drei Tage später wusste es jeder. Einschließlich seiner Frau. Oder – noch schlimmer – Ginevra. In der Schule würden sie sie jahrelang hänseln und ihr etwas hinterherrufen wie: «Dein Vater geht zu Nutten, dein Vater geht zu Nutten!» Wie sollte er seiner Tochter dann noch in die Augen sehen können? Ob sie überhaupt noch mit ihm reden würde? Der Umgang mit einem Teenager war ohnehin schon schwierig genug, so ein zusätzliches Problem wäre das Ende.

Warum hatte er sich nicht eine Prostituierte in einer anderen Stadt gesucht? In Turin zum Beispiel?

Er hatte das durchaus in Erwägung gezogen. Aber wie hätte er seiner Frau gegenüber die Fahrt nach Turin erklären sollen? Mit einem Auftrag? Das war in all den Jahren seiner unbescholtenen beruflichen Laufbahn noch nie vorgekommen. Barbara würde sofort wissen, dass das gelogen war. Vielleicht sollte er seine beiden Kollegen einweihen und sie um Rückendeckung bitten, aber damit wäre die Sache öffentlich, oder zumindest wussten es dann Giorgio und Andrea. Und die Vorstellung, dass die beiden erfuhren, wie schlecht es bei ihm zu Hause lief und dass er sich in fremde Betten flüchtete, gefiel ihm gar nicht. Sie kannten Barbara seit zwanzig Jahren. Das wäre eine absolute Respektlosigkeit ihr gegenüber, ein Schlag ins Gesicht. So was konnte er ihr nicht antun. Sie war eine gute Ehefrau und eine gute Mutter, aber er brauchte trotzdem dringend einen Fick. Das kleine Gehirn, das Männer nun mal zwischen den Beinen hatten, gab keine Ruhe mehr. «Schenkel Brüste Hintern, Hintern Schenkel Brüste Lippen!» – so lautete die Botschaft, die es ihm unablässig sandte, die Endlosschleife der letzten zwei Jahre, und das große Gehirn, das alle männlichen Säugetiere im Kopf hatten, hatte sich tapfer dagegen gewehrt. Aber der stete Tropfen hatte den Stein gehöhlt und war zu einem Bach und dann zu einem reißenden Strom geworden. Inzwischen brauchte er nur den Fernseher einzuschalten, eine Zeitschrift aufzuschlagen oder eine der Frauen anzusehen, die ihm auf der Straße begegneten, und das kleine Gehirn schlug sofort Alarm. «Schenkel Brüste Hintern, Hintern Schenkel Brüste Lippen!»

Es reicht, sagte er sich. Los jetzt! An der nächsten Ecke stand ein Mann mit seinem Hund an der Leine und wartete augenscheinlich darauf, dass das Tier sein Geschäft erledigte. Marco hatte dagegen das Gefühl, dass er ihn beobachtete. Sicher fragte er sich gerade: Warum steht der Typ da seit zwanzig Minuten rum? Wer ist das wohl? Was will der hier? Was hat der hier zu suchen? Oder er rief womöglich die Polizei: «Hallo? Polizei? Da steht ein seltsamer Typ seit einer halben Stunde vor der Bank, vielleicht sollten Sie den mal überprüfen!» Sie würden ihn garantiert zur Questura mitnehmen, wo er dann wohl oder übel mit der Wahrheit rausrücken musste: «Commissario, ich hab mich nicht getraut, die Straße zu überqueren und an der Sprechanlage der heißen Sonya zu klingeln.»

Die Angst brachte Marco schließlich dazu, seine festgewachsenen Sohlen vom Pflaster zu reißen und seine steif gewordenen Gelenke in Bewegung zu setzen, um die Straße zu überqueren. Jetzt stand er also tatsächlich vor der Sprechanlage des Hauses mit der Nummer zwölf. Er spähte durch die Glastür in den Eingangsbereich. Kein Mensch. Auch der Gehsteig war menschenleer. Der Mann mit dem Hund war verschwunden. Laut Klingelschild befand sich das Studio M in Wohnung drei.

Jetzt oder nie, dachte er. Er streckte den Finger aus und klingelte.

Im nächsten Moment ging drinnen das Licht an. Ein junger Mann mit Sporttasche kam auf die Tür zu.

Da haben wir’s … Scheiße!, sagte Marco sich.

Der Mann blieb stehen, um in den Briefkasten zu schauen und die Post herauszunehmen.

Genug! Das Risiko war zu groß.

Marco zog sich von der Tür zurück und versteckte sich in einer Nische neben dem Eingang. Der junge Mann kam aus dem Haus und ging eilig davon, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Auf einen plötzlichen Impuls hin nutzte Marco die Gelegenheit und huschte wie eine Ratte durch die offene Tür ins Treppenhaus.

Was er besser nicht getan hätte.

II

Der Mond stand schon nicht mehr am Himmel, und die Nacht war weit vorangeschritten. Aosta schlief. Kein Licht, beinahe Totenstille. Nur der Ruf eines Vogels war in der Ferne zu hören. Durch das offene Fenster drang der süße Duft nach Gras und nasser Erde ins Zimmer und hüllte die Möbel ein. Die eine Hand unter dem Kopf, die andere auf Lupas Flanke, lag Rocco wach im Bett. Obwohl er müde war. Doch die Stille und die Gerüche hielten ihn wach; sie riefen ihm in Erinnerung, dass der Sommer bevorstand. Er schloss die Augen und spürte dem Duftgemisch nach. Darunter war ein stechender Geruch, den er nicht zuordnen konnte. Piniennadeln vielleicht oder irgendwelche Blumen auf einer Fensterbank in der Nachbarschaft, jedenfalls wanderten seine Gedanken dadurch sofort zurück zu einem Sommer vor gefühlt tausend Jahren. Zu einem Pinienwald in Kalabrien, als er noch nicht mal fünfzehn war. Mit Rucksäcken und einem Militärzelt ausgestattet, das sie in der Via Sannio gekauft hatten, war er zusammen mit Brizio in den Zug gestiegen. Sie hatten eine lange, unbequeme Reise in Kauf genommen und eine halbe Ewigkeit gebraucht, um mitten in der Nacht am Meer anzukommen, auf einem Campingplatz, dessen Namen er vergessen hatte. Sie hatten unterm Sternenhimmel das Zelt aufgebaut und lachend versucht, die Geräusche des Hammers auf die Heringe zu dämpfen, indem sie ihn mit einem T-Shirt umwickelten. Bis ein Schrei aus einem deutschen Wohnwagen durch die Nacht hallte: Scheiße! Daraufhin hatten sie alles stehen und liegen gelassen und waren ins Zelt gekrochen, das im Dunkeln ziemlich wackelig wirkte. Als sie am nächsten Morgen den Reißverschluss öffneten, stand die glühende Sonne bereits hoch am Himmel, und die anderen Camper lachten sich im Vorbeigehen kaputt. Ihr Zelt war völlig schief, die Plane schlapp und die Sachen aus ihren halb geöffneten Rucksäcken waren überall in der Umgebung verteilt.

Für Rocco waren es die ersten Ferien, die er nicht in Rom verbrachte. Damals hatte er Beate kennengelernt. Sie war ziemlich hübsch und kam aus einer Gegend in Norwegen, wo man im Winter die Sonne, wenn überhaupt, nur am Mittag sah. Sie hatten am Strand miteinander geschlafen, was Rocco als außerordentlich schmerzhafte Erfahrung in Erinnerung geblieben war. «Du machst dir kein Bild, Lupa …», sagte Rocco zu seinem Hund, der ein Ohr aufrichtete und lauschte. «Es war einfach schrecklich. Nicht weil das mein erstes Mal gewesen wäre. Ich hatte vorher schon … also so ein bisschen rumprobiert, du verstehst schon. Aber ich war alles andere als erfahren. Ich wusste mehr oder weniger, was zu tun war. Mehr oder weniger. Sie hatte sich damals auf den Strand gelegt und ich obendrauf. Ach, Lupa, ich wusste echt nicht, wie mir geschah. In meinem Kopf hat sich alles gedreht, das Meer, der Mond, der Strand. Ach ja, der Strand. Du musst wissen, dass der Strand an diesem Ort in Kalabrien ein Steinstrand war. Ich hab also losgelegt und sie geküsst, und irgendwann hat sie ihn genommen und reingesteckt. Und ich kam mir vor wie ein blöder Idiot, Lupa, echt wie ein Idiot. Ich wollte ihr nicht die Führung überlassen. Also hab ich ihre Hand weggeschoben, und das Elend begann, verdammt noch mal!» Er lachte. «Mamma mia, wenn ich daran denke! Ich hab gerieben, geschoben, gepresst … was für ein Schmerz! Ein unbeschreiblicher Schmerz! Aber ich hab nicht aufgehört, hab immer weitergeschrubbt, bis ich nicht mehr konnte. Mir hat alles gebrannt. Ich bin im Dunkeln beinahe schreiend aufgesprungen, und weißt du, was ich gemacht hab? Weißt du, was ich Idiot getan hab? Ich bin ins Meer gestürzt, um mich abzukühlen, weil das ohne Ende gebrannt hat! Da war alles wund und aufgeschürft. Und ich bin ins Meer gesprungen, verstehst du? Beate hat sich totgelacht. Was für eine Lachnummer, Lupa, das kann ich dir sagen … Ich hab praktisch den Strand gevögelt, mir den Dödel geschmirgelt.»

Eine leichte Brise, eher ein zartes Streicheln, ließ Rocco erschaudern. Er lächelte. Denn er wusste, wer sie geschickt hatte. «Ich schlaf mal ein Ründchen. Gute Nacht, Mari …» Und er schloss die Augen.

III

Den Lodenmantel hatte er zu Hause gelassen. Im Juni reichte ein leichter Pullover, keine Cordhosen mehr. Von seiner winterlichen Garderobe blieben nur die Clarks, das sechzehnte Paar in zehn Monaten. Lupa sprang fröhlich herum und versuchte, in die Leine zu beißen.

«Langsam, meine Kleine, langsam, wir gehen ja schon runter.»

Als er im Treppenhaus war, öffnete sich hinter ihm eine Tür. «Wohin geht’s? Zur Arbeit?»

Rocco drehte sich um. Gabriele, sein sechzehnjähriger Nachbar, stand im Türrahmen. Verschlafenes Gesicht, schwarzes T-Shirt mit einem Totenkopf drauf und knielange Basketball-Shorts. An den Füßen ein Paar ausgelatschte Turnschuhe.

«So früh schon auf den Beinen, Gabrie’?»

«Ja …»

«Und das ganz ohne Musik. Bravo, du scheinst lernfähig. Mach’s gut.»

«Gehen Sie schon zur Arbeit?»

«Nein. Frühstücken.»

«Um die Zeit sind doch alle Bars geschlossen.»

«Ettore macht gleich auf.»

«Warum machen Sie das nie zu Hause?»

«Was?»

«Frühstücken.»

«Nein, Gabriele, zu Hause mache ich andere Dinge …»

«Zum Beispiel?»

«Geht dich nichts an. Sagst du mir jetzt, was du willst?»

Der Junge zuckte mit den Schultern. «Ich hab gleich eine Prüfung in Latein und wenig Hoffnung, aber ich komm nicht drum herum. Wenn es gut läuft und ich mir Mühe gebe, werde ich vielleicht doch noch versetzt. Aber wenn es danebengeht …»

«Was ich für ziemlich wahrscheinlich halte …», betonte Rocco.

«Genau, wenn ich durchfalle, bleib ich sitzen.»

Lupa beschnüffelte die Schuhe des Jungen.

«Kann passieren. Auf geht’s, Lupa!»

«Waren Sie auf dem Gymnasium?»

Rocco machte auf dem Treppenabsatz kehrt und sah Gabriele prüfend an. «Was willst du mir sagen?»

«Nichts. Vielleicht könnten Sie mir helfen.»

Rocco seufzte. «Das ist schon so lange her, dass ich fast alles vergessen hab.»

«Sie müssen mich nur abfragen», sagte Gabriele mit bittendem Blick.

«Wann?»

«Jetzt.»

«Du kannst mich mal, jetzt gehe ich frühstücken.»

«Aber nachher muss ich zur Schule.»

Rocco schnaubte und verdrehte die Augen.

«Bitte! Meine Mutter ist nicht da. Sie ist in Mailand.»

«Wann ist die Prüfung?»

«Um zehn.»

«Verd…» Rocco stampfte auf. «Warum bist du nicht gestern Abend damit gekommen? Na schön, geh jetzt wieder rein. Ich muss erst mal frühstücken. Du machst dich fertig, wäschst dich, ziehst normale Klamotten an, damit du nicht aussiehst wie ein Gestörter, und ich frag dich in der Questura ab. In Ordnung?»

«Super!»

 

Rocco saß an der Via Croix de Ville, rauchte und sah zu, wie Lupa mit der Schnauze am Boden zwischen den Schaufenstern der geschlossenen Geschäfte herumschnüffelte. Abgesehen von dem Fahrzeug der Straßenreinigung, das den Gehsteig säuberte, war die Straße leer. Er pfiff seinen Hund zurück und machte sich auf den Weg zur Via Chanoux. Die Schmerzen an der linken Fußsohle hatten endlich nachgelassen. Der Fersensporn, den er sicher der Tatsache zu verdanken hatte, dass er immer nur seine Clarks trug, schien zum Glück verschwunden zu sein.

«Dürfen wir?», rief er an der Tür. Ettore stand bereits hinter der Theke. Eine Frau um die vierzig saß vor ihm und ließ sich ihr Frühstück schmecken.

«Bitte, bitte, guten Morgen.»

Rocco und Lupa traten ein. Der Hund verzog sich gleich unter den ersten Tisch. «Einen Ristretto und ein Cornetto.»

«Brioche», korrigierte Ettore.

«Cornetto», wiederholte Rocco. Die Frau drehte sich nicht um. Sie aß weiter und schaute stur geradeaus. Sie trug ein pfirsichfarbenes Kostüm und hatte ein ansprechendes Profil. Perfekte Frisur, Perlenohrstecker, und am Rand ihrer Cappuccinotasse glänzte ein roter Lippenstiftabdruck. Während Ettore das Espressopulver tamperte, warf er Rocco bedeutungsvolle Blicke zu.

Was ist?

Sie.

Was?

Weißt du, wer das ist …?

Der Dialog zwischen den beiden Männern war vollkommen wortlos abgelaufen. Die Frau hatte jedoch das Mienenspiel in dem riesigen Spiegel hinter Ettore, in dem die ganze Flaschensammlung über der Theke zu bewundern war, mitbekommen. «Richtig, ich kenne Sie, Sie mich dagegen noch nicht», sagte sie. «Ich weiß, dass Sie regelmäßig zum Frühstück herkommen und wollte Sie überraschen …»

«Wenn Sie wissen, wer ich bin, warum verraten Sie mir dann nicht Ihren Namen?»

Die Frau nahm sich jede Menge Zeit, um ihren Cappuccino auszutrinken. Dann stellte sie die Tasse auf den Tresen, wischte sich die Hände an der Serviette ab und wandte sich zu Rocco um. Ein gekonnter Lidstrich betonte ihre dunklen Augen.

«Mein Name ist Sandra Buccellato.» Sie streckte ihm die Hand entgegen.

Rocco kam die Pizza vom Vorabend hoch. Sandra Buccellato! Sie war Journalistin und die Exfrau des Questore und hatte ihn monatelang in der Zeitung runtergemacht. In jedem ihrer Artikel hatte sie ihm und der Questura irgendwelche Dinge im Zusammenhang mit dem Mord an Adele unterstellt, der sich in seiner alten Wohnung in der Rue Piave ereignet hatte. Sie hatte der Polizei vorgeworfen, wichtige Fakten zu vertuschen, und ihn selbst durch irgendwelche Unterstellungen und üble Nachrede in den Dreck gezogen. Und nun, da der Name des Mörders, Enzo Baiocchi, in aller Munde war, hatte sie ihren Tonfall radikal geändert und beweihräucherte ihn, anstatt ihm weitere Nackenschläge zu verpassen.

«Ich nehme an, Sie haben meine Artikel gelesen …»

Ettore stellte die Tasse mit dem Ristretto und das Croissant vor Rocco auf den Tisch.

«Allerdings», entgegnete Rocco.

«Ich war vielleicht ein bisschen zu streng mit Ihnen.»

Rocco biss in sein Croissant. «Zeitungen haben auch was Gutes. Man kann sie als Kackunterlage im Vogelkäfig benutzen und im Winter damit den Kamin anzünden, wenn man einen hat. Oder man kann im Falle eines Umzugs zerbrechliche Dinge darin einwickeln.»

«Und Letzteres haben Sie gemacht?»

«Nein, ich bin mit leichtem Gepäck umgezogen.» Rocco trank seinen Ristretto. «Ciao, Ettore.» Er legte etwas Kleingeld auf die Theke und ging zum Ausgang. «Und danke für die wunderbare Überraschung.»

«Ich weiß, dass Sie mich nicht mögen, aber ich mache nur meinen Job.»

Rocco lockte Lupa mit einem Pfiff unter dem Tisch hervor und hielt ihr die Glastür auf. «Ich mag Journalisten irgendwie. So gibt es immer jemanden, den ich abgrundtief hassen kann.»

«In diesem Land gilt die Meinungsfreiheit, wussten Sie das nicht?»

Rocco, der noch immer in der Tür stand, schnaubte. «Stimmt. Betrifft das auch Meinungen, die andere beleidigen und verleumden? Dann will ich jetzt auch mal davon profitieren: Lecken Sie mich am Arsch, Signora Buccellato! Und jetzt entschuldigen Sie mich.» Rocco schloss die Tür hinter sich. Ettore lachte in sich hinein, während die Journalistin schmallippig ihre Tasche öffnete. «Was schulde ich Ihnen?»

«Vergessen Sie’s, Signora. Ist schon bezahlt.»

 

Die Gänge in der Questura waren menschenleer. In Begleitung von Lupa gingen Rocco und Gabriele schweigend nebeneinanderher. Der Junge hatte sich eine extrem weite Jeans angezogen, ein Shirt mit dem Logo irgendeiner Band und ein Basecap mit der Aufschrift Born to raise hell!, unter der das lange Haar hervorschaute, das dringend mal hätte gewaschen werden müssen.

«Ziemlich dunkel hier und nicht wirklich schön.»

«Das ist eine Questura, Gabrie’, und kein Hotel.»

Sie erreichten Roccos Büro. «Da wären wir.» Neben der Tür hing wie eh und je das Plakat mit den Dingen, die Rocco auf den Sack gingen, und er hatte das dringende Bedürfnis, noch etwas hinzuzufügen. Er griff nach dem an einer Schnur baumelnden Stift – den sein Kollege Italo Pierron für den Fall, dass die Zeit drängte, dort befestigt hatte – und fügte unter den Fällen achten Grades hinzu: Überraschungen. Denn jede Überraschung ging Rocco gewaltig auf den Sack. Egal, ob positiv oder negativ, bedeutete eine Überraschung immer eine unvorhergesehene Abweichung vom Kurs, ein plötzliches Hindernis, welches das Gleichmaß der existenziellen Langeweile störte, etwas Unvorhergesehenes, das ihn zwang, zu reagieren, zu antworten oder eine Entscheidung zu treffen. Und er wusste, dass eine Überraschung selten allein kam. Rocco überlegte es sich anders, strich die Eintragung bei den Fällen achten Grades durch und beförderte sie in den Bereich der Unannehmlichkeiten neunten Grades. «Wir heben das Niveau, Lupa», sagte er zu seinem Hund, während er die Bürotür öffnete.

«Das Niveau wovon?», fragte Gabriele.

«Von allem, was mir auf den Sack geht und mein Leben zu einem Albtraum macht. Das fängt mit dem sechsten Grad an und geht bis zum zehnten, bis zum Schlimmsten auf meiner Skala: einen Fall, den ich lösen muss.»

Gabriele begann zu lesen und grinste. «Radio Maria, Erstkommunionen, Taufen, Hochzeiten, geschlossene Zigarettenläden, Sand im Muschelgericht … und jetzt haben Sie noch ‹Überraschungen› hinzugefügt? Warum?»

«Eine Überraschung ist wie ein Osterei, junger Freund, und bringt grundsätzlich noch mehr mit sich, was mir auf den Sack geht. Und wenn du weiter so blöde Fragen stellst, trage ich deinen Namen sofort bei den Fällen neunten Grades ein.»

Rocco öffnete die Tür zu seinem Büro. Lupa wedelte freudig mit dem Schwanz, Rocco dagegen erstarrte. «Verdammt, was …?»

Das Zimmer war leer. Sein Schreibtisch war genauso verschwunden wie der Schrank und der Ledersessel. «Was ist denn hier passiert?»

«Hat man sie gefeuert?», fragte Gabriele mit dem Lateinbuch unterm Arm, während Lupa verloren den leeren Raum durchstreifte.

«Scheiße … Pierron! Pierron!», schrie Rocco, erhielt jedoch nur das Echo der eigenen Stimme zur Antwort.

«Ich bin da!»

D’Intinos schrille Stimme hatte auf Rocco den gleichen Effekt wie der Bohrer eines Zahnarztes. Und dass ausgerechnet er auf der Bildfläche erschien, bewies, dass noch mehr kommen würde, was Rocco auf den Sack ging.

«Was ist los?»

D’Intino tauchte im Flur auf. «Entschuldigen Sie, Dotto’.» Er blieb stehen und musterte Gabriele. «Wer ist das? Haben Sie den festgenommen?»

«D’Intino, wo sind meine Möbel? Der Schreibtisch?»

«Haben Sie die Neuigkeit noch nicht gehört?»

«Nein, D’Intino, hab ich nicht.»

«Doch, die mit der Provinz.»

Rocco stemmte die Hände in die Hüften. «Mit welcher Provinz, D’Intino?»

«Ich hab vergessen, wie das genau hieß, irgendwas mit provinzielles Dingsbums.»

Rocco verdrehte die Augen. «Was willst du mir sagen?»

«Dieses provinzielle Dingsbums braucht einen Raum.»

Rocco blickte sich verzweifelt nach einem anderen Agente um, nach Italo Pierron oder Antonio Scipioni oder irgendwem, der in der Lage war, das wirre Gerede D’Intinos zu übersetzen, aber es war kein Mensch zu sehen. Gabriele beobachtete das Ganze staunend.

«Ich verstehe dich nicht, D’Intino, und mir fehlt die Zeit, noch länger rumzurätseln. Also tu mir einen Gefallen, geh in dein Büro, denk noch mal über das nach, was du mir sagen willst, schreib es auf einen Zettel, und wenn wir uns das nächste Mal sehen, liest du es mir vor. Du kannst doch schreiben, oder?»

«Hä? Und ob ich schreiben kann! Ich hab in der Schule sogar Aufsätze geschrieben! Jedenfalls wird hier alles verändert, Dotto’. Also nicht alles, sondern nur die Büros. Oder nur Ihr Büro.»

Rocco brachte den Agente mit einer Geste zum Schweigen und ging die Treppe hinauf. «Vergiss es, D’Intino, ich verstehe dich nicht, und ich will dich nicht verstehen.»

«Warum?»

Rocco blieb in der Mitte der Treppe stehen. «Weil ich dafür in deinen Kopf reinmüsste, und das scheint mir nicht gerade ein reizvoller Ort. Tu einfach das, was ich dir gesagt habe: Setz dich hin und schreib es auf. Und du, Gabriele, wartest hier auf mich. Wie es aussieht, ist mein Büro verschwunden.» Er ging zwei Stufen weiter hoch und brüllte: «Wieso ist keine Sau in dieser Scheiß-Questura?» Danach verschwand er im ersten Stock.

D’Intino blieb neben Gabriele stehen. «Und wer bist du?»

«Der Nachbar.»

«Und was machst du hier?»

«Latein üben.»

«Soll ich dir helfen?»

«Auf keinen Fall.»

 

Oben an der Treppe kam Rocco der Kollege Casella entgegen, der atemlos einen Stapel Aktenordner mit sich herumschleppte. «Case’, was ist mit meinem Büro passiert?»

«Ach ja. Warten Sie.» Der Agente stellte die Akten auf dem Kopierer ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. «Also eins muss klar sein», sagte er so leise, als spräche er mit sich selbst. «Ich darf keine schweren Dinge tragen, Sie sehen ja, ich bin schon jetzt ganz außer Atem.»

«Aber vor allem riechst du streng, Casella. Verdammt noch mal, du musst dich morgens waschen.»

«Das ist wegen dem Boiler. Der ist vor zwei Tagen kaputtgegangen, und ich krieg ihn nicht repariert.»

«Dann kauf einen neuen.»

«Ich bin schon auf der Suche nach einem guten Angebot. Die von Feroli sollen nicht schlecht sein, oder ich nehme einen von Vaillant oder Beretta …»

«Casella!», brüllte Rocco, der auf eine Antwort wartete. «Mein Büro!»

«Jawohl! Gleich kommt einer von der Kriminaltechnik der Provinz.»

«Und?»

«Das bedeutet, wir kriegen jemand Neues, und der braucht ein Büro. Also hat der Questore beschlossen, dass er Ihres kriegt.»

«Meins? Und ich?»

«Sie bleiben im Erdgeschoss, aber weiter hinten im Gang, hinter der Rampe an der Treppe. Soll ich Sie hinbringen?»

«Nein! Ist der Questore da?»

«Der Questore? Um diese Zeit in der Questura?» Casella lachte, ohne dass Rocco einstimmte. «Sie sind echt witzig!»

Rocco antwortete nicht und ging die Treppe wieder hinunter. Gabriele und D’Intino standen noch immer vor der Tür seines ehemaligen Büros. «D’Intino, du bringst sofort alle meine Möbel zurück in mein Büro.»

«Aber der Questore hat gesagt …»

«Der Questore interessiert mich einen Scheiß! Tu, was ich dir gesagt hab!»

«Kann ich auf Deruta warten?» D’Intino sah auf die Uhr. «Der ist noch bei seiner Frau in der Bäckerei. Alleine kann ich die Möbel nicht tragen, Dotto’.»

«Gabriele, komm mit! Lupa, los! Wir gehen.»

Rocco marschierte durch den Gang. «Wohin gehen Sie, Dottore?»

«Das geht dich einen Scheiß an, D’Intino!» Rocco bog um die Ecke.

«Dottor Schiavone, was ist denn los?», fragte Gabriele, der Mühe hatte, mit Rocco Schritt zu halten.

«Die wollen, dass ich in ein anderes Büro umziehe. Und ich hasse Veränderungen!»

«Hören Sie, das tut mir leid, aber ich muss zur zweiten Stunde da sein … ich will nicht …»

«Gabrie’, wir sind auf dem Weg in einen anderen Raum, um Latein zu üben, okay?» Rocco riss die Tür zum Büro der Agenti auf. Dort saß nur Miniero, der junge Neapolitaner, dessen Namen Rocco regelmäßig vergaß. «Los, Vomero, raus hier, ich brauche diesen Raum!»

Der junge Agente eilte ohne ein Wort nach draußen. Während Lupa es sich am Fenster bequem machte, zog Rocco einen Stuhl an den Schreibtisch. «Setz dich, Gabriele, und gib mir das Buch.»

Der Junge gehorchte.

«Los geht’s! Und sieh zu, dass du die richtigen Antworten gibst, mir dreht sich jetzt schon der Kopf!»

 

«È la musica, la musica ribelle …» Gianandrea sang beim Joggen das Lied von Eugenio Finardi vor sich hin, das gerade aus seinen Kopfhörern dröhnte. Er war kaum außer Atem, aber die Muskeln in seinen Beinen waren wie Pudding. Oberschenkel und Waden schmerzten schon nach zwanzig Minuten. Und dauernd zog irgendwas in der Leiste. Zwei Monate Pause wegen der Verletzung an der Schulter. Das kam ihm jetzt teuer zu stehen. Der Sportplatz von Charvensod zu seiner Rechten musste noch warten. Ihm fehlten seine Jungs, der Platz, die Herausforderung, das Schwitzen, der Umkleideraum, der Geruch nach Haargel, die Duschen, aber solange er noch nicht wieder tipptopp in Form war, konnte er sie nicht trainieren. Sie waren bei der Meisterschaft Dritter geworden, ein Riesenerfolg, wenn man bedachte, dass sie zu Beginn drei Niederlagen hintereinander kassiert hatten. Und immerhin waren sie besser als die lokale Spitzenmannschaft gewesen, die die Saison als Siebzehnter abgeschlossen hatte. «Che ti dice di uscire … e di metterti a lottare …»Lottare, kämpfen: Das war in Gianandreas vierzig Lebensjahren schon immer sein Motto gewesen. Er konnte sich nicht erinnern, dass es in seinem Leben auch nur einen Moment gegeben hätte, in dem er für ein gutes Ergebnis – oder wenigstens für ein mittelmäßiges – nicht alles hatte geben müssen. In der Schule, auf dem Fußballplatz, bei seiner ersten Frau, bei seiner zweiten Frau und den beiden Söhnen. Andere Leute schienen sämtliche Hindernisse mit Leichtigkeit zu überwinden, er aber nicht. Es war schon schwierig genug, den Leuten beizubringen, wie man seinen Vornamen schrieb, aber mit dem Nachnamen war es noch schlimmer. Sobald er das Tal verließ, musste er ihn buchstabieren, weil schon die Piemontesen ihn nicht verstanden. Marguerettaz. Da wurde dann Margheritas oder Marchettaz oder Margarinaz draus. Und mit seinem Körper lief es auch nicht besser. Er war schon dreimal am rechten Bein und zweimal am linken Bein operiert worden. Hatte sich das Schlüsselbein, die Nase und den Ellbogen gebrochen und zwei Schneidezähne ausgeschlagen. Jede Menge Brüche und andere Unfälle, die seiner Fußballkarriere geschadet und ihn gezwungen hatten, die Hälfte der Zeit im Krankenhaus oder beim Physiotherapeuten zu verbringen. Aber er würde auch jetzt nicht aufgeben. «Che ti dice di uscire … e di metterti a lottare …», riet Finardi erneut: Raus mit dir und kämpfe! Und genau das tat Gianandrea: Mit seinen vierzig Jahren kämpfte er nach der x-ten Verletzung darum, wieder als Trainer auf den Platz zurückzukehren. Er blickte zur Dora hinüber, die rechts neben ihm entlangfloss. Die Sonne spiegelte sich auf dem Wasser und der kleinen Stromschnelle, an der er gerade vorbeilief. Am Ufer lag ein Haufen bunter Lumpen. Gianandrea wurde langsamer. Nein, das waren keine Lumpen, sondern eine kurze Jeans, ein Oberteil mit rotem Blumenmuster, aus dem ein Kopf herausragte, der sich unter Wasser befand, die Arme waren nach vorn ausgestreckt.

Wer ging denn in der Dora schwimmen?

«E le strofe languide di tutti quei cantanti …» Gianandrea zog sich die Stöpsel aus den Ohren. «Aber was …?» Er kletterte über den Zaun und zum Kiesbett des Flusses hinunter. Dabei kümmerte er sich nicht mehr darum, dass er schwitzte, und das Ziehen in der Leiste spürte er auch nicht mehr. Nur seinen Herzschlag, der in den Ohren pochte. Beinahe hätte er sich wegen eines Lochs im Boden den Fuß verstaucht, doch schließlich erreichte er das Ufer. Das Wasser zwischen den Steinen drang in seine Sportschuhe. Und tatsächlich lag dort jemand, nur wenige Meter von ihm entfernt, mit dem Gesicht nach unten.

 

«Ero, ers, ert …»

«Aber was faselst du denn da, Gabriele! Indikativ Imperfekt von esse! Von wegen ero, ers … Streng dich ein bisschen an. Eram, eras, erat … Und dann?»

Gabriele schluckte. «Erasmus …»

«Erasmus?»

«Erste Person Plural, oder?»

«Eramus, nicht erasmus!»

«Ah! Eramus, erastis.»

«Eratis und weiter?»

Gabriele biss sich auf die Lippen.

«Komm, das ist doch nicht so schwer … Dritte Person Plural: eramus, eratis …?»

«Emant?», stieß der Junge hervor.

«Jetzt leck mich doch am Arsch, Gabriele!» Rocco warf das Lateinbuch durch den Raum. «Du weißt ja gar nichts. Emant! Du hast echt keine Ahnung. Erant, nicht emant! Warum lernst du diese Altsprachen überhaupt?»

«Meine Mutter meint, dass das zum Denken anregt.»

«Um das Brett wegzukriegen, das du vor dem Kopf hast, braucht man eine Axt!» Rocco stand auf und schob lautstark den Stuhl zurück. «Es tut mir leid, wiederhol das Jahr noch mal.»

Gabriele senkte den Kopf. «Meine Mutter wird mir den Kopf abreißen!»

«Aber warum? Geht deine Mutter etwa davon aus, dass du versetzt wirst?»

«Ja.» Traurig zog Gabriele einen Schokoriegel aus der Tasche seines Shirts.

«Und sie kriegt nicht mit, dass du in der Schule eine Null bist?»

«Nein.» Mit dem ersten Bissen verspeiste Gabriele fast den ganzen Riegel.

«Mensch, man braucht dich doch nur mal zu hören, und dann weiß man, dass du nicht durchblickst.»

«Sie müssen das nicht noch mal wiederholen.» Gabriele schob sich auch die zweite Hälfte des Schokoriegels in den Mund.

«Na schön, jetzt ab in die Schule!»

«Und was soll ich da?»

«Dich deiner Verantwortung stellen.»

Gabriele zuckte mit den Schultern. «Ist doch egal, ob ich hingeh oder nicht, ich fall sowieso durch. Da bleib ich lieber hier.»

«Nein, Gabrie’, hier nicht. Du gehst entweder zur Schule oder nach Hause. Das ist eine Questura und kein Kinderheim.»

Gabriele gab nach. «Gut. Ich geh in die Schule. Um mich zum x-ten Mal zum Affen zu machen.»

«Okay, ich fahr dich.»

«Mit dem Auto?»

«Warum nicht?»

«Darf ich dann das Martinshorn anmachen?» Der Junge war sofort wieder besserer Laune.

«Wenn du das auch nur versuchst, steck ich dich für zwei Nächte in den Knast.»

«Verstanden.» Gabriele hob das Lateinbuch auf und setzte sich sein Basecap wieder auf. «Kann losgehen.»

«Und deine Mutter würde ich demnächst gern mal kennenlernen.»

Der Junge lächelte vielsagend. «Meine Mutter ist nicht übel. Wollen Sie ein Foto sehen?»

«Du hast da was falsch verstanden. Ich will mit ihr reden.»

«Wollen Sie ihr eine Standpauke halten?»

«Bist du verrückt? Deine Mutter arbeitet hart für dich und sollte wissen, wie du ihr das zurückgibst. Los, beweg dich.»

Vor der Tür lief ihnen Antonio Scipioni über den Weg: «He, Antonio, könntest du mir einen Gefallen tun und diesen zukünftigen Nobelpreisträger zur Schule fahren?»

«Klar, aber braucht ein Nobelpreisträger nicht eine Eskorte?»

«Ja, aber er ist aus privaten Gründen hier in Aosta. Deswegen sollten wir den Ball flach halten.»

«Glaubt ihr etwa, ich kriege nicht mit, dass ihr mich verarscht? Das machen ja sowieso immer alle. Aber trotzdem vielen Dank, Dottor Schiavone, Sie haben es zumindest probiert!» Mit gesenktem Kopf folgte Gabriele Scipioni in Richtung Ausgang.

«Erasmus … emant, nicht zu glauben!», murmelte Rocco. «Gabriele!», rief er dem Jungen nach.

Der wandte sich um. «Was ist?»

«Komm noch mal her.»

Gabriele schnaubte und trabte zu Rocco zurück.

«Hör zu, wenn du erst mal erwachsen bist, hast du mit dem ganzen Mist nichts mehr am Hut.»

«Hoffentlich! Ich kann’s kaum erwarten. Ciao.»

Rocco sah ihm nach, wie er langsam davonschlich. «Verstanden, Lupa? Und jetzt an die Arbeit. Casella!», rief er.

Er musste die Sache mit seinem Büro klären. Und obwohl er schon seit Stunden wach war, hatte er noch keinen Joint geraucht. Er fühlte sich blockiert. Der Motor streikte und brauchte dringend Öl, sonst funktionierte die Maschine nicht. «Casella!»

Doch statt diesem erschien Italo Pierron auf dem Flur, der ziemlich bleich aussah. «Dottore?»

«Ich such dich seit einer Stunde. Mein Büro …»

«Da ist eine dringende Sache. Am Ufer der Dora.»

«Nein!» Rocco kniff die Augen zusammen. «Nein. Das Wetter ist schön, die Sonne scheint, und du wirst mir jetzt nicht zehnten Grades auf den Sack gehen!»

Italo breitete hilflos die Arme aus. «Casella und D’Intino sind schon am Tatort. Und Fumagalli weiß bereits Bescheid.»

 

Es war Caterinas freier Tag, und sie hatte vor, sich am Morgen erst mal um den Haushalt zu kümmern und sich danach mit ihrer Abschlussarbeit zu befassen. Die Rechnungen häuften sich, und der Kühlschrank war leer. Die Versicherung für das Auto, das sie nie benutzte, war abgelaufen, und sie müsste eigentlich auch noch beim ACI vorbeigehen, um die Kfz-Steuer zu bezahlen. Aber stattdessen lag sie halb angezogen auf dem Bett und fand nicht die Kraft, die Aufgaben des Tages anzugehen. Angesichts all der unerledigten Dinge, die sich angestaut hatten, konnte man meinen, sie wäre eine chaotische, schlecht organisierte Person, aber man brauchte nur einen Blick in ihre Wohnung zu werfen, um zu erkennen, dass genau das Gegenteil der Fall war. In dem gemütlichen kleinen Zuhause mit dem Charme einer Berghütte war alles tipptopp. Die Vorhänge hatten den gleichen Farbton wie das Sofa, drei kleine, diskrete, künstlerisch durchaus anspruchsvolle Bilder hingen unter Messingleuchten an der Wand. Eine gestreifte Tapete, der angenehme Geruch nach Lavendel aus einem Duftspender mit Diffusor-Stäbchen, alles war perfekt aufeinander abgestimmt. Die Bücher in dem einzigen Regal mit sieben Brettern waren nach Verlagen geordnet. Die CDs standen ordentlich aufgereiht rechts neben der kleinen Stereoanlage und die DVDs in einem TV-Schrank unter dem Dreiundzwanzig-Zoll-Fernseher. Die Kochnische in der kleinen Wohnung war blitzsauber, sodass nicht mal das Gesundheitsamt dort ein Stäubchen gefunden hätte. Der Ewige Kalender mit den Figuren aus Pinocchio zeigte das exakte Datum, die Ikea-Uhr aus Aluminium ging auf die Sekunde genau. In einer Ecke standen die Zitronenpresse und der Mixer, die Teller in dem hölzernen Abtropfständer neben dem Spülbecken waren der Größe nach geordnet, und die Geschirrtücher, die am Türgriff des Backofens hingen, waren frisch gewaschen. Beim Betreten des kleinen Badezimmers mit Dusche bekam man den Eindruck, sich in einem Hotel zu befinden, wo der Raum für den nächsten Gast frisch desinfiziert worden war. Cremes, Parfüms und Make-up standen wie Soldaten in einer Reihe am Waschbecken. Auf der anderen Seite die Zahnbürste, die Zahnpasta und die Zahnseide. In den Schubladen des Waschtischs befanden sich Wattepads, ein Kajalstift und ein Make-up-Pinsel sowie ein paar Medikamente, und alles war fein säuberlich in hübschen kleinen Körben angeordnet. Ja, Viceispettore Rispoli legte Wert auf Ordnung, achtete immer darauf, dass alles am richtigen Platz war und ihren Kriterien entsprach. Sie hasste es, wenn etwas nicht stimmig war, eine Lücke aufwies oder schief hing. Es gab nur zwei Dinge, die nicht in ihr hübsches Zuhause passten: die Beretta, Caterinas Dienstwaffe, die in ihrem Halfter an einem stummen Diener aus Metall hing, und der zusammengeknüllte Pullover, den Italo eine Woche zuvor hatte liegen lassen.

Caterina stand abrupt aus dem Bett auf, zog ihre Jeans und schwarze Sportschuhe an, griff nach Handy, Portemonnaie und Hausschlüssel und verließ die Wohnung.

«Buongiorno, Signora Cormet», begrüßte sie die Nachbarin, die gerade vom Markt zurückkam.

«Buongiorno, Caterina.»

«Ich gehe einkaufen. Brauchen Sie etwas?»

Die alte Frau öffnete die Tür. «Nein, mein Schatz, nichts. Vielen Dank.» Sie schickte sich an, ihre Wohnung zu betreten, hielt jedoch noch einmal inne. «Caterina?»

Die junge Frau blieb auf der Treppe stehen und wandte sich um. «Ja?»

«Erlaubst du mir eine neugierige Frage?»

«Sicher.»

«Warum lächelst du?»

Die Frage kam so unerwartet, dass Caterina nicht wusste, was sie antworten sollte.

«Ich wüsste nicht …»

«Bist du glücklich? Gut gelaunt?»

Caterina überlegte. «Ich weiß es nicht. Ich lächle, weil … Ohne bestimmten Grund.»

«Tja, du lächelst, aber deine Augen sind traurig.»

Caterina senkte leicht den Kopf. «Was, denken Sie, fehlt mir, damit ich auch mit den Augen lächle?»

«Nichts. Deswegen wundere ich mich ja.»

«Das beruhigt mich, Signora Cormet, ich hab schon befürchtet, dass Sie jetzt auch noch damit anfangen, dass ich mir einen Ehemann suchen soll.»

«Und warum? Weil die Leute denken, dass man ein ausgefülltes Leben nur an der Seite eines Mannes führen kann? Nein, Mädchen, nein. Das, was dir deine alte Nachbarin raten will, ist, dass man sich von der Vergangenheit lösen muss. Denn das, was vorbei ist, sollte die Gegenwart nicht überschatten.»

«Und wissen Sie auch, wie man das hinkriegt?»

«Nein. Das versuche ich mit meinen zweiundachtzig Jahren auch noch immer herauszufinden. Einen schönen Tag noch.» Die Frau verschwand in ihrer Wohnung. Caterina blieb noch einen Moment nachdenklich auf der Treppe stehen und verließ dann das Haus.

 

Caterina stand gerade vor dem Regal mit den Nudeln, als sie die Frau am Tiefkühlregal sah. Sie hatte weder einen Einkaufswagen noch einen Korb dabei und blickte sich mit großen Augen und wirrem Haar um. Sie trug ein langes Shirt in verwaschenem Blau und eine Jogginghose. Ihre Haut war milchig weiß, und ihre Brille hing an einer Perlenkette um ihren Hals.

Was macht die denn in Aosta?, fragte sich Caterina, während sie zerstreut ein Paket mit Rigatoni begutachtete. Schnell versteckte sie sich hinter einem der Regale und überlegte, ob sie versuchen sollte, am Marmeladenregal vorbei ungesehen zum Ausgang zu gelangen. Aber dann konnte sie ihre Einkäufe vergessen und müsste den vollen Einkaufswagen hier stehen lassen, was kein gutes Benehmen war. Es wäre unfair den Verkäufern gegenüber, die dann alles wieder in die Regale räumen mussten. Sie schaute vorsichtig um die Ecke. Ihre Mutter war vom Tiefkühlregal verschwunden.

Und jetzt?, dachte sie. Wo ist sie wohl?

Caterina beschloss, dass es sich um einen Fall von höherer Gewalt handelte, und ließ den Einkaufswagen stehen, um vorsichtig in Richtung des Marmeladenregals zu schleichen. Im Gang war sie ebenfalls nicht. Auch nicht hinter ihr. Beinahe auf Zehenspitzen durchquerte sie die Wein- und Spirituosenabteilung. Nun befanden sich vor ihr nur noch die Kassen. Von ihrer Mutter keine Spur. Sie lächelte die Kassiererin an, die mit einer Kundin beschäftigt war, zeigte ihre leeren Hände zum Beweis, dass sie keine Waren dabeihatte, und eilte zum Ausgang. Auf der Straße war sie auch nicht. Caterina überlegte kurz, ob sie sich das Ganze vielleicht nur eingebildet hatte, aber das konnte doch nicht sein! Sie hatte sie schließlich leibhaftig vor sich gesehen: eine bleiche, verwahrloste und dick gewordene Frau. Von diesem flüchtigen Schatten verfolgt, hetzte sie durch die Straßen Aostas, wobei sie so oft wie möglich Haken schlug.

Wenn sie weiß, dass ich hier arbeite, dann findet sie mich auch, dachte Caterina.

 

«Bitte! Hier gibt es nichts zu sehen.» Casella versuchte, die drängenden Gaffer fernzuhalten.

«He, haben Sie gehört? Hier gibt es nichts zu sehen!» D’Intino hielt einen kräftigen, pockennarbigen Glatzkopf zurück, der ihn mindestens um einen halben Meter überragte.

«Ich bin Journalist …»

«Wenn er ein Journalist ist, darf er dann durch, Casella?», fragte der Agente aus den Abruzzen seinen Kollegen.

«Nein, D’Inti! Selbst Jesus Christus darf hier nicht durch!»

Gianandrea saß auf dem Rücksitz des Polizeiwagens. Miniero neben ihm bot ihm eine Zigarette an, aber der Trainer der Jugendmannschaft von Polisportiva Cogne lehnte dankend ab. Dann wandte er sich zu dem Auto um, das gerade mit quietschenden Reifen und Martinshorn auf dem Dach neben ihnen angehalten hatte. Er sah zu, wie ein Agente und ein Mann mit ziemlich zerknittertem Gesicht aus dem Wagen stiegen.

«Der Typ in der kurzen Sporthose ist vermutlich der, der die Leiche gefunden hat», sagte Italo und wies mit dem Kinn auf Gianandrea. Rocco antwortete nicht. Der leere Blick des Mannes und sein bleiches Gesicht sagten alles. Der Einsatzwagen der Spurensicherung stand neben dem Zaun, der den Fußballplatz umgab.

«Kannst du mir gerade noch mal sagen, wie der Agente aus Vomero heißt?», erkundigte sich Rocco.

«Miniero», entgegnete Italo.

Zwei Agenti zogen sich weiße Overalls an. «Die sind auch schon da.» Rocco wies mit dem Kinn zu den beiden Kollegen hinüber.

«Stimmt, Rocco, die gehören zu uns. Das sind die Kriminaltechniker der Provinz. Farinelli kommt nicht mehr.»

«Sind das die, die mein Büro geklaut haben?»

«Genau.»

«Aha. Dann gehen die mir schon mal auf den Sack.»

Rocco und Italo bahnten sich einen Weg durch den Pulk der Gaffer und kletterten den kurzen Abhang zum Fluss hinunter. Dabei stützte Rocco sich auf seinen Kollegen, weil seine Clarks auf dem Gras keinen Halt fanden. «Langsam, Italo.»

«Da ist der Tote, Rocco.»

Rocco Schiavone blickte auf die Leiche, die mit dem Gesicht nach unten zur Hälfte im Wasser lag. Direkt daneben war Fumagalli zugange, der Gerichtsmediziner. Er trug Anglerstiefel, die ihm bis zu den Leisten reichten. Neben ihm standen zwei Agenti.

«Schau dir unseren Rechtsmediziner an! Perfekt ausgestattet!», sagte Rocco und sah auf Italos Schuhe. «Sind die wasserdicht?»

«Klar! Sie gehören zur Ausrüstung und sind …»

«Welche Größe hast du?»

«44.»

«Zieh sie aus.»

«Hä?»

«Zieh die Schuhe aus, das ist ein Befehl deines Vorgesetzten!»

Italo setzte sich hin, zog die halbhohen Schuhe aus und reichte sie an Rocco weiter, der gerade aus seinen Clarks schlüpfte. Anschließend zog er Italos Schuhe an und krempelte sich die Hose bis zu den Knien hoch.

«Kann ich solange deine Schuhe anziehen?»

Rocco bedachte Italo mit einem eisigen Blick. «Meine Clarks? Spinnst du? Du bleibst schön hier und hältst dich von der Leiche fern.» Also blieb Italo auf Strümpfen brav am steinigen Ufer sitzen. Rocco ging an einer flachen Stelle ins Wasser, während die beiden Agenti die Leiche umdrehten. «Sehr gut, Jungs, sehr gut», kommentierte Rocco.

«Oh Madonna …», sagte der Jüngere.

«Schon gut, Jungs, ihr könnt gehen», erklärte Rocco, woraufhin die beiden Polizisten vor dem Anblick der Leiche beinahe davonrannten.

«Und? Was ist passiert?», fragte Rocco Fumagalli, nachdem sie, mit beiden Füßen im nur zentimeterhohen Wasser stehend, nun unter sich waren.

Das Gesicht des Toten war aufgedunsen. Aber was am meisten ins Auge sprang, waren die Lippen, die wie zwei Würste aussahen. Unter der Haut der hervorstehenden Wangenknochen schienen sich zwei Mandarinen zu verstecken, die Nase dagegen war unnatürlich klein und zerdrückt. Fumagalli öffnete das geblümte Oberteil. Nach dem dritten Knopf kam etwas Unnatürliches zum Vorschein. Die Leiche hatte zwei dicke, bläulich verfärbte Brüste. Fumagalli beugte sich vor, um den nackten Körper zu begutachten. Er untersuchte die Augen und versuchte mithilfe eines Stäbchens den Mund zu öffnen. Dann zog er die kurze Jeans ein Stück nach unten.

«Ein MzF.»

«Ein Transsexueller?»

«Ganz offensichtlich.»

Auf der wachsgelben Brust war nicht ein Haar zu sehen, und im Gesicht gab es keine Bartstoppeln.

«Die Ärmste hatte schon mit dem chirurgischen Marathon begonnen. Brust und Gesicht sind bereits fertig. Die Amputation des Penis stand wahrscheinlich kurz bevor.» Fumagalli wies mit dem Stäbchen auf die entsprechende Stelle. Der Penis war klein und dunkel, als schämte er sich seines Vorhandenseins. «Blutergüsse in den Augen, und schau dir mal den Hals an. Ich wette tausend Euro, dass sie stranguliert wurde.» Um den Hals verlief ein bläulicher Streifen. «Ich nehme sie mit zur Autopsie, aber was das angeht, bin ich mir sicher.»

«Verstehe. Kannst du das Alter einschätzen?»

«Um die dreißig.»

Rocco beugte sich vor, um das Oberteil, das die Tote trug, zu begutachten. «Wahrscheinlich hat sie sich eilig angezogen. Sie hat die Knöpfe falsch zugemacht, siehst du? Hier unten hat sie einen übersehen.» Er zündete sich eine Zigarette an. «Sie hat auch keinen Slip angezogen.»

«Ist das wichtig?»

«Wir sollten zumindest drüber nachdenken … Die Schuhe?»

«Vielleicht hat sie sie im Wasser verloren. Könnten Flipflops gewesen sein.»

«Auf jeden Fall keine Socken.» Rocco hob eine der beiden Hände an. Grüner Nagellack auf Finger- und Fußnägeln. «Keine Ringe, keine Armbänder, nichts.»

«Stimmt …»

Rocco richtete sich wieder auf. «Das geht mir jetzt schon so was von auf den Sack! Ich fahr zurück in die Questura. Das übliche Vorsprechen bei den Chefs. Mach’s gut, Alberto.»

«Ach, hast du schon die Neue von der Kriminaltechnik kennengelernt?»

«Nein. Lohnt es sich?»

«Immerhin passiert mal was Interessantes in diesem Kaff», sagte Fumagalli und wandte sich wieder der Leiche zu.

 

«Was können Sie uns sagen, Vicequestore?»

Zu dem glatzköpfigen Journalisten mit dem pockennarbigen Gesicht hatte sich ein weiterer hinzugesellt, ein Lockenkopf, der ziemlich eifrig erschien.

«Was ich Ihnen sagen kann? Dass Rom auch im nächsten Jahr die Meisterschaft gewinnen wird.» Rocco ging weiter. Die beiden verzichteten darauf, noch andere Fragen zu stellen, denn Rocco hatte, außer während der wenigen Pressekonferenzen, an denen der Questore ihn teilzunehmen zwang, noch nie mit Journalisten gesprochen.

In dem Moment näherte sich ein grünes Auto in Schlangenlinien dem Fußballplatz. Es war ziemlich verrostet, die Motorhaube eingedellt, der Keilriemen quietschte, und die relativ platten Räder gaben seltsame metallische Geräusche von sich. Die Karre rumpelte auf den Gehsteig und blieb röchelnd stehen. Quietschend öffnete sich die Fahrertür, und eine Frau um die vierzig stieg aus. Sie hielt eine alte Ledertasche in der Hand und machte mit einem Fußtritt die Autotür wieder zu. Dabei fiel ihr die Tasche auf den Boden, und kleine bunte Plastikgefäße kullerten heraus. Die Frau verdrehte die Augen und machte sich daran, die Dinger wieder einzusammeln. Rocco schaute ihr fasziniert zu. Das glatte dunkle Haar fiel ihr auf den Rücken. Ihr Gesicht war mädchenhaft mit großen dunklen Augen. Sie trug einen Rock, der bis zu ihren Knien reichte, und halbhohe Schnürstiefel. Roccos geübtem Blick gelang es, einen schlanken, athletischen Körper und einen beachtlichen Vorbau auszumachen, obwohl die Frau einen Pullover trug, der ihr mindestens drei Größen zu weit war und jegliche Kurven verhüllte. Inzwischen hatte sie ihr Zeug wieder eingesammelt. Sie legte schützend den Arm um die Tasche, als trüge sie ein Neugeborenes darin, und kam auf Rocco zu, um direkt vor ihm stehen zu bleiben. «Salve!»

«Salve.»

«Ich nehme an, Sie sind Vicequestore Schiavone, richtig?», fragte die Frau mit einem sizilianischen Akzent und lächelte schmal. Sie streckte Rocco die Hand hin, während sie in der anderen die Tasche balancierte. «Michela Gambino, Kriminaltechnik …» Und die Tasche fiel ein zweites Mal zu Boden. Diesmal half Rocco ihr, die kleinen Behälter aufzusammeln, die erneut über die Straße rollten. «Madonna, ich brauche unbedingt eine neue Tasche.»

«Sie sind die Neue?»

«Äh, ja. Heute ist mein erster Tag. Danke.» Sie richteten sich wieder auf und ließen die Tasche am Boden stehen. Endlich kamen sie dazu, sich die Hand zu schütteln. Die schmalen Finger der Frau waren kalt. Kein Trauring, nur ein kleiner Ring ohne Stein schmückte den Ringfinger. «Und was gibt’s da unten am Fluss?»

«Einen erdrosselten Transmenschen.»

«So was ist mir vor zwei Jahren in Torre schon mal untergekommen. Als ich noch nicht bei den Chefermittlern war.»

«In Torre Annunziata?»

«Nein, Torre del Greco. Aber ich bin aus Palermo.»

«Ich aus Rom.»

«Ja, ich weiß. Ich hab schon viel von Ihnen gehört. Und könnten wir uns vielleicht duzen? Wie es aussieht, werden wir öfter miteinander zu tun haben.»

«Wegen mir gern, Michela.»

«Wegen mir auch, Rocco.» Michela hob den Blick, und auf ihrem Gesicht erschien ein andächtiges Lächeln. Auch Rocco schaute nach oben. Der Himmel war blau. Ein paar Wolken waren zu sehen. Dazwischen ein heller Streifen, der Kondensstreifen eines Flugzeugs. «Das wird nie aufhören», sagte Michela.

«Wie bitte?»

«Siehst du? Die weiße Spur hinter der Boeing?», fragte sie, den Blick wieder auf Rocco gerichtet. «Chemtrails», fügte sie hinzu.

«Bitte was?»

«Das sind Chemtrails.» Michela senkte die Stimme. «Das machen sie seit 1997. Sie versprühen chemische Substanzen in der Luft, und früher oder später werden wir alle durch psychoaktive Drogen kontrolliert.»

«Ich verstehe nicht. Wer macht das?»

«Die Mächtigen. Weißt du, mit wie vielen sie die Welt beherrschen? Sie sind dreihundert. Der Club der Dreihundert. Wenn wir mehr Ruhe haben, kann ich dir auch sagen, wer das ist.»

«Ja, mit mehr Ruhe, denn dreihundert sind schon …»

«Und ich bin davon überzeugt, Rocco, dass das …» Sie wies mit dem Zeigefinger in den Himmel. «… auch eine gute Methode zur Geburtenkontrolle ist. Hast du dich schon mal gefragt, warum George Soros auf einer Insel lebt, wo die Luft ganz sauber ist?»

«Nein, das hab ich mich noch nicht gefragt, Michela. Aber ich werde es tun.»

Die Kollegin von der Kriminaltechnik schüttelte den Kopf. «Hast du noch nie von HAARP gehört?»

«Nein.»

«Du hast wirklich keine Ahnung, Vicequestore. In zwanzig Jahren werden sie die Weltbevölkerung von sieben Milliarden auf etwas mehr als fünfhundert Millionen reduziert haben. Dann bleiben nur noch die Reichen und Mächtigen übrig, die über alles bestimmen, und eine Handvoll Sklaven.»

Michela bückte sich, um die Tasche aufzuheben, und ließ Rocco stehen. Nach zwei Schritten drehte sie sich noch mal um. «Wie ist es so in Aosta?»

«Keine Ahnung», meinte Rocco.

«Ach klar, du weißt ja nichts. Ich hoffe, dass ihr nichts angefasst oder irgendwelche Spuren hinterlassen habt, deine Männer und du.»

«Natürlich nicht, Michela. Allein schon, weil die Leiche halb im Wasser lag. Da kann man schlecht Spuren hinterlassen.»

«Wenn du das sagst.»

«Eine neugierige Frage: Dein Auto, was ist das für eine Marke?»

«Ein SAS-968 Saporoshez. Den findest du nirgends in Europa. Eine Rarität.» Michela zwinkerte ihm zu. «Los geht’s!», rief sie dann ihren beiden Kollegen in den weißen Overalls zu und machte sich auf den Weg zum Fluss.

Rocco blieb stehen, bis die Frau im Pulk der Gaffer verschwand. Dann breitete er hilflos die Arme aus und wandte sich Italo zu, der mit den Clarks in der Hand neben dem Auto stand. «Gibst du mir jetzt meine Schuhe zurück?» Rocco löste die Schnürsenkel.

«War das die von der Kriminaltechnik?»

«Ja.»

«Und wie ist sie so?», fragte Italo.

«Sie passt gut zu all den Verrückten hier in Aosta!»

 

Roccos neues Büro hatte die Größe einer Besenkammer. Es gab nur ein einziges schmales Fenster, und der Schreibtisch