Alternativloses Heilen - Hans-Josef Fritschi - E-Book

Alternativloses Heilen E-Book

Hans-Josef Fritschi

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Beschreibung

Gegenwärtig gibt es eine neuentfachte gesellschaftliche Diskussion über alternativmedizinische Heilverfahren, welche mit den Theorien der Naturwissenschaft in Konflikt stehen. Vor allem die Homöopathie gerät zunehmend unter Beschuss und soll, wenn es nach dem Willen der Gegner der Alternativmedizin geht, aus der ärztlichen Praxis ausgeschlossen werden. Aber auch anderen Methoden wie Akupunktur, Osteopathie oder Yoga soll künftig kein Platz mehr im Gesundheitswesen eingeräumt werden. Organisierte Gruppierungen aus den Reihen der sogenannten Skeptikerbewegung setzen sich mit großangelegten Kampagnen dafür ein, diese Ziele gesellschaftlich und politisch umzusetzen. Hans-Josef Fritschi prüft die Intentionen und Argumente der Homöopathiegegner und beleuchtet, wieso die Diskussion solch medialen Aufwind erhalten hat. Außerdem wagt er einen kritischen Blick in die Zukunft der angestrebten streng rationalistischen Einheitsmedizin und untersucht, was sie für die Patientinnen und Patienten bedeuten würde. Ein Plädoyer für den Erhalt der Komplementärmedizin.

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Hans-Josef Fritschi

Alternativloses Heilen

Welche Medizin wir bekommen, wenn Globuli & Co. verschwunden sind

© 2020 zu Klampen Verlag · Röse 21 · 31832 Springe · www.zuklampen.de

Lektorat: Miriam M. Hirschauer · Springe

Satz: Germano Wallmann · Gronau · www.geisterwort.de

Umschlaggestaltung: © Stefan Hilden unter Verwendung eines Motivs von shutterstock.com · München · www.hildendesign.de

E-Book: Zeilenwert GmbH · Rudolstadt · www.zeilenwert.de

ISBN 978-3-86674-758-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ‹ http://dnb.dnb.de › abrufbar.

Inhalt

Vorwort

Darf die sanfte Medizin kritisiert werden? Aber ja doch!

I. Der große Kehraus

1. Make medicine great again!

2. Weltbild in Gefahr

3. Fakten, Fakes und Fast-Food-Denken

4. »Wissen, was wirkt«: Mythos und Halbwahrheit zugleich

II. Präzedenzfall Homöopathie

1. Die Globukalypse

2. Wer hat Angst vor Hahnemann?

3. Anklage und Beweisaufnahme

4. Studien und Interpretationsprobleme

5. Medien und Open Science

6. Das (verschwiegene) objektive Bild der Homöopathie

7. Blaupause für alles andere?

III. Medizin am Scheideweg

1. Die Gretchenfrage: Wie definieren wir Medizin?

2. Konfrontation, Kooperation oder Integration?

3. Alternativloses Heilen – Das Medizinmodell der Skeptiker

4. Forderungen und Folgen

5. Placebo und Selbstheilung

6. Paracelsus und die zwei Ärzte

7. Der Gegenentwurf: Eine dyadische Medizin

Zum Schluss: Von Hasen, Igeln und einem Blick ins Persönliche

Literaturverzeichnis

Weitere Informationen im Netz

Der Autor

Vorwort

Ohne Globuli hätten wir eine bessere Medizin. Denn Globuli – diese homöopathischen Zuckerkügelchen meist ohne Wirkstoff – sind Humbug. Davon sind inzwischen immer mehr Menschen überzeugt. Zumal es für eine Wirksamkeit der Homöopathie scheinbar keinen allgemein anerkannten wissenschaftlichen Beleg gibt. Verständlicherweise, denn, was keinen Wirkstoff enthält, kann auch nicht wirken. Für diese Erkenntnis genügt Logik für Anfänger. Doch diese simple Einsicht muss nicht zwangsläufig richtig sein. Mit einem Nachdenken für Fortgeschrittene kann man auch zu anderen Erkenntnissen kommen. Nicht nur, was die Homöopathie, sondern auch die gesamte Alternativmedizin betrifft.

Der Begriff Alternativmedizin ist weithin gebräuchlich, aber missverständlich. Eigentlich sagt er aus, dass Diagnose- und Therapieverfahren, die nicht Teil der wissenschaftlich anerkannten Medizin sind, als Ersatz für »schulmedizinische« Methoden eingesetzt werden. Solch ein Vorgehen ist durchaus möglich (zum Beispiel Salbeitee zum Gurgeln statt einer desinfizierenden Rachenspülung aus der Apotheke), doch werden offiziell zweifelhafte oder auch nicht anerkannte Methoden heute meist als Ergänzung zur konventionellen Therapie und nicht als deren Ersatz verwendet. In diesem Fall spricht man dann von der sogenannten Komplementärmedizin (komplementär, also gegensätzlich, aber sich ergänzend). Ob man nun von Alternativ- oder Komplementärmedizin spricht, die damit bezeichneten Methoden und Heilmittel sind identisch. Die Wahl des Begriffs bezieht sich lediglich auf die Art ihrer Anwendung. Am sinnvollsten wäre es wohl, wenn man von »unkonventionellen Therapieangeboten« spricht. Da aber das Wort Alternativmedizin am gebräuchlichsten ist, wird in diesem Buch für die schulmedizinisch nicht anerkannten Heilverfahren dieser Begriff verwendet.

Mittlerweile wird medienwirksam eine Bereinigung der Medizin von alternativen Verfahren gefordert. Begründet wird dies damit, dass, was nicht wirke, auch niemandem als Heilmittel oder Heilmethode angepriesen werden dürfe. Wer dies dennoch tue, müsse sich Betrug vorwerfen lassen. Dies tangiere die medizinische Ethik. Alternative Heilverfahren seien, da unwirksam, eigentlich gar keine Medizin, sondern Pseudomedizin. Alternativmediziner könne man als Trittbrettfahrer ansehen, denen es nur um das Ausnutzen eines allgemeinen Trends gehe. Eine von unwirksamen Alternativverfahren befreite Medizin hingegen wäre nicht nur besser und wirksamer, sondern auch ehrlicher, so die These. Dieser Auffassung stehen Zahlen gegenüber, die ein solch negatives Bild nicht gerade untermauern. Fast siebzig Prozent der deutschen Bevölkerung stehen den alternativmedizinischen Heilverfahren positiv gegenüber und wünschen sich eine kombinierte Anwendung von Schulmedizin und Alternativmedizin. Von den 150 000 ambulant tätigen Ärzten wenden fast die Hälfte regelmäßig oder bei Bedarf Behandlungsverfahren an, die nicht zur offiziellen Schulmedizin gehören. Über 40 000 von ihnen haben sich in Naturheilverfahren und alternativen Heilmethoden weitergebildet.

Die Argumente der Gegner der alternativen beziehungsweise komplementären Medizin lassen sich hinterfragen. Sie beruhen nämlich nicht auf zweifelsfreien und unumstößlichen Fakten. Das aber wird suggeriert. Es ist also angebracht, die medial immer häufiger zu vernehmenden »Globuli weg!«-Rufe selbst kritisch zu beleuchten. Interessant dabei ist, der Frage nachzugehen, ob Homöopathie & Co. tatsächlich nur Placebos sind, und wie robust die Fakten sind, die dafür sprechen. Auf Problemsituationen mit einer Reduzierung des Angebots zu reagieren, muss eigentlich gut begründet werden. Selbst wenn die Argumente, die für ein »Entrümpeln der Medizin« sprechen, auf den ersten Blick einleuchten mögen, ist ein Nachhaken und Hinterfragen angebracht. Eigentlich sollte es als Zeichen eines aufgeklärten Geistes gelten, einfache Antworten und eingängige Thesen kritisch unter die Lupe zu nehmen, auch wenn sie auf den ersten Blick wissenschaftlich begründet erscheinen.

Aufschlussreich dürfte ein Blick in die Zukunft sein: Wie sieht die Medizin aus, wenn es keine alternativen Heilverfahren mehr gibt? Was bedeutet das für die Patienten und was für die Versorgung gerade chronisch Kranker? Bei genauerem Hinsehen ist es nicht mehr ohne Weiteres nachvollziehbar, dass sich die Medizin verbessern würde, wenn alternative Therapieangebote verschwänden. Jede Studie, die die Wirksamkeit eines Medikamentes überprüfen soll, zeigt unmissverständlich, dass es niemals eine hundertprozentige Wirksamkeit aufweist. Eine nachgewiesene Wirksamkeit gegenüber Placebo sagt noch nichts darüber aus, ob ein Mittel im konkreten Einzelfall tatsächlich auch wirkt. Die vielen »austherapierten« Kranken zeigen das mehr als deutlich an: Patienten nehmen Alternativmedizin vor allem dann in Anspruch, wenn sie von der konventionellen Medizin keine Hilfe erhalten haben. Das ist vor allem bei chronischen Krankheiten der Fall. Was machen sie, wenn die Medizin in solchen Fällen keine Alternativen mehr anzubieten hat?

»Alternativlos« war das Unwort des Jahres 2010. In ihrer Begründung stellte die Jury damals fest, dass mit diesem Ausdruck auf sachlich unangemessene Weise dargelegt werde, bei einem Entscheidungsprozess gebe es von vornherein keine Alternativen und damit auch keine Notwendigkeit der Diskussion und Argumentation. Auch wenn diese Einschätzung auf die Situation in der Politik bezogen war, lässt sie sich doch ohne Abstriche auf die Auseinandersetzung um die Alternativmedizin übertragen. Sollte man nicht erst dann etwas aus der Medizin entfernen, wenn man etwas nachweislich Besseres anzubieten hat? Eine »alternativlos« gewordene Medizin verweigert sich nicht nur einer therapeutischen Vielfalt und Pluralität, sie legt die ganze »Bürde des Heilens« letztlich auf ihre eigenen Schultern – was aber, wenn diese nicht mehr tragen?

Darf die sanfte Medizin kritisiert werden? Aber ja doch!

Die Einschätzung der verschiedenen medizinischen Heilsysteme ist in der Bevölkerung recht asymmetrisch. Das Wort Schulmedizin hat keinen allzu guten Ruf, steht es doch für eine kalte, gewinnorientierte und nebenwirkungsreiche Apparatemedizin, für die Patienten nur Nummern sind, die am Fließband abgefertigt werden. Schulmediziner gefährden das Leben ihrer Patienten, indem sie zu viele chemische Medikamente verschreiben, zu viel operieren und in der Behandlung zu viele Fehler machen – so die Einschätzung. Zu ihr gehört auch die Gewissheit, dass im Hintergrund Big Pharma die Fäden zieht, an denen kranke Menschen wie Marionetten manipuliert werden. Was an dieser Bewertung auch tatsächlich stimmen mag: die Schulmedizin hat ein Imageproblem. Das wird noch dadurch verstärkt, dass es scheinbar eine »bessere Alternative« zur Schulmedizin gibt: die Alternativmedizin.

Alternative und komplementärmedizinische Verfahren werden von der Mehrzahl der Bevölkerung in einem ganz anderen Licht gesehen. Ob Pflanzenheilkunde, Homöopathie, Anthroposophische Medizin, chinesische Medizin, Osteopathie oder Yoga: Sie alle gelten als ganzheitlich, sanft und frei von Nebenwirkungen. Hier nimmt man sich Zeit und kümmert sich auch um Geist und Seele der Patienten. Alternativmedizin kann selbst dann noch helfen, wenn die Schulmedizin versagt. Krasser könnte die gegensätzliche Einschätzung von Schul- und Alternativmedizin nicht sein. Doch diese unterschiedlichen Bilder sind eigentlich Karikaturen, holzschnittartig vereinfachte Darstellungen einer viel komplexeren Situation. Feder oder Pinsel führt dabei meist das Gefühl, nur bedingt der Verstand.

Die allermeisten, die die Schulmedizin kritisieren, sind froh, wenn sie bei einem medizinischen Notfall umfassend und kompromisslos schulmedizinisch versorgt werden. Unzählige Menschen verdanken der modernen Notfallmedizin ihr Leben. Dank hochentwickelter Medizintechnik können kaum mehr gehfähige Arthrosekranke sich wieder schmerzfrei bewegen, gewinnen Beinamputierte in den Sprintwettbewerben bei den Paralympics Goldmedaillen und werden Taube wieder hörfähig. Die deutliche Steigerung der Lebenserwartung in den letzten Jahrzehnten ist zu einem großen Teil den Leistungen der modernen Schulmedizin zu verdanken. Man muss schon ideologisch verblendet sein, um dies alles zu ignorieren – oder aber von der Schulmedizin traumatisiert.

Ja, Schulmedizin kann nicht nur heilen, sie kann auch Wunden schlagen, unblutige, da im Seelischen verborgene. Sie wurden nicht mit dem Skalpell gesetzt, sondern durch Empathiemangel, durch Verdinglichung der Person des Kranken, durch den Ersatz von ärztlicher Wertschätzung durch Pillen, Apparate und eine Fließbandtherapie auf höchstem wissenschaftlichem Niveau. All das begann, als man das Wort Heilkunst durch den Begriff der Heilkunde ersetzte, als das Heilen nicht mehr als eigentlich kreativer und zutiefst individueller Dienst des Menschen am Menschen verstanden wurde, sondern als rein rationale Wissenschaft, die man bedenkenlos den Naturwissenschaften zuordnen konnte. Menschen scheinen diese Verschiebung in der Zuordnung instinktiv wahrzunehmen, insbesondere, wenn sie zu Patienten geworden sind. Dann spüren sie, dass sich hier etwas Grundlegendes verändert hat, das der Medizin als Ganzes nicht guttut. Und dann gehen auch solche zum Handaufleger, die bisher alles Alternative in der Medizin als Scharlatanerie und Humbug verdammt haben. Inkognito und bei Nacht und Nebel, aber sie gehen. Denn Kranke suchen Heilung wie der Gebirgsbach das Tal.

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass Patienten bei Alternativmedizinern Linderung oder gar Heilung finden können, die ihnen die Schulmedizin nicht geben konnte. Das Vertrauen in medizinische Alternativen kann aber auch Gefahren mit sich bringen, dann nämlich, wenn es zu einer Glorifizierung dieser unkonventionellen Angebote führt – und zu einer unkritischen Hinwendung zu alternativen Heilverfahren, mit einer gleichzeitigen Abkehr von der Schulmedizin. In einer solch extremen Weise werden das sicher nur wenige Menschen tun, doch die potenzielle Gefahr hierfür besteht durchaus, und daher sollte das Problem auch klar benannt und offen diskutiert werden. Überzeugte Verfechter der Naturmedizin wehren Kritik aber nicht selten schroff ab und wittern dahinter unlautere Beweggründe. Doch so einfach darf man es sich nicht machen.

Selbstkritik ist nicht Zeichen von Schwäche. Aber Selbstkritik ist nicht jedermanns Sache. Selbstkritik bringt Zweifel und Verunsicherung mit sich. Eigene Überzeugungen könnten ins Wanken geraten und die so wichtige »Sicherheit im Denken« gefährden. Wer diese Gefahr in Kauf nimmt und bereit ist, notfalls auch bisherige Grundsätze zu hinterfragen oder gar zu revidieren, beweist nicht nur Mut, sondern Demut – intellektuelle Demut nämlich, die von der Gewissheit ausgeht, dass all unser Wissen vorläufig und niemals absolut und »in Stein gemeißelt« ist. Die gegenwärtig immer lauter werdende Kritik an alternativen Heilverfahren sollte also zunächst einmal offen angenommen und auf ihre Stichhaltigkeit überprüft werden. Nicht wenige Vertreter der Alternativmedizin wagen diesen Schritt aber gar nicht, und sind noch immer in einem panischen Abwehrreflex gefangen. Was natürlich auch verständlich ist: Wenn uns schon Gefahr von außen droht, weshalb sollen wir auch noch Selbstzweifel in uns säen? Wer aber vor Selbstzweifeln Angst hat und vor ihnen flieht, hat wohl auch einen Mangel an Selbstvertrauen. Vielleicht auch zu wenig Vertrauen in die eigenen Methoden?

Dabei ist die Angst der Freunde von Globuli & Co. eigentlich gar nicht begründet. Wer den Totstellreflex überwindet und nüchtern die Darlegungen der Gegner der Alternativmedizin abklopft, wird schnell merken: So solide und wissenschaftlich fundiert ist deren argumentatives Fundament gar nicht. Was vernünftig klingt, muss vernünftig nicht sein. Und was an der Kritik tatsächlich rational und nachvollziehbar ist, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen manchmal gar nicht als Argument gegen die Alternativmedizin. Dass es in dieser mitunter Scharlatane gibt, die haltlose Heilsversprechungen machen, ist nicht hinnehmbar und es muss gegen sie vorgegangen werden. Aber verläuft die Demarkationslinie zwischen Scharlatanerie und ethisch verantwortungsbewusster Medizin exakt zwischen Alternativ- und Schulmedizin? Hat die Schulmedizin kein Problem mit Scharlatanen? Ist die Schwierigkeit der Alternativmedizin, wissenschaftlich exakte Belege für ihre Wirksamkeit vorzulegen, ein Beweis dafür, dass sie unwirksam ist? Jeder wissenschaftstheoretisch Geschulte wird diese Frage verneinen, schließlich gilt: Das Fehlen eines Beweises kann nicht als Beweis für die Widerlegung einer These interpretiert werden. Warum wird dann dieses (Schein-)Argument immer wieder neu aufgewärmt? Und dass die Homöopathie keine Naturheilkunde im klassischen Sinne ist, sie aber bisweilen so vermarktet wird, ist sicher nicht in Ordnung und kann zur Irreführung von Patienten beitragen. Aber darf Naturheilkunde nur im klassischen Sinne von Wasser, Luft, Bewegung und Ernährung definiert werden? Ist Natur nur im Sinne der Naturwissenschaft erklärbar, die noch immer auf dem mechanistischen und materialistischen Modell eines Descartes und der Physik eines Newtons beruht?

Eines fällt auf: Der Kritik an der Alternativmedizin fehlt es an einem konstruktiven Element. Konstruktiv ist Kritik immer dann, wenn sie auf Schwachstellen und Missstände hinweist und Lösungsansätze zur Veränderung anbietet oder zumindest solche einfordert. Dabei bleibt sie auf der Sachebene und geht nüchtern und mit wenig Emotion vor. Vor allem verurteilt sie nicht und wertet andere nicht ab. Diese Merkmale fehlen bei der Kritik an alternativen Heilverfahren häufig. Stattdessen präsentieren die Kritiker offen ihre destruktiven Absichten, indem sie sich dazu bekennen, alternative Heilverfahren aus der Medizin eliminieren zu wollen. Vor allem die organisierten Homöopathiekritiker scheuen sich nicht davor, öffentlich zu bekennen, die Reputation, die die Homöopathie in der Gesellschaft genießt, zu zerschlagen und ihr im Gesundheitswesen keinen Platz mehr einräumen zu wollen, ja, sie nach über zweihundert Jahren endlich auf dem Friedhof der Medizingeschichte zu begraben. In dieses Bild passt auch, dass sie keine öffentliche Diskussion über Globuli wollen, sondern von der Politik verlangen, die Gesetze so zu ändern, dass es nicht mehr möglich sein wird, homöopathische Arzneimittel herzustellen, in Apotheken zu vertreiben oder von Ärzten verschreiben zu lassen.

Solch ein Vorgehen verlangt, dass man sich seiner Sache absolut sicher ist. Das sind sich die Gegner von Globuli & Co. auch. Für sie gibt es nicht den geringsten Zweifel, dass Alternativmedizin Humbug ist. Diese Überzeugung führt sie dazu, auch zum Mittel der destruktiven Kritik zu greifen, ohne dabei »kalte Füße« zu bekommen. Die Ironie dabei ist, dass sich die Gegner der Alternativmedizin selbst als »Skeptiker« bezeichnen. Der philosophische Skeptizismus hat den Zweifel zum Programm erhoben. Er zweifelt sogar daran, dass der Mensch überhaupt etwas absolut und vollständig erkennen kann, und postuliert, dass es daher unmöglich ist, letztgültige Behauptungen aufzustellen.

Im Gegensatz zu den skeptizistischen Philosophen vertreten die modernen »Skeptiker« einen selektiven Skeptizismus. Vor allem zweifeln sie an allem, was den Anschein von Irrationalität erweckt. Dazu zählen sie auch die Alternativmedizin. Vom Zweifeln explizit ausgeschlossen haben sie aber ihre eigene Haltung gegenüber dem Irrationalen in der Welt. Am derzeit herrschenden materialistisch-naturalistischen Weltbild der Naturwissenschaft und seinen Schlussfolgerungen dulden sie keinen Zweifel. Es ist für sie absolut und muss von jeglicher Skepsis ausgeklammert bleiben. Das ist ihr Dogma. Wenn man jedoch seinen Skeptizismus dogmatisch untermauern muss, kann es mit einer wahrhaft skeptischen Grundhaltung nicht weit her sein.

Kritik und Kritikfähigkeit scheinen demzufolge Schwachpunkte in der Debatte um die Alternativmedizin zu sein. Eine kritische Auseinandersetzung mit diesen Methoden könnte helfen, besser die Spreu vom Weizen zu trennen und Missstände zum Wohl der Patientinnen und Patienten zu beseitigen. Dazu muss man diese konstruktive Form der Kritik aber wollen. Scheinbar scheuen sie beide Seiten, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Deshalb verwundert es nicht, dass die Auseinandersetzung mittlerweile Züge eines Glaubenskrieges annimmt.

I. Der große Kehraus

1. Make medicine great again!

Wenn es um Medizin geht, geht es um Menschen, Tiere und auch Pflanzen, Lebendiges jedenfalls. Nur hier funktioniert Medizin. Andernorts nennt man es Reparatur. Medizin gibt es nur in einer lebendigen Welt. Und in einer solchen leben wir. Man fragt sich nur, wie lange noch. Die Daten zur ökologischen Entwicklung unseres Planeten zeichnen kein rosiges Bild. Wenn es nach dem Urteil vieler Wissenschaftler geht, steht uns das Wasser bald bis zum Hals. Venedig hat inzwischen die Vorboten dieser Entwicklung zu spüren bekommen. Härter wird es wohl die Bewohner so mancher Südseeinseln treffen, die in absehbarer Zeit untergegangen sein werden. Man müsste endlich handeln, und das schnell und rigoros.

Vor einiger Zeit haben Schülerinnen und Schüler den Freitag für sich entdeckt und für ihren eigenen Protest reserviert. Wenigstens ein Teil der Jugend. Ja, es muss sich etwas ändern. Das sagen auch viele andere, meist ältere Leute. Auch sie sehen sich metaphorisch mit dem Wasser verbunden: Für sie rauschen Land und Kultur den Bach hinunter. Ihr Zukunftsszenario sieht jedoch anders aus. Für sie sind die zentrale Gefahr nicht Klima und Mikroplastik, sondern Geflüchtete und Moslems. Anders als die jungen Freitagsdemonstrierenden sind sie ein gutes Stück weiter. Sie haben ihre Protagonisten in einigen Ländern schon in Regierungspositionen gewählt. Als politische Horror-Clowns huldigen diese der Macht der egoistischen Rücksichtslosigkeit und bekommen von einem verschwörungstheoretisch manipulierten Fußvolk dafür reichlich Applaus und Wählerstimmen.

Was hat das mit dem Thema zu tun, über das hier nachgedacht werden soll? Auf den ersten Blick scheinbar wenig bis nichts. Auf den zweiten (so man einen solchen zulässt) entblättern sich gewisse Zusammenhänge. Auch auf dem Gebiet der Medizin gibt es rasante Entwicklungen. Manche bringen uns weit voran und versprechen die Heilung bisher nicht behandelbarer Krankheiten. Andere bedrohen uns durch das Aufkommen neuer Leiden, die nicht beherrschbar sind, und die dafür verantwortlich sein werden, dass die Lebenserwartung in absehbarer Zukunft wieder sinkt. In den USA scheint es schon so weit zu sein. Nicht selten sind Chancen und Gefahren dieser Entwicklungen eng miteinander verknüpft, was die Sache deutlich komplizierter macht. Auch die Medizin hat ihre Krise. Auch in ihr muss sich etwas ändern. Braucht auch sie eine Protestbewegung?

Pflegekräfte gehen immer wieder auf die Straße, um gegen den real existierenden Irrsinn ihres Berufsalltags in Kliniken, Heimen und ambulanten Diensten zu protestieren. Hier hat die Politik inzwischen verstanden und ist medienwirksam am Flicken. Keine Frage: Wir schaffen auch das. Ihr Wort in jedermanns Ohr, nur: Wer flickt, muss sich nicht an Neues wagen. Nicht an Grundsätzliches und nicht an Revolutionäres. Eigentlich ist es doch einfach, sagt man: Wenn Pflegekräfte fehlen, dann müssen mehr eingestellt werden. Osteuropa hat genügend, scheinbar auch Mexiko. Also, her damit. Die Zahlen müssen stimmen: Nur so und so viel Patienten pro Pflegekraft, dann sind die Probleme in der Pflege gelöst. Flicken geht auch, ohne die Gesellschaft vom Sofa hochzuscheuchen.

Auf einer ähnlichen Ebene gelagert ist das Problem des Zeitmangels und der Durchschleusung durch den Gesundheitsbetrieb. Darüber klagen wir alle – Privatversicherte vielleicht etwas weniger. Doch auch sie kommen nicht drum herum, sich ins System eingliedern zu müssen. Und das geht nur als Nummer. Die Welt der Zahlen beherrscht auch das Gesundheitssystem durch und durch: Warten, bis man dran kommt und dann nicht murren, wenn man nach fünf Minuten als abgearbeitet abgehakt wird. Zahl und Zeit bestimmen über des Patienten verständlichen Wunsch: wenn möglich, bald wieder gesund zu werden. Man würde ja gern, heißt es auf Seiten der Weißkittel, doch kann man halt nicht. Man glaubt es ihnen – zumindest den meisten. Dann müsse die zeitintensive »sprechende Medizin« mehr vergütet werden, wird gefordert. Dann eben dreißig statt drei Minuten pro Patient. Löblich, seufzt der Hausarzt und ahnt, dass er die Sprechstunden nun bis nach Mitternacht ausdehnen muss, um sein wohlgefülltes Wartezimmer bis zum letzten Kranken abarbeiten zu können.

Sowohl die Probleme bei der Pflege als auch jene bei der ärztlichen Versorgung ließen sich wohl nur durch grundlegende strukturelle Veränderungen lösen. Man könnte, wenn man wollte. Warum das nicht angegangen wird, liegt an dem, was sich hinter dem »man« verbirgt: die unzähligen Interessen der im Gesundheitswesen Beteiligten. Pfründe gibt man so schnell nicht auf, ebenso wenig Privilegien, noch weniger den Profit, den man einheimst. Das Gesundheitswesen ist nicht heiliger als jedes andere Wirtschaftssystem, nur weil es bei ihm ums Heilen geht.

Heilen. Das ist das nächste große Problemfeld in der Medizin. Ein großes Wort, das vielschichtige Assoziationen hervorruft. Diese reichen vom Auswechseln defekter Gelenke mit Endoprothesen, über das Abtöten gefährlicher Krankheitserreger mittels Antibiotika, bis hin zum Handauflegen und Gesundbeten durch Schamanen und Geistheiler. Auch hier haben wir mit Problemen zu kämpfen. Nur ist die Ebene eine andere. Hier geht es ums eigentliche Wesen der Medizin, nicht um die Rahmenbedingungen ihrer praktischen Umsetzung. Es stellt sich die Frage, wie gut oder wie schlecht das Heilen geschieht, ob es zentral dem jeweiligen Patienten dient oder ob es mehr schadet als nützt. Auch in diesem Bereich sind nicht wenige Probleme zu beklagen:

Es gibt immer mehr chronisch kranke Menschen, bei denen die übliche Medizin nur bedingt helfen kann, zum Beispiel bei Allergien, Autoimmunkrankheiten, Krebs. Die Zahl dieser Krankheiten soll in den letzten vier Jahrzehnten um das Dreibis Vierfache gestiegen sein – und auch beständig weiter steigen. Psychische Krankheiten werden vor allem im Kindes- und Jugendalter zu einem ernsthaften Problem. 2018 waren laut Robert-Koch-Institut fast siebzehn Prozent der Kinder und Jugendlichen psychisch auffällig. Die Nebenwirkungen von Medikamenten sind mittlerweile zur dritthäufigsten Todesursache geworden. Rund zwei Millionen Deutsche sind heute medikamentensüchtig. Das bringt wirtschaftliche Folgekosten in Höhe von vierzehn Milliarden Euro pro Jahr mit sich. Laut WHO sollen 2050 weltweit rund zehn Millionen Menschen an Infektionen sterben, gegen deren Erreger keine Antibiotika mehr wirksam sind. Pro Jahr werden in Deutschland über acht Tonnen Humanarzneimittel in die Umwelt abgegeben, sodass wir heute schon Rückstände von Arzneimitteln und Röntgenkontrastmitteln im Trinkwasser nachweisen können. All diese Probleme hängen damit zusammen, wie wir Medizin betreiben und wie wir heilen. Sie dürften schwieriger zu bewältigen sein als die strukturellen Probleme des Gesundheitssystems.

Dann soll es noch ein weiteres Themenfeld geben, das der Medizin zunehmend Schwierigkeiten bereite: die Alternativmedizin. Sie stehe der wissenschaftlichen Weiterentwicklung der Medizin im Wege und täusche Patienten mit falschen Heilsversprechen. Allen voran treffe dies auf die Homöopathie zu, die wohl wichtigste und verbreitetste (aber auch umstrittenste) Methode der sogenannten »Außenseitermethoden«. Wer sich auf dieses angeblich nachgewiesenermaßen unwirksame Verfahren einlasse, riskiere Leib und Leben. So jedenfalls argumentieren die Verfechter einer »wissenschaftlichen Homöopathiekritik«, die in der Öffentlichkeit mit Nachdruck die Ausgrenzung dieser Heilmethode aus der Medizin fordern: keine Globuli mehr im Arzneimittelgesetz, keine Globuli mehr in der Arztpraxis, keine Globuli mehr in der Apotheke. Doch die Eliminierung aus dem Kanon der »richtigen« Medizin soll nicht nur die Homöopathie betreffen. Mittel- bis langfristig sollen auch alternative Heilmethoden wie Akupunktur, Osteopathie, Anthroposophische Medizin, Schüßlersalze, Spagyrik oder Yoga aus der Medizin verschwinden. Grund: Sie alle könnten ihre Wirksamkeit wissenschaftlich nicht unter Beweis stellen. Dies sei aber für eine rationale Medizin unabdingbar. Kurz: Die Medizin müsse dringend bereinigt und ausgemistet werden. Was nicht wirkt, gehöre nicht in die Medizin. Ziel: eine rationalistische Einheitsmedizin, die nichts mehr enthält, was strenge naturwissenschaftliche Kriterien nicht erfüllen kann oder diesen widerspricht.

Gibt es (abgesehen von Ansätzen im Bereich der Pflege) aktive Protestbewegungen, die die Probleme der Medizin offen ansprechen und nachhaltige Lösungen fordern? Gegen die Bedrohung durch zunehmende Nebenwirkungen, gegen die Umweltbelastung durch Arzneimittel, gegen die Alternativmedizin? Eigentlich gibt es im ganzen Bereich der Medizin nur eine einzige stramm durchorganisierte Protestbewegung. Es ist jene gegen die Homöopathie und die alternativen Heilverfahren. Sie ist zwar vergleichsweise klein, dafür aber umso lauter, schlagkräftiger und vor allem: effektiver. Sie wird gesteuert von der sogenannten »Skeptikerbewegung«, der es darum geht, Wissenschaft und Gesellschaft von allem zu bereinigen, was den Anstrich von Irrationalität hat und was mit einem streng naturwissenschaftlichen Weltbild nicht vereinbar ist.

Die erste Skeptikerorganisation wurde in den 1970er-Jahren von dem Philosophen Paul Kurtz in den USA gegründet. 1987 folgte mit der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) ein Ableger in Deutschland. 2016 wurde von den Skeptikern das Informationsnetzwerk Homöopathie (INH) gegründet, das sich seither speziell dem »Problem Homöopathie« widmet. Eng verbunden sind die Skeptiker mit humanistisch-atheistischen Kreisen, die für eine Eliminierung des Religiösen aus der Gesellschaft streiten. In ihren Zielen zeigen beide Gruppierungen Tendenzen, die in der heutigen Gesellschaft immer mehr um sich greifen: Schutz des vermeintlich Bedrohten durch Grenzziehung und Ausgrenzung.