Älternabend - Ruth Eder - E-Book
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Älternabend E-Book

Ruth Eder

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Beschreibung

"Alles unter Kontrolle …" ...sagt Sophia gern. Schließlich hat sie doch ein tolles Leben: Die Tochter ist aus dem Haus. Single ist sie ohnehin seit Jahren und die Arbeit in ihrem PR-Büro macht ihr großen Spaß. Was hat sie alles versäumt in den Jahren des Eiertanzes zwischen Beruf, Kindererziehung und Ehe! Jetzt, in den Fünfzigern, wird endlich durchgestartet. Aber irgendwie fühlt sich Sophia manchmal auch ganz schön allein und stürzt sich deshalb viel zu sehr in die Arbeit. Das Ergebnis: Burnout. Erschöpft landet sie in einer Burnout-Klinik und lernt dort, endlich zu relaxen. Dabei erlebt sie die Überraschung ihres Lebens ...

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Seitenzahl: 337

Veröffentlichungsjahr: 2019

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Kurzbeschreibung:

"Alles unter Kontrolle …"

...sagt Sophia gern. Schließlich hat sie doch ein tolles Leben: Die Tochter ist aus dem Haus. Single ist sie ohnehin seit Jahren und die Arbeit in ihrem PR-Büro macht ihr großen Spaß. Was hat sie alles versäumt in den Jahren des Eiertanzes zwischen Beruf, Kindererziehung und Ehe! Jetzt, in den Fünfzigern, wird endlich durchgestartet. Aber irgendwie fühlt sich Sophia manchmal auch ganz schön allein und stürzt sich deshalb viel zu sehr in die Arbeit. Das Ergebnis: Burnout. Erschöpft landet sie in einer Burnout-Klinik und lernt dort, endlich zu relaxen. Dabei erlebt sie die Überraschung ihres Lebens ...

Ruth Eder

Älternabend

Roman

Edel Elements

Edel Elements

Ein Verlag der Edel Germany GmbH

© 2019 Edel Germany GmbHNeumühlen 17, 22763 Hamburg

www.edel.com

Copyright © 2015 by Ruth Eder

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller Literary Agency GmbH, München.

Covergestaltung: Marie Wölk, Wolkenart

Konvertierung: Datagrafix

Alle Rechte vorbehalten. All rights reserved. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des jeweiligen Rechteinhabers wiedergegeben werden.

ISBN: 978-3-96215-317-5

www.instagram.com

www.facebook.com

www.edelelements.de

Inhalt

TEIL I ABSCHIEDE

1 Hamam

2 Auszug

3 Allein zu Haus

4 Klassentreffen

5 Yoga

6 Online-Flirts

TEIL II DURCHSTARTEN

7 Akquise im Saloon

8 Der Salsakurs

9 Auf nach Mallorca

10 Personal Trainer

11 Emma

12 Disco-Sause

13 Elvis lebt

14 Fiona

TEIL III BURN-OUT

15 Mädels-Abend

16 Bauchtanz

17 Joggen mit Silvana

18 Marathon-Män

19 Hexenschuss

20 Burn-out

TEIL IV WENDEPUNKT

21 Gruppentherapie

22 Annäherung

23 Tatsächlich Liebe

24 Mexiko

25 Brad Pitt

26 Aufklärung

27 Ausgebüxt

28 Oldie-Disco

29 Hauskonzert

30 Im Kinderheim

TEIL IABSCHIEDE

1 Hamam

»Machän auch gärn Hausbäsuch, Madame«, raunte mir der muskulöse Bademeister, den man mir im Hamam zugeteilt hatte, ins Ohr, während er mich erneut mit eiskaltem Wasser aus einer dicken Zinnkanne überschüttete. Mein neuer Hyaluron-Filler für 27,95 Euro brannte daraufhin teuflisch in den Augen. Der knackige blonde Junge mit nichts als einem karierten Lendenschurz um die schmalen Hüften hatte mir bereits anvertraut, dass er fünfundzwanzig Jahre alt und keineswegs aus der Türkei, sondern aus St. Petersburg stammte.

»Da war ich auch schon zu den weißen Nächten«, brachte ich heraus, nachdem ich längere Zeit den Wasserschwall ausgehustet hatte.

»Heißä Nächte«, sagte der Gute, grinste und brachte grobkörniges Salz in einer Tonschale, auf dass ich mich damit abreibe. Seine Augen waren eisblau, was zur Jahreszeit passte.

»Soll helfä?«, fragte er. Wie jung er war, jünger als meine Tochter. Als Gorbi die Perestroika ausrief, war dieser Dimitri noch ein Baby und ich hatte schon eins. Ob er noch wusste, dass seine Stadt mal Leningrad geheißen hatte? Er rutschte näher an mich heran.

»Anscheinend geht es im Hamam ziemlich locker und familiär zu«, sagte ich leicht peinlich berührt und rückte etwas von ihm ab.

Meine Freundin Sabine, die mir und sich den Tag im Edel-Hamam zum Geburtstag spendiert hatte, hockte klitschnass direkt neben mir, während sich ein ebenfalls fitnessgestählter, junger Afrikaner bereits bemühte, ihr beim Einreiben mit Salz zur Hand zu gehen. Seine dunklen Schultern glänzten im Wasserdampf.

»Je suis Jean de Tunisie«, hatte er sich kosmopolitisch vorgestellt. Dimitris Schultern glänzten eher weißlich. Sabine japste, denn Jean hatte sie soeben mit einem neuen Schwall Wasser überschüttet. Die dünnen, karierten Baumwolltücher, die wir um unsere üppigen Blößen geschlungen hatten, rutschten. Ich zupfte, Sabine nicht. Sie war schon lange eine Anhängerin der gemischten Sauna und weit weniger prüde als ich, die sogar zur Sicherung der letzten Bastion die schwarze Bikinihose unter dem mickrigen Tuch anbehalten hatte.

»Vielleicht sind die beiden schnuckeligen Bademeister ja auch deshalb so aufmerksam und lieb, weil wir sie an ihre Mamas zu Hause erinnern«, kicherte ich Sabine ins Ohr.

Dass man älter wird, merkt man sowieso immer zuerst durch andere: Wenn deine Zahnärztin mit fünfzehn Jahren der Babysitter für dein Kind war, zum Beispiel. Oder daran, dass deine junge Frauenärztin dir ein »absolut fantastisches neues Präparat« als Ärztemuster in die Hand drückt: »Ein Vaginal-Gel mit Soja und Hyaluron zur Befeuchtung, es wirkt einfach wunderbar«, hatte sie mir versichert. So viel über Hyaluron, das man wie ich auch als Faltenfüller im Gesicht verwenden kann.

Zum Beweis, dass ich Befeuchtung keineswegs nötig hatte, sondern stattdessen noch knackig und begehrenswert war, hatte ich mich heimlich bei einem Online-Partner-Portal für »Leute über dreißig« angemeldet. Nichts geschah, obwohl ich fleißig »Sympathie-Klicks« verschickte. Ob die altersmäßig passenden Herren alle bereits in die Totenstarre verfallen waren, obgleich sie Frauen über fünfundvierzig gratis kontaktieren durften? Ältere Frauen sozusagen als Sonderangebot vom Wühltisch? Vielleicht lag es aber auch an der Jahreszeit. Im Januar schlummerten nicht nur die Natur, sondern auch die Hormone, vor allem bei Leuten über dreißig. Die überflüssigen Weihnachtspfunde schlummerten leider ebenfalls. Ich würde es im Mai noch mal versuchen.

Denn ich fand mich eigentlich durchaus noch »bumsbar«, wie mein erster Mann vor dreißig Jahren beim Anblick meiner Mutter im Bikini bemerkt hatte. Sie war damals ungefähr so alt gewesen wie ich heute. Komisch, an was man so denkt bei 75 Grad Celsius und 100 Prozent Luftfeuchtigkeit, wenn draußen tiefster Winter herrscht.

»Die haben hier aber wirklich sehr hübsches Personal«, stellte Sabine lobend fest. »Das gehört sich auch so, bei den Koschten.« Sie war aus Schwaben und behielt die Finanzen stets fest im Blick.

»Ja, gell!«, sagte ich nach Luft ringend. »Und dermaßen höflich und zugewandt.«

»Und aus aller Herren Länder«, antwortete sie.

»Weibliches Personal scheinen sie hier nicht zu haben«, bemerkte ich. »Ob das im Hamam so üblich ist? Keine Ahnung.«

»Weiß i au ned. Ich geh ja sonscht immer in die gemischte Sauna. Da machen sie nicht so ein Getue. Da sitzen Männlein und Weiblein nebeneinander und schwitzen halt. Und koiner denkt sich was dabei. Sophiale, das Hamam hier hat jedenfalls einen sehr guten Ruf.«

Trotz dieses guten Rufs fühlte ich mich eher wie ein begossener Pudel als eine sehr dürftig bekleidete, dank Dämmerlicht und Wasserdampf gut erhaltene Frau von – nun ja – sagen wir mal gut fünfzig Jahren. Ich zupfte erneut an dem dünnen rot, weiß und blau karierten Baumwolltuch, das unter dem Wasserschwall beinahe von meinem sehr knapp bedeckten Busen rutschte. Totale Nacktheit ist bekanntlich in einem orientalischen Hamam verpönt, auch wenn man diese Tücher nur lässig um die »anstößigen« Regionen schlingt. Sabine fand es lachhaft, dass ich meine Bikinihose anbehalten hatte wie einen Keuschheitsgürtel.

»I hätt gar ned gedacht, dass du so verschämt bisch, komm doch auch mal mit in die Sauna«, meinte sie.

»Mir ist es dort einfach zu heiß und vor allem zu nackt. Die Gemächte, die man mir dort ungefragt präsentiert, möchte ich mir lieber selbst aussuchen.«

»Sei doch froh, wenn du überhaupt noch welche siesch«, konterte sie, seit Jahrzehnten mit demselben Mann verheiratet und vermutlich schon deshalb öfter in der gemischten Sauna anzutreffen.

Jean, der dunkelhäutige Beau aus Nordafrika, wich nicht von ihrer Seite, Dimitri nicht von meiner. Völlig ungeschminkt und statt mit sorgsam geföhnter Frisur mit nassen Strähnen, die an den Wangen klebten, wirkten wir wohl irgendwie rührend. Und nicht wie Frauen, die es im Leben zu etwas gebracht hatten.

»Eine Mitgliedschaft im Fitnessstudio, erstklassiges Aussehen und ein jugendlicher Jahrgang scheinen hier ja wohl Einstellungsvoraussetzung zu sein«, bemerkte ich.

»Das ist bei Airlines und an Hotelrezeptionen auch nicht anders«, erwiderte Sabine. Sie war Mutter von vier erwachsenen Kindern, was man ihrem Körper auch ansah. Ich hatte zwar nur Ina, aber auch ich fühlte mich inzwischen eher bei einem gemütlichen Bauchtanzkurs an der Volkshochschule gut aufgehoben, als beim Power-Yoga, das meine Tochter unterrichtete. Leider hatte sie mich schon mehrmals zum Mitmachen eingeladen.

»Unsere Masseure scheint unser Hüftgold nicht zu stören«, bemühte ich mich zu scherzen.

»Ganz im Gegenteil, Schätzte! In Afrika und Russland finden sie Hungerhaken hässlich und außerdem hat das Wort Hüftgold auch etwas mit Gold zu tun«, sagte Sabine. Sie war Scheidungsanwältin, und nichts Menschliches war ihr fremd.

Schließlich wurden wir zu einem künstlichen Wasserfall geleitet, der eiskalt aus einer Wand schoss und vor dem sich drei ebenfalls Vollreife Frauen juchzend wanden wie Germany’s next Senioren-Topmodels. Sie hielten die Tücher in Richtung Wasserfall offen, was sehr neckisch wirkte. Sie hatten ebenfalls männliche Bademeister an der Seite. Oder wie diese Typen im Hamam heißen mochten.

»Ob die Titten von der echt sind?«, fragte mich Sabine mit gerunzelter Stirn.

»Nie«, sagte ich. »Viel zu rund und viel zu stramm, da kenne ich mich aus.« Der Petersburger und der Tunesier beäugten uns und warteten darauf, uns zu Hilfe zu eilen.

»Ist das hier so üblich, dass jeder seinen eigenen Bademeister hat?«, fragte ich Sabine ahnungslos.

»Ich denke schon«, sagte sie. »Die massieren uns wohl nachher auch. Ich hab da auch keine Erfahrung.« Inzwischen waren wir vom Salz befreit, beide in einer Wolke von Seifenschaum verschwunden und wurden von unseren Masseuren entsprechend bearbeitet. Es fühlte sich höchst angenehm an, aber ich konnte mich nicht recht entspannen. Dieser wildfremde, gut gebaute Mann war mir entschieden zu nah.

Nach dem Schaumbad, angetan mit weißen Bademänteln und Turbanen aus ebenfalls weißen Handtüchern, bekamen wir wunderbaren dicken, eiskalten Kefir gereicht, als wäre er Ambrosia.

»Ich bin froh, dass ich ein bisschen abgelenkt bin«, begann ich. »Mir liegt der bevorstehende Auszug meiner Tochter schwer im Magen. Wenn sie weg ist, will ich noch mal richtig Gas geben im Leben und zwar in jeder Hinsicht: beruflich UND privat!«

»Ach Gott, Sophiale, was soll ich da sagen«, beschwichtigte Sabine. »Meine vier sind alle schon aus dem Haus. Man gewöhnt sich dran. Und jetzt ist es sogar ganz schön. Mein Mann und ich hatten anfangs richtige, zwoide Flitterwochen. Wir sind plötzlich wieder leicht geschürzt durchs Haus gehüpft ...«

Bei dieser Vorstellung musste ich nun wirklich schmunzeln. Wie aufs Stichwort erschien Dimitri und holte uns zur Massage ab: Der Massageraum wirkte dunkel und feuchtwarm wie ein Stück dampfender Regenwald, von oben strahlten Tausende in die Decke eingelassene Lämpchen wie Sterne. Entspannende Weltmusik lullte uns ein. Man trat in eine andere, sorgenfreie, sinnliche Welt ein.

Jean wartete schon auf Sabine.

»Missen auch Hosä auszihän«, belehrte mich Dimitri mit ernsthaftem Eifer.

Ich gehorchte und schielte zu Sabine hinüber. Sie lag nun splitternackt, wie ich gerade noch erkennen konnte, auf der Liege ein paar Schritte weiter, und der schwarze Beau beugte sich über sie, offenbar in der Absicht, sie zu massieren.

Dimitri ölte seine Hände ein und legte los. Ich weiß ja nicht, was man in St. Petersburg unter Massage versteht. Aber mit medizinischem Durchkneten verspannter Muskulatur hatte Dimitris Vorgehen erstaunlich wenig gemein. Es war – na ja – sagen wir mal – einschmeichelnd. Ich warf einen Blick nach rechts, sah Sabine neben mir völlig entspannt im Hier und Jetzt ruhig daliegen und die Massage in aller Ruhe genießen. Also hielt ich wacker durch.

»Der hat hingelangt. Menschenskinder! I hab alle Englein singen hören«, sagte sie nachher in der luxuriös ausgestatteten Ankleidekabine.

Ich schwieg, denn ich war ja ihr Gast. Mir fiel ein in braunes Leder gebundenes Gästebuch ins Auge, das offen auf einem antiken Tischchen lag. Daneben ein silberner Kugelschreiber.

»Ich fühle mich heute wieder so wunderbar entspannt ... Wie neu geboren ... Viiiielen Dank, Dimitri!« Dahinter waren Herzchen gemalt. »Ach, das war ja sooooo guuuut!!!! Lieber Jean, ich komme sehr bald wieder!!« Ich las Sabine die Ergüsse der übrigen weiblichen Kundschaft vor.

»Holy Cow!«, sagte Sabine, denn sie war beruflich öfter in den USA unterwegs. »Wir sind hier wohl in einer Art Freudenhaus für reifere Damen gelandet!«

»Das mit den Kühen könnte hinhauen«, sagte ich. »Aber es scheint zu wirken: Du siehst rosig, glatt, gut durchblutet und mindestens zehn Jahre jünger aus.«

»Du auch, libbschte Sophia«, sagte Sabine.

Wir duschten, frottierten uns ab, wickelten uns eilig in unsere warmen Sachen und in dicke, meterlange Schals, wie es Mode war und stiegen in unsere geliebten Ugg-Boots, die wir natürlich nur trugen, wenn keine Männer in der Nähe waren. Und wir kicherten, wie in alten Zeiten in der Schulbank. »Du sagsch aber nix meinem Mann, gell?«, feixte Sabine beim Hinausgehen.

2 Auszug

»Das Leben geht noch mal richtig los, wenn der Nachwuchs aus dem Haus und der Hund tot ist, heißt es doch ...«, sagte ich mit bemühter Munterkeit ins Auto meiner Tochter hinein. »Kürzlich war ich mit Sabine sogar in einer Art Freudenhaus ...«

Ina saß am Steuer, ich daneben.

»Hm«, meinte sie abwesend, »mussmichkonzetrierempfm«, oder so ähnlich, denn sie kaute gerade an einem Stück Apfel und war mit den Gedanken ganz woanders.

Der Tag war also gekommen: Ina würde ihren ersten Job in einem schicken Yogastudio in der City und gleichzeitig endlich die lang ersehnte Selbstständigkeit antreten. Sie hatte sich die kleine Wohnung mit Balkon im vierten Stock selbst besorgt, und ich war nur noch für Kaution und Bürgschaft zuständig. So wie ich vorher für das teure Yogadiplom aus New York zuständig gewesen war. Meine Mutterrolle verflüchtigte sich so rasant wie meine Knochendichte – wenn man von den Finanzen einmal absah. An diesem milden Februartag mit blau-weißem Föhnhimmel zockelten wir also in ihrem voll gepackten Kleinwagen zum gefühlten fünfhundertsten Mal von unserer bisher gemeinsamen Parterrewohnung mit Handtuch-Gartenanteil im Grünen ins angesagte Gärtnerplatzviertel. Dort strebten alle jungen Leute hin, sofern sie nicht schon längst am Prenzlauer Berg lebten. Besonders die, die ihre Kindheit und Jugend in den uncoolen bildungsbürgerlichen Vororten Münchens verbracht hatten.

»Wir sehen sicher aus wie eine Türkenkarre Richtung Izmir«, sagte meine Tochter politisch völlig unkorrekt. »Fehlt nur noch ein Korb mit gackernden Hühnern auf dem Autodach.«

»Zwei Hühner sind doch genug«, entgegnete ich betont fröhlich und lachte zu laut, als wäre ich ein Fernsehmoderator.

»Aber das Junghuhn gackert wenigstens nicht«, sagte Ina.

Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, aber ihre Stimme klang nach verhaltenem Lächeln. Leider gackert es nicht, dachte ich. Es fiel mir noch immer schwer, ihr Schweigen auszuhalten, denn ich war mitteilsamer, als ihr je lieb gewesen war. Ich habe keine Ahnung, wie das gehen soll, ohne Kind, dachte ich, hütete mich aber, das auch auszusprechen. Ich wusste ja längst, dass sie jetzt durchstarten wollte ins eigene Leben, und das war natürlich auch gut so und normal und das Beste für sie und das Übliche und unbedingt zu unterstützen. Klar! Aber ich hatte trotzdem Bammel vor diesem Abschied. Wer weiß, vielleicht ging es ihr ja ähnlich? Man wusste nie so recht, was in dem Kind, das längst kein Kind mehr war, vorging. Das hatte sie von ihrem Vater.

Ich hielt ihr eine Banane hin. Halb geschält und natürlich bio. Eine dieser Muttergesten.

»Danke«, sagte sie knapp. »Genug Vitamine.« Ich packte die Banane weg und betrachtete mein Kind am Steuer. Passte auf, dass es nur aus den Augenwinkeln geschah. Meine Augen ruhten lange auf den schlanken Armen unter den eng anliegenden Ärmeln, am Handgelenk lugte ein Tattoo hervor. Die langfingrigen Hände jung, so jung. Besonders, wenn ich sie mit meinen verglich, an denen sich in letzter Zeit so komische Sommersprossen zeigten.

»Du fährst sehr sicher«, sagte ich und schwieg wieder. Sie war zwar allergisch gegen mütterliche Ansprachen, nahm aber Komplimente gern zur Kenntnis, auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ. Ich betrachtete ihr vertrautes Profil: Ungeschminkt und mit Pferdeschwanz wirkt sie wie ein Schulmädchen, dachte ich und meine Kehle schnürte sich zu. Ein Wesen wie ein zart hingetupftes Aquarell, während ich eher einem Ölschinken glich, an dem die dick aufgetragene Farbe leider schon ein bisschen am Abblättern war.

»Papa kriegt immer fast einen Herzinfarkt, wenn ich fahre«, erwiderte meine Tochter.

»Das sieht ihm wieder ähnlich«, maulte ich. Er muss sie immer entmutigen, das Arschloch, dachte ich. Ob er eine Ahnung davon hat, wie schwer es ist, sie endgültig ziehen zu lassen? Er hat es sich ja seit der Trennung immer sehr leicht gemacht.

»Wann ist denn die Wohnungsübergabe?«, lenkte ich ab, nur um das Gespräch am Leben zu halten. Es misslang, denn Ina schwieg und drehte »Radio Energy« auf. Sie war ja schon öfter ohne mich verreist, mit ihrem Vater oder ihrem Freund. Aber dies war etwas anderes. Ich dachte an meine eigene Mutter und wunderte mich, wie wenig ich wusste von ihr. Wie war das gewesen damals, als ich selbst voller Abenteuerlust aus dem Haus gegangen war?

»Ich hab Hunger. Wollen wir schnell was essen, bevor wir wieder ausladen?«, fragte meine Tochter.

»Klar«, sagte ich launig. »Wir brauchen ja Kraft, alles in den vierten Stock zu schleppen.« Bei einem indischen Imbiss kauften wir uns Reis mit veganer Sauce, die nach Roter Bete aussah, dazu stilles Mineralwasser, lehnten uns an den Tresen voller bunter Teller mit wohlriechenden Gewürzen und aßen. Gemeinsam, wie lange nicht mehr. Im Hintergrund dudelte Sitarmusik, die mich sofort an die seligen Beatles erinnerte. Meine Tochter war seit ein paar Jahren strenge Veganerin: keine Butter, keine Eier, keine Milch, kein Käse, kein Fleisch und kein Fisch sowieso. Am Körper weder Leder noch Daunen. Das Essen war rosa und schmeckte nach absolut nichts. Dafür roch es gut, und die Bedienung hatte eine rote Pappnase auf, denn es war Fasching.

In letzter Zeit war Ina mir im Haus aus dem Weg gegangen. Ich wusste, dass ich ihr auf die Nerven ging. Sie war schon längst auf dem Sprung. Gleichzeitig suchte sie in meinen Augen die Gewissheit, dass sie es schaffen würde auf eigene Faust. Nun kauten wir also in einem alternativen Imbiss bei ihrer neuen Bleibe um die Ecke gemeinsam Undefinierbares, jedoch keinesfalls Tierisches, als ob nichts wäre. Styroporgefäße für Mahlzeiten »To Go« standen auch auf dem Tresen bereit. 4 Euro 95 für eine unendlich gesunde Mahlzeit im Stehen. »Ist recht so«, sagte ich beim Zahlen. Mein Trinkgeld war viel zu hoch.

»Wir könnten ja jetzt, wenn wir nicht mehr zusammen wohnen, mal für ein paar Tage in den Süden fahren, oder was meinst du?«, sagte ich beim Hinausgehen so lässig wie möglich.

»Klaro, das wäre cool!«, antwortete mein Kind. »Wie wär’s mit Malle? Mallorca im Frühling ist wirklich wunderschön. Und das Wetter ist auch besser.«

»Ich weiß ja, dass du schon mal in Palma warst mit deinem Verflossenen«, antwortete ich und suchte in meiner Tasche natürlich wieder mal nach dem blöden Autoschlüssel. Vor allem allerdings, um meine Rührung zu verbergen. Immerhin hatte ich jetzt eine positive Aussicht auf ein paar Tage Zusammensein am Stück mit meiner Tochter!

Ina hatte darauf bestanden, dass ich ihr beim Umzug half, niemand anders. Sie hatte immer schon einen sentimentalen Sinn für Symbolik gehabt. So wie ich sie lange Zeit ins Leben hineingeleitet hatte, so durfte ich sie jetzt auch bei diesem entscheidenden Schritt aus dem Haus begleiten.

»Du erinnerst mich manchmal sehr an deine Großmutter«, sagte ich. Sehr vieles war auch bei meiner Mutter unausgesprochen geblieben. Ich war da anders, hätte gern meine Gefühle mit meiner Tochter geteilt.

»Fährst du jetzt mal?«, fragte sie, nachdem sie sich bei der jungen Inderin, die das Essen gebracht hatte, noch mit »Namaste« und aneinandergelegten Handflächen bedankt hatte. Sie sieht müde aus und schmal, dachte ich. Ich muss sie doch eigentlich beschützen. Mein Mama-Modul schaltete ungefragt auf Autopilot.

»Klar«, sagte ich tapfer, »du kannst ja schnell ein Nickerchen halten.« Ich bemühte mich, eher kumpelhaft als fürsorglich zu klingen.

»Du kannst es dir sicher nicht vorstellen, aber ich habe vor deiner Geburt Jahrzehnte ohne dich gelebt«, sagte ich, »und nun wird es wieder so sein.« Ich bereute sofort, diesen Satz ausgesprochen zu haben.

»Was soll ich da sagen?«, meinte meine Tochter trocken.

»Ich habe noch überhaupt nicht ohne dich gelebt. Nickerchen sagt übrigens heute kein Mensch mehr.«

Damit kuschelte sie sich auf dem Beifahrersitz in ihre viel zu dünne Fleecejacke, drehte den Kopf zum Fenster und schlief augenblicklich ein. Wie als Kind, dachte ich, konzentrierte mich verbissen auf den Stadtverkehr und fühlte mich gestrig, weil mir »Powernap« nicht eingefallen war.

Am Nachmittag war ich bei der Wohnungsübergabe dabei, feilschte mit der Besitzerin um die Kaution, was meine Tochter wunderte, denn sie kannte mich von dieser Seite nicht. Anschließend fuhr ich nach Hause in mein leeres Heim. Meine Tochter wollte erstmals mit ihrem Freund in der neuen Wohnung übernachten. Klar, sie hatten sich ja wegen des Umzugs zwei Tage nicht gesehen.

In der Nacht lag ich wach. Angstvoll starrte ich in die Finsternis, bis das Morgenlicht den Raum von Schwarzweiß in Farbe zurück verwandelte.

»Du bist irgendwie unkaputtbar, du hältst alles aus«, hatte meine Tochter einmal zu mir gesagt. Eigentlich war so ein Auszug wie eine zweite Geburt: Das Kind musste raus, aber es tat weh. War es doch über zwei Jahrzehnte meine Lebensaufgabe gewesen, mein Kind stark zu machen fürs Leben. Jetzt war die Aufgabe also erledigt. Vorbei. Time to say goodbye. Andere Mütter verschwiegen auch, was sie fühlten: »Mein Sohn ist jetzt beim Militär. Marine in Kiel. Er ruft jetzt nicht mehr so oft an. Dann geht es ihm gut«, prahlten sie. Und lächelten dabei. Sagten, wie stolz sie seien. Wie still es jetzt war im Haus, das sagten sie nicht. »Arme Mutter weinet sehr, hat ja nun kein Hänschen mehr«, dachte ich, und mir wurde sehr einsam ums Herz. Wie oft wird sie wohl anrufen? Wann wird es sie zum ersten Mal nach Hause ziehen? Aber war zu Hause nicht ab jetzt mitten in der Stadt? Gefühlte tausend Kilometer entfernt?

Am nächsten Tag half ich ihr ungefragt beim Einräumen der Regale und brachte als Ausrede noch eine Ikea-Stehlampe mit Dimming-Funktion mit, als wäre es eins meiner Werbegeschenke. Als wir fertig waren, fragte ich mich, wie ich es schaffen sollte, aus der Wohnung zu gehen.

»Kannst du dich an Bernds Vater erinnern«, fragte ich. »Der hat auch noch beim dritten Sohn, der auszog, geheult.«

»Da müssen wir jetzt eben durch«, sagte Ina forsch.

»Ich habe dir ja von der Tochter erzählt, einer Studienrätin, die mit sechzig noch bei ihrer Mutter lebte, schließlich den Verstand verlor und ihre Mutter biss«, witzelte ich. Ich kannte die beiden Frauen wirklich. »So werden wir jedenfalls nicht enden.«

»Hmm«, machte meine Tochter. Sie sah sehr blass aus und hüstelte. Ich kann sie doch nicht hier allein lassen mitten in der Stadt, wenn sie krank wird, dachte ich. Wir umarmten uns kurz, ohne uns anzusehen, als wären wir Politiker.

»Wenn du mich brauchst, komme ich sofort zu dir und bringe Hustensaft mit«, sagte ich. »Oder ich komme einfach morgen auf jeden Fall. Ich war übrigens kürzlich mit Sabine, du weißt schon, meine Schulfreundin, im Hamam«, versuchte ich es erneut. Ein bisschen Eindruck schinden wenigstens noch.

»Ach?«, sagte Ina.

»Ist ein Puff«, sagte ich.

»Ja und?«, machte Ina. »Soll ich nicht wenigstens noch mit hinunter ...?« Sie sprach jetzt sehr leise.

»Du denkst wohl, ich schaffe die vier Treppen nicht mehr allein«, grinste ich. Der Lift war seit gestern kaputt. »Also, bis zum Wochenende oder bis morgen. Ruf doch einfach an.« Ich zog die Tür viel zu energisch ins Schloss und eilte sportiv die Treppen hinunter, ging zur Straße wie betäubt. Es war plötzlich richtig kalt geworden. Schmuddelwetter unter null Grad. Glitschig gefrorenes Pflaster. Eine dünne Schicht Reif darüber. Mein alter Benz orgelte und sprang erst beim fünften Versuch an.

Ich lugte verstohlen nach oben. Im vierten Stock hinter der neu angebrachten kobaltblauen Ikea-Gardine in der Küche stand mein Kind. Und ich hatte natürlich vor lauter Stress wieder mal Rücken, wie Horst Schlämmer alias Hape Kerkeling zu sagen pflegt.

»Dabei sollst du doch jetzt frei wie ein Vogel in eine unbeschwerte Zukunft ohne drückende Verantwortung und dafür mit fulminantem Liebesleben starten!«, sagte ich laut zu mir selbst. Vogel mochte ja stimmen, aber der würde momentan zerrupft in einem leeren Nest hocken. Und ob mir im gesetzteren Alter noch mal ein richtiges »Knall-Gefühl« in Form einer neuen Liebe über den Weg lief, war mehr als fraglich. Zumal ich für halbe Sachen und »vernünftige« Liebschaften noch nie getaugt hatte. Wenn überhaupt, dann galt meine heimliche Sehnsucht keinem neuen »Partner«, sondern noch mal einer ganz, ganz heißen Leidenschaft. Jawohl! Auch wenn in diesem Wort das »Leiden« bereits enthalten ist.

Als ich nach Hause kam, war die Bude dunkel und still wie eine Gruft. Immerhin kamen mir meine Kater Pommes&Fritz entgegen. Die Schwänze freundlich in die Höhe gereckt, die Katzenaugen schienen mich liebevoll anzublinzeln.

»Miau Mio, Miau Mio, wo ist die liebe Tochter, wo?«, fragte ich sie frei nach Wilhelm Busch und blinzelte ebenfalls. Ich hatte auf der SZ-Wissenschaftsseite gelesen, dass Katzen sich angeblich auf diese Weise begrüßten.

Ab heute würde ich Licht anlassen und Musik, wenn ich wegging! Und den Fernseher vielleicht auch noch! Damit es nicht so still war, wenn ich heimkam. Schließlich würde mein Leben als nicht mehr ganz so junge Single-Frau jetzt so richtig abgehen, verdammt noch mal!

Und morgen würde ich nicht zu meiner Tochter fahren. Jawohl! Ich würde stattdessen an mich selber denken, eine To-do-Liste anfertigen, meinen Laden auf Vordermann bringen und mich auch zum Klassentreffen in Schwaben anmelden. Die Einladung war vor ein paar Tagen per Rundmail eingetroffen.

Zuletzt war ich vor zwanzig Jahren bei so einem Treffen gewesen, und wir waren mittlerweile keine jungen Mütter oder aufstrebenden Karrierefrauen mehr, sondern in den Augen unserer Kinder »ältere Damen«, im Klartext ein Haufen alter Schachteln. »Komisch, dass sich älter jünger anhört als alt«, sagte ich zu meinen Katzen, denen jedoch das Verständnis für solche Spitzfindigkeiten völlig abging. Sie waren nur an einer Schachtel interessiert, und die beinhaltete ihre geliebten Brekkies.

»Ist schon okay meine Süßen, hier kommt das Abendessen«, flötete ich und gönnte mir nach der Fütterung total unkultiviert einen tiefen Schluck direkt aus der an der Tanke noch schnell geholten Flasche Rioja. Das hätte ich vor den Augen meiner sittenstrengen Tochter nie riskiert! Olé! Das hatte sie nun davon!

Auf Facebook, dem Singletröster, hatte jemand das uralte Sprüchlein: »Es geht mir jeden Tag und jede Stunde immer besser und besser« gepostet. Einundzwanzig Freunden hatte es dennoch gefallen. Ich druckte es aus und klebte es von innen an meine Wohnungstür.

3 Allein zu Haus

Staubsaugen ist für mich Meditation. Es stiftet Ordnung, Sauberkeit und Normalität. Das Chaos des Lebens verschwindet knisternd im Bauch meines tröstlich brummenden tomatenroten Helferleins. Ich fand auch diesmal Zuflucht bei ihm, wie andere bei ihrem Therapeuten. Meine Schwiegermutter Nummer zwei hatte gleich nach der Beerdigung ihres Mannes stundenlang die Wohnung gesaugt. Inzwischen verstand ich sie.

Beim Fauchen des Saugers fiel mir unweigerlich auch unser kürzlich verblichener Riesenhund Leopold ein. Der Sauger war für ihn genau die Furcht einflößende Respektsperson gewesen, als die ich total versagte. Vermutlich trieb Leopold inzwischen das Personal in den ewigen Jagdgründen in den Wahnsinn, so wie früher uns, weil es im Himmel wohl keine Staubsauger gab, um ihn zur Räson zu bringen. Uns? Ein »Uns« gab es ja nun nicht mehr, dachte ich und beackerte verbissen die Auslegware, auf die Leopold früher gern gepinkelt hatte, wenn man ihn zu lange allein ließ. Pommes&Fritz hingegen stolzierten gelangweilt an meinem keuchenden Untier mit der Staublunge vorbei, ohne es auch nur eines Blickes zu würdigen.

»Coolness kann man wirklich von Katzen lernen«, postete ich samt unscharfem Handy-Foto und erzielte siebenundvierzig Mal »Gefällt mir«. Besser als nix.

Saugen hatte für mich was von Neubeginn. Von noch mal richtig Durchstarten, beruflich und privat, von »Wenn nicht jetzt, wann dann?«, Als Nächstes würde ich mein leeres Nest radikal ausmisten, Ballast abwerfen, Innovationen Raum geben, genau wie ich es in Simplify your life gelesen hatte. Dass der Autor ausgerechnet Tiki hieß, wunderte mich eigentlich nicht.

»Außerdem habe ich mir verordnet, öfter mal allein essen zu gehen, in guten Lokalen: als Ich-stärkende Maßnahme in Umbruchsituationen«, mailte ich an Sabine. »Und wer weiß, wen man alles dabei kennenlernt.« Auf die Idee mit den Lokalen war Tiki natürlich nicht gekommen. Ich schrieb täglich neue To-do-Listen, ignorierte tapfer meinen Rücken und startete mit einer rigorosen Kohlsuppen-Diät, deren blähende Wirkung legendär ist.

Ich bemerkte, dass draußen ein lindes Vorfrühlingslüftchen wehte und dass in meinem Handtuch-Gartenanteil die paar Vögel zwitscherten, die Pommes&Fritz im Winter übrig gelassen hatten. Oder twitterten die Vögel heutzutage? Mein kleiner Teich aus dem Baumarkt glänzte noch halb zugefroren, aber unter dem Zwerg-Apfelbäumchen gleich dahinter lugten schon die Spitzen der Schneeglöckchen und Krokusse hervor, die ich vor Jahren gepflanzt hatte. Ach, wie schön! Leider gab es niemanden mehr, der sich mit mir daran freute.

»Mama, Mama, komm schnell«, hatte meine Tochter, als sie noch klein war, bei ihrem Anblick einmal gerufen. »Es fängt an zu frühlingen!« Egal: Ich würde jetzt einfach unbeirrt meinen Weg gehen. Beruflich und privat. Dann merkte keiner, wie allein ich mich manchmal fühlte. Nicht einmal ich selbst.

Ganz in Gedanken ging ich mit dem Wäschekorb in Richtung Waschmaschine und erschrak: Im antiken Flurspiegel mit dem Ebenholzrahmen sah ich plötzlich beinahe wie meine Mutter aus! Die Bewegung, mit der ich den Korb an mich presste, die Art, in der mein Haar hinters Ohr gestrichen war. Und zu guter Letzt summte ich sogar noch ein undefinierbares Liedchen vor mich hin, wie sie es bei der Hausarbeit immer getan hatte, die sie genauso blöd fand wie ich.

Ich setzte den Korb ab, knipste das – zugegeben – höchst schmeichelhafte Licht über dem Spiegel an und schaute noch mal genauer hin: Tja, da waren diese paar Krähenfüße, die dunklen Augenringe, gegen die kein Kraut gewachsen ist, und die zwei Falten über der Nasenwurzel. Und wieder sah ich meine Mutter, fast wie auf einem doppelt belichteten Foto. Auch ihr Haar war im gesetzteren Alter dunkel und nur von wenigen Silberfäden durchzogen gewesen.

Seltsam, dass ich ausgerechnet heute so stark an sie dachte. Ob es daran lag, dass mich das idiotische Klassentreffen mehr beschäftigte, als mir recht war? Und damit die Zeit, als ich Schülerin und ihr Kind gewesen war? Ich war jetzt ziemlich genau in dem Alter, in dem ich sie am lebhaftesten in Erinnerung habe. Wo war bloß die Zeit geblieben?

Meiner Mutter waren als Sportlehrerin körperliche Fitness und Jugendlichkeit äußerst wichtig. »Wenn man mal richtig hübsch war, ist Altwerden ganz besonders Scheiße!«, sagte sie gerne. Heute gibt ihr meine Nachbarin Ariela, die Mama noch kannte, recht. Die ist ziemlich dick, hat vorstehende Augen und dicke Brillengläser: »Jetzt bin ich im Vorteil, ätsch«, sagte sie neulich zu mir. »Jetzt musst du langsam mit dem Hässlichwerden zurechtkommen. Das habe ich schon längst hinter mir.«

Komisch, gerade heute, beim Anblick meines erwachenden Gartenanteils fiel mir auch ein, wie meine Mutter jedes Frühjahr seufzte: »Wer weiß, wie oft ich diese herrliche Zeit noch erlebe!« Meine Güte, wie hatte sie mich damit genervt! Und inzwischen machte ich das manchmal auch schon. Gar nicht zur Freude meiner Tochter, musste ich zugeben. Leider gab mir nämlich eine gewisse, länger anhaltende Müdigkeit nach einem Tennismatch schon manchmal zu denken, auch wenn ich das nie zugeben würde oder meine Witzchen darüber riss. Und nun ertappte ich mich dabei, wie ich vor meinen Schneeglöckchen und Krokussen stand und mich beinahe, aber auch nur beinahe, fragte: »Wie viele Frühlingszeiten sind dir noch vergönnt, altes Mädchen?« Also, geht’s noch?!

Egal: Sollte ich nun zu diesem blöden Klassentreffen fahren oder nicht? Sabine hatte schon zugesagt. Das mailte sie mir mit dem Hinweis, »vielleicht einmal gemeinsam ein etwas seriöseres Hamam« aufzusuchen. Schon wegen der Befeuchtung. Und hundert Smileys dahinter. Beim letzten Klassentreffen waren wir um die dreißig und auf dem aufsteigenden Ast gewesen. Diesmal würde da eine Meute aufgetakelter Matronen sitzen, in denen man nur mit größter Mühe die biegsamen Abiturientinnen von einst zu erkennen vermochte. Wir würden alle zu viel essen und trinken und lügen, was das Zeug hielt. Dieselben wie immer würden auf den Putz hauen: »Ich habe rein zufällig ein paar Bilder dabei: mein Mann, mein Haus, mein Boot, meine erwachsenen Kinder, meine Finca auf Ibiza, mein Geländewagen, meine Gruppe Ehrenamtlicher im örtlichen Hospizverein, meine Haushaltshilfe aus Peru, unser süßer Golden Retriever ...« Dass in Wahrheit der Ehemann längst perdu und das Valium stets griffbereit war, der Nachwuchs keinen Abschluss schaffte und der Gerichtsvollzieher täglich vor der Tür stand, das behielt man selbstredend lieber für sich.

Die Einladung in einem grämlich grauen Recyclingpapier-Umschlag lag nun auch in Briefform – für die ewig Gestrigen ohne Mail-Adresse – auf meinem hübschen Jugendstilschränkchen im Flur. Wie eine Mahnung, die man zu ignorieren versucht. So lange, bis sie von Staubflusen bedeckt ist. Wieso wischte hier eigentlich niemand Staub? Ich müsste endlich meine Putzfrau Bozena ermahnen, traute mich aber nicht, weil sie aus Polen kam und meinen Dreck wegmachen musste.

Mein Nachwuchs machte sich mit Vorliebe über mein leicht übertriebenes »soziales Gewissen« lustig: »Dein Benz ist ja immer noch da«, frotzelte Ina, als sie vorbeikam, um ein paar ihrer Edelklamotten, die sie in ihrem Appartement nicht untergebracht hatte, aus ihrem alten Schrank zu holen. Außerdem war bestimmt ihr Kühlschrank leer, denn es war Sonntag. »Wahrscheinlich kriegt sie die Karre selbst in Polen nicht mehr los.« Mit der politischen Korrektheit hatte es Ina noch nie so.

»Außerdem geht jedes Mal, wenn Bozena bei dir auftaucht, etwas anderes zu Bruch. Das wenige, das noch unversehrt ist, sollte wenigstens entstaubt sein«, legte sie nach. Die Jugend von heute hat kein soziales Gewissen mehr, finde ich. Egal, wie viel Earth-Music sie hört.

»Sag mir lieber, ob ich nun zum Klassentreffen fahren soll«, lenkte ich ab. »Malt es nicht die Zeichen der Vergänglichkeit unseres Erdenwallens an die Wand? Stellt es nicht die bedrohliche Frage: Hast du die letzten Jahrzehnte genutzt, altes Mädchen? Bist du deinen Träumen treu geblieben und hast sogar einige verwirklicht?« Ich vergaß ganz, dass Ina Pathos auf den Tod nicht leiden konnte.

»Na hör mal, sooo alt bist du nun auch wieder nicht. Du hast doch gesagt, du willst jetzt noch mal richtig durchstarten, jetzt, wo ich weg bin. Fahr nur, vielleicht wird es ja ganz lustig!«, sagte meine Tochter, die mich gerne aufgeräumt und unter Menschen wusste. Dann schwieg sie, tippte längere Zeit in ihr Smartphone und fuhr dann, eilig wie immer, in Richtung City, ohne mir zu sagen, wohin. Auf dem Tisch stand die hellblaue Primel, die sie mir geschenkt hatte. Seit sie nicht mehr mit mir lebte, brachte sie mir immer etwas mit.

Was wohl aus meiner Mitschülerin Hedi geworden war, die früher spindeldürr gewesen war? Auch Esther, unser Klassengenie, und Gudrun, die anscheinend sehr erfolgreich im Wellness-Geschäft tätig war, würden mich irgendwie interessieren. Wie die wohl heute aussahen, jetzt, wo sich unser Leben langsam rundete wie unsere Hüften? Vielleicht würde mir das Treffen ja als Startrampe in mein neues Leben guttun? Und die Mädels hatten ja auch Brüder und Cousins, die früher mal für mich geschwärmt hatten. Immerhin war ich auch heute noch halbwegs knackig, und einige von ihnen waren vermutlich inzwischen geschieden ...

Ich suchte Beistand bei meinen 4761 Facebook-Freunden: »Wer von Euch kennt eigentlich noch Peggy March? Die quäkte immer aus meinem pinkfarbenen Kofferradio: ›Mit siebzehn hat man noch Träume, da wachsen noch alle Bäume in den Himmel der Liiieeebe.‹ Sie fällt mir ein, weil ein Klassentreffen ansteht.« Sechsundfünfzig Freunde erinnerten sich, und einer steuerte sogar ein Foto der heutigen, dicken, alten Peggy bei. Ungeliftet, obwohl sie Amerikanerin war. »Älterwerden ist demokratisch. Es trifft die Hübschen doppelt hart«, postete jemand und erzielte dreiunddreißig »Gefällt mir«.

Und damit fiel mir natürlich wieder der entsprechende Ausspruch meiner Mutter ein. Aber auch ihre Neigung, gern mal aus der Haut zu fahren. Das fand ich als Schülerin absolut grässlich, weil Wut und Geschrei mit einem vernünftigen Gespräch absolut nichts zu tun haben. Und heute? Brüllte ich bei läppischen Anlässen herum, ganz wie sie es getan hatte. Meine Tochter ist leider Zeuge.

Aber vielleicht sollte ich, möglicherweise bald auf dem Weg zu diesem höchst überflüssigen Klassentreffen, ein wenig reife Nachsicht mit mir selber üben? Immerhin konnte ich heute über mein Gekeife im Nachhinein herzlich lachen. Ina verzog sich dann einfach und wartete, bis sich das Gewitter gelegt hatte.

Außerdem passt das eigentlich gar nicht zu mir, dachte ich. Wir sind doch irgendwie eine Friedensgeneration, die damals das Jungsein neu erfunden hat und sich heute anschickt, auch das Älterwerden neu zu definieren: Ich werde jedenfalls weiter lange Haare tragen, in Jeans und Turnschuhen rumlaufen und meinen Enkeln mal Rock’n’Roll beibringen. Und ich möchte auch als »ältere Dame« noch mordslebendig rüberkommen, so wie es meine Mutter schon getan hat.

Ob sich meine Mitschülerinnen noch an sie erinnerten? Sie hatten mich um sie beneidet, weil sie mir nicht in meine ersten Lovestorys hereinredete und nach dem Abi auch nicht in meine Berufswahl, obwohl sie ihr nicht passte. Sie hatte immer fest mit angepackt, wenn Not am Mann war, und sich später als Oma nie ungebeten in Inas Erziehung eingemischt. Es würde vielleicht guttun, mal wieder über meine coole Mama reden zu können: In meinem Alter hatte sie sich kurzerhand liften lassen, sich einen jüngeren Lover geangelt und reiste fortan mit ihm um die Welt. Kein Wunder, dass ihr Bruder, mein schräger Onkel Karlchen, jedes Mal ins Schwärmen geriet, wenn er über sie sprach.

In dieser Sekunde klingelte das Festnetz-Telefon, und ich suchte wie üblich nach dem Mobilteil. Inzwischen sprang der Anrufbeantworter an, sagte sein Sprüchlein und war durch nichts auf der Welt mehr davon abzubringen. Endlich jubilierte mir eine atemlose, mir irgendwie bekannte Stimme entgegen, die durch den Lautsprecher des Anrufbeantworters hallte wie eine Bahnhofs-Durchsage: »Hallo, hier isch Gudrun. Hasch du meine Einladung denn nicht gekriegt? Kommsch du nun zum Klassentreffen oder net?«, sprach es in unglaublichem Tempo. Ich erinnerte mich plötzlich, dass Gudrun immer schon gern atemlos insistiert hatte. Sie sollte sogar einst bei Blockaden in Gorleben, angetan mit braunem Kratzpulli und viel zu kurzen Jeans, endlos mit peinlich berührten Polizisten diskutiert haben, während diese versuchten, die Widerstrebende wegzutragen.

Endlich erwischte ich den Hörer: »Mensch, Gudrun, du bist’s, schön von dir zu hören nach all den Jahren. Du hörst dich an wie immer. Ganz atemlos! Ich hoffe, dass ich kommen kann. Es wäre ja ganz interessant, mal Zwischenbilanz zu ziehen in unserem Alter. Wie wird es sich wohl anfühlen, wenn wir uns als reife Frauen nach all den Jahren wieder gegenüberstehen?«, säuselte ich. Am Telefon sah man schließlich meine wachsende Pinocchio-Nase nicht.

»Sehr poätisch ausgedrückt«, sagte Gudrun. »Supi, dass du das so positiv siescht. Ich rechne also mit deinem Kommen. Tschüüüüss.« Dann legte sie auf. Supi hatte sie tatsächlich gesagt, die Gute. Keine Ahnung, wie sie jetzt aussah. Ob sie heutzutage wohl eher zu Kuh oder Ziege tendierte? Männer behaupteten ja gern von Frauen in unseren Jahren, es wäre immer entweder das eine oder das andere der Fall. Da bin ich schon lieber Kuh, passend zu meiner Oberweite. Das hatte ich nun von meiner Freundlichkeit. Jetzt konnte ich nicht mehr zurück, typisch. Wann würde ich es endlich lernen, energisch meinen Standpunkt zu vertreten? Dafür hätte ich allerdings wissen müssen, welchen.

Ich würde also fahren. Also nahm ich, was die Kleidungsfrage anging, Zuflucht zur Garderobe meiner Tochter. In letzter Zeit hatte ich mich sogar in ihre Pullis und Jacken hineinhungern müssen, die Hosen befanden sich bereits seit geraumer Zeit jenseits meiner Möglichkeiten. Mütterhintern gingen nun mal in die Breite. Das würde Ina schon auch noch merken.

Um stets auf der Höhe der Zeit zu erscheinen, um Geld zu sparen und gleichzeitig niemals unerwünscht anzurufen, hatte ich als Kommunikationsmittel der Wahl mit meiner Tochter die SMS erkoren. Sie ermöglichte, in Telegrammform Infos zu erhaschen, ohne ein peinliches Mutter-Verhör anzustellen. Außerdem hatte die SMS den Vorteil, dass sie mich zu äußerster Knappheit zwang, was mir sonst eher nicht gegeben ist und was nicht nur meine Tochter nervt. Wer will schon seinen Kindern auf die Nerven gehen? Schließlich sind sie es, die in gar nicht allzu langer Zeit das Altersheim für uns aussuchen und uns die Enkel zuteilen. Da darf man es sich nicht mit ihnen verscherzen.

»Kahn ich fir Glossen treffen Schokolade braun Kasimir Pulli habe und den Indisch Schale?«, simste ich meinem Kind also. Was meine SMS-Fingerfertigkeit anging, sollte ich dringend noch mal richtig Gas geben.

»Klar, wenn du ihn nicht mit den Titten ausbeulst oder mit Wein bekleckerst«, kam es prompt zurück. Ich wusste, dass sie zu diesem Zeitpunkt gerade ihre nächste Yogastunde vorbereitete und über den »herabschauenden Hund« oder die »fünf Tibeter« nachsann. Zum Glück besaß meine Tochter eine Neigung zu schönen, teuren Dingen. Ich hingegen stellte meine Garderobe hauptsächlich aus dem H&M-Katalog und in letzter Zeit überwiegend aus Inas Fundus zusammen, was, wie gesagt, Geld sparte und mich ihr gleichzeitig irgendwie näherbrachte. Sie würde es zwar gern sehen, wenn ich mehr Wert auf meine Garderobe legte, aber seit sie aus dem Haus war, entwickelte sie eine höhere Toleranz gegenüber meinen Geschmacksverirrungen. Vielleicht war es aber auch nur Resignation.