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Verliere dein Herz in Blossomville!
Jeder hat eine zweite Chance verdient: Davon ist Tierarzt Grayson Hunter überzeugt, wenn er ausgesetzte Hunde in seinem Animal Shelter aufnimmt. Nur bei seiner Exfreundin Olivia - seiner ersten großen Liebe - sieht er das anders. Denn sie hat ihn vor zwölf Jahren einfach verlassen und der idyllischen Kleinstadt Blossomville den Rücken gekehrt.
Als Olivia in ihre Heimatstadt in Vermont zurückkommt, begegnen ihr alle Bewohner feindselig. Präsentiert sie sich doch als kühle Anwältin aus New York, die ihr Leben in Neuengland längst hinter sich gelassen hat. Nur Grayson spürt, dass mehr hinter ihrer Fassade steckt. Und allmählich begreifen die beiden, dass auch Menschen eine zweite Chance verdient haben ...
Tauche ein in die Welt von Blossomville, wo jeder jeden kennt und Träume wahr werden.
Eine romantische, cosy Smalltown-Romance: Charmanter Tierarzt trifft auf toughe Anwältin. Für Fans von Gilmore Girls.
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Seitenzahl: 447
Veröffentlichungsjahr: 2025
Cover
Grußwort des Verlags
Über dieses Buch
Titel
Widmung
Kapitel 1 – Grayson
Kapitel 2 – Olivia
Kapitel 3 – Olivia
Kapitel 4 – Grayson
Kapitel 5 – Olivia
Kapitel 6 – Grayson
Kapitel 7 – Olivia
Kapitel 8 – Olivia
Kapitel 9 – Grayson
Kapitel 10 – Olivia
Kapitel 11 – Grayson
Kapitel 12 – Olivia
Kapitel 13 – Grayson
Kapitel 14 – Olivia
Kapitel 15 – Grayson
Kapitel 16 – Grayson
Kapitel 17 – Olivia
Kapitel 18 – Grayson
Kapitel 19 – Olivia
Kapitel 20 – Olivia
Kapitel 21 – Olivia
Kapitel 22 – Grayson
Kapitel 23 – Olivia
Kapitel 24 – Olivia
Kapitel 25 – Grayson
Kapitel 26 – Olivia
Kapitel 27 – Grayson
Kapitel 28 – Grayson
Kapitel 29 – Olivia
Kapitel 30 – Olivia
Kapitel 31 – Olivia
Kapitel 32 – Grayson
Epilog – Grayson
Danksagung
Über die Autorin
Impressum
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Verliere dein Herz in Blossomville!
Jeder hat eine zweite Chance verdient: Davon ist Tierarzt Grayson Hunter überzeugt, wenn er ausgesetzte Hunde in seinem Animal Shelter aufnimmt. Nur bei seiner Exfreundin Olivia – seiner ersten großen Liebe – sieht er das anders. Denn sie hat ihn vor zwölf Jahren einfach verlassen und der idyllischen Kleinstadt Blossomville den Rücken gekehrt.
Als Olivia in ihre Heimatstadt in Vermont zurückkommt, begegnen ihr alle Bewohner feindselig. Präsentiert sie sich doch als kühle Anwältin aus New York, die ihr Leben in Neuengland längst hinter sich gelassen hat. Nur Grayson spürt, dass mehr hinter ihrer Fassade steckt. Und allmählich begreifen die beiden, dass auch Menschen eine zweite Chance verdient haben ...
Eine romantische, cosy Smalltown-Romance: Charmanter Tierarzt trifft auf toughe Anwältin.
Tauche ein in die Welt von Blossomville, wo jeder jeden kennt und Träume wahr werden.
Michelle A. Pietsch
Always been you – Herzklopfen in Blossomville
Für Mone
Freundschaft ist unwiderleglich alles, was wir haben.
»Heilige Krabbe.«
Grayson Hunter fuhr sich mit beiden Händen über sein Gesicht und ließ ein frustriertes Schnauben hören. In Momenten wie solchen verwünschte er seine Eltern für die gute Kinderstube, die er bei ihnen genossen hatte. Er liebte seine Eltern über alles und würde für sie durchs Feuer gehen. Aber eins konnte er seiner Mutter nicht verzeihen: dass Fluchen für sie quasi einer Todsünde gleichkam und sie ihren Kindern schon früh eingebläut hatte, bloß nie damit anzufangen.
Selbst heute, mit dreißig Jahren, als selbstständiger Tierarzt, Hundepapa und Chef von mehreren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, wagte Grayson es nicht, sich über diese Regel hinwegzusetzen. Dabei würde der Ausdruck Verfickte Scheiße deutlich besser zu seinem derzeitigen Gefühlszustand passen. Mit gerunzelter Stirn starrte er erneut auf die Zahlentabelle vor sich auf dem Bildschirm. Auf das dicke, fette Minus, das ihm aus der letzten Zeile entgegensprang und ihn förmlich verhöhnte.
Er seufzte, während er die Finger in seinen Haaren vergrub und sich mit den Ellbogen auf der Tischplatte abstützte. Er konnte noch solange die Augen davor verschließen, aber es nutzte alles nichts: Das Animal Shelter, das er vor fünf Jahren eröffnet hatte und das sich direkt neben seiner Tierklinik befand, war finanziell kaum noch tragbar. Der dringend benötigte Anbau würde weiter auf sich warten lassen müssen. Auch wenn das Tierheim seit Monaten aus allen Nähten platzte. Die Unterbringung der Hunde, das Futter, die Medikamente – all das fraß nach und nach sein Erspartes auf.
Dabei lief die Tierklinik besser als je zuvor. Etwas, das Graysons Brust vor Stolz immer wieder schwellen ließ. Denn er führte nicht nur das größte Veterinärhospital in Vermont, sondern vor allem das Lebenswerk seines Vaters weiter. Dr. John Hunter war ebenfalls Tierarzt gewesen, bis er vor einem Jahr beschlossen hatte, sich seinen großen Traum zu erfüllen und mit seiner Frau Caroline auf Weltreise zu gehen. Seitdem blühten die beiden in ihrem Dasein als Rentnerehepaar auf, sandten ihrem Sohn Postkarten aus aller Herren Länder – und ließen ihm freie Hand, was die Tierklinik betraf.
Sein ganzes Leben hatte Grayson auf diese Verantwortung hingearbeitet. Schon als kleiner Junge hatte er davon geträumt, Tierarzt zu werden und in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Genau hier, im beschaulichen, aber wunderschönen Blossomville in Vermont. Die Stadt, in der er geboren worden war. Die Stadt, in der er sich zu Hause fühlte. Die Stadt, die ihn aufgefangen hatte, als er dachte, nie wieder vollständig zu sein ...
Stopp, ermahnte er sich in Gedanken. Grayson biss die Zähne zusammen und schob die Bilder, die sich vor seinem inneren Auge aufbauen wollten, bestimmt beiseite.
Etwas Feuchtes kitzelte ihn am Ellbogen. Er wandte den Kopf und erblickte seine Golden-Retriever-Hündin Daisy, die ihn mit ihrer Schnauze anstupste und schwanzwedelnd neben seinen Schreibtisch getreten war.
»Na, meine Süße? Bist du wach?«
Er kraulte sie hinter ihrem linken Ohr, was sie mit einem zufriedenen Brummen quittierte. Grayson lachte und spürte, wie sich ein warmes Gefühl in seinem Bauch ausbreitete, als sie ihren Kopf auf seinem Knie ablegte und ihn aus treuen Augen ansah. Sie blinzelte noch ein wenig verschlafen. Bis vor wenigen Sekunden hatte sie auf ihrem Hundekissen geschlummert, das sich in einer Ecke von Graysons Büro befand.
»Möchtest du mir mit diesem Hundeblick sagen, dass du bereit für deine Abendrunde bist?«
Daisy schleckte ihm als Antwort über die Finger, wodurch Grayson ein weiteres Mal schmunzeln musste. Seine Tage konnten noch so anstrengend, sorgenvoll oder hart gewesen sein: Sobald seine Hündin bei ihm war, trat das alles in den Hintergrund.
Beim Blick auf die Uhr fuhr ihm ein gehöriger Schreck in die Glieder. Es war weit nach zehn Uhr abends – hatte er wirklich so lange an der Buchhaltung gesessen? Und trotzdem war er der Lösung seines Problems noch keinen Deut näher.
Seufzend ließ er sich in seinem Stuhl nach hinten sinken und kreiste mit dem Nacken. Es half alles nichts. Wenn sich die Zahlen in den nächsten Wochen nicht verbesserten, würde er das Animal Shelter schließen müssen. Bei dem Gedanken daran zog sich sein Herz zusammen. Aber wenn er ehrlich zu sich selbst war, wusste er, dass ihm nur noch ein Wunder helfen konnte.
»Komm, meine Süße.« Grayson klappte den Laptop zu und gab Daisy ein Zeichen, ihm zu folgen. Nachdem er die Deckenlampe gelöscht hatte, machte er sich auf den Weg durch den Flur und den Eingangsbereich der Klinik. Nur das Notfalllicht leuchtete noch. Heute hatten sie ausnahmsweise keine OP-Patienten, die über Nacht bleiben mussten, deshalb hatte Grayson seinen Angestellten freigegeben. Sonst war mindestens eine Person für die Nachtwache zuständig.
Gemeinsam mit seiner Hündin Daisy trat er hinaus und wurde von Grillenzirpen begrüßt. Er holte tief Luft. Die Abenddämmerung war schon immer seine liebste Zeit gewesen, vor allem jetzt im Sommer. Eine angenehme Brise strich über ihn hinweg, die Sonne schien erst vor wenigen Minuten untergegangen zu sein. Während Daisy an einem Busch schnupperte, der den Eingang zur Klinik flankierte, fiel Graysons Blick auf das bunte Schild am Nebengebäude. Animal Shelter Blossomville prangte dort in großen Lettern. Er erinnerte sich noch gut daran, wie er es vor einigen Jahren gemeinsam mit seinem Vater angebracht hatte. Zu dem Zeitpunkt hatte er sich in den Endzügen seines Studiums befunden, und wann immer er konnte, war er nach Hause gekommen, um in der Klinik zu helfen. Das College war zum Glück nur eine Stunde mit dem Auto entfernt gewesen. Doch auf einer dieser Heimfahrten – Grayson war gerade vierundzwanzig geworden – entdeckte er eine ausgesetzte Hündin am Straßenrand. Daisy. Wieder wanderte sein Blick zu der Golden-Retriever-Dame, die ihre Aufmerksamkeit mittlerweile dem nächsten Busch zugewandt hatte. Grayson ballte seine Hand zur Faust, als er an den Abend dachte, an dem er sie gefunden hatte. An einen Baum angebunden, einen verrosteten Wassernapf neben sich und ihrem Schicksal überlassen. Wie lange sie dort ausgeharrt hatte, wusste er nicht. Doch sie war stark dehydriert gewesen. Ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen, hatte er sie in seinen Wagen gehoben und war schnurstracks in die Tierklinik zu seinem Vater gefahren. Gemeinsam hatten sie sie aufgepäppelt, und es hatte nur einen Blick gebraucht, damit Grayson sein Herz für immer an die Hündin verlor. Seitdem war sie seine treue Begleiterin – und Grayson hatte die Idee nicht losgelassen, ein Animal Shelter zu eröffnen, um ausgesetzte Hunde aufzunehmen und in gute Hände zu vermitteln. In der Gegend um Blossomville gab es keine solche Einrichtung, das nächste Tierheim befand sich gut anderthalb Stunden entfernt. Er hatte sich regelrecht in diese Idee verbissen und jede freie Minute genutzt, um seinen Plan umzusetzen. Nur ein Jahr später war er tatsächlich Realität geworden. Und er hatte es zusammen mit seinem Team geschafft, seitdem Hunderten Hunden eine zweite Chance zu geben.
Grayson holte tief Luft, während ihn die Erinnerungen überrollten. Nicht alle Fälle waren gut ausgegangen. Doch jeder Einzelne der Hunde, die er im Laufe der Zeit im Tierheim betreut, aufgepäppelt oder auch nur kurz bei sich gehabt hatte, bedeutete ihm etwas. Konnte er das wirklich aufgeben? Nur, weil die nötigen finanziellen Mittel ihm nicht zur Verfügung standen?
Erneut wurde sein Blick von Daisy angezogen. Von dem Hund, mit dem alles begonnen hatte. Sie tapste auf ihn zu und spitzte ihre Ohren. Als wüsste sie ganz genau, mit welcher wichtigen Entscheidung ihr Herrchen sich in diesem Moment befasste.
Da durchfuhr Grayson die Erkenntnis wie ein Blitz. Auch wenn er sein letztes Hemd opfern müsste: Er würde kämpfen, um das Animal Shelter zu retten. Sich an jeden Strohhalm klammern, der ihm begegnete. Für die Hunde.
Noch war nicht alles verloren. Er war noch nie der Typ gewesen, der sich unterkriegen ließ. Egal, welche Herausforderung ihm begegnete.
Zugegeben: Er hatte nicht mehr viel Zeit. Vielleicht zwei Monate, wenn es hochkam. Aber diese Wochen würde er nutzen. Jede Sekunde.
Bis zum bitteren Ende.
»Entschuldigen Sie bitte die Verspätung, Miss Cavendish.«
Olivia, die bis eben ihren Blick durch die bodentiefe Fensterfront auf die Skyline von New York City gerichtet hatte, wandte sich um. Christopher Dupree, einer der erfolgreichsten Scheidungsanwälte der Stadt und seit mittlerweile fünf Jahren Olivias Boss, hielt ihr seine Hand hin.
»Ich wurde in einem Termin mit einer neuen Mandantin aufgehalten. Sie mussten hoffentlich nicht allzu lange warten?«
Olivia ergriff seine Hand und schüttelte mit einem Lächeln den Kopf. »Nein, keineswegs. Ihre Assistentin hat mir wegen der Verzögerung Bescheid gegeben und mich erst vor wenigen Minuten in Ihr Büro geführt.«
»Wunderbar. Wollen wir uns setzen?«
Er deutete mit seiner Hand auf die cremefarbene Sitzgruppe, die die linke Ecke des Büros einnahm.
Olivia folgte seiner Einladung und ließ sich auf einem der Sessel nieder. Während sie die Beine übereinanderschlug und den schwarzen Bleistiftrock ihres Kostüms richtete, nahm ihr Boss ihr gegenüber Platz.
Sie betrachtete Mr. Dupree einen Moment. Der maßgeschneiderte silbergraue Anzug verlieh seinem Auftreten etwas Unkonventionelles, ohne ihm seine Professionalität und Kompetenz abzusprechen. Denn solch einen Farbton erwartete man eher auf einer Hochzeit als in einer renommierten Anwaltskanzlei. Doch er passte zu den sommerlichen Temperaturen, die den Big Apple seit Wochen im Griff hatten. Gemeinsam mit dem blütenweißen Hemd und der dunklen Krawatte strahlte ihr Boss etwas Erhabenes aus, gepaart mit einer gewissen Portion Arroganz. Aber gerade nur so viel, dass trotz allem noch sein Charme überwog. Es waren die Details, die aus Christopher Dupree das perfekte Abbild eines Anwalts schufen, für den die Upper Class ohne zu zögern horrende Summen auf den Tisch legte, um ihn mit ihren Scheidungsangelegenheiten zu betrauen.
Die Bügelfalten seiner Hose. Die blank polierten Schuhe. Das Hervorblitzen der Markenuhr, wenn er sein Handgelenk bewegte. Sein intelligenter, leicht funkelnder Blick, dem nichts verborgen blieb. Die Harvard-Urkunde, die in einem schlichten schwarzen Rahmen an der Wand angebracht war.
Olivia selbst hatte ihren Abschluss an der Columbia University gemacht und hart dafür gearbeitet, ihrem Platz an der Elite-Universität gerecht zu werden. Ohne diesen akademischen Hintergrund hätte sie niemals die Chance bekommen, bei einer renommierten Kanzlei wie Davis, Cavanaugh, Dupree, LLP Fuß zu fassen. Doch genau das war immer ihr Ziel gewesen. Sie hatte nicht umsonst ihr Leben in der Kleinstadt Blossomville in Vermont hinter sich gelassen und nie wieder zurückgeblickt.
»Möchten Sie vielleicht etwas trinken? Kaffee oder Tee?«, erkundigte sich Mr. Dupree.
Olivia schüttelte den Kopf.
Er drückte einen Knopf, der sich auf einem kleinen schwarzen Kasten auf dem Couchtisch vor ihm befand. »Lydia, bringen Sie mir bitte einen Espresso?«
»Kommt sofort, Mr. Dupree«, erklang die Stimme seiner Assistentin aus der Gegensprechanlage. Nur wenige Augenblicke später öffnete sich die Tür und eine junge Frau durchquerte den Raum, stellte eine Tasse vor ihren Chef und erkundigte sich, ob sie noch etwas tun konnte.
»Das wäre alles. Danke, Lydia.«
Olivia lächelte ihr zu, als sie genauso schnell wieder aus dem Raum verschwand, wie sie gekommen war. Sie mochte Lydia. Ein wenig erinnerte die Assistentin sie an sich selbst, als sie damals frisch nach New York gekommen war. Lydia hatte zwar schulterlange, dunkelblonde Haare und keine kastanienbraunen, die sich bis auf die Mitte ihres Rückens ergossen, wie es bei Olivia der Fall war. Doch das aufregte Leuchten auf ihren Wangen ähnelte sehr dem, das sie in ihrer Anfangszeit im Big Apple an den Tag gelegt hatte. War das wirklich schon zwölf Jahre her? Mit ihren neunundzwanzig Jahren betrachtete Olivia sich noch lange nicht als alt, aber in diesem Moment überkam sie Wehmut. So viel war seitdem passiert. Mit dem jungen Mädchen, das damals nach seinem Highschool-Abschluss für das Studium nach New York gekommen war, verband sie nicht mehr viel.
Mr. Dupree griff nach seiner Tasse und nippte daran. Stille breitete sich zwischen ihnen aus. Unterbrochen nur durch den leisen Verkehrslärm und die Sirenen, deren Dringlichkeit sich sogar bis in den zehnten Stock des Wolkenkratzers ihren Weg bahnten, in dem sich die Kanzlei befand.
Als ihr Boss seine Tasse wieder abstellte, ergriff Olivia das Wort.
»Sie wollten mich sprechen, Mr. Dupree?«
Vielleicht hätte es sie einschüchtern sollen, dass ihr Boss sie für ein Gespräch zu sich einbestellt hatte. Doch das Gegenteil war der Fall. Olivia wusste, dass sie einen fantastischen Job machte. Ihr ganzes Dasein war darauf ausgerichtet, ein Privatleben führte sie nicht mehr. Achtzig-Stunden-Wochen waren für sie keine Seltenheit. Ihr Appartement, das sich nur wenige Blocks entfernt befand, nutzte sie lediglich zum Duschen und Schlafen. Ansonsten verbrachte sie jede freie Minute in der Kanzlei.
Ein Lächeln huschte über das Gesicht ihres Chefs. »Sie kommen gleich zur Sache, Miss Cavendish. Das gefällt mir. Sie haben recht: Ich wollte Ihnen zu Ihrer Arbeit im Bloomington-Fall gratulieren.«
»Vielen Dank.«
Die Glückwünsche freuten Olivia. Den Fall hatte sie erst gestern nach monatelanger Arbeit abschließen können. Sie hatte es geschafft, deutlich mehr für ihre Mandantin herauszuholen, als diese sich erhofft hatte. Eine halbe Million Dollar sowie das Haus in den Hamptons. Der Ex-Ehemann war an die Decke gegangen, nachdem Olivia und ihr Team herausgefunden hatten, dass er ihre Mandantin mit dem Babysitter betrog. Er hatte sich viel Mühe gegeben, die Beweise dafür verschwinden zu lassen. Doch wenn Olivia sich einmal in etwas verbissen hatte, war sie wie ein Pitbull. Sie hatte jedes Detail ans Licht gezerrt und seine Affäre damit eindeutig bewiesen. Ihre Mandantin war aus allen Wolken gefallen – einem emotionalen Zusammenbruch inklusive. Es hatte Tage gebraucht, bis sie sich einigermaßen von den Enthüllungen erholt hatte. Doch letztendlich hatte Olivias Entdeckung dazu geführt, dass ihre Mandantin den Schock und das Ende ihrer Ehe ohne finanzielle Sorgen in den Hamptons verarbeiten konnte.
»Wie lange sind Sie jetzt bei uns, Miss Cavendish?«
Olivia straffte die Schultern. »Nächsten Monat sind es fünf Jahre, Sir.«
Er tippte sich mit seinem Zeigefinger gegen die Oberlippe.
»Sie haben direkt nach Ihrem Abschluss hier angefangen, richtig?«
»Ich habe bereits während meines Studiums ein Praktikum bei Ihnen absolviert. Sie hatten den Platz im Rahmen eines Wettbewerbs an der Columbia ausgeschrieben.«
Erkennen blitzte in seinen Augen auf. »Ich erinnere mich. Sie haben eine Abhandlung über einen unserer Fälle geschrieben. Wir waren von Ihrer Akribie und Ihrer Recherche beeindruckt.«
Mit Wir meinte ihr Boss sich und die anderen Senior Partner der Kanzlei, Mr. Davis und Mr. Cavanaugh.
Olivias Mundwinkel hoben sich zu einem Lächeln. »Danach habe ich meinen Abschluss an der Columbia Law School gemacht, das Bar Exam bestanden und somit meine Zulassung erhalten. Mr. Davis hat mich daraufhin als Associate eingestellt. Vor zwei Jahren kam dann die Beförderung zum Senior Associate.«
»Mmh.«
Er brummte, den Blick nachdenklich auf ihr Gesicht gerichtet. Eine Weile blieb es still. Olivia streckte den Rücken durch und hielt seiner Musterung stand. Ruhig und unerschütterlich zu wirken, unabhängig davon, wie es in ihrem Inneren aussah, hatte sie sich über die Jahre durch die vielen Gerichtsverhandlungen und Mediationsverfahren angeeignet. Diese Taktik hatte ihr schon das eine oder andere Mal gute Dienste erwiesen.
»Sie stammen aus Vermont, richtig?«
Olivia unterdrückte den Drang, die Stirn zu runzeln. Worauf wollte ihr Boss hinaus?
»Ja. Um genau zu sein aus Blossomville, einer kleinen Stadt mit etwa fünftausend Einwohnern.«
Mr. Dupree nickte langsam.
»Haben Sie dort Familie?«
Ihr Magen begann zu rumoren. Dieses Thema umschiffte sie normalerweise.
»Nein, nicht mehr. Meine Eltern kamen bei einem Autounfall ums Leben, als ich fünfzehn war. Danach hat sich meine Großtante um mich gekümmert, aber sie ist vor Kurzem ebenfalls gestorben.«
Ihre Kehle fühlte sich mit einem Mal eng an. Zeitgleich spürte sie ein verräterisches Brennen hinter den Lidern, doch sie schob es beiseite. Ihre Großtante Edda, die herzlichste Frau, die man sich vorstellen konnte, war vor knapp sechs Wochen abends zu Bett gegangen und am nächsten Morgen nicht mehr aufgewacht. Mitglieder ihres Buchzirkels, mit dem sie an dem Vormittag verabredet gewesen war, hatten sie gefunden. Olivia hatte durch eine schlichte Trauerkarte vom Tod ihrer Großtante erfahren. Früher waren sie ein Herz und eine Seele gewesen und sie würde Edda immer dankbar sein, dass sie nach dem Unfall ihrer Eltern alles stehen und liegen gelassen hatte, um zu ihr nach Blossomville zu ziehen. Doch als Olivia ihrer Heimatstadt den Rücken gekehrt hatte, war auch der Kontakt zu ihrer Tante eingeschlafen. Hier und da ein Telefonat zum Geburtstag und zu Weihnachten. Zu mehr war sie nach allem, was passiert war, nicht in der Lage gewesen.
Trotzdem nagte das schlechte Gewissen an Olivia – denn sie war nicht zur Beerdigung gegangen. Zu dem Zeitpunkt hatte sie noch mitten im Bloomington-Fall gesteckt und ihre Arbeit nur zu gern als Ausrede genutzt, um nicht zurück nach Vermont zu müssen. Als sie ihren Heimatort damals verlassen hatte, hatte sie sich geschworen, nie wieder zurückzukehren. Aus gutem Grund.
Sie räusperte sich und straffte die Schultern, ehe die Erinnerungen sie überrollen konnten.
»Entschuldigen Sie bitte, Mr. Dupree. Aber worum geht es hier?«
Er ließ sich einen Moment Zeit, ehe er antwortete. Olivia konnte förmlich sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Dann schien er einen Entschluss gefasst zu haben.
»Ich habe einen Fall für Sie. Die Mandantin, mit der ich eben einen Termin hatte, weswegen ich zu spät zu unserem Gespräch gekommen bin.«
Olivia nickte und bedeutete ihrem Boss fortzufahren. Ihre Neugier war geweckt.
»Mrs. Bethany Bronson und ihr Mann wollen sich scheiden lassen. Diese Entscheidung ist einvernehmlich, durch einen Ehevertag sind die meisten Punkte bereits geklärt.«
»Aber?«
Es gab immer ein Aber. Ansonsten würde man sich nicht an eine solch renommierte Kanzlei wie Davis, Cavanaugh, Dupree, LLP wenden. Das hatte Olivia über die Jahre gelernt.
»Die Aufteilung des Vermögens von dreißig Millionen Dollar stellt kein Problem dar. Aber ... während der gemeinsamen Ehejahre haben die Bronsons mehrere Immobilien erworben.«
Sie nickte. Immobilien waren ein häufiges Streitthema, wenn es um das Ende einer Ehe ging. »Ich verstehe. Um wie viele Immobilien handelt es sich?«
Mr. Dupree wog den Kopf hin und her. »Insgesamt sprechen wir von fünf Domizilen. Ein Haus in den Hamptons, eins in Florida, eine Villa an der Upper East Side und ein Penthouse an der Upper West Side. Bei diesen Immobilien konnten die Bronsons sich bereits einigen. Es geht bei ihrem Streit speziell um ein Wohnhaus.« Sein Blick ruhte auf ihr. »In Vermont.«
Unwillkürlich versteifte sie sich. Erneut rüttelten Bilder aus ihrer Vergangenheit an der massiven Holztür in ihrem Inneren, hinter der sie sie vor so vielen Jahren verbarrikadiert hatte.
»Und ...«, Olivia schluckte, »... was ist an der Immobilie so besonders, wenn ich fragen darf?«
Ihr Boss seufzte kaum hörbar, ehe er sich in seinem Sessel nach vorn lehnte.
»Ich vermute nostalgische Gründe. Mrs. Bronson und ihr Mann stammen beide ursprünglich aus Vermont, haben sich allerdings in New York kennengelernt. Das Haus selbst ist nicht besonders viel wert, wenn man die anderen Sachgüter betrachtet. Aber was es auch sein mag: Sowohl Mrs. als auch Mr. Bronson möchten diese Immobilie in ihrem Besitz behalten. Keiner von ihnen ist bisher bereit, von dieser Forderung abzuweichen.«
Olivia ließ ihren Blick aus dem Fenster schweifen, um diese Information zu verarbeiten. Ihr Herz klopfte unnatürlich schnell in ihrer Brust, außerdem hatte sich ein Eisklotz in ihrem Magen gebildet. Sie biss die Zähne zusammen und versuchte, diese Empfindungen wegzuschieben. So, wie sie es schon all die Jahre tat, seit sie in New York angekommen war.
Das hier war ein Fall wie jeder andere. Gut, zugegeben: Er hatte eine etwas andere Größenordnung als die Fälle, die sie normalerweise betreute. Aber das wertete sie als Vertrauensbeweis. Wenn ihr Boss glaubte, dass sie die Richtige für diese Aufgabe war, wollte sie ihn nicht enttäuschen.
»Miss Cavendish?«
Olivias Blick zuckte zurück zu ihrem Chef. Sie richtete sich auf. »Ja, Mr. Dupree?«
»Trauen Sie sich zu, diesen Fall zu übernehmen?«
Mit ihrer Antwort zögerte sie keine Sekunde. »Selbstverständlich, Sir. Ich danke Ihnen für diese Möglichkeit.«
»Das freut mich zu hören. Ich hoffe, Sie werden meinem Vertrauensvorschuss gerecht.«
Er lächelte zwar, dennoch entging Olivia die Warnung in seinen Worten nicht. Aber sie war noch nie jemand gewesen, der vor einer Herausforderung zurückschreckte. Stattdessen spornte der Unterton in seiner Stimme sie zusätzlich an, es ihrem Boss zu beweisen.
»Das werde ich, Mr. Dupree.«
Er legte seine Fingerspitzen aneinander und schwieg, während er sie erneut musterte. Dann vernahm sie ein kaum merkliches Nicken, als hätte er eine Entscheidung gefällt.
»Gut, Miss Cavendish. Ich nehme Sie beim Wort. Lydia wird Ihnen alle Unterlagen zukommen lassen. Doch ... da wäre noch etwas.«
Unwillkürlich drückte sie ihren Rücken durch und setzte sich aufrechter hin.
»Sie wissen, dass wir einen Fall einer solchen Größenordnung normalerweise nicht von Senior Associates betreuen lassen.«
Ein Kribbeln nahm von ihren Fingern Besitz. Sie verschränkte sie miteinander und legte sie in ihren Schoß, den Blick unverwandt auf Mr. Dupree gerichtet.
»Dieser Fall soll Ihre Bewährungsprobe werden. Liefern Sie uns das gewünschte Ergebnis und wir sprechen darüber, Sie zur Partnerin zu machen.«
In Olivias Kopf erklang ein himmlisches Halleluja. Sie fühlte sich mit einem Mal leicht wie eine Feder. Ihr Herz begann zu klopfen, dieses Mal jedoch auf eine höchst angenehme Art. Sie spürte, wie ihre Mundwinkel sich verselbstständigten und sich zu dem breitesten Lächeln erhoben, das sie seit einer Ewigkeit zustande gebracht hatte.
Dieses Angebot bedeutete, dass ihr Traum zum Greifen nah war. Endlich! Der letzte offene Punkt auf ihrem Zehn-Jahres-Plan. Sie hatte akribisch die einzelnen Ziele festgehalten, die sie bis zu ihrem dreißigsten Lebensjahr erreichen wollte. Hinter so gut wie alle hatte sie schon einen Haken setzen können. Einen erfolgreichen Abschluss in der Tasche haben, eine Wohnung in Manhattan beziehen, für eine angesehene Kanzlei tätig sein, ein sechsstelliges Jahresgehalt bekommen. Dem Erfüllen ihres Traums stand nur noch ein leeres Kästchen entgegen, das sehnsüchtig darauf wartete, abgehakt zu werden: Partnerin bei einer der erfolgreichsten Kanzleien in New York City werden.
Ihr Herz feuerte eine Konfettikanone nach der nächsten ab, sodass sie beinahe die folgenden Worte ihres Bosses verpasste.
»Ich erwarte Ihre volle Konzentration. Keine Ablenkungen. Wenn Sie eine Chance auf diese Beförderung haben möchten, muss der Fall Ihr Lebensinhalt werden. Verstehen wir uns?«
Seit Ewigkeiten hatte sie nicht mehr solch ein Hochgefühl empfunden wie in diesem Moment. Es hatte immer wieder Steine auf ihrem Weg gegeben. Es hatte sie enorme Überwindung gekostet, die Zelte in ihrer Heimat abzubrechen. Es hatte sie beinahe zerbrochen, als sie sich gegen die Liebe und für die Karriere entschieden hatte. Doch so schmerzhaft es gewesen sein mochte: In diesem Augenblick wusste sie, dass es richtig gewesen war. Denn für die Liebe gab es keine Garantie – aber harte Arbeit zahlte sich am Ende immer aus. Davon war Olivia überzeugt.
»Natürlich, Mr. Dupree. Sie können sich auf mich verlassen.«
Er erhob sich und sie tat es ihm gleich. Durch ihre Zehn-Zentimeter-Absätze war sie beinahe auf Augenhöhe mit ihm. Ein letztes Händeschütteln, ein Besiegeln ihrer Zukunft. Dann geleitete ihr Boss sie zur Tür.
»Danke für Ihre Zeit, Miss Cavendish.«
Im Vorzimmer drückte seine Assistentin Lydia ihr bereits die Akte mit allen Informationen zum Bronson-Fall in die Hand. Olivia bedankte sich und war wenig später auf dem Weg in ihr Büro. Kaum stand sie auf dem Flur, außer Sichtweite ihres Bosses und mit dem schweren Teppich unter ihren Sohlen, der jedes noch so leise Geräusch verschluckte, holte sie tief Luft. Am liebsten hätte sie einen Freudenschrei losgelassen, doch das musste warten. Es galt, keine Zeit zu verlieren. Sie wollte sich so schnell wie möglich in die Akte einarbeiten.
»Miss Cavendish?«
Olivia hielt im Gehen inne und drehte sich um. Eine junge Frau mit hellblondem Bob, die am Empfang der Kanzlei arbeitete, trat zu ihr. Ihr Name war Tessa, wenn sie sich richtig erinnerte. Sie hatte erst vor wenigen Wochen ihre Anstellung begonnen.
»Ja?«
»Dieser Brief ist gerade per Einschreiben für Sie gekommen.«
Die Empfangsmitarbeiterin hielt ihr einen sandfarbenen Umschlag entgegen. Olivia erkannte die Adresse darauf sofort. Nein, nein, nein. Nicht jetzt.
Sie zwang sich zu einem Lächeln, als sie Tessa das Kuvert abnahm. »Ich danke Ihnen.«
Mit dem Brief in der Hand eilte sie in ihr Büro, schloss die Tür hinter sich und legte die Akte zum Bronson-Fall auf ihren Schreibtisch. Im Anschluss schnappte sie sich einen Brieföffner, fuhr damit unter die Lasche des Umschlags und holte ein einseitiges Dokument hervor.
Ihre Augen flogen über das Papier. In ihrem Magen bildete sich ein Klumpen, während zeitgleich ein saurer Geschmack ihre Zunge benetzte.
Wie in Zeitlupe ließ sie das Blatt sinken. Ein irrwitziges Lachen kitzelte sie in der Kehle.
Das konnte doch nicht wahr sein. Ausgerechnet jetzt.
»Es tut mir wirklich leid, Mr. Dupree.«
Olivia sah über ihre Schulter, ehe sie sich in den dichten Verkehr des Big Apple einfädelte. Ein Hupen von der anderen Straßenseite ließ sie vor Schreck zusammenzucken.
Sie hasste es, im Auto unterwegs zu sein. Schon immer. Doch ihre Abneigung war nach dem Unfalltod ihrer Eltern ins Unermessliche gestiegen. Trotzdem biss sie die Zähne zusammen, während sie mit dem Mietwagen auf eine Kreuzung zusteuerte, und konzentrierte sich auf die Stimme ihres Chefs, die aus der Freisprechanlage erklang.
»Miss Cavendish, Sie haben mir versichert, sich ganz auf den Fall zu konzentrieren. Keine vierundzwanzig Stunden später verlassen Sie die Stadt, weil Sie eine private Angelegenheit in ihrer Heimat klären müssen. Was möchten Sie von mir hören?«
Ihr Nacken begann unangenehm zu prickeln. Die Enttäuschung – und auch eine gewisse Schärfe – waren deutlich aus seinen Worten herauszuhören.
»Mr. Dupree, ich habe Ihnen mein Wort gegeben und Sie können sich auf mich verlassen. Selbstverständlich bearbeite ich den Fall weiterhin mit höchster Priorität und bin jederzeit erreichbar. Die Akte habe ich mir gestern schon angesehen und mit dem Durcharbeiten des Ehevertrags bin ich spätestens morgen Abend fertig. Außerdem«, sie trat mit voller Wucht auf die Bremse, als ein dunkler SUV vor ihr einscherte, »habe ich erfahren, dass Mrs. Bronson in den kommenden Tagen ebenfalls nach Vermont kommen wird. Ich werde mich also mit ihr vor Ort an dem Haus treffen, um das sie sich mit ihrem zukünftigen Ex-Mann streitet. Um zu verstehen, wieso diese Immobilie ein Dealbreaker für sie ist. Die persönliche Nähe hilft uns für den Fall mit Sicherheit.«
Ein nachdenkliches Brummen kam aus der Freisprechanlage. Olivia hielt den Atem an, während sie das Lenkrad umklammerte. Ein Ferrari fuhr mit quietschenden Reifen neben ihr an. Gott, wie sie diesen Verkehr in Manhattan hasste.
»Also gut.«
Erleichtert ließ sie Sauerstoff in ihre Lunge strömen, nur, um im nächsten Moment einen Fluch zu unterdrücken. Ein Motorrad war aus einer Parklücke ausgeschert und hätte bei der Aktion beinahe ihren Seitenspiegel mitgenommen.
»Ich erwarte, dass Sie mir jeden Tag Bericht erstatten«, fuhr ihr Boss fort. Seine Stimme duldete keinen Widerspruch.
Sie seufzte leise. Dass er es für notwendig erachtete, ihre Arbeit zu kontrollieren, hatte sie sich durch ihr Verhalten selbst zuzuschreiben. Dabei war sie normalerweise die Zuverlässigkeit in Person. Dass ihre Anwesenheit ausgerechnet jetzt in ihrer Heimat erforderlich war ... Einen unpassenderen Zeitpunkt hätte es dafür kaum geben können.
»Das werde ich, Mr. Dupree.«
»Ach, und Miss Cavendish?«
Olivia überquerte eine Ampel, den Blick unverwandt aus der Windschutzscheibe gerichtet. »Ja?«
»Mein Beileid wegen Ihrer Großtante. Ich hoffe, Sie können die Angelegenheit schnell klären.«
Damit legte er auf. Und Olivia ließ ihren Kopf einen Moment gegen die Kopfstütze sinken, als sie mit dem Wagen wieder zum Stehen kam. Ja, das hoffte sie auch. Ihr Blick wanderte zu dem Briefumschlag, den sie auf den Beifahrersitz gelegt hatte und dessen Inhalt sie seit gestern Nachmittag in Atem hielt.
Mit einem schnellen Blick vergewisserte sie sich, dass der Verkehr vor ihr noch immer stockte. Dann griff sie nach dem Kuvert und zog das Blatt Papier heraus, das ihren gesamten Zeitplan aus der Bahn geworfen hatte.
Sehr geehrte Miss Cavendish,
Ihre Großtante Edda Claire Cavendish hat mich mit der Verwaltung ihres Nachlasses beauftragt. Erlauben Sie mir an dieser Stelle, Ihnen mein Beileid zum Tod Ihrer Verwandten auszusprechen.
Mrs. Cavendish hat zu Lebzeiten einen letzten Willen verfasst, der sich in meiner Obhut befindet. Durch Ihren Verwandtheitsgrad gelten Sie als potenzielle Erbin. Daher lade ich Sie hiermit zur Testamentseröffnung ein.
Die Verlesung des Testaments von Edda Claire Cavendish findet am Freitag, den 24.06. um 15 Uhr in meiner Kanzlei statt. Die Adresse lautet Pansy Street 35, Blossomville, Vermont.
Ihre persönliche Anwesenheit ist zwingend erforderlich.
Sollten Sie vorab noch Fragen haben, zögern Sie nicht, mich zu kontaktieren.
Bis dahin verbleibe ich mit freundlichen Grüßen
Edmund Greenfield
Notar, Nachlassverwalter und Rechtsanwalt
Blossomville Law Office
Ein Hupen riss Olivia zurück ins Hier und Jetzt. Sofort ließ sie das Schreiben fallen, tippte das Gaspedal an und fädelte sich weiter durch den dichten Mittagsverkehr des Big Apple.
Sie hatte es beinahe vergessen. Beim Anblick der Adresse, in der sich die Kanzlei befand, hatte die Erinnerung sie völlig überrollt. Blossomville war dafür bekannt, seine Straßen auf die Namen von Blumen- und Pflanzensorten zu taufen.
Die Pansy Street, mit der das Stiefmütterchen geehrt wurde und in der die Kanzlei lag, ging in die Waterlily Road über, die nach der weißen Seerose benannt war. Das Haus, in dem sie aufgewachsen war, befand sich im Buttercup Way. Zum Glück sah man in New York nicht oft Butterblumen, deren bloße Erwähnung Olivia sofort in ihre Kindheit zurückwarf. In eine Zeit, in der alles sorglos gewesen war. Bis sich in ihren Teenagerjahren alles verändert hatte.
Nein, schalt sie sich selbst und setzte den Blinker, um die Spur zu wechseln. Ihr Leben jetzt mochte anders aussehen als damals. Doch sie war glücklich. Sie hatte einen Job, der sie jeden Tag forderte. Eine Wohnung, von der aus sie einen fantastischen Blick auf den Hudson River hatte – auch wenn sie viel zu selten da war, um ihn wirklich genießen zu können. Sie lebte gesund, ging ins Fitnessstudio, wann immer ihr Terminplan dies zuließ, und wurde in ihrem Stammlokal, in dem sie mindestens drei Mal die Woche aß, mit der Frage »Wie immer?« begrüßt und bei der Tischauswahl bevorzugt behandelt. Sie hatte sich eine gewisse Kontinuität aufgebaut. Genau das, was sie immer gewollt hatte.
Sie war ein anderer Mensch als damals. Sie hatte sich ihren Erfolg hart erarbeitet. Und dass sie mit diesem Lebensentwurf zufrieden war, musste niemand anderes verstehen als sie selbst.
Etwas schnürte ihr die Kehle zu und sie zwang sich, ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Straße zu lenken. Links und rechts von ihr erhoben sich die mächtigen Wolkenkratzer, die so typisch für Manhattan waren. Beton und Glas, wohin das Auge reichte. Die Klimaanlage des Autos brummte, und der Geruch von Leder hüllte sie im Wageninneren ein.
Sie atmete tief durch. Viereinhalb Stunden Fahrt lagen vor ihr. Viereinhalb Stunden, in denen sie sich mit jeder Meile ihrer Heimatstadt nähern würde. Der Stadt, die sie nie wieder hatte betreten wollen.
Olivia schüttelte den Kopf, während sie in die nächste Straße abbog. Irgendetwas musste sich gegen sie verschworen haben. Warum sonst sollte sie ausgerechnet dann mit ihrer Vergangenheit konfrontiert werden, wenn sie gerade die Chance ihres Lebens bekam? Sie ließ ihren Blick über die ellenlange Schlange an Autos schweifen, die sich gemeinsam mit ihr einen Weg aus der Stadt heraus bahnten.
Oder war das vielleicht ein Test? Wollte irgendeine höhere Macht prüfen, ob sie diese Beförderung wirklich verdiente? Ob sie bereit war, alles für diesen Job zu geben, egal, welche Umstände ihr auf dem Weg an die Spitze begegneten?
Ein gewieftes Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Plötzlich kribbelte ihr gesamtes Inneres. Wenn das so war ... dann würde sie es dem Universum schon zeigen.
Kurz entschlossen tippte sie ein paar Tasten auf dem Bedienfeld am Lenkrad und wartete, bis ein Tuten den Innenraum des Autos erfüllte. Wenig später meldete sich eine weibliche Stimme am anderen Ende der Leitung.
»Lydia? Hätten Sie einen Moment Zeit? Ich würde mit Ihnen telefonisch gern noch mal die Akte des Bronson-Falls durchgehen ...«
Grayson schloss die Tür des Maple Room, in dem er gerade nach seinem neuesten Sorgenkind Ruth gesehen hatte. Die braune Mischlingshündin, die Touristen vor drei Wochen streunend auf einer Straße gefunden hatten, hatte sich eigentlich gut im Animal Shelter eingewöhnt. Doch seit Kurzem weigerte sie sich zu fressen. Das ging einigen Tieren so, vor allem denjenigen, die früher einen Besitzer gehabt hatten. Auch Hunde konnten trauern und die Menschen vermissen, bei denen sie vorher gelebt hatten. Sollte er je Zweifel an der reichen Gefühlswelt der Vierbeiner gehabt haben, hatte die Arbeit im Tierheim ihn eines Besseren belehrt.
Noch war Ruths Verhalten nicht gesundheitsbedrohlich. Aber er würde sie im Auge behalten müssen.
Graysons Blick fiel auf die Tür zum angrenzenden Zimmer, auf der die Worte Willow Room prangten. In Anlehnung an die Straßennamen, die mit ihrem Blumenbezug so typisch für Blossomville waren, hatten sie die einzelnen Räume im Animal Shelter nach Bäumen benannt. Neben dem Ahorn und der Weide ehrten sie mit dem Lime Room die Linde, mit dem Oak Room die Eiche und mit dem Alder Room die Erle. Sein persönlicher Favorit war jedoch der Plum Tree Room. Bei dem Namen musste er sofort an Sommertage im heimischen Garten seiner Eltern denken. Mit dem Summen der Bienen im Ohr, dem köstlichen Duft von frisch gebackenem Pflaumenkuchen in der Nase und dem Gefühl der kitzelnden Grashalme unter seinen Füßen. Ein Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln. Der Sommer war schon immer seine Lieblingsjahreszeit gewesen.
In den sechs Räumen, die das Animal Shelter beherbergte, konnten jeweils bis zu sechs Hunde untergebracht werden. Jedes Zimmer war mit Decken, Kissen, Sofas und Matratzen unterschiedlicher Größe ausgestattet. So hatte jedes Tier die Möglichkeit, sich seinen Lieblingsliegeplatz auszusuchen. Von den Räumen führten Glastüren und Katzenklappen in den großen Außenbereich, auf den Grayson besonders stolz war. Nachts wurden die Zugänge geschlossen, aber tagsüber konnten die Hunde zwischen den Räumlichkeiten drinnen und dem Areal draußen wechseln, wann immer ihnen danach war. Dabei entschieden die meisten Vierbeiner sich für den eingezäunten Außenbereich mit seiner saftig grünen Wiese, den selbst gezimmerten Hundehütten aus Holz, den großen Gummireifen, die als Pool dienten, den Sonnenliegen und den Sandkästen, die in zwei Ecken aufgestellt waren.
»Hey, Chef!«
Grayson wandte sich um und lächelte, als eine etwas rundliche Frau mit hellroten Locken auf ihn zulief.
»Margaret, wie schön, dich zu sehen! Hast du heute die Spätschicht?«
Seine Praxismanagerin, die etwa Mitte fünfzig war und Grayson jedes nur erdenkliche Chaos vom Leib hielt, nickte. »Ich habe gerade mit der Arbeit begonnen. Wie ich dich kenne, bist du wieder seit heute früh im Einsatz?«
Ihr Tonfall war neckend, aber es klang auch eine Spur Tadel mit. Grayson grinste. So liefen ihre Gespräche immer. Margaret kannte ihn schon, seit er mit dem Tiermedizinstudium angefangen hatte. In den Jahren war sie so etwas wie seine Lieblingstante geworden, auch wenn sie nicht wirklich miteinander verwandt waren.
»Touché, Mrs. Fletcher. Aber ich werde brav sein und gleich eine Pause machen. Daisy freut sich auf ihren Nachmittagsspaziergang.«
Seine Praxismanagerin stemmte die Hände in die Hüften und funkelte ihn an. »Das Mrs. Fletcher lassen wir ganz schnell wieder sein, junger Mann. Du versuchst nur abzulenken. Wenn du seit heute Morgen im Dienst bist, ist es schon längst Zeit für eine Pause. Gegessen hast du heute wahrscheinlich auch noch nichts, richtig?«
Tatsächlich musste Grayson einen Moment überlegen, doch sein Magen nahm ihm die Antwort ab. Bei der Erwähnung von Essen knurrte er in einer Lautstärke, die weder ihm noch seiner Angestellten verborgen blieb.
»Aha. Dachte ich es mir doch.«
Margaret holte einen Beutel hervor, den er bisher noch gar nicht bemerkt hatte, und angelte eine Frischhaltedose daraus. Mit einem Blick, der eindeutig Widerspruch-ist-zwecklos sagte, drückte sie ihm diese in die Hand.
»Ich habe gestern für meinen Mann und mich Gemüseeintopf gemacht. Eine Portion ist übrig geblieben – und ich habe sie in weiser Voraussicht für dich abgefüllt. Also: Iss.«
Auch das war typisch für seine Praxismanagerin. Sie kochte für ihr Leben gern – und Grayson, der tatsächlich im Klinikalltag oft vergaß, etwas zu sich zu nehmen, schlemmte ihre Kreationen für sein Leben gern.
Mit dem Essen in der Hand beugte er sich nach vorn und drückte seiner Angestellten einen dicken Schmatzer auf die Wange. Von außen betrachtet mochte diese Geste vielleicht zu vertraut und unangemessen für ein Chef-Untergebenen-Verhältnis wirken. Doch seit er denken konnte, bemutterte Margaret ihn und würde niemals falsche Schlüsse ziehen. Ebenso wenig wie seine weiteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.
»Du bist und bleibst ein Schatz. Was würde ich nur ohne dich tun?«
Margaret winkte ab, doch an ihren zuckenden Mundwinkeln erkannte er, dass sein Dank sie freute.
»Ach, was. Wenn es mich nicht gäbe, hättest du eine andere Praxismanagerin.«
Entrüstet hob er einen Zeigefinger. »Na, Margaret, so etwas möchte ich mir gar nicht erst vorstellen.« Mit einem Zwinkern beugte er sich erneut zu ihr hinunter – sie war beinahe zwei Köpfe kleiner als er – und flüsterte ihr verschwörerisch ins Ohr: »Wir wissen doch beide, wer die Tierklinik und das Animal Shelter wirklich am Laufen hält.«
Ihre Wangen verfärbten sich eine Nuance dunkler. »Du kleiner Charmeur.«
»Was soll ich sagen: Ich habe vom Besten gelernt.«
Mit der Bemerkung spielte er auf seinen Vater an, der zuvor Margarets Chef gewesen war. Nachdem er gemeinsam mit seiner Frau, Graysons Mutter, auf Weltreise gegangen war, hatte Grayson nicht nur die Tierklinik, sondern auch das gesamte Personal übernommen.
Margaret schmunzelte. »Da hast du recht. Und jetzt iss.«
Ein Lachen befreite sich aus seiner Kehle. In Hartnäckigkeit stand seine Angestellte ihm in nichts nach.
»Zu Befehl, Ma'am.« Grayson salutierte, was zu einem amüsierten Kopfschütteln bei seinem Gegenüber führte. Sie wandte sich zum Gehen.
Ein Bellen aus dem Maple Room zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Das klang ganz nach Ruth. Ob er doch noch mal nach ihr schauen sollte, bevor er das Essen für sich selbst aufwärmte? In dem Moment fiel ihm etwas ein, das ihn die vergangene Nacht über beschäftigt hatte.
»Ach, Margaret?«
Die Klinke der Verbindungstür zum Eingangsbereich des Animal Shelter in der Hand, sah sie über ihre Schulter zu ihm zurück. »Ja?«
»Wenn du nachher Zeit hast, könntest du einen Moment in mein Büro kommen? Ich würde gern einige Ideen mit dir besprechen.«
Sie runzelte die Stirn. »Ideen?«
Er nickte. »Es geht um eine Verlängerung der Öffnungszeiten unserer Klinik. Und ich überlege, die OP-Kapazitäten weiter zu erhöhen.«
Diese Möglichkeiten waren ihm eingefallen, als er heute Nacht mal wieder wachgelegen hatte. Tagelang war ihm immer wieder die Frage im Kopf herumgespukt, wie er Geld für das Animal Shelter zusammenbekommen könnte. Mit etwas Glück schafften sie es mit mehr OPs, weitere Einnahmen zu generieren, die er direkt in das Tierheim stecken konnte.
Margaret hob die Brauen und drehte sich ganz zu ihm um.
»Ich komme gern nachher zu dir. Aber gibt es einen besonderen Grund für diese Überlegungen? Ich hatte den Eindruck, die Klinik läuft sehr gut?«
Grayson starrte auf die Frischhaltedose, die er in seinen Fingern hielt. Er hatte seine Angestellte noch nie belogen, aber es laut auszusprechen, würde dieses Problem ... realer machen. Er wusste nicht, ob er dazu schon bereit war.
Da legte sich eine Hand auf seinen Unterarm. »Grayson, du musst es mir nicht sagen. Ich möchte nur wissen, ob ich mir Sorgen machen muss.«
Die Wärme, die sich auf seiner Haut ausbreitete, sorgte dafür, dass er sich entspannte. Auch der verständnisvolle Tonfall seiner Praxismanagerin hatte eine beruhigende Wirkung auf ihn. Er räusperte sich.
»Nein«, erklärte er mit fester Stimme. »Du musst dir weder um deinen Job noch um die Klinik Sorgen machen.«
Er sah auf und blickte ihr geradewegs in die Augen, damit sie erkannte, wie ernst er seine Worte meinte.
»Und um dich?«
Am liebsten hätte er aufgelacht, doch er konnte diesen Impuls gerade rechtzeitig unterdrücken. Das hatte ihn schon lange niemand mehr so direkt gefragt.
»Um mich auch nicht. Das verspreche ich dir. Ich versuche nur, den Hunden hier zu helfen.«
»Hm.«
Margaret zog die Brauen zusammen und ließ ihren Blick prüfend über sein Gesicht wandern. Sie öffnete den Mund und er duckte sich innerlich bereits vor der Moralpredigt, die ihn mit Sicherheit erwarten würde. Doch dann schien sie es sich anders zu überlegen, denn sie schüttelte kaum merklich den Kopf und nahm ihre Hand von seinem Arm.
»In etwa einer Stunde schaue ich in deinem Büro vorbei. Und wenn du bis dahin nichts gegessen hast, mache ich dir die Hölle heiß. Das kannst du mir glauben.«
Während seine Praxismanagerin erneut ihren Weg in Richtung Tierklinik einschlug, bemühte Grayson sich mit aller Kraft, seine zuckenden Mundwinkel wieder einigermaßen unter Kontrolle zu bekommen.
Olivia standen wortwörtlich die Haare zu Berge. Mittlerweile war sie seit fünfeinhalb Stunden unterwegs. Durch einen Unfall gleich hinter der Stadtgrenze von New York war sie ganze sechzig Minuten lang nicht einen Millimeter vom Fleck gekommen. Als sie die Unfallstelle irgendwann passieren konnte, hatte sie mit solcher Kraft ihre Zähne zusammengebissen und stur geradeaus geblickt, dass sie sich den Nacken gezerrt hatte. Schlimm genug, dass sie durch die Verzögerung noch länger in diesem Auto eingepfercht war als ohnehin schon. Da wollte sie beim Anblick eines Fahrzeugwracks nicht auch noch durch Flashbacks zu dem Tag zurückgeworfen werden, an dem ihre Eltern in einer ähnlichen Situation ums Leben gekommen waren.
Ihre Kehle fühlte sich wie ausgedörrt an und auch ihr Magen hatte schon mehr als einmal Protestlaute von sich gegeben. Sobald sie in Blossomville ankam, würde sie sich als erste Amtshandlung etwas zu essen besorgen. Vorzugsweise einen saftigen Burger, der nur so vor Fett triefte. Normalerweise achtete sie streng auf ihre Ernährung – sie aß nur Salate sowie gedünstetes Gemüse, trank Smoothies und löffelte Fruchtbowls und Joghurt –, aber heute hatte sie sich etwas Sündhaftes verdient. Bei den Kalorien, die sie bei ihrer Anreise vor Daueranspannung verbrannt hatte, durfte sie ihren Gelüsten auch mal nachgeben. Außerdem hatte sie noch einen Berg Arbeit vor sich, wenn sie die durch die Fahrt verlorenen Stunden wieder aufholen wollte.
Ihr Herz machte einen Hüpfer, als sie auf die Landstraße bog, die geradewegs nach Blossomville und zu der Pension führte, in der sie unterkommen würde. Ihr Ziel war keine zehn Minuten mehr entfernt. Zum ersten Mal, seit sie sich in den Wagen gesetzt hatte, konnte sie leichter atmen. Sie vergaß sogar, Panik davor zu haben, wie es sich anfühlen würde, nach zwölf Jahren wieder einen Fuß in ihre Heimatstadt zu setzen. Dafür war sie zum einen viel zu erschöpft, denn sie schaffte es so schon kaum, die Augen offen zu halten. Zum anderen trug eine Welle der Erleichterung, die Fahrt unbeschadet überstanden zu haben, sie die letzten Meilen vor sich her.
Olivia ließ die Scheibe des Seitenfensters nach unten fahren und atmete tief die würzige Luft ein, die sofort ins Wageninnere strömte. Es roch nach frisch gemähtem Gras, dem unverwechselbaren Duft, den es nur in der Nähe von Bergen gab und nach Blumen. Blossomville war bekannt für die vielen Wildblumenfelder, die sich um die Stadt herum erstreckten.
Als sie die Ohren spitzte, meinte sie sogar, entfernt das Plätschern des Otter Creek zu hören. Früher war sie gern mit ihren Freunden zum Fluss gefahren. Ganze Nächte hatten sie dort im Sommer verbracht, Lagerfeuer entzündet, Marshmallows geröstet und dabei zugesehen, wie die Sonne unterging. Eines besonders lauen Sommerabends hatte sie am Flussufer sogar ihre Unschuld verloren.
Olivia seufzte leise und lenkte ihre Gedanken sofort in eine andere Richtung. Es brachte nichts, sich in Erinnerungen zu verlieren. Das hier war kein nostalgischer Ich-schaue-mal-wieder-in-meiner-Heimatstadt-vorbei-Trip. Sie hatte ein Ziel: Übermorgen würde sie zu der Testamentseröffnung gehen, alle Angelegenheiten klären und spätestens am Samstag wieder zurück nach New York fahren. Danach würde sie nichts mehr mit ihrer Heimatstadt verbinden – und sie wäre endgültig frei.
Entschlossen ließ sie die Fensterscheibe wieder nach oben fahren und stellte das Radio an, um jegliches Flussgeplätscher auszublenden. Dabei warf sie einen Blick in ihren Rückspiegel – und erkannte ein Cabriolet in einem scheußlichen Orangeton, das sich ihr in einem Höllentempo näherte. Ihre Gliedmaßen versteiften sich. Bitte, bitte, flehte sie in Gedanken. Lass das Auto nicht in mich hineinkrachen.
Dann schalt sie sich selbst für diese Schwarzmalerei. Nur, weil jemand es mit der Geschwindigkeitsbegrenzung nicht so genau nahm, musste das nicht automatisch bedeuten, dass sie in einen Unfall verwickelt wurde. Sie schüttelte den Kopf. Das andere Auto würde sie überholen, und damit war die Sache gegessen.
Doch ein erneuter Blick in den Rückspiegel zeigte: Der Wagen raste immer noch. Wenn er in dem Tempo weiterfuhr, würde er nicht mehr rechtzeitig zum Überholen ausscheren können und dann – Olivia keuchte auf und riss das Lenkrad nach rechts. Gleichzeitig trat sie mit solcher Wucht auf die Bremse, dass ihr Auto gefährlich über den Seitenstreifen schlitterte. Mit einem letzten Schlingern kam es zum Stehen. Keine Sekunde zu spät. Denn genau in dem Moment preschte das Cabrio an ihr vorbei und verfehlte sie nur um Haaresbreite.
Ihr Puls dröhnte ihr in den Ohren. Adrenalin schoss durch ihre Adern. Verflogen war die Müdigkeit, die sie bis eben noch fest im Griff gehabt hatte. Ihr Atem ging schnell.
»Arschloch!«, brüllte sie mit einer solchen Lautstärke, dass ihr Fluch im Wageninneren widerhallte. Ihre Finger umklammerten noch immer das Lenkrad. So fest, dass sie einen Krampf bekam. Ihr entfuhr ein Schrei – halb vor Schmerz, halb vor Zorn –, während heiße Tränen ihre Wangen hinabrannen.
Es ist nichts passiert, versuchte sie, sich zu beruhigen. Ich bin nicht verletzt. Ich konnte rechtzeitig ausweichen. Es ist nichts pas–
Ein ohrenbetäubendes Kreischen riss sie aus ihrem inneren Mantra. Ihr Kopf schoss hoch.
Das Cabrio stand quer auf der Straße. Reifenspuren zeugten von seinem Bremsmanöver, das für das Kreischen verantwortlich gewesen sein musste. Für einen Moment stockte Olivia der Atem. Hatte der Fahrer die Kontrolle über den Wagen verloren? Die Fahrbahn war frei, sie konnte nicht erkennen, warum er so plötzlich in die Eisen gegangen war.
Einen Moment war es völlig still. Dann heulte der Motor auf, das Auto setzte rückwärts und eilte mit quietschenden Reifen davon.
In dem Augenblick begriff Olivia, was geschehen war. Der Raser hatte jemanden erwischt.
Mit einem Schlag entwich ihr jegliche Luft aus der Lunge. Ohne jeden Zweifel lag da etwas – oder jemand – auf der Fahrbahn. Doch sie war zu weit entfernt, um Genaueres zu erkennen.
Ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, legte Olivia den Gang ein und trat das Gaspedal durch. Sie erreichte die Stelle nach nur wenigen Sekunden, sprang aus dem Wagen und lief auf das zusammengesackte Etwas zu. Sofort hockte sie sich zu ihm hin.
Es handelte sich um ein Tier. Ein Hund mit braunem, strubbeligem Fell. Zumindest vermutete sie, dass es eigentlich braun war. Im Moment klebten seine Borsten vor Straßendreck und – Olivia erschrak – vor Blut. Ein Bein stand in einem seltsamen Winkel von seinem Körper ab und er winselte. Aber seine Brust hob und senkte sich. Er war am Leben.
Erneut traten ihr Tränen in die Augen.
»Hey, Kleiner. Alles ist gut. Du musst keine Angst haben.«
Obwohl ihr nach Schreien zumute war und noch immer Adrenalin durch ihre Adern pumpte, zwang sie sich, in einem sanften Singsang zu sprechen. Sie wollte das verletzte Tier nicht noch weiter aufregen.
»Ich werde dir helfen, ja? Aber dafür muss ich einmal schauen, wo er dich erwischt hat. Okay?«
Sie wusste nicht, was sie hier tat. Doch in Filmen und Serien untersuchte man Unfallopfer immer erst mal, oder? Vorsichtig hob sie eine Hand. Der Hund jaulte leise, machte aber keine Anstalten, nach ihr zu schnappen.
»Gut machst du das. Braver Hund.«
Sie fuhr mit ihren Fingern über den Kopf des Tieres, von da über die Wirbelsäule und zu den Hinterläufen. Der Hund ließ alles über sich ergehen, hechelte jedoch immer schneller.
»Gleich geschafft, kleiner Mann. Alles wird gut.«
Sie ließ ihre Hand weiter sanft über den Körper des Tieres fahren. An seinem Rippenbogen angekommen, zuckte es zusammen.
»Shh, keine Panik.«
Olivia war sich nicht sicher, ob sie damit nur den Hund oder auch sich selbst beruhigen wollte. Sie vermutete, dass die Rippen nicht gebrochen waren. Aber hier war das Fell am stärksten mit Blut verklebt. Sie konnte nur hoffen, dass es sich lediglich um eine Schürfwunde handelte. Doch sein linkes Vorderbein hatte definitiv etwas abbekommen.
Während sie weiter tröstende Worte murmelte, rasten ihre Gedanken. Was sollte sie jetzt tun? Einen Notarzt rufen? Gab es so etwas überhaupt für Tiere?
Da fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Nicht weit von hier gab es eine Tierklinik. Na ja, zumindest hatte es sie vor zwölf Jahren gegeben, als sie noch hier gelebt hatte. Sie wurde von Dr. John Hunter geleitet. Dem Vater ihres früheren Freundes Grayson. Ihrer ersten großen Liebe.
Ein Stich durchfuhr sie, aber sie ignorierte ihn. Es gab Momente, da musste man über seinen eigenen Schatten springen.
»Okay, kleiner Mann. Ich weiß, wer dir helfen kann.«
Grayson wusch sich gerade ein weiteres Mal die Hände – er hatte bei seinem letzten Patienten die Analdrüsen ausdrücken müssen –, als seine Praxismanagerin Margaret in das Behandlungszimmer gestürmt kam. Ihr ernster Gesichtsausdruck versetzte ihn sofort in Alarmbereitschaft.
»Grayson, wir haben einen Notfall in Raum B. Ein Hund, der von einem Auto angefahren wurde.«
Sofort warf er die Papierhandtücher in den Mülleimer, mit denen er sich die Hände abgetrocknet hatte, und folgte seiner Mitarbeiterin auf den Flur.
»Wissen wir, was genau passiert ist?«
»Eine Frau hat den Unfall gesehen und das verletzte Tier sofort hierhergebracht. Das Auto hat den Hund mit erhöhter Geschwindigkeit erwischt. Einer der Vorderläufe scheint gebrochen zu sein und beim Abtasten der Rippen und der Schulter verspürt er Schmerzen.«
Sie waren am Raum B angekommen, Margaret öffnete die Tür. Sein Blick fiel direkt auf das verletzte Tier, das hechelnd auf dem Behandlungstisch lag. Allerdings wurde seine Sicht durch eine junge Frau versperrt, die mit dem Rücken zu ihm über den Hund gebeugt stand und beruhigend auf ihn einredete.
»Guten Abend, mein Name ist Dr. Hunter«, spulte er die Begrüßung ab, die er schon so oft gesagt hatte, und betrat den Raum. »Ich werde mir den Patienten einmal anschauen und ...«
Grayson hielt abrupt inne, als die Frau sich zu ihm umdrehte. Sie hatte den Mund zu einem überraschten O geformt und sah ihn aus tellergroßen haselnussbraunen Augen an. Augen, die er überall wiedererkannt hätte. Auch wenn es zwölf Jahre her war, dass sie ihn zuletzt angeblickt hatten.
Ihr kastanienbraunes Haar war länger geworden und fiel ihr in sanften Wellen über die Schultern. Seine Augen blieben an einer schlichten silbernen Kette hängen, die ihren Hals zierte. Der Anhänger lag in der kleinen Mulde zwischen ihren Schlüsselbeinen, genau über dem V-Ausschnitt ihres dunkelblauen Etuikleids, das ihre schlanke Figur betonte. Wie gebannt fixierte er den glitzernden Stein, der sich an ihre Haut schmiegte. Wieso sein Blick so sehr davon angezogen wurde, wusste er nicht. Das musste der Schock sein. Seine Gedanken rasten, seine Gefühle fuhren Achterbahn.
Denn es war unmöglich. Sein Gehirn musste ihm einen Streich spielen. Ausgeschlossen, dass wirklich Olivia Cavendish hier vor ihm stand. Seine Jugendliebe. Die Frau, die ihm vor so vielen Jahren das Herz aus der Brust gerissen hatte. Und die er seitdem versuchte zu vergessen.
Er blinzelte. Einmal. Zweimal. Doch sie war noch immer da. Sein Blick heftete sich erneut auf ihr Gesicht, auf dem sich eine ebenso große Verwirrung abzeichnete, wie er sie empfand.
Plötzlich wusste er nicht mehr, wie man Worte formte. Oder überhaupt atmete.
»Grayson, was ... Ich dachte, dein Vater leitet die Klinik?«