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Antonio Manzini

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Beschreibung

Der Nummer-1-Bestseller aus Italien. Er ist brillant. Er ist skrupellos - und er hat nichts zu verlieren. Wer Rocco Schiavone einmal entdeckt hat, muss ihn einfach lieben. Unberührte Landschaften, kristallklare Seen und eine atemberaubende Aussicht auf die italienischen Alpen. Alle lieben das Aosta-Tal - nur einer hasst es: Rocco Schiavone, der von Rom in die Berge strafversetzt wurde. Der Polizist ist auch nach zehn Monaten nicht mit seiner neuen Heimat warmgeworden. Zu kalt, zu nass, zu hinterwäldlerisch. Doch die Ruhe trügt. Als im Gefängnis ein Insasse während des Hofgangs ums Leben kommt, glaubt Rocco nicht an einen Unfall. Mimmo Cuntrea saß erst seit drei Tagen ein, Rocco selbst hatte ihn wegen der Entführung einer Schülerin hinter Gitter gebracht. Die Obduktion ergibt tatsächlich: Cuntrea wurde vergiftet. Rocco beginnt undercover im Gefängnis zu ermitteln - und muss um sein eigenes Leben fürchten. Denn noch immer ist ein Mörder hinter ihm her. Ein Mörder, dessen Kugel ihn schon einmal verfehlt hat… Der «Dr. House» der italienischen Alpen ist zurück! Ein neuer Fall für den unverschämten, korrupten und unvergleichlichen Rocco Schiavone.

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Antonio Manzini

Ein kalter Tag im Mai

Kriminalroman

Aus dem Italienischen von Anja Rüdiger

Über dieses Buch

Mord mit Bergblick

 

Unberührte Landschaften, kristallklare Seen und eine atemberaubende Aussicht auf die italienischen Alpen. Alle lieben das Aosta-Tal – nur einer hasst es: Rocco Schiavone, der von Rom in die Berge strafversetzt wurde. Der Polizist ist auch nach zehn Monaten nicht mit seiner neuen Heimat warmgeworden. Zu kalt, zu nass, zu hinterwäldlerisch. Doch die Ruhe trügt. Als im Gefängnis ein Insasse während des Hofgangs ums Leben kommt, glaubt Rocco nicht an einen Unfall. Mimmo Cuntrea saß erst seit drei Tagen ein, Rocco selbst hatte ihn wegen der Entführung einer Schülerin hinter Gitter gebracht. Die Obduktion ergibt tatsächlich: Cuntrea wurde vergiftet. Rocco beginnt, undercover im Gefängnis zu ermitteln – und muss um sein eigenes Leben fürchten. Denn noch immer ist ein Mörder hinter ihm her. Ein Mörder, dessen Kugel ihn schon einmal verfehlt hat …

Vita

Antonio Manzini, geboren 1964 in Rom, ist Schauspieler, Regisseur und Drehbuchautor. Seine im Aosta-Tal angesiedelten Kriminalromane um den charismatischen Ermittler Rocco Schiavone stehen in Italien regelmäßig an der Spitze der Bestsellerlisten und wurden erfolgreich verfilmt. Im Rowohlt Taschenbuch Verlag erschienen bisher «Der Gefrierpunkt des Blutes», «Die Kälte des Todes» und «Alte Wunden».

Für Mama und Papa

Ein Mensch allein,

eingeschlossen in seinem Zimmer.

Mit all seinem Recht,

All seinem Unrecht.

Allein in einem leeren Raum,

um zu reden. Mit den Toten.

 

Giorgio Caproni

Montag

Aosta – Kredithaie im Schatten der ’Ndrangheta

Sie sollen an Unternehmer und Privatleute Geld zu Wucherzinsen verliehen haben, um sich deren Besitz und Geldvermögen anzueignen. So der Vorwurf gegenüber dem aus Soverato stammenden, bereits vorbestraften Domenico Cuntrera, der im Zuge der Ermittlungen zum Mordfall um Cristiano Cerruti, rechte Hand des Bauunternehmers und Inhabers der Firma Edil.ber Alessandro Berguet, festgenommen wurde.

Auf der Pressekonferenz versicherte Questore Andrea Corsi: «Dank der flächendeckenden Ermittlungen meiner Männer sind wir bis ins Herz der Organisation vorgedrungen. Mehr kann ich jedoch nicht dazu sagen, da wir sicher sind, dass es sich nur um die Spitze des Eisbergs handelt.»

«Es ist tatsächlich so, dass die Mafiaorganisationen schon seit Jahren auch hier im Aostatal verwurzelt sind, und ich denke, dass dieser zuletzt von der Questura in Aosta aufgedeckte Fall ein weiterer Beweis dafür ist», sagt dazu Gabriele Tosti, Commandante der Direzione Investigativa Antimafia in Turin.

«Dies ist ein Angriff auf den gesunden Teil unseres Landes. Wir dürfen auf keinen Fall zulassen, dass die einheimischen Unternehmen in die Hände dieser Mafiaorganisationen fallen», betont Staatsanwalt Baldi.

Domenico Cuntrera wurde an der Grenze zur Schweiz gefasst, nachdem er die von ihm betriebene Pizzeria Posillipo hier in Aosta fluchtartig verlassen hatte. In seinem Besitz befanden sich zahlreiche Dokumente, die auf eine Verbindung zu einem Mafiaclan schließen lassen und die nun von den Ermittlern untersucht werden. Die Festnahme Cuntreras könnte der erste nennenswerte Erfolg des Staates im Kampf gegen das organisierte Verbrechen in unserer Region sein.

 

Gianpaolo Gagliardi

Erleichtert stellte Rocco fest, dass sein Name in dem Artikel nicht erwähnt wurde. Was natürlich längst kein hinreichender Grund war, ihn aus seiner tiefen Niedergeschlagenheit zu reißen. Seit drei Tagen hatte er das Apartment nicht mehr verlassen. Seit drei Tagen hatte er sein Handy nicht eingeschaltet, sein Büro in der Questura nicht mehr betreten und die Kollegen nicht mehr gesehen, nicht auf der Piazza Chanoux gefrühstückt, keinen Joint mehr geraucht und nicht mit Anna gesprochen. Abgesehen davon, dass er regelmäßig mit Lupa Gassi gegangen war, hatte er sich in einem Ein-Zimmer-Apartment in der Residence Vieux Aosta vergraben, um entweder auf den Fernseher oder an die Decke zu starren, wobei Letzteres oft wesentlich interessanter war. Lupa schien dieses neue Leben gut zu gefallen, das darin bestand, die meiste Zeit neben ihrem Herrchen auf dem Bett zu schlafen, sich den Bauch vollzuschlagen und sich ab und zu im historischen Zentrum der Stadt kurz die Füße zu vertreten. Was durchaus verständlich war. Schließlich war die kleine Hündin mitten im Schnee einfach ausgesetzt worden, tagelang durch Wälder und Wiesen geirrt und mehrfach in Lebensgefahr geraten. Für sie musste es traumhaft sein, sich nun an einem warmen, sicheren Ort zu befinden und gemütlich auf einer weichen Daunendecke zu liegen, ohne Angst haben zu müssen, von einem Lastwagen überfahren zu werden oder sonst irgendwie zu leiden. Und sie genoss die Wärme und die Sicherheit jede Sekunde in vollen Zügen.

Rocco, der immer noch die Zeitung in der Hand hielt, blätterte um.

Mörder aus der Rue Piave noch immer unbekannt

Noch immer hat er weder einen Namen noch ein Gesicht: der Täter, der Donnerstagnacht in die Wohnung von Vicequestore Rocco Schiavone in der Rue Piave eingedrungen ist und dort mit acht Pistolenschüssen Adele Talamonti, 39 Jahre, aus Rom, Freundin und Vertraute des Vicequestore, kaltblütig ermordet hat. Wie zuletzt bekannt wurde, war das Opfer in Aosta nur zu Besuch. Talamontis Leichnam wurde inzwischen in die Hauptstadt überführt und in Monte Compatri in der Nähe von Rom, dem Wohnort der Familie, beigesetzt. Im Hinblick auf den Mord drängen sich viele Fragen auf: War das Ziel des Mörders wirklich Adele Talamonti oder nicht vielmehr Rocco Schiavone, der in der Mordnacht nicht zu Hause war? In der Questura schweigt man sich dazu beharrlich aus, und auch von der Staatsanwaltschaft ist keinerlei Kommentar zu hören. Das legt den Schluss nahe, dass man sich hier schützend vor den Vicequestore stellt, der seit September letzten Jahres in Aosta im Dienst ist und eine Reihe effizienter und erfolgreicher Ermittlungsergebnisse vorweisen kann, nicht zuletzt die Aufdeckung von kriminellen Kreditgeschäften des organisierten Verbrechens. Daher fragen wir uns: Geht es darum, die laufende Ermittlung nicht zu gefährden, oder handelt es sich um ein dezidiertes Schweigen der Ordnungskräfte, weil einer der Ihren im Mittelpunkt des Geschehens steht? In diesem Fall stünde zu befürchten, dass hier gegen demokratische Grundsätze verstoßen wird. Doch da wir unseren Ordnungskräften größtes Vertrauen entgegenbringen, fassen wir uns in Geduld.

 

Sandra Buccellato

«Verdammt, ihr könnt mich mal!» Rocco knallte die Zeitung auf den Boden. «Dezidierte Scheiße ist das!», brüllte er den ringsum verstreuten Zeitungsseiten entgegen. Wer, zum Teufel, war Sandra Buccellato? Und was wollte diese Frau damit andeuten?

Das war bereits der zweite Artikel, den diese Journalistin in einem solchen Ton über den Mordfall verfasst hatte. Jene «Adele Talamonti, 39 Jahre, aus Rom» war die Lebensgefährtin von seinem besten Freund Sebastiano gewesen. Das «Opfer» war eine langjährige Freundin, die ihm sehr viel bedeutet hatte und die nun auf dem Friedhof von Monte Compatri lag. Zu welchem Zweck also verspritzte diese Buccellato ihr Gift?

Warum hatte sie nicht gleich geschrieben: Dottor Schiavone! In Ihrer Wohnung wurde eine gute Freundin von Ihnen ermordet und anstatt zu ermitteln, ziehen Sie sich zurück wie ein Bär zum Winterschlaf! Worauf warten Sie? Reißen Sie sich zusammen und gehen Sie der Sache auf den Grund! Während Sie zu Hause Ihre Wunden lecken, läuft dieser Mistkerl einfach so frei herum. Krieg endlich den Arsch hoch, Schiavone!

Tatsächlich entsprach es der Wahrheit, dass Adele an seiner Stelle gestorben war. Jene acht Pistolenschüsse, die auf sie abgegeben wurden, als sie ruhig und friedlich in seinem Bett in der Rue Piave schlief, hatten ihm gegolten. Nur ihm. Er hatte Adele auf dem Gewissen. Und nicht nur sie.

Genau wie Marina.

 

Der Tag ging dahin wie eine welkende Blume.

Jemand klopfte an die Tür. Lupa, die ausgestreckt auf dem ungemachten Bett lag, richtete ein Ohr auf. Rocco rührte sich nicht. Er wartete. Es klopfte erneut.

Der geht schon wieder, dachte er.

Rocco hörte, wie sich die Schritte des Besuchers über den Flur entfernten. Er seufzte erleichtert.

Auch diese Nervensäge war er losgeworden!

Langsam ging er wieder zum Bett hinüber und ließ sich auf die Daunendecke fallen. Lupa rollte sich unter seiner Achselhöhle zusammen. So schliefen sie beide ein, aneinandergeklammert wie zwei Ertrinkende.

 

«Einen Espresso macchiato und einen koffeinfreien!», rief Tatiana. Corrado Pizzuti reagierte nicht und starrte mit leerem Blick auf die Tassen, die in die Spülmaschine geräumt werden mussten.

«Corrado, wach auf, es ist mitten am Tag! Einen Espresso macchiato und einen koffeinfreien!» Corrado gab sich einen Ruck und blickte auf die beiden Gäste an der Theke. Es waren Ciro und Luca, die beiden Polizisten aus dem Ort.

«Bist du eingeschlafen?», fragte Ciro.

«Mach dir doch auch einen Kaffee», scherzte Luca.

Corrado wandte sich der Kaffeemaschine zu und machte sich an die Arbeit.

«Es ist so ein schöner sonniger Tag heute, Tatiana. Warum gehst du nicht später mit mir zum Fischessen?» Seit drei Jahren versuchte Luca nun schon, bei Corrados Geschäftspartnerin Tatiana zu landen. Anscheinend hatte er immer noch nicht kapiert, dass die Russin bereits seit zwei Jahren verheiratet war, mit dem verwitweten, kinderlosen Buchhalter De Lullo.

«Iss den Fisch doch lieber mit deiner Frau!», antwortete Tatiana freundlich.

Corrado lächelte leicht. Tatiana war immer freundlich. Hatte für jeden ein Lächeln übrig. War immer positiv. Unter anderem deshalb hatte er sie vor drei Jahren gefragt, ob sie nicht mit ihm zusammen die Bar führen wolle. Tatiana hatte sich nicht mit einer Geldeinlage beteiligt. Woher hätte sie die auch nehmen sollen? Aber Corrado hatte jemanden gebraucht, auf den er sich verlassen konnte, dem er vertrauen konnte, dem er die Bar und die Kasse überlassen konnte, wenn er aus irgendeinem Grund mal nicht da war. So wie letzte Woche. Als Enzo Baiocchi mitten in der Nacht aufgetaucht war, um ihn zu zwingen, mit ihm nach Aosta zu fahren. Wer diesem Mistkerl wohl seine Adresse hier in Francavilla al Mare gegeben hatte? Wie, zum Teufel, hatte Enzo ihn nur finden können? Dieser verdammte Mörder war gekommen und hatte ihn erpresst, sodass ihm keine andere Wahl geblieben war, als mitzugehen und zu hoffen, dass Enzo Baiocchi möglichst schnell wieder aus seinem Leben verschwinden würde.

«Was ist denn los?», flüsterte Tatiana ihm zu. Corrado grinste entschuldigend. «Du bist dauernd in Gedanken.»

Was sollte er darauf antworten? Dass sein Leben sich gerade anfühlte wie ein nie endender Albtraum? Dass er am liebsten ins nächste Flugzeug steigen und ans andere Ende der Welt fliegen würde? Stattdessen sagte er: «Hier, für dich, Luca!», und schob dem Polizisten den Kaffee zu.

«Na, was ist, Tatiana? Kommst du nun mit zum Fischessen oder nicht?»

«Weißt du, was, Luca? Trink deinen Kaffee und dreh mit Ciro noch eine Runde. Vielleicht kannst du dir ja vor dem Feierabend noch ein paar Verkehrssünder angeln.»

Ciro brach in Gelächter aus, schlug Luca kameradschaftlich auf die Schulter und sagte: «Komm, Luca, es ist hoffnungslos.» Die beiden Polizisten verließen die Bar.

In der Tür begegneten sie Barbara, die mit strahlendem Lächeln eintrat. «Corrado, machst du mir zwei Tassen Tee? Ich nehm sie dann mit rüber ins Geschäft!»

«Sofort!», entgegnete Corrado. Gegenüber den beiden Inhaberinnen der benachbarten Buchhandlung fühlte er sich immer ein wenig befangen. Nicht weil sie so ernsthaft oder unfreundlich gewesen wären. Aber Barbara und Simona verkauften nun mal Bücher, was sie aus seiner Sicht mit einer mysteriösen Aura des Intellektuellen umgab. Kaffee und Panini kaufte schließlich jeder, aber Bücher! Trotzdem liefen ihre Geschäfte gut. Und Corrado erfüllte den beiden Buchhändlerinnen voller Ehrfurcht jeden Wunsch, als wären sie Priesterinnen eines ihm unbekannten Kultes.

«Mit Zitrone wie immer?»

«Mit Zitrone wie immer!»

«Corrado, wenn du mit dem Tee fertig bist, könntest du dann draußen die Lichter einschalten? Es wird Zeit …», meinte Tatiana. Dann gab sie der Buchhändlerin ein Zeichen, dass sie ihr nach draußen folgen solle. Sie wollte mit ihr reden.

Auf dem Gehsteig zündete Tatiana sich eine Zigarette an und bot auch Barbara eine an, die jedoch ablehnte.

«Was ist los, Tatià?»

«Corrado ist irgendwie seltsam. Vor vier Tagen hat er die Bar einfach so geschlossen und war zwei Nächte nicht da. Er hat mir weder gesagt, warum, noch, wo er hinwollte. Und seit er wieder hier ist, ist er … Ich weiß nicht, bleich, ständig in Gedanken, und er zuckt bei jedem Geräusch zusammen.»

«Was glaubst du, was los ist?»

«Keine Ahnung. Aber es gefällt mir nicht.»

Die beiden blickten zu Corrado hinüber, der gerade das Teewasser erhitzte.

«Corrado hatte in Rom offenbar eine bewegte Vergangenheit. Er hat mir mal gesagt, dass er nicht mehr dorthin zurückkönne.»

Barbaras Augen blitzten neugierig auf.

«Was meinst du mit ‹bewegter Vergangenheit›?»

Als eifrige Leserin der Romane von John le Carré und P.D. James vermutete sie hinter jeder Ecke irgendwelche Intrigen und dunkle Geheimnisse.

«Hässliche Dinge eben.» Dann fügte Tatiana flüsternd hinzu: «Er war sogar im Gefängnis …»

«Und jetzt?»

«Ich weiß nicht. Irgendetwas beunruhigt ihn.»

«Der Tee ist fertig!», rief Corrado. Barbara strich Tatiana freundschaftlich über den Arm und ging wieder rein. Die Russin blieb draußen, um die Zigarette zu Ende zu rauchen, und blickte in den Himmel. Die Wellen des Meeres schlugen unablässig gegen die Klippen und auf den Strand. Gleich würde es dunkel werden. Barbara ging mit den beiden Teetassen an Tatiana vorbei. «Wir sprechen uns später noch», flüsterte sie ihr zu und machte sich auf den Weg zurück zu ihrem Laden. Tatiana warf die Zigarettenkippe weg und trat wieder in die Bar. Corrado starrte, auf die Kaffeemaschine gestützt, auf das Fach mit den Fruchtsäften.

«Weißt du, was, Corrado, geh doch schon nach Hause. Ich schließe dann hier ab.»

«Bitte?»

«Ich habe gesagt: Geh nach Hause. Leg dich ins Bett oder aufs Sofa, mach den Fernseher an, und ruh dich aus. Der Tag ist so gut wie vorbei.»

Corrado nickte. «Ja … ja, ist gut. Dann gehe ich mal.»

Tatiana trat hinter die Theke. «Bist du sicher, dass du kein Fieber hast?»

«Was?»

«Hast du Fieber?»

«Nein. Wieso denn Fieber?», entgegnete Corrado. «Schließt du nachher ab?»

«Hab ich doch schon gesagt.»

Corrado zog die Schultern hoch, nahm seine Windjacke von der Garderobe und setzte seine Mütze auf. «Dann bis morgen.»

«Bis morgen.»

Tatiana sah ihm nach, wie er davonging.

 

Es dämmerte bereits. Schon bald würde das Meer nur noch ein schwarzer, mit den Lichtern der Fischerboote besprenkelter Fleck sein. Corrado beschloss, am Strand entlang nach Hause zu gehen, um ein wenig Luft zu schnappen. Er begegnete zwei jungen Joggern und einer Frau, die ihren Hund ausführte. Nur zwei Autos und ein klapperndes Mofa fuhren vorbei. Francavilla al Mare war ein Urlaubsort. Vor allem hier unten am Meer war der größte Teil der Häuser so lange verschlossen und unbewohnt, bis die Eigentümer in den Sommermonaten wiederkommen würden. Corrado wohnte nicht weit entfernt vom Strand in einem zweistöckigen Gebäude mit zwölf Wohneinheiten, wo sich im Moment außer ihm nur drei Familien aufhielten.

Corrados Gedanken drehten sich im Kreis: Er konnte so nicht weitermachen. Es war eine Folter. Er schlief nur noch wenige Stunden, einen unruhigen, erschöpften Schlaf, trostlos und ohne Träume.

Alles hat einen Anfang und ein Ende, sagte er sich immer wieder. Aber warum ging dann die Tortur für ihn weiter und weiter? Wie lange würde er noch für seine Fehler büßen müssen? Das war schlimmer als jedes Gefängnis. Wäre womöglich besser gewesen, für immer im Knast zu versauern. Warum hatte ihn dieser Polizist vor sechs Jahren nicht genauso kaltgemacht wie seinen Komplizen? Denn jetzt war er für immer in der Hand eines Mörders, geknebelt, ohnmächtig und voller Angst.

«Die Sache muss ein Ende haben!», sagte er und schob im selben Atemzug den Schlüssel ins Schloss des schmiedeeisernen Tors, das in den Hof der Wohnanlage führte. Er ging nach links zum Aufgang A und öffnete die Tür. Seine Wohnung lag im Hochparterre. Er trat ein, schaltete das Licht an und hängte Mütze und Jacke an die Garderobenhaken neben der Wohnungstür. Dann atmete er einmal tief durch und ging in die Küche. Enzo Baiocchi saß am Tisch. Er rauchte und sah Fernsehen. Die Fenster und die Fensterläden im Raum waren geschlossen, und es stank nach Zigarettenrauch und abgestandenem Kaffee. Corrado drehte sich der Magen um.

«Willkommen zurück», hörte er Enzo sagen.

Corrado antwortete nicht. Er öffnete den Kühlschrank und griff nach einer Flasche Wasser.

«Auf den glorreichen Gedanken, mal einkaufen zu gehen, bist du offenbar nicht gekommen, oder?»

Corrado sah aus dem Augenwinkel zu Enzo hinüber, als er zur Spüle hinüberging, um sich vom Trockengestell ein Glas zu nehmen. Ein einziger fester Schlag mit der Glasflasche ins Genick würde reichen, und der Albtraum wäre vorbei.

«Nein, bin ich nicht.»

«Und was soll ich heute Abend essen?»

Enzos stoppelige platinblonde Haare sahen aus wie Stroh. Er drückte die Zigarette in der Kaffeetasse aus.

«Du hättest aus der Bar ja Panini oder irgendwas mitbringen können, du Blödmann!»

«Hab ich nicht dran gedacht.»

«Und ich fahr zum Abendessen nach Pescara. Los, gib mal ’nen Fünfziger rüber.»

Corrado füllte in aller Ruhe sein Glas, trank es aus und stellte es zurück in die Spüle. «Nein», sagte er.

«Wie ‹Nein›?»

«Ich geb dir keinen Cent, Enzo. Ich hab die Schnauze voll!»

Baiocchi drehte sich langsam um. «Was hast du da gerade gesagt?»

«Du hockst jetzt hier schon seit drei Tagen rum. Du wolltest, dass ich dich nach Aosta fahre, und das hab ich gemacht. Und jetzt trennen sich unsere Wege wieder.» Corrado wusste selbst nicht, woher er den Mut nahm. Aber er hatte es gesagt. «Oder wie lange soll das Ganze noch gehen?»

Enzo stand langsam auf. «So lange ich will. Und du hast noch längst nicht die Schnauze voll. Und weißt du auch, warum?»

Corrado schüttelte den Kopf, woraufhin Enzo eine Hand in die Tasche steckte und einen Zettel herauszog. «Schau mal, was ich in deiner Jacke gefunden habe! Du dämlicher Hund!» Enzo hielt Corrado den Zettel vor die Nase. «Na, siehst du? Weißt du, was das ist? Da steht dein Name drauf; das ist aus dem Hotel in Pont-Saint-Martin, wo du übernachtet hast. Du hast denen sogar deinen Ausweis gegeben.» Enzo lächelte mit seinen gelben Zähnen. «Du Blödmann! Das dürfte reichen. Vergiss nicht, Corrà, wenn ich dran bin, bist du es auch!»

Corrado stieß sich von der Spüle ab. «Wieso gehst du nicht einfach zurück nach Rom und lässt mich in Ruhe?»

«Ich geh wieder nach Rom, keine Sorge. Wenn die Lage sich beruhigt hat. Wo ist das Problem?»

«Wo das Problem ist? Dass du Scheiße gebaut hast», schrie Corrado. «Du hast die Falsche erwischt! Anstatt den Bullen hast du eine erschossen, die damit gar nichts zu tun hatte, du Blindschleiche!»

Enzo rührte sich nicht. Er sah Corrado an, ohne mit der Wimper zu zucken.

«Das liegt wohl in der Familie, Enzo! Dein Bruder und du, ihr sucht euch immer das falsche Ziel aus!»

Enzo sprang auf und ging auf Corrado los. Er stieß ihn gegen die Wand und hatte plötzlich ein Messer in der Hand, das er Corrado an die Kehle hielt. «Pass auf, was du sagst, du Stück Scheiße! Erwähne nie wieder meinen Bruder!» Die Spitze des Messers drang Corrado unter die Haut. Er öffnete den Mund und schloss die Augen. Ein Tropfen Blut rann die Klinge hinab. «Vergiss nicht: Wenn ich dran bin, bist du es auch.» Enzo zog das Messer zurück, das blitzschnell wieder in seiner Tasche verschwand. «Geh dich waschen und rasieren, du stinkst nach Fett.»

Dienstag

In der Questura ging auch ohne Rocco alles seinen gewohnten Gang. Casella schob Türdienst, Deruta und D’Intino waren ständig auf der Suche nach irgendeinem verschwundenen Stück Papier, Caterina Rispoli hing in ihrem kleinen Büro im Erdgeschoss dauernd am Telefon, Antonio Scipioni, der Sizilianer aus den Marken, war damit beschäftigt, Anzeigen aufzunehmen. Italo Pierron schien der Einzige zu sein, der den Chef vermisste. Von der Tür aus betrachtete er Roccos leeres Büro. Den Schreibtisch, das geschlossene Fenster, das Bücherregal mit den unberührten Gesetzestexten, das Kruzifix, das Foto des Präsidenten und den Kalender. Letzterer fiel ihm an diesem sonnigen Frühlingstag zum ersten Mal auf. Der Kalender zeigte das Datum vom achten September des Vorjahres, dem Tag, an dem Rocco seinen Dienst in der Questura von Aosta angetreten hatte. Der Vicequestore hatte nicht einen Blick darauf geworfen. Er hatte immer wieder betont, dass für ihn jeder Tag genau wie alle anderen sei. Und abgesehen von der hohen oder niedrigen Außentemperatur schien er tatsächlich keinen nennenswerten Unterschied wahrzunehmen.

«Was hast du denn da unterm Arm?»

Erschreckt wandte sich Italo um. Caterina stand im Flur.

«Nichts, ich hab nur einen Blick in Roccos Büro geworfen.» Er betrachtete die zusammengerollte Pappe, die er dabeihatte. «Und das hier wollte ich gerade aufhängen. Zur Aufheiterung.»

Neugierig sah Caterina auf die Rolle. «Was ist das?»

«Das wirst du gleich sehen.» Er entrollte die Pappe und holte ein paar bunte Heftzwecken aus der Hemdtasche. In seinem Gürtel steckte ein Hammer, mit dem er nun das Pappschild an der Wand neben der Bürotür seines Chefs befestigte. Dann trat er einen Schritt zurück und betrachtete sein Werk.

«Hängt es gerade?»

Caterina sah genau hin. «Ja, ich denke, schon. Aber was soll das?» Sie trat näher heran, um zu lesen.

Italo hatte die Fläche in fünf große Rechtecke aufgeteilt und vom sechsten bis zum zehnten Grad jeweils das hineingeschrieben, was zu Roccos persönlichem Wertesystem gehörte, um die Dinge zu kategorisieren, die ihm auf den Sack gingen. Inzwischen war diese Skala jedem bestens bekannt. Sie begann mit den geringeren Ärgernissen, für die Rocco eine Sechs vergab, und gipfelte in der Zehn, wo einsam an der Spitze das größte Übel thronte, das dem Vicequestore am meisten auf den Sack ging: ein zu lösender Fall.

Caterina musste lachen. «Weißt du die alle auswendig?»

«Zumindest hab ich die aufgeschrieben, die ich weiß. Wenn uns noch andere unterkommen, können wir sie nach und nach hinzufügen, bis wir alle zusammenhaben.»

«Hast du ihn angerufen?»

«Ja, aber er geht nicht ran. Er geht bei niemandem ran.»

«Bist du mal bei ihm zu Hause, in der Rue Piave, vorbeigegangen?»

«Sie haben inzwischen die Siegel entfernt», sagte Italo. «Ich habe ihm die Nachricht vom Questore dagelassen, dass der für ihn eine Wohnung in der Via Laurent Cerise gefunden hat. Rocco müsste sie sich nur mal ansehen.»

«Keine Sorge. Der Wohnungsmarkt ist gerade ziemlich entspannt. Die Zeiten, in denen hier Wohnungen wie frisches Brot weggegangen sind, sind vorbei», meinte Caterina. «Apropos frisches Brot: Deruta hat gefragt, ob er früher Schluss machen kann. Wie es aussieht, soll er heute Abend seiner Frau in der Bäckerei helfen.» Sie wandte sich zum Gehen.

«Caterina? Vergiss nicht, dass wir morgen bei meiner Tante zum Abendessen eingeladen sind.»

Ohne sich umzudrehen, entgegnete sie: «Morgen Abend hab ich Yoga.» Sie verdrehte die Augen und dachte noch einmal an die Skala des Vicequestore. Vielleicht sollte sie auch so eine Liste erstellen. Dann bekäme Abendessen bei Verwandten bei ihr eine Neun.

 

Rocco lag auf dem Bett und starrte an die Wand. Er fixierte einen Fleck in der oberen Ecke. Einen grauen Fleck. Der aussah wie Großbritannien. Oder von der Seite wie ein bärtiger Mann, der mit offenem Mund lachte. Lupa wedelte mit dem Schwanz. Der Hund stellte die Ohren auf und hob die Schnauze. Kurz darauf klopfte jemand an die Tür.

«Dottore? Alles in Ordnung?»

Es war die Stimme des Rezeptionisten.

«Dottore, hier ist Besuch für Sie. Bitte machen Sie die Tür auf. Antworten Sie!»

Wie es aussah, musste er endlich mal reagieren. Er schleppte sich zur Tür und schloss auf.

Neben dem Pförtner stand ein Riese. Rocco erkannte ihn sofort: Carlo Pietra, der Vize der Mobilen Einheiten aus Turin, der ihn in Aosta vertrat, seit er sich in diesem Apartment verbarrikadiert hatte.

Rocco öffnete die Tür noch ein Stück weiter. «Bitte», sagte er. Pietra lächelte leicht und trat am Pförtner vorbei ins Zimmer.

«Brauchen Sie noch etwas?», fragte der Rezeptionist.

Rocco antwortete nicht und schloss lediglich die Tür.

«Wie geht’s?»

«Es geht.»

Carlo Pietras beeindruckende Gestalt schien die kompletten dreißig Quadratmeter des Apartments auszufüllen. Er hatte heitere blaue Augen, einen dünnen Bart und lange Haare. «Darf ich?», fragte er mit Blick auf den einzigen Sessel im Raum.

«Natürlich, bitte.»

Der Sessel knirschte, als der Koloss sich darauf niederließ. Carlo Pietra betrachtete Rocco, seinen Dreitagebart und das wirre Haar. Dann öffnete er die Mappe auf seinen Knien und blickte hinein. «Ganz schön trist hier drin», kommentierte er, in den Papieren blätternd.

«Vielleicht, aber in meiner Wohnung ist es auch nicht besser.» Rocco öffnete den kleinen Kühlschrank. «Möchten Sie irgendwas trinken? Mal sehen … Ich hab eine Cola, Säfte und einen winzigen Rest von einem namenlosen Whisky.»

«Nein danke.»

«Ich kann auch einen Kaffee mit der Padmaschine machen. Ist gar nicht so übel.»

«Nein, nein, nichts. Ich gehe gleich noch essen, und sonst hab ich dann keinen Appetit mehr.» Pietra tätschelte seinen Bauch.

Rocco ging zur Kochnische hinüber. Er jedenfalls konnte einen Kaffee gut gebrauchen. «Also, Dottor Pietra, was gibt’s?»

Der Angesprochene zog ein Taschentuch hervor und putzte sich die Nase. «Hören Sie, könnten wir eine Sache tun, bevor ich einen Knoten in der Zunge habe?»

«Klar.»

«Könnten wir uns duzen?»

«Nur zu.» Rocco drückte einen Knopf, und gleich darauf floss der Kaffee aus der Maschine in die Tasse.

«Also, Rocco, können wir die Fakten kurz nochmal durchgehen?»

«Schieß los.» Rocco nahm den Kaffee und setzte sich aufs Bett. Lupa war inzwischen wieder eingeschlafen.

«Hast du eine Ahnung, wer am Donnerstag, dem 10. Mai, in deine Wohnung eingedrungen sein und mit einer Pistole Kaliber 6,35 auf …» Pietra blätterte in den Unterlagen.

«Adele Talamonti», sagte Rocco. «Ja, Adele Talamonti war bei mir zu Hause. Sie war die Lebensgefährtin von Sebastiano, einem sehr guten Freund von mir. Sie war bei mir, um sich vor ihm zu verstecken, damit er sie vermisst und nach ihr sucht. Ja, ich weiß …» Rocco kam Pietra auf dessen skeptischen Blick hin zuvor «… eine blöde Idee, aber sie hat gehofft, so sein Interesse und seine Leidenschaft neu anzufachen. Jedenfalls hat der Mörder gedacht, dass ich in dem Bett liege, und auf sie geschossen.»

Der Kollege nickte. «Und du hast keine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?»

«Nein.»

Pietra kratzte sich am Kopf. «Hör mal, Rocco, ich hab ein paar Dinge über dich gelesen. Und sagen wir, dass du … dem ersten Eindruck nach eine ziemlich lebhafte Vergangenheit hast.»

«‹Lebhaft› ist nett gesagt, Carlo.»

«Also die Sache wird nicht einfach, wenn wir in deiner Vergangenheit wühlen müssen, es sei denn, du hast jemanden im Verdacht.»

Rocco schüttelte den Kopf. «Nein. Hab ich nicht. Ich weiß nur, dass derjenige, der versucht hat, mich umzubringen, es wieder versuchen wird.»

Carlo Pietra sah sich um. «Und darauf wartest du hier?»

«Nein. Ich bin hier, weil ich kein Zuhause mehr habe. Sobald ich eine Wohnung finde, bin ich hier weg. Vor allem wegen ihr …» Er wies auf Lupa. «Ist ein bisschen eng hier.»

Pietra schien die Anwesenheit des Hundes erst in diesem Moment aufzufallen. «Ich weiß nicht. Mir sind Katzen lieber.» Der Vize der Mobilen Einheiten wuchtete sich aus dem Sessel. «Okay, ich geh dann zum Questore, übergebe ihm den ganzen Papierkram und mache mich auf den Rückweg nach Turin. Hier gibt es für mich nichts mehr zu tun. Wann trittst du deinen Dienst wieder an?»

«Ich hab noch Resturlaub.»

«Und den willst du hier verbringen?»

«Ich habe keine Lust, irgendwo hinzufahren.»

«War nett, dich kennenzulernen.» Pietra schüttelte Rocco die Hand. «Wie ist’s denn so in Aosta?»

Rocco dachte kurz darüber nach.

«Gute Fahrt.»

 

Es war Massimo, sein Freund aus Viterbo, gewesen, der Rocco das Futter für Lupa empfohlen hatte. Auf Massimo war Verlass. Er züchtete Trüffelhunde und disziplinierte sie wie Soldaten. Also hatte Rocco ein Foto von seinem Welpen gemacht und es per MMS an seinen Freund geschickt. Die Antwort lautete: Lieber Rocco, es ist nicht leicht, etwas über die Rasse zu sagen. Auf den ersten Blick tippe ich auf drei: Setter, Bretone und irgendein Schäferhund. Auf jeden Fall ist es ein schönes Tier, du solltest es behalten. Rocco nahm den leeren Napf und stellte ihn auf die Anrichte in der Kochnische. Dann griff er nach der Zeitung, um sie zusammenzurollen und wegzuwerfen. Dabei fiel sein Blick noch einmal auf den Artikel dieser Journalistin: Geht es darum, die laufende Ermittlung nicht zu gefährden, oder handelt es sich um ein dezidiertes Schweigen der Ordnungskräfte, weil einer der Ihren im Mittelpunkt des Geschehens steht?

 

Er knüllte die Zeitung zusammen und warf sie in den Müll.

 

«Sieben senkrecht: Leere, Vakuum, vierzehn Buchstaben.»

Marina saß neben Lupa auf dem Bett. Mit der rechten Hand streichelte sie den Hund. In der linken hielt sie das Rätselheft.

«Einöde?»

«Warte, endet auf ‹eit›.»

«Inhaltslosigkeit?»

«Rocco, ich habe gesagt, vierzehn Buchstaben.»

«Vierzehn Buchstaben …»

«Echt hässlich hier drin …»

«Stimmt.»

«Nicht dass die Wohnung in der Rue Piave der Knaller gewesen wäre.»

«Da hast du auch recht», entgegnete er.

«Du solltest dir eine neue Wohnung suchen.»

«Wozu?» Er überlegte. «Gehaltlosigkeit?»

«Bitte?»

«Das Wort aus dem Kreuzworträtsel. Passt Gehaltlosigkeit?»

«Das sind fünfzehn Buchstaben. Warte, ich löse erst mal die Zwölf waagerecht … Anerbieten … das ist leicht, Angebot … Buch des fiktiven Autors Abdul Alhazred …»

«Was?»

«Necronomicon.»

«Wieso weißt du denn so was?»

«Ich weiß es einfach. Also: sieben senkrecht ist … Beschränktheit!»

«Beschränktheit?»

«Genau!»

Ich sehe sie an. «Meinst du mich?» Natürlich meint sie mich. Eins ist sicher: Meine Frau ist ständig mit Wortspielen beschäftigt, die kein Mensch kapiert. Ich schon gar nicht. «Wenn du mich meinst, warum sagst du es mir dann nicht direkt?»

Sie legt das Rätselheft zur Seite, gibt Lupa einen Kuss auf die Schnauze und geht ins Bad. Auf der Schwelle dreht sie sich um und sieht mich mit strengem Blick an: «Tu endlich was, zum Teufel!» Dann schließt sie die Tür hinter sich.

 

Sie schlenderten herum und unterhielten sich leise. Wie Esel. Nur dass Esel immer im Kreis gingen und einen Mühlstein bewegten. Diese Nichtsnutze dagegen liefen nur ihre Sohlen ab und das Gras im Hof.

«Ende, alle wieder rein!», rief ein junger Aufseher mit spärlichem Bart und Pickeln im Gesicht. Agostino Lumi, genannt der Professor, war der Erste, der aufstand, gefolgt von Oluwafeme, dem riesigen Nigerianer, und Erik, dem Rothaarigen. Noch so ein Scheißtag! Einer von unzähligen Scheißtagen. Langsam ging er durch die Tür zur Treppe, die zum zweiten Block des Gefängnisses von Varallo führte. Mit einem Grinsen grüßte der Professor den kahlköpfigen Aufseher und stieg die Stufen hinauf. Die respektvollen Blicke der anderen Gefangenen nahm er kaum noch wahr. Oder die Bitten, ihnen einen Gefallen zu tun, die sie mit zitternden Händen in den Sozialisierungszeiten an ihn richteten, wenn die Stahltüren offen waren und man herumlaufen durfte, um Zigaretten und Schulden einzustreichen. Diese Mauern begannen ihn zu erdrücken. Er brauchte dringend einen Ortswechsel, eine Verlegung. Andere Luft, ein anderes Leben, neue Leute, die er dominieren konnte. Die beiden würde er gern mitnehmen, Oluwafeme und Erik, denn sie leisteten ihm gute Dienste, hielten zu ihm und waren vor allem gefährlich. Außerdem war Erik ein hervorragender Koch.

«Was gibt’s heute Abend zu essen?», fragte er, während sie durch die letzte Tür gingen, um in ihren Block zu gelangen.

«Heute Abend gibt’s Spaghetti alla carbonara. Und Hähnchenbrust mit Zitrone.»

Agostino Lumi nickte. «Hast du Oliven für das Huhn?»

«Sicher, Professor!»

Lumi schüttelte die Hände, die ihm einige Häftlinge entgegenstreckten, und betrat schließlich seine Zelle. Er war der Einzige, der nicht in einem Etagenbett schlief. Ihm fiel sofort auf, dass das Kissen verschoben war. Er schob die Hand unter die Decke und zog ein Blatt Papier darunter hervor, das aus einem karierten Block herausgerissen worden war.

Morgen stand darauf.

Der Professor sah Erik und den Nigerianer an. Dann steckte er sich das zusammengeknüllte Stück Papier in den Mund und begann zu kauen.

«Was ist das?», fragte Erik.

«Die Vorspeise.»

 

«Commissariato Colombo, was kann ich für Sie tun?»

«Geben Sie mir De Silvestri.»

«Mit wem spreche ich?»

«Vicequestore Schiavone.»

Er wartete. Das Commissariato Colombo in Rom war seine ehemalige Dienststelle, in der er lange gearbeitet hatte und wo sein Kollege De Silvestri immer noch tätig war, der inzwischen betagte Agente, der Roccos Anfänge bei der Polizei mitbekommen hatte, über das Gedächtnis eines Computers verfügte und so intelligent war wie ein Nobelpreisträger. Das schnurlose Telefon am Ohr, blickte Rocco aus dem Fenster. Grau und nass. Es konnte jeden Moment wieder anfangen zu regnen. Allerdings waren die Fenster nicht beschlagen, was ein Zeichen dafür war, dass die Außentemperatur sich allmählich der Jahreszeit anpasste.

«Dottore? Was ist denn da passiert?», ließ sich De Silvestris heisere Stimme vernehmen.

«Hast du’s schon gehört?»

«Zufällig, in den Regionalnachrichten. Das galt Ihnen, nehme ich an?»

«Ja genau, Alfredo. Und ich brauch deine Hilfe.»

«Was auch immer ich tun kann.»

«Gibt es jemand, der in der letzten Zeit entlassen worden ist?»

«Inwiefern ‹jemand›?»

«Einer, den ich in den Knast gebracht habe. Ich weiß nicht, irgendwer, der etwas gegen mich haben könnte.»

Rocco hörte den Agente tief durchatmen. «Dottor Schiavone, bitten Sie mich gerade darum, sämtliche Namen aus den Gelben Seiten durchzugehen?»

«Ja, aber lass die kleinen Fische weg. Kleine Diebstähle, Betrügereien und den ganzen Scheiß. Nur die schweren Fälle.»

«Wie viel Zeit habe ich?»

«So lange, wie du brauchst.»

«Ich rufe Sie an.»

Rocco beendete das Gespräch. Er hatte Hunger. Also weckte er Lupa.

«Kommst du mit nach draußen?»

 

«Kann ich zu Chiara?», fragte Max.

«In Ordnung, aber nicht zu lange, okay? Sie ist noch sehr erschöpft», antwortete Silvana Berguet.

Max lächelte mit seinen perfekten Zähnen, strich sich durch die blonden Haare und ging die Treppe hinauf, die vom Wohnzimmer zu den Schlafzimmern führte. Er hatte seine Freundin ewig nicht mehr gesehen. Im Krankenhaus hatte Max sie lieber nicht besucht, weil er sich vor Krankenhäusern fürchtete. Er brauchte nur einen Blick auf einen Kranken zu werfen, und schon fühlte er bei sich auch irgendein Leiden. Ein amputiertes Bein, ein Herzinfarkt, Blinddarmentzündung, es gab kein Übel, das den jungen Mann nicht ansteckte wie ein schlechter Geruch, der ihm in die Nase stieg.

Er hatte Dutzende SMS an Chiara geschickt, aber sie hatte ihm immer nur mit halben Sätzen oder wenigen Worten geantwortet: Mir geht’s gut. Wir sehen uns. Komm nicht ins Krankenhaus. Grüß alle in der Schule. Na ja, da war diese Geschichte mit Filippa. Aber das war nun wirklich nicht seine Schuld, sie hatte sich ihm geradezu an den Hals geworfen. Natürlich war er mit Chiara zusammen. Er hatte versucht, mit seinem Vater darüber zu reden, dem großen Doktor Turrini, der Chefarzt im Krankenhaus war. Aber der hatte nur lächelnd gesagt: «Max, du bist zwanzig Jahre alt, siehst gut aus und bist gesund. Treib’s, mit wem du willst, tob dich aus, und mach dir keine Sorgen. Die Zeit, dass es ernst wird, kommt noch früh genug.» Aha, dass es ernst wird. Aber das konnte er Chiara doch nicht antun, nach dem, was sie durchgemacht hatte. Entführt! Max wollte gar nicht daran denken. Sie war mehrere Tage lang mit einem Sack über dem Kopf in einem Keller eingesperrt gewesen, in der Kälte in den Bergen zurückgelassen, ohne etwas zu trinken oder zu essen. Und die beiden Typen, die sie entführt hatten und dann bei einem Autounfall gestorben waren, hatte er auch noch gekannt. Er hatte ihnen eine Packung Stilnox verkauft, die er aus dem Medikamentenschrank seines Vaters gemopst hatte. Und er wusste genau, welche Wirkung das Zeug hatte: Es knockte jeden aus. Die Vergewaltigungsdroge. Wenn eine Tussi das intus hatte, konnte man mit ihr machen, was man wollte, ohne dass sie irgendwas mitbekam und sich nachher daran erinnerte. Ob sie das mit Chiara auch gemacht hatten? Ob sie sie vergewaltigt hatten? War er dann dafür verantwortlich, war es seine Schuld? Aber wenn er das Zeug nicht an die beiden Mistkerle verkauft hätte, hätte es ein anderer getan.

Bevor er an die Tür von Chiaras Zimmers klopfte, sammelte er sich: Pass auf, was du sagst, Max! Mach keinen Scheiß!

Er klopfte. Keine Antwort. Vorsichtig öffnete er die Tür. «Chiara? Chiara, ich bin’s, Max …»

Sie lag angezogen unter einer Wolldecke auf dem Bett und sah durchs Fenster nach draußen. Ihre Füße, die in dicken bunten Wollsocken steckten, lugten unter der Decke hervor. Langsam wandte sie den Kopf in seine Richtung. Als sie ihn sah, erschien kurz ein Lächeln auf ihrem Gesicht, das jedoch gleich wieder erlosch.

«Ciao.»

«Ciao.» Max schloss die Tür hinter sich und setzte sich am Fußende aufs Bett. «Wie geht’s?»

Chiara zuckte mit den Schultern. «Gut. Und dir?»

«Gut.» Er sah sie an.

Ihr Haar war zerzaust, und sie hatte dunkle Ringe unter den Augen.

«Du hast mir gefehlt», sagte er. «Wie fühlst du dich?»

«Müde.»

«Wann kommst du wieder zur Schule?»

«Ich weiß nicht. Im Moment schaff ich es noch nicht.»

Max seufzte. «Kannst du wenigstens schlafen?»

«Nein.»

«Und das Bein?»

Während Chiara in dem Keller in tausend Metern Höhe gefangen gewesen war, hatte sie sich am Bein verletzt, und die Wunde hatte sich entzündet. Sie ging noch an einer Krücke, aber der Arzt war optimistisch.

«Könntest du bitte aufhören, mir die gleichen Fragen zu stellen wie die Journalisten?»

Max senkte den Kopf. Er hatte sich doch nur bemüht, sich an ihrem Zustand interessiert zu zeigen.

Chiara wandte sich wieder zum Fenster um. «Ich glaube, das verheilt nie.»

«Wieso sagst du denn so was? Die Wunde wurde doch genäht!»

Was für ein Idiot, dachte Chiara. Schön, aber strunzdumm. «Ich rede nicht von der Wunde am Bein, Max. Ich träume jede Nacht davon. Jede Nacht bin ich wieder an diesen Stuhl gefesselt mit dem Sack über dem Kopf. Allein. Und draußen regnet und schneit es, und ich bin allein. Ohne einen Tropfen Wasser …»

«Aber die beiden Kerle, die dich entführt haben, sind tot, Chiara. Jetzt kann dir niemand mehr etwas tun, glaub mir!»

Chiara wandte ruckartig den Kopf und sah Max in die Augen. «Und woher willst du das wissen? Bist du dir sicher?» Sie schloss die Augen. «Ist dir aufgefallen, dass ich neunzehn geworden bin und nicht mal gefeiert habe? Weil ich nicht will, dass alle mich so ansehen wie du.» Eine Träne quoll unter ihren Lidern hervor. «Das arme Mädchen, das entführt wurde, und wer weiß, was sie sonst noch mit ihr gemacht haben!»

«Chiara, ich wollte nicht …»

«Reden sie in der Schule über mich? Und was sagen sie?»

«Dass sie dich wiedersehen wollen.»

Chiara beruhigte sich und wurde sanfter. «Und du? Wie geht es dir?»

«Na ja. Zu Hause ist es die Hölle.»

«Wieso?»

Max blickte auf seine Hände. Er rieb sie unentwegt aneinander. «Alles ist furchtbar, Papa und Mama sind … uff! Ich halte es zu Hause nicht mehr aus!»

Chiara schnaubte. «Dann hau doch ab. Geld hast du genug.»

«Da bin ich auch schon drauf gekommen. Aber solange ich nicht mit der Schule fertig bin, krieg ich keinen Cent.»

Das brachte Chiara endlich zum Lächeln. «Ich mag dich, Max, aber du musst mir eins versprechen.»

«Klar.»

«Komm nicht mehr her.»

Max riss erstaunt die Augen auf. «Aber …»

«Geh in die Schule, amüsier dich mit deinen Freunden, aber denk nicht mehr an mich. Chiara Berguet existiert nicht mehr.»

«Warum?»

«Wenn ich es wüsste, würde ich es dir sagen. Aber ich weiß es nicht. Ich weiß es selbst nicht.»

«Bekomme ich nicht mal einen Kuss?»

«Tut mir leid, Max, lass mich schlafen. Ich bin müde.»

 

Ein Stockwerk tiefer saß Staatsanwalt Baldi im luxuriösen Wohnzimmer der Berguets und rührte in der Tasse, die die Hausangestellte Dolores ihm gerade aus der Küche gebracht hatte. Alessandro und Silvana Berguet sahen ihm dabei zu.

«Es freut mich, dass es Ihnen wieder bessergeht, Signora Berguet», sagte Baldi.

«Danke, ja, ich kann endlich wieder schlafen.»

Der Staatsanwalt wandte sich ihrem Mann zu. Im Gegensatz zu seiner Frau war er noch immer blass, konnte die Hände nicht stillhalten und zündete sich eine Zigarette nach der anderen an.

«Also: Ich bin hier, um etwas zu klären. Ihre Firma hat sich an einer Ausschreibung der Region beteiligt. Richtig?»

Damit hatte der Staatsanwalt ins Wespennest gestochen. Alessandro Berguets Gesichtsfarbe änderte sich von Leichenblass in Feuerrot. «Sie haben uns rausgeschmissen!», explodierte er. «Sie haben uns von der Ausschreibung ausgeschlossen! Wegen ‹Verdacht auf Verbindung zu einer Mafia-Organisation›, heißt es. Können Sie sich das vorstellen, Dottor Baldi? Meine Tochter wird entführt von diesem … Cuntrera, diesem Mistkerl, und der Mafioso bin ich? Ich habe versucht, der Ausschreibungskommission die Situation klarzumachen. Dass diese Scheißverbrecher uns erpresst haben!»

«Alessandro!», rief seine Frau erschreckt aus. Doch ihr Mann hörte nicht auf sie.

«Und jetzt ist die Edil.ber eine Firma mit Verbindungen zur Mafia?»

«Und was hat man Ihnen geantwortet?»

«Sie haben gesagt: Vergessen Sie nicht, dass Cristiano Cerruti, Ihr Geschäftsführer und Ihre rechte Hand … Mitglied dieser Organisation …» Alessandro Berguet stand abrupt vom Sofa auf. «Und damit haben sie ja auch recht, Dottor Baldi. Nur zu recht! Cristiano, meine rechte Hand, hat bis zum Hals mit dringesteckt. Was also hätte ich darauf antworten sollen? Verstrickung in die Machenschaften der Mafia? Allerdings!»

Baldi nahm einen Schluck von seinem Kaffee. «Die Ausschreibung gewonnen hat, soweit ich weiß, die Firma …»

Alessandro Berguet kam ihm zuvor: «Architettura Futura. Ein recht junges Unternehmen, das es erst seit ein paar Jahren gibt.» Er ging zum Fenster hinüber. «Allerdings ist es das erste Mal, dass sie einen so großen Auftrag erhalten haben.»

«Darf ich fragen, um was für einen Bau es sich handelt?»

«Ein neuer Krankenhausflügel und zwei medizinische Einrichtungen, eine in Cervinia und eine in Saint-Vincent.»

«Von wie viel Geld reden wir?»

«Jeder Menge, Dottore. Jeder Menge.»

«Was werden Sie jetzt tun?»

«Ich werde versuchen, rechtlich dagegen vorzugehen. Aber ich bin mir so gut wie sicher, dass sich das nur für meine Anwälte lohnen wird.»

«Diese Firma, Architettura Futura … Wer ist der Eigentümer?»

«Luca Grange.»

«Aus Aosta?»

«Aus Pont-Saint-Martin.»

Die Tür wurde geöffnet, und Max erschien. Der Junge sah traurig aus, wie ein begossener Pudel.

«Salve …», sagte er beinahe flüsternd.

Silvana lächelte. «Dottor Baldi, das ist Max … Chiaras Freund.»

«Ja, ich kenne den jungen Mann. Und auch seine Mutter kenne ich gut. Wie geht’s, Max?»

«Geht so.»

«Hast du Chiara hallo gesagt?», fragte Silvana Berguet.

«Ja. Also danke, und entschuldigen Sie die Störung. Bis bald.»

«Ja, komm doch einfach gar nicht mehr, dann tust du mir glatt einen Gefallen!», brüllte Alessandro Berguet ihm unvermittelt nach.

«Alessandro!», rügte Silvana Berguet ihren Mann mit strengem Blick.

«Geh zurück zu deiner Mutter, Max, und zu dem Arschloch von deinem Vater! Und richte ihm von mir aus, dass ich ihm die Pest an den Hals wünsche!»

«Dottor Berguet?»

«Wissen Sie, Baldi, die Lage, in der ich mich jetzt befinde, habe ich vor allem der Mutter von diesem … Geh, Max, verschwinde, hau ab!»

«Entschuldigung …», setzte der Junge mit gesenktem Blick zu seiner Verteidigung an. «Ich habe nicht …»

«Und sag deiner Mutter vielen Dank von mir!»

Max zog den Kopf noch ein Stück weiter ein und verließ wie ein geprügelter Hund das Haus.

Silvana war mit schamgerötetem Gesicht aufgestanden. «Alessandro, der arme Junge hat damit doch gar nichts zu tun!»

«Weißt du, wer mir geraten hat, mich an diesen Cuntrera zu wenden? Mir das Geld bei diesem Scheißmafioso zu leihen? Weißt du das? Die Mutter dieses ‹armen Jungen›! Laura Turrini von der Banca delle Vallée! Und ich muss jetzt noch dieses Balg in meinem Haus ertragen!» Mit vor Wut geschwollenen Halsadern wandte Alessandro Berguet sich an Staatsanwalt Baldi: «Und bei denen suhlt sich alles im Sumpf des Verbrechens. In den Häusern der Turrinis und ihrer Freunde, in den besten Häusern der Stadt.»

«Dottore, bitte beruhigen Sie sich …»

«Einen Scheiß mache ich. Und Sie? Was machen Sie? Sie können nichts weiter als … herkommen, ein trauriges Gesicht machen und sagen, wie leid es Ihnen tut!» Alessandro Berguet war jetzt so richtig in Fahrt. Die Wut ließ ihn sämtliche Gebote der Höflichkeit vergessen. «Wenn Sie wirklich etwas herausfinden wollen, dann gehen Sie in den Lions oder den Rotary-Club oder ins Restaurant Santalmasso außerhalb der Stadt, wo ein Essen zweihundert Euro kostet! Dort können Sie die dicken Fische an Land ziehen! Anstatt bei mir auf dem Sofa rumzusitzen, Kaffee zu trinken und Ihre Betroffenheit zur Schau zu stellen!»

«Alessandro!»

«Ihr könnt mich alle mal!» Mit einem Tritt gegen das Sofa verließ der Hausherr den Raum.

Seine Frau und Staatsanwalt Baldi blieben stumm zurück, bis Silvana Berguet schließlich das Schweigen brach: «Entschuldigen Sie, Dottor Baldi. Es war nicht seine Absicht, Sie zu beleidigen.»

«Machen Sie sich keine Sorgen. So was passiert. Aber wenn ich fragen darf …», fuhr Baldi fort, um das Thema zu wechseln, «… kommen Chiaras Freunde her, um sie zu besuchen?»

Irgendwo im Haus wurde eine Tür zugeschlagen.

Silvana Berguet setzte sich wieder hin. «Ehrlich gesagt, rufen mehr Journalisten an als Schulkameraden.»

Baldi stellte die Tasse auf den niedrigen Glastisch. «Haben Sie schon mal an psychologische Betreuung gedacht?»

«Sie will nichts davon hören.»

«Sie müssen darauf bestehen.»

«Wir werden es versuchen. Hören Sie, mein Mann und ich, wir … Wir sind noch gar nicht dazu gekommen, Ihnen und den Männern aus der Questura für all das zu danken, was Sie für uns getan haben.»

Der Staatsanwalt winkte ab, um das Loblied zu unterbrechen. «Bitte. Ich bin nicht wegen solcher Dinge hier. Außerdem gibt es nur eine Person, der Sie danken müssten, und das ist Dottor Schiavone. Wenn er nicht gewesen wäre, wäre Chiara womöglich nicht gerettet worden.»

«Das würden wir gern tun, aber in der Questura hatten wir kein Glück. Und anders konnten wir Dottor Schiavone bisher nicht erreichen.»

«Wem sagen Sie das!»

 

Vicequestore Rocco Schiavone saß vorm Fernseher und sah sich eine politische Talkshow an. Ohne Ton. Die Teilnehmer in der Runde wirkten wie Fische in einem Aquarium. Ihre Münder öffneten und schlossen sich. Wobei sie fast immer ihre Zähne zeigten. Aber das Interessanteste waren die Augen, da deren Ausdruck überhaupt nicht zu den Mundbewegungen passte. Je weiter die Redner den Mund öffneten, desto ausdrucksloser wurden ihre Blicke. Rocco vergnügte sich damit, die Fische im Aquarium zu kategorisieren: Die Frau mit den übereinandergeschlagenen Beinen und dem schlecht gelifteten Gesicht war eine Muräne. Der Dicke mit dem Dreifachkinn und den wenigen Haaren ein Kugelfisch. Der seriöse Brillenträger ein Clownfisch … Ein irritierendes Geräusch unterbrach seine kleine Spielerei. Irgendjemand hatte ein Blatt Papier unter dem Türspalt hindurchgeschoben. Rocco stand vom Bett auf, bückte sich und hob es auf. Der Rezeptionist teilte ihm mit, dass Anna sechsmal nach ihm gefragt hatte und um Rückruf bat.

Aber Anna anzurufen kam überhaupt nicht in Frage. Ihm fehlte einfach die Kraft dafür, Zeit mit ihr zu verbringen, irgendwas zu essen und Blödsinn zu reden. Er hatte nicht mal Lust, sie zu küssen oder mit ihr zu schlafen. Er war bisher nie in der Lage gewesen, in den Armen einer anderen Frau als Marina einzuschlafen. Mit ihr hatte er eine ganze Nacht ineinander verschlungen verbringen können, ohne die Position zu verändern oder sie loszulassen, um im Rhythmus ihres Atems einzuschlafen und ihren Träumen zu folgen.

Das Telefon klingelte.

«Verdammt nochmal …!» Ohne nachzudenken, hob er den Hörer ab. «Schiavone …»

«Ein Anruf aus Rom für Sie», sagte die kühle Stimme des Rezeptionisten. «Übrigens habe ich Ihnen, um sie nicht zu belästigen, eine Nachricht unter der Tür durchgeschoben.»

«Ja, hab ich gesehen, danke. Stellen Sie den Anruf durch …» Kurz darauf war die Stimme seines alten Freundes zu hören.

«Dottore, ich bin’s, De Silvestri.»

«Schon was gefunden?»

«Ja …»

«Warte eine Sekunde, ich stelle dich auf laut, damit ich mir nebenher Notizen machen kann. Wenn ich das Telefon mit der Schulter einklemme, verrenk ich mir bloß den Hals.» Rocco drückte die entsprechende Taste und setzte sich an den kleinen Schreibtisch vor dem Fenster. Darauf lagen ein Briefblock und ein paar Stifte.

«Schieß los, Alfredo, ich bin so weit.»

«Dann fang ich mal an.» De Silvestris Stimme füllte den ganzen Raum. «Ich habe, wie Sie gesagt haben, alle ausgeschlossen, bei denen es um kleine Diebstähle, Betrügereien und sonstigen Kleinkram ging. Bei dem, was übrig bleibt, hätten wir zuerst Antonio Biga. Erinnern Sie sich?»

«Vage.»

«Im Jahr 2004. Er hat acht Jahre gekriegt, für bewaffneten Raubüberfall und …»

«Ach ja, natürlich! Antonio Biga!»

«Er ist vor drei Monaten entlassen worden. Seine letzte bekannte Adresse ist Viale Massaia 85 im Garbatella-Viertel.»

«Sonst noch jemand?»

«Sicher. Nummer zwei: Stefania Zaccaria. Die haben Sie 2006 wegen Zuhälterei hinter Gitter gebracht. Ist letztes Jahr entlassen worden.»

«Stefania Zaccaria. So eine Kleine?»

«Ja, hier steht ein Meter achtundfünfzig.»

«Wäre möglich. Die ist ziemlich irre. Vielleicht war sie es nicht selbst, aber irgendein armer Schlucker, der eine solche Drecksarbeit erledigt, findet sich immer. Ich schreib sie mal mit auf. Stefania Zaccaria. Und was ist mit Fabio Zuccari?»

«Klar, an den hab ich auch zuerst gedacht. Aber der ist im Krankenhaus. Krebs im Endstadium. Bleiben noch die Brüder Gentili und Walter Cremonesi.»

Die Brüder Gentili hielten den Rekord von sieben Wohnungseinbrüchen an einem Tag. Und Walter Cremonesi war ein besonders harter Hund. Er hatte 1976 zum ersten Mal wegen Beteiligung an bewaffneten Überfällen gesessen, ein Einzelgänger und Rechtsextremist. Raubüberfälle, Morde … Cremonesi war öfter im Gefängnis gewesen als zum Einkaufen im Supermarkt. Beim letzten Mal hatte Rocco ihn wegen Raub und Mord drangekriegt.

«Wo sind die Gentili-Brüder?»

«Wie es scheint, in Costa Rica. Sie haben dort ein Restaurant eröffnet. Die können wir vergessen, Dottore.»

«Walter Cremonesi dagegen … Warum ist der draußen?»

«Was für eine Frage! Wegen guter Führung natürlich. Wie es aussieht, verwandeln diese Typen sich im Gefängnis alle in brave Laienschwestern, die jeden Sonntag zum Beichten in die Kirche gehen.»

«Cremonesi ist ein durchaus ernst zu nehmender Kandidat. Wie alt ist er jetzt?»

De Silvestri rechnete kurz nach. «Nächsten Monat wird er achtundfünfzig.»

«Erinnere mich daran, dass ich ihm gratuliere.»

«Er hat seit Jahren nichts mehr von sich hören lassen. Angeblich ist er in Paris. Und mehr Kandidaten fallen mir im Moment nicht ein.»

«Okay. Ruf mich an, wenn es irgendwas Neues gibt.»

«Aber sicher doch!»

Rocco sah auf seine Notizen. Er hatte nur zwei Namen aufgeschrieben: Antonio Biga und Stefania Zaccaria. Die er nun dreimal unterstrich.

Das hieß, sich ins Flugzeug zu setzen und nach Rom zu fliegen.

«Caterina? Ich bin’s, Rocco.»

«Dottore! Schön, Ihre Stimme zu hören. Sie fehlen uns!»

«Du solltest nicht lügen. Man merkt es sofort. Hör mal, kannst du mir einen Gefallen tun?»

«Ich nehme an, es geht um Lupa, oder?»

«Genau. Könntest du auf sie aufpassen?»

«Ich komme morgen früh vorbei und hole sie ab.»

Schade, dachte Rocco. Am selben Abend noch wäre ihm lieber gewesen.

«Danke, Caterì. Bis morgen.»

«Bis morgen, Dottore.»

«Caterì, wenn ich mich recht erinnere … Waren wir nicht beim ‹Du›?»

Für ein paar Sekunden war es still in der Leitung. Dann lächelte Caterina, zumindest stellte Rocco es sich so vor. «Bis morgen, Rocco.»

Der Vicequestore spürte ein Kribbeln.

Kehrte er womöglich ins Leben zurück?

Mittwoch

«Taxi … Taxi … Brauchen Sie eins?»

In der Ankunftshalle am Flughafen Fiumicino näherte sich ein Schwarm dickbauchiger Männer den Passagieren, um ihnen das magische Wort «Taxi» zuzuraunen.

Rocco reagierte nicht darauf. Er ging gleich weiter zum überdachten Parkplatz, wo die autorisierten Taxis warteten. Dabei ging es nicht um sein Rechtsempfinden. Aber die Jungs hatten immerhin die Lizenz bezahlt, die mehr kostete als eine Wohnung hier, daher hielt er es für beleidigend, sich den Piraten ohne Lizenz anzuvertrauen.

«Taxi, Dotto’? Ich fahr Sie in die Stadt.»

«Von wegen Taxi!», gab Rocco zurück.

«Und wie kommen Sie nach Hause?»

Rocco baute sich vor dem Illegalen auf. «Ich fahre mit dem Dienstwagen. Ich bin Vicequestore. Also mach dich vom Acker, bevor ich nervös werde!»

Der Illegale wich zwei Schritte zurück und warf seinen Kollegen warnende Blicke zu. Sie begriffen sofort, senkten die Köpfe und unterbrachen ihre Jagd auf Kundschaft für einen Moment.

«Nicht sauer werden, Dotto’ … Auch wir müssen von irgendwas leben!»

«Was du nicht sagst!»

Die Sonne schien. Aber der Gestank nach Auspuffgasen sorgte dafür, dass sich jegliche poetische Anwandlung angesichts des azurblauen, wolkenlosen Himmels sofort verflüchtigte. Rocco ging zum ersten freien Wagen hinüber.

«Via Poerio bitte … Nummer 12.»

«Ich fliege», sagte der Fahrer, während er das Taxameter einstellte. «Was für ein Tag, was?»

«Ja, aber bis nach Monteverde hätte ich gern meine Ruhe. Weder Roma noch Lazio, nichts über kriminelle Politiker, darüber, dass in dieser Stadt nichts funktioniert, dass die Kommunisten an allem schuld sind oder irgendeinen anderen Mist. Danke!»

«Nicht sauer werden. Ich werde schweigen wie ein Grab.»

Der Vicequestore gab sich seinen Gedanken hin. Antonio Biga finden und nach Stefania Zaccaria suchen. Das war gar nicht so einfach. Möglicherweise war die Mühe umsonst. Aber er musste es versuchen, diesen Leuten in die Augen sehen und ihren Gestank riechen. Rocco musste alles erst mal hautnah spüren und dann rational darüber nachdenken. Denn von den Menschen gingen Schwingungen und Signale aus, die manchmal mehr wert waren als hundert Gedanken. Genau wie damals, als ihm sein Onkel beim Kartenspiel immer wieder eine Regel aus dem Handbuch des Monsignore Chitarella zitiert hatte: Denk immer dran, Rocco, ein Blick in die Karten ist besser, als hundertmal nachzudenken!

Die Autobahn Roma–Fiumicino war dicht. Der Fahrer nahm eine Abkürzung durch das Magliana-Viertel in Richtung Portuense. Überall war es schmutzig. Und die großen Löcher in der Straße ließen das Taxi so auf und ab hüpfen, als durchquerten sie ein Viertel von Beirut während des libanesischen Bürgerkriegs. Rocco kam ein Song eines römischen Liedermachers in den Sinn, der darin Rom als eine Hündin inmitten einer Horde Schweine besang.

 

«Dottor Schiavone!» Der Ausruf der Überraschung hallte im ganzen Treppenhaus wider. «Wie schön, Sie zu sehen!»

«Wie läuft’s denn so?»

«Gut. Und bei Ihnen?»

«Wie soll es schon gehen? Sagen Sie, hat in den letzten Tagen jemand nach mir gefragt?»

Die Portiersfrau in der Via Poerio dachte nach. «Nein, Dottore. Es sind nur die üblichen Rechnungen gekommen, die ich Ihnen immer nach Aosta weiterleite.»

«Vielen Dank.»

«Hier im Haus ist es gerade ein wenig schmutzig. Die Putzfrau war diese Woche nicht hier, weil ihre Tochter entbunden hat.»

«Keine Sorge.»

Er nahm den Aufzug und fuhr hinauf ins oberste Stockwerk. Die Dachwohnung. Sein Zuhause.

Zwischen den mit Zellophan bedeckten Möbeln roch es so muffig, wie er es erwartet hatte. Er sah sich erst gar nicht länger um, sondern ging gleich ins Bad, wusch sich kurz, zog ein frisches Hemd an und war schon wieder weg.

 

Brizio wartete in der üblichen Bar auf der Piazza Santa Maria in Trastevere auf ihn. Sie hatten sich seit neun Monaten nicht mehr gesehen. Brizio hatte sich den Schnurrbart abrasiert und trug jetzt einen Seitenscheitel. Die Frauen verloren seinetwegen noch immer den Kopf, und auch bei ihm drehte sich alles um das weibliche Geschlecht. Seit seinem sechzehnten Lebensjahr war das das Einzige, womit Brizio sich ernsthaft beschäftigte. Bis er Stella begegnet war, die ein wenig Ruhe in sein Leben gebracht hatte.

«Du bist alt geworden, Rocco.»

«Du auch …»

Sie umarmten sich. «Wie lange bleibst du?»

«So lange wie nötig.»

«Wie geht’s Seba?»

«Wir treffen ihn nachher zusammen mit Furio. Gehen wir ein paar Schritte?»

«Die berühmten paar Schritte.»

Im Mai war Trastevere voller Touristen, und auf der Treppe an der Piazza Trilussa drängten sich bereits die jungen Leute mit Bierflaschen oder einem Eis in der Hand. Sie überquerten den Ponte Sisto und gingen weiter Richtung Via dei Giubbonari. Der Tiber war eine langsam dahinfließende schlammige Pampe. Zwischen den Platanen und den Dächern der Häuser flatterten Möwen umher. Zwei junge Leute lieferten sich lachend eine Verfolgungsjagd auf dem Fahrrad.