Am anderen Ende der Welt - Isabel Lüdi-Roth - E-Book

Am anderen Ende der Welt E-Book

Isabel Lüdi-Roth

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Beschreibung

Stella und Ben begegnen sich am anderen Ende der Welt und entwickeln bald große Gefühle füreinander. Ihre Herkunftsfamilien könnten unterschiedlicher nicht sein. Ben ist vor seinen Problemen im kleinkarierten, christlichen Elternhaus nach Neuseeland geflohen. Mit seinem strengen Vater hatte er nur noch Konflikte. Er versucht, alle diese Erfahrungen weit hinter sich zu lassen. Auch Gott hat er enttäuscht den Rücken gekehrt. Stella vermisst ihre Großfamilie, die innige Beziehung zu Eltern und Geschwistern. Sie pflegt eine lebendige und tiefe Freundschaft zu Gott und hat klare Vorstellungen zum Thema Sexualität. Sie möchte warten bis zur Ehe! Und nun sind die beiden verliebt! Fragen kommen auf und verlangen Antworten. Ihre Beziehung wird auf vielfältige Weise herausgefordert – in Abenteuern, Überraschungen, aber auch Schicksalsschlägen.

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Seitenzahl: 428

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Ähnliche


Kapitel 1 : Neu(see)land
Kapitel 2 : Ich vermisse dich! .
Kapitel 3 : Ein Jobangebot
Kapitel 4 : Verliebt!
Kapitel 5 : Sternenhimmel
Kapitel 6 : Das Porträt
Kapitel 7 : Wie sag ich es ihm bloß?
Kapitel 8 : Von der Vergangenheit eingeholt
Kapitel 9 : Der VW-Bus
Kapitel 10 : Urwaldabenteuer
Kapitel 11 : Surflektion
Kapitel 12 : Stella sieht rot
Kapitel 13 : Überraschender Besuch
Kapitel 14 : Ist Versöhnung möglich?
Kapitel 15 : Hilfe in letzter Sekunde
Kapitel 16 : Vaterliebe
Kapitel 17 : Große Überraschung!
Kapitel 18 : Brisante Fragen
Kapitel 19 : Schreckensnachricht!
Kapitel 20 : Besuch bei Bens Eltern
Kapitel 21 : Großvaters Geheimnis
Kapitel 22 : Zurück nach Neuseeland
Kapitel 23 : Die Reise kann beginnen
Kapitel 24 : Erdbeben auf der Südinsel
Kapitel 25 : Streit und Wetterkapriolen
Kapitel 26 : Einjahresjubiläum
Kapitel 27 : Eifersucht und Milford Sound
Kapitel 28 : Neuseelands Tierwelt
Kapitel 29 : Taongas Bruder
Kapitel 30 : Überraschende Neuigkeiten und tragische Wende
Kapitel 31 : Turbulenzen im Krankenhaus
Kapitel 32 : Wie geht es weiter?
Epilog

Isabel Lüdi-Roth

Am anderen Ende der Welt

Junge Liebe

Love Story – Band 1

Hallo liebe Leserin, lieber Leser!

Mein Name ist Isabel Lüdi-Roth. Ich bin verheiratet, habe drei Kinder und lebe in der Schweiz am Zürichsee. Seit ich ein kleines Mädchen war, ist meine große Leidenschaft das Schreiben. Das gefällt mir auch sehr: lesen, kreativ werkeln, mit meiner Familie Ausflüge unternehmen, in der Natur sein und über die Schöpfung staunen, die Bibel erforschen. Von Beruf bin ich Pflegefachfrau und schreibe Texte für eine Firma im Bereich Vitalstoffmedizin. So kann ich Medizinisches und das Schreiben kombinieren und lerne dabei täglich Neues über Wirkstoffe, die Gott in Pflanzen gelegt hat.

Für meine sonstigen Schreibereien habe ich einen eigenen, kleinen Verlag gegründet: www.schreibquelle.ch

Verlag

©2019 Schreibquelle-Verlag; www.schreibquelle.ch

Bilder

Foto Sonnenuntergang: Isabel Lüdi-Roth, Neuseeland 2017

Foto Hände: Saiph Muhammad; www.unsplash.com

Herz-Figuren: Kimberly Geswein; www.kimberlygeswein.com

Neuseeland-Karte

Skizzen/Schrift: Isabel Lüdi-Roth

Grafische Umsetzung: Christos Papadopoulos

Umsetzung

Lektorat: Ulrike Chuchra; www.lektorat-chuchra.de Layout/Satz: Christos Papadopoulos; www.polykreativ.ch

ISBN

978-3-9523816-5-6

Widmung Dieses Buch widme ich meiner Familie!

Thomas, du hast mich immer wieder aufgefordert, trotz aller Entmutigungen und Widerstände an diesem Roman dranzubleiben.

Seraina, du hast 2017 auf unserer Neuseelandreise gesagt: «Warum schreibst du nicht einmal einen Liebesroman?» Hier ist er ... mein erster Roman. Die ersten Inspirationen kamen uns gemeinsam während der langen Autofahrten in diesem wunderschönen Land. Danke dir!

Elia, du hast mich immer ermutigt, wenn ich nicht an mich selbst glaubte.

Gian, in ein paar Jahren kannst du diesen Roman auch lesen, ich bin jetzt schon gespannt auf dein Feedback. Siehst du, lesen lernen lohnt sich ...

Dank

Mein allergrößter Dank geht an meinen Daddy im Himmel! Ohne dich hätte ich dieses Projekt nie gewagt. Du hast mich während des Schreibens begleitet, gelehrt, inspiriert, herausgefordert und mit deiner Liebe erfüllt!

Vielen Dank euch allen!

Kapitel 1 : Neu(see)land

Die Warteschlange vor der Zollkontrolle schien kein Ende zu nehmen. Ben schaute zum wiederholten Mal auf die große Uhr an der Wand, doch die Zeiger schienen stillzustehen. Vier Uhr nachmittags. Es waren weit über 24 Stunden vergangen, seit er die Schweiz in Richtung Neuseeland verlassen hatte. Er war müde und erschöpft. Er hatte auf den zwei Flügen kaum geschlafen, in seinem Kopf tickte noch die Schweizer Zeit, für ihn war es also nun vier Uhr morgens.

Die neuseeländischen Zöllner nahmen ihren Job ernst, sie hatten es regelrecht auf die Einreisenden aus Übersee abgesehen. Hunde beschnupperten jedes Gepäckstück auf der Suche nach Fleisch, Obst und anderen «gefährlichen» Dingen.

Ben schüttelte den Kopf und setzte sich genervt auf seine dicke Reisetasche. Darin befanden sich alle Habseligkeiten, die er für die nächsten Monate brauchen würde. Er wusste noch nicht einmal, wo er die erste Nacht am anderen Ende der Welt verbringen würde. Seine Reise glich schon fast einer Flucht. Er hatte genug von seiner kleinkarierten Familie, vor allem von seinem strengen Vater, der unbedingt wollte, dass er endlich studierte. Er selbst hatte ganz andere Pläne für sein Leben.

Nicht dass er einem Studium grundsätzlich abgeneigt war, aber auf jeden Fall kam es für ihn im Moment nicht in Frage. Er liebte körperliche Arbeit, Abenteuer und die Natur. Deshalb hatte er die letzten eineinhalb Jahre nach der Matura in einer Zimmerei mitgearbeitet, was ihm viel Spaß gemacht hatte. Natürlich zum Missfallen seines Vaters.

Um seinem Elternhaus so weit wie möglich zu entkommen, hatte er sich kurzerhand entschieden, nach Neuseeland abzuhauen. Er hatte im Sinn, etwas herumzureisen und sich einen Job zu suchen,

zum Beispiel auf einer Farm, die es in Neuseeland zur Genüge gab. Er hatte sich ein Visitor Visa erworben, das neun Monate gültig war. Während dieser Zeit, so hatte er sich erkundigt, könnte er auch einen Statuswechsel vornehmen. Wer eine Arbeitsstelle gefunden hatte oder ein Studium begann, konnte vor Ort bei der nächsten Zweigstelle von Immigration New Zealand ein Studentenoder Arbeitsvisum beantragen.

Endlich war er an der Reihe. Zwei Hunde stürzten sich auf sein Gepäck und ein bullig aussehender Angestellter fummelte doch tatsächlich den Dreck aus dem Profil seiner Trekkingschuhe, die Ben vorher aus den Tiefen seiner Tasche hatte hervorkramen müssen.

Neuseeland als isolierter Inselstaat versuchte vehement zu verhindern, dass Schädlinge oder Krankheiten aus anderen Ökosystemen eingeschleppt – oder dass fremde Samen aus Bens mit Erde gefüllten Schuhrillen eingeführt wurden. Er hatte vergessen, sie vor dem Flug noch zu putzen, ein Versäumnis, das unangenehme Konsequenzen haben könnte. Deshalb atmete er nach beendeter Kontrolle erleichtert aus. Weder Hund noch Mensch hatten etwas Verbotenes bei ihm nachweisen können.

Er bahnte sich zügig einen Weg aus dem Flughafengebäude. Draußen herrschten schönster Sonnenschein und angenehme 25 Grad, es war Ende Januar und hier in Auckland war es gerade Sommer – herrlich!

Es gelang Ben schnell, eine Backpacker-Herberge in der Nähe zu finden, wo er sich müde, aber sehr erleichtert in seinen Kleidern aufs Bett warf und augenblicklich in einen tiefen Schlaf fiel.

Als er erwachte, war es draußen stockdunkel. Er musste sich einige Stunden gedulden, bis der Aucklander Morgen begann und er einen Gebrauchtwagenhändler aufsuchen konnte. Er wollte sich ein günstiges Auto kaufen, um damit Neuseeland zu erkunden. Tatsächlich wurde er schnell fündig, und die Abwicklung des Geschäfts lief, verglichen mit Schweizer Verhältnissen, sehr unkompliziert ab. Nun war es sein nächstes Ziel, die Metropole möglichst schnell hinter sich zu lassen. Er mochte Großstädte nicht und sehnte sich nach der zum Teil noch fast unberührten wilden Natur Neuseelands, von der er gelesen hatte.

Er besaß mit seinen 20 Jahren erst seit einigen Monaten den Führerschein, den hatte er sich mit seinem Lohn von der Zimmerei geleistet. Er war es überhaupt nicht gewohnt, in einer Großstadt zu fahren, und schon gar nicht auf der linken Straßenseite auf mehrspurigen Autobahnen. Er war sehr erleichtert, als er dieses erste Abenteuer geschafft hatte.

Bei der nächstbesten Gelegenheit fuhr er außerhalb der Stadt an den Straßenrand und stieg aus seinem ersten eigenen Auto. Überwältigt ließ er seinen Blick über die grasbewachsenen Hügel und den Sandstrand schweifen, der hier vulkanig schwarz war. Beachtlich große Wellen ergossen sich in regelmäßigen Abständen tosend über den grobkörnigen Sand. Wilde Schönheit!

Ben schloss die Augen und genoss die warmen Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht und den Wind, der ihm einen herrlich fremden Geruch von Meer und Abenteuer entgegenblies. Dann ließ er sich wieder in den Autositz fallen und studierte seinen Reiseführer, um herauszufinden, wo er ungefähr hinfahren wollte. Er entschied sich, zuerst einmal ganz in den Norden der Nordinsel zu reisen.

Neuseeland bestand aus zwei Hauptinseln und mehreren kleineren Inseln. Das Klima in Neuseeland zerfiel in zwei Zonen. Der Norden der Nordinsel lag in den Subtropen. Hier herrschten milde Winter und relativ warme Sommer. Der Südteil der Nordinsel sowie die gesamte Südinsel befanden sich in der gemäßigten Klimazone, wobei die Temperaturen nach Süden hin immer weiter abnahmen.

Ben wusste noch nicht, wo er die nächste Nacht verbringen wollte. Er fuhr aufs Geratewohl nordwärts und staunte über die üppige Natur. Er ging die Reise gemütlich an und gönnte sich immer wieder Stopps an Orten, die ihm gefielen.

Nach knapp dreistündiger Fahrt entschied er sich, dass er als Nächstes einen Strand ansteuern wollte, der im Reiseführer unter dem Titel Tips from locals empfohlen wurde. Anschließend würde er sich langsam eine Unterkunft suchen müssen. Er war müde vom Fahren in diesem völlig fremden Land mit Linksverkehr, auch der Jetlag machte ihm mehr zu schaffen, als er gedacht hatte.

Vom Parkplatz aus musste man laut Reiseführer eine gute halbe Stunde über Steine und Felsen klettern, weshalb der Strand meist menschenleer war. Genau das wünschte sich Ben jetzt – einen unberührten, einsamen Strand. Er fand den Parkplatz sofort und war froh, dass kein anderes Auto dort parkte. So gehörte ihm der Strand für heute hoffentlich alleine.

In der Schweiz war Ben oft in den Bergen unterwegs gewesen, er liebte das Klettern und Wandern, am liebsten abseits der Wege. Nun schlüpfte er gespannt in seine Trekkingschuhe und machte sich auf den Weg.

Unerwarteterweise kam er jedoch bald ins Schwitzen. Er spürte deutlich, dass sein Körper die lange Reise, den Schlafmangel und die Zeitumstellung noch nicht ganz verarbeitet hatte. Zudem war er vom Schweizer Winter in den Neuseeländer Sommer gereist, der Temperaturunterschied war gewaltig. Erst vor wenigen Tagen war er bei Minustemperaturen auf einer Skitour mit Freunden unterwegs gewesen. Nun kletterte er bei 25 Grad über neuseeländische Felsen. Es ärgerte ihn, dass sein Körper sich dagegen zu wehren schien. Er war doch keine Memme, es konnte einfach nicht sein, dass er nach ein paar Felsblöcken schlappmachte! Er biss sich auf die Lippen und riss sich zusammen, als müsste er einen Wettlauf gewinnen.

Nach etwa 20 Minuten war er ziemlich außer Atem und stolperte einige Male. Doch anstatt sich kurz auszuruhen, trieb er sich selbst noch heftiger an. Plötzlich rutschte er auf einer sandbedeckten Felsplatte aus. Er versuchte sich noch abzufangen, fand jedoch keinen Halt und knallte hart mit dem Hinterkopf auf einen vorstehenden Stein. Er fühlte einen dumpfen Schmerz, bevor er für kurze Zeit das Bewusstsein verlor.

Stella war den ganzen Tag von morgens früh an alleine für die vier Kinder ihrer Tante Julia zuständig gewesen. Die zwei Mädchen, die neunjährige Leah sowie die siebenjährige Chloe, und die Jungen Liam, drei, und Josh, ein Jahr alt, hatten sie ziemlich auf Trab gehalten.

Julia war mit ihrem Mann Phil auf einem Handwerkermarkt, wo sie Julias selbst hergestellte Deko-Objekte verkauften.

Stella hatte mit den Kindern gespielt, für sie gekocht, Windeln gewechselt und Tränen getrocknet.

Sie war nun einen Monat hier im Norden Neuseelands, ein Stück außerhalb des Dörfchens Paihia. Hier lebte ihre Schweizer Tante, die jüngste Schwester ihrer Mutter, seit ein paar Jahren mit ihrem neuseeländischen Mann Phil. Stella war hergekommen, um ihre Tante und ihre Familie zu unterstützen und um ihr Englisch zu verbessern. Phil war Englischlehrer und konnte ihr ganz nach ihren Bedürfnissen Privatunterricht geben. Julia, ihrerseits war froh über die professionelle Kinderbetreuung. Stella hatte ihre Ausbildung als Kinderbetreuerin in einer Kindertagesstätte vor einem halben Jahr abgeschlossen und kümmerte sich mit viel Liebe um ihre Cousins und Cousinen.

Es hatte sie einigen Mut gekostet, alleine die lange Reise in das ihr völlig unbekannte Land am anderen Ende der Welt zu wagen. Zum Glück waren da ihre Tante Julia und die ganze Familie Harris, die sie herzlich willkommen geheißen und ihr das Einleben erleichtert hatten.

Stella hatte einige schwierige Erfahrungen an ihrer ersten Arbeitsstelle hinter sich. Sie war deshalb froh, das alles weit hinter sich zu lassen. Aber sie vermisste ihre Familie in der Schweiz sehr. Sie hatte eine sehr gute Beziehung zu ihren Eltern und ihren vier jüngeren Schwestern. Speziell zu ihrem Vater hatte sie schon als kleines Mädchen eine ganz besondere und enge Verbindung gehabt. In ihrer Großfamilie waren immer alle für einander da gewesen.

Nun war sie mit ihren 19 Jahren so etwas wie eine zweite Mutter für Leah, Chloe, Liam und Josh geworden. Die Kinder liebten Stella und Stella liebte sie.

Als Julia nach einem erfolgreichen Verkaufstag gegen vier Uhr vom Markt zurückkam, fand sie, dass ihre Nichte ein bisschen Ruhe verdient hätte. «Etwa zehn Autominuten von hier gibt es einen Weg zu einem wunderschönen Strand, den du noch nicht kennst. Ich kann dich zum Parkplatz fahren, von da aus erreichst du den Strand in etwa einer halben Stunde. Es ist eine kleine Kletterpartie, aber dafür wirst du reich belohnt mit einem traumhaften Strand und türkisfarbenem Meer.»

Der Vorschlag ihrer Tante war ganz in Stellas Sinn. Da Stella noch nicht Auto fahren konnte, chauffierte sie ihre Tante bis zum Parkplatz, wo bereits ein altes Auto stand.

«Schade, da bin ich wohl doch nicht ganz alleine», stellte Stella ein wenig enttäuscht fest. Trotzdem machte sie sich auf den Weg über die Felsen.

Sie hatte mit Julia vereinbart, dass sie sich per Smartphone melden würde, wenn sie abgeholt werden wollte. Stella hatte es bisher nicht für nötig gehalten, ihren geringen Lohn für Fahrstunden auszugeben. Die öffentlichen Verkehrsmittel in der Schweiz waren ja ziemlich gut ausgebaut. Doch hier in Neuseeland war es anders. Hier war man auf ein Auto angewiesen, wenn man innerhalb einer gewissen Zeit an einem bestimmten Ort sein wollte.

Stella kletterte über die Steine und Felsen und staunte einmal mehr über die üppige Vegetation am Wegrand. Nach einer Weile erblickte sie von Weitem eine Person, die ebenfalls auf dem Weg zum versteckten Strand zu sein schien. Dieser Person gehörte das alte Auto auf dem Parkplatz, vermutete Stella. Plötzlich verschwand der Mann oder die Frau, Stella konnte es aus der Ferne nicht erkennen, hinter einem großen Felsen. Als sie ihn kurze Zeit später erreicht hatte und darüber geklettert war, erschrak sie sehr: Sie sah einen jungen Mann, der reglos am Boden lag.

Mit schlotternden Knien rannte sie zu ihm, berührte ihn am Arm und sprach ihn in ihrem besten Englisch an. Tatsächlich reagierte der junge Mann, öffnete die Augen und hielt sich die Hand stöhnend an den Hinterkopf. Er hatte eine Platzwunde.

«Geht es dir gut? Du hast eine Wunde am Kopf, es blutet ziemlich stark!»

Ben lächelte trotz seiner Verletzung und antwortete auf Schweizerdeutsch: «Ich glaube es nicht! Ich bin kaum einen Tag in Neuseeland und schon treffe ich eine Schweizerin. Aber die Art des Kennenlernens ist mir etwas peinlich!»

Stella war verdattert. War ihr Englisch so mies, dass man bereits nach einem Satz hörte, woher sie kam? «Ähm, du kommst also auch aus der Schweiz», stotterte Stella. So viel war nun wohl klar. «Ich muss wohl mein Englisch noch etwas verbessern.»

Ben hatte überhaupt nicht im Sinn gehabt, das Mädchen irgendwie zu beleidigen. «Nein, nein, dein Englisch ist super, aber ich konnte einen sympathischen helvetischen Akzent heraushören.»

Stella musste lachen. «Und du sprichst perfekt Englisch?»

«Perfekt? Nein! Aber ich war während meiner Zeit am Gymnasium zu einem halbjährigen Austauschaufenthalt in England. Mein Englisch ist deshalb very, very british, ich hoffe, ich falle hier nicht allzu sehr damit auf.»

Stella musste lachen. Der Junge war ihr sympathisch. Er schien witzig zu sein und er sah ziemlich gut aus. Er hatte mandelförmige dunkelbraune Augen, stark ausgeprägte dunkle Augenbrauen und sein lockiges, wildes Haar hatte genau dieselbe Farbe. Er schien eine Weile nicht mehr beim Frisör gewesen zu sein, doch das etwas längere Haar stand ihm gut. Er war nicht besonders groß, aber muskulös.

Stella wollte ihn eigentlich nicht anstarren und fragte schnell:

«Kann ich dir irgendwie aus deiner misslichen Situation helfen?» Ben verdrehte die Augen. «Höre ich da einen sarkastischen Unterton heraus? Eigentlich müsste es umgekehrt sein: Prinz rettet Prinzessin, oder?»

Stella lachte: «Ja, lieber Prinz, die Zeiten scheinen sich geändert zu haben!»

Ben versuchte sich aufzurappeln. Sein Kopf schmerzte ziemlich, doch er wollte sich möglichst nichts anmerken lassen.

Stella öffnete ihren Rucksack. Zum Glück hatte sie darin noch etwas Verbandsmaterial, weil sie es für die Kinder ihrer Tante schon öfter gebraucht hatte. «Ich werde dich erst einmal verarzten. Meinst du, du schaffst es danach zurück zum Parkplatz?» Sie begann die Wunde zu säubern.

Ben spielte den Helden und ließ sich nicht anmerken, wie sehr es brannte. «Zum Glück sind meine Füße noch in Ordnung, den Kopf brauche ich ja nicht zum Gehen», scherzte er.

Stella lächelte. Sie legte Ben so gut es ging einen Verband an, das war gar nicht so einfach mit den lockigen Haaren.

Ben versuchte inzwischen, sich das fremde Mädchen, das sich an seinem Kopf zu schaffen machte, etwas genauer anzusehen. Ihr dunkelblondes, leicht gewelltes Haar reichte ihr bis auf den Rücken und glänzte im Sonnenlicht. Sie hatte ein hübsches ovales Gesicht mit einer süßen Stupsnase und stahlblaue Augen. Sie gefiel ihm sehr gut. «Wie heißt du eigentlich, Krankenschwester?»

Sie hielt einen Moment inne und wandte sich ihm zu. «Stella und du?»

«Ich bin Ben.»

Stella schaute ihn erstaunt an: «Ben? Das klingt irgendwie nicht schweizerisch.»

Ben erwiderte: «Eigentlich heiße ich Benjamin.» Er winkte verächtlich mit der Hand ab. «Aber ich hasse diesen Namen, sag ja nie Benjamin zu mir, okay?»

Stella grinste. «Alles klar, Ben, kann ich irgendwie verstehen!»

Der Verband hielt nun einigermaßen und Ben versuchte aufzustehen. Sein Schädel hämmerte, aber er wollte vor Stella nicht als Schwächling dastehen. Er schaffte es, sich aufzurichten und trotz des Schwindels, der ihn überkam, einige Schritte zu machen.

Stella hatte ihr Smartphone aus dem Rucksack geklaubt. «Ich kann meine Tante anrufen, dann kommt sie uns holen. Du solltest heute wohl nicht mehr selber Auto fahren. Wo musst du überhaupt hin?»

«Wenn ich das wüsste», antwortete Ben. Er erzählte ihr kurz, dass er noch keine konkreten Pläne hatte.

Stella überlegte einen Moment. Sollte sie ihn auf den Campingplatz von Julia und ihrem Mann Phil einladen? Phil hatte ein riesiges Grundstück am Meer geerbt, auf dem unter anderem das Haus stand, in dem sie wohnten. Sie waren mit verschiedenen Projekten beschäftigt, die sie auf dem Landstück umsetzen wollten. Das eine war ein Campingplatz. Eine Cabin, ein kleines, gemütliches Holzhäuschen, war bereits fertiggestellt. Die Idee, einen fremden Jungen einzuladen, kam ihr jedoch etwas gewagt vor, sie kannte Ben ja überhaupt nicht.

Sie rief Julia an, die versprach, so schnell wie möglich zu kommen.

«Ben, meine Tante Julia will sich gleich deine Wunde ansehen, sie ist nämlich wirklich Krankenschwester. Sie hat auch gesagt, dass du auf keinen Fall auf die Idee kommen sollst, dich heute noch hinters Steuer zu setzen.»

Ben nickte brav. Langsam und vorsichtig machten sie sich auf den Rückweg zum Parkplatz. Bens Kopf dröhnte beim Gehen im Takt seines Pulses.

Beim Parkplatz mussten sie nicht lange auf Julia warten. Ihr Auto kurvte zügig auf den Kiesplatz und sie stieg freundlich lächelnd aus.

Sofort ging sie auf Ben zu und fragte: «Du bist also Ben? Und du bist Schweizer?»

Er nickte.

«Zum Glück hat dich Stella gefunden. Ich werde mir das mal kurz ansehen, okay?»

Sie ließ Ben auf einen großen Stein sitzen und sah sich seine Verletzung an. Die Wunde musste nicht genäht werden, sie befürchtete aber, dass sich Ben vielleicht eine leichte Gehirnerschütterung geholt haben könnte. «Du kommst auf jeden Fall zuerst einmal zu uns,

okay? Dann sehen wir weiter.»

Wieder nickte Ben. «Wenn das keine Umstände macht», stotterte er.

Julia lachte nur. «Umstände? Das ist überhaupt kein Problem!» Julia war Ben auf Anhieb sympathisch. Sie sah Stella unglaublich ähnlich, nur dass sie rund 20 Jahre älter war.

Kurze Zeit später rollte das Auto auf den Campingplatz und die drei stiegen aus. Auf der Fahrt hatte Julia kurzerhand vorgeschlagen, dass Ben die Nacht bei ihnen verbringen sollte. Sie hatte ihm das Gästezimmer im Haus angeboten.

«So kann ich dich etwas beobachten, und falls es dir in der Nacht nicht gut gehen sollte, wärst du nicht alleine und ich könnte reagieren. Du kannst auch gerne länger bleiben, wir schauen einfach, okay?»

Ben war einverstanden. Normalerweise hätte er ihre Art als Bevormundung empfunden. Doch nun war er froh, in diesem Zustand in einem völlig fremden Land nicht ganz auf sich allein gestellt zu sein. Er konnte Stellas Tante mit ihrer fröhlichen und lockeren Art gut leiden und Stella sowieso.

Nur eine Frage plagte ihn: «Was wird jetzt aus meinem Auto?»

«Keine Sorge Ben, darum kümmern sich mein Mann Phil und unser Freund Taonga bestimmt», meinte Julia.

«Oh, das ist wirklich sehr nett. Das ist mir irgendwie gar nicht recht, dass ihr wegen mir so viel Aufwand habt.»

«Aufwand? Absolut kein Problem, wir helfen gerne!», antwortete Julia. «Du solltest dich nun aber unbedingt etwas ausruhen. Stella zeigt dir das Zimmer.»

Gerade in diesem Moment traten Phil und Taonga mit den zwei jüngeren Kindern, Liam und Josh, aus dem Haus und kamen neugierig auf sie zu. Phil war hellhäutig und dunkelblond, Taonga hatte eine dunklere Hautfarbe und kohlschwarzes Haar. Er war sehr kräftig gebaut und sein ärmelloses Shirt gab den Blick auf eine typische Maori-Tätowierung frei, die über seine linke Schulter bis fast zum

Ellbogen verlief.

Julia stellte Ben die Männer vor. «Das ist mein Mann Phil Harris und das ist Taonga Anaru. Taonga ist ein guter Freund und wohnt hier bei uns.»

Taonga grinste breit über sein rundes, dunkelhäutiges Gesicht. Er hatte kein Wort Schweizerdeutsch verstanden. Auch Julias Mann Phil verstand nur ein wenig der für ihn seltsamen Sprache. Deshalb wechselte Julia nun lachend ins Englische und erzählte den beiden, was geschehen war. Sie fragte die Männer, ob sie Bens Auto holen könnten.

«Natürlich, das machen wir gerne. Wir haben uns gerade eben gefragt, was wir noch tun könnten, uns ist schrecklich langweilig», scherzte Phil.

Die beiden machten sich mit Bens Autoschlüssel aus dem Staub.

«Taonga ist ein Maori, nicht wahr?», fragte Ben interessiert.

Maori waren die ersten Einwanderer, die Neuseeland besiedelt hatten, sie stammten ursprünglich aus Polynesien.

«Ja, genau», antwortete Julia. «Er wohnt in dem kleinen Häuschen auf unserem Grundstück und arbeitet hier bei uns. Er ist uns eine sehr große Hilfe. Er kann einfach fast alles. Er ist kräftig wie ein Bär und handwerklich äußerst geschickt», lobte Julia den Maori. «Er ist ein langjähriger guter Freund der Familie und liebt unsere Kinder», fügte sie strahlend hinzu. Dann sah sie Ben ernst an: «Du siehst müde aus, Ben!», und an Stella gewandt, sagte sie: «Bitte zeig ihm sein Bett. Kannst du es auch gleich beziehen? Es liegt, glaube ich, noch einige Wäsche darauf. Du musst entschuldigen, Ben, bei uns geht es etwas chaotisch zu.»

Ben war das völlig egal. Im Gegenteil, es gefiel ihm, dass in diesem Haus deutlich zu sehen war, dass hier eine Familie lebte. Bei ihm zu Hause war immer alles fein säuberlich aufgeräumt und seine Mutter putzte hinter allen her.

Ben musste Stella beim Herrichten des Betts zuschauen, sie hatte sich geweigert, Hilfe von ihm anzunehmen. Er saß also untätig auf einem Stuhl und beobachtete, wie das Mädchen geschickt das Bett bezog. Ihre langen Haare bewegten sich bei jeder Bewegung wellenartig hin und her. Sie trug ungewöhnliche Kleider: bunte Pluderhosen, fast etwas alternativ, dazu ein enges, knallrotes Top. Sie hatte eine super Figur, ob sie sich dessen bewusst war?

Er konnte seinen Blick einfach nicht von ihr abwenden und merkte, wie sein Herz plötzlich Kapriolen schlug. Was ging da in ihm vor? Er hatte sich geschworen, dass er sich mindestens einige Jahre nicht mehr verlieben wollte, wenn überhaupt noch einmal. Nach allem, was er mit Naemi, seiner Ex-Freundin erlebt hatte.

Ein ganzes Jahr waren sie zusammen gewesen. Er hatte sie wirklich geliebt. Doch dann, vor drei Monaten, hatte sie ihn von einem Tag auf den anderen verlassen, um mit seinem besten Freund anzubandeln. Am schlimmsten war es für ihn gewesen, dass sie alle drei in die gleiche Kirche gingen. Das Ganze hatte ihn nicht nur unendlich enttäuscht und verletzt, sondern auch seinen Glauben ins Wanken gebracht.

Naemi hatte dauernd von Gott und der Bibel gesprochen und hatte sich einen Prediger nach dem anderen zu diesem und jenem christlichen Thema angehört. Ben konnte einfach nicht verstehen, dass sie ihm das angetan hatte. So ein Verhalten passte für ihn nicht zu einem christlichen Leben. Warum soll ich Christ sein, hatte er sich gefragt, Christen sind keinen Deut besser als alle anderen. Er ging dann nicht mehr zu den Gottesdiensten, was wiederum den Vorstellungen seines Vaters widersprach. Er solle sich nicht so anstellen, hatte er nur dazu zu sagen gehabt.

«Du bist so schweigsam, hast du noch starke Kopfschmerzen?» Stella stand vor ihm und schaute ihn ernst an.

«Äh ... ja, schon, es hämmert noch immer ziemlich in meinem Kopf.»

Sie wandte sich ab und sagte beim Hinausgehen: «Ich frage Julia nach einem Schmerzmittel, leg dich nur hin!»

Ben überlegte, ob er sich mitsamt den Kleidern in das frische Bett legen sollte, aber ihm blieb nichts anderes übrig. Er klopfte sich den Staub ein wenig aus der Hose und setzte sich zögernd auf die Bettkante.

Da kam Stella zurück, ein Glas Wasser in der einen und eine Tablette in der anderen Hand. Sie hielt ihm beides hin. «Julia hat mir für dich eine Schmerztablette mitgegeben, sie ist gerade noch mit den Kids beschäftigt.»

Sie lächelte ihm aufmunternd zu und er schluckte brav das Medikament.

«Ich lasse dich jetzt in Ruhe.» Stella zog unaufgefordert die Vorhänge zu. «Julia hat gesagt, sie kommt später noch nach dir schauen und du sollst dich melden, falls du ein Problem hast, okay?»

Er nickte dankbar und sie verließ das Zimmer.

Ein wenig später wollte sie ihm die Tasche mit seinen Sachen aus dem Auto bringen. Sie klopfte an und trat, als er sich nicht meldete, vorsichtig ein. Er lag in seinen Kleidern auf dem Bett und schien bereits tief und fest zu schlafen.

Leise stellte sie die Tasche neben das Bett, blieb noch einen kurzen Moment im Zimmer stehen und schaute Ben beim Schlafen zu. Er war verschwitzt, die dunklen Locken klebten ihm an der Schläfe. Am liebsten hätte Stella sie ihm aus dem Gesicht gestrichen, doch im nächsten Augenblick erschrak sie über diesen Gedanken. Schnell schlich sie aus dem Zimmer.

Kapitel 2 : Ich vermisse dich! .

Der Wecker schrillte, nur langsam erwachte Grace aus dem Tiefschlaf. Sie stöhnte und vergewisserte sich schlaftrunken, ob es tatsächlich schon Morgen war. Fünf Uhr, eine Unzeit zum Aufstehen, dachte sie.

Mühsam quälte sie sich aus dem Bett und schlich zum Babybettchen hinüber. Emily schlief friedlich, nichts deutete darauf hin, dass sie ihre Mutter die halbe Nacht mit ihrem Geschrei auf Trab gehalten hatte. Zärtlich strich Grace ihrer kleinen Tochter über die rundlichen Bäckchen und schüttelte den Kopf. «Du süßes kleines Monster, wenn du nur die ganze Nacht so brav schlafen würdest.»

Müde gähnte sie und streckte sich. Dann zog sie sich an und schlurfte in die Wohnküche, wo ihre Eltern Liz und Mahora bereits beim Frühstück waren.

«Hat sie dich wieder wachgehalten?», fragte ihr Vater und grinste so breit über sein rundes, dunkelhäutiges Maori-Gesicht, dass seine weißen Zähne aufblitzten.

Grace nickte nur müde.

«Du warst genauso in diesem Alter, du wolltest nachts einfach nicht schlafen.» Liz sah ihre Tochter mitleidig an. «Ich schaue nachher nach der Kleinen. Du kannst dich dann am Mittag noch ein bisschen hinlegen nach der Arbeit.»

Grace nickte dankbar. Es hatte Vorteile, dass sie im Elternhaus wohnte, auch wenn sie es sich manchmal anders wünschte. Immerhin bewohnte sie mit ihrem Mann Marco und dem Baby eine eigene kleine Wohnung. Aber sie lebten doch unter demselben Dach mit ihren Eltern, was manchmal zu Konflikten führte.

Aber wenn sie am Mittag müde von der Arbeit auf der elterlichen Schaffarm zurück ins Haus kam, wartete immer ein kräftiges, nahrhaftes Mittagessen auf sie. Ihre Mutter war bestimmt die beste Köchin Neuseelands. Und Liz würde sich nach dem Essen weiter um Emily kümmern, damit Grace sich noch ein Stündchen hinlegen konnte. Liz hatte Rückenprobleme und wurde deshalb möglichst von der körperlich sehr anstrengenden Arbeit auf der Farm herausgehalten.

Grace schnappte sich noch ein Stück Toast und schlürfte den schwarzen Kaffee. Ihr Vater zog sich bereits den breitkrempigen Hut ins Gesicht und schlüpfte in die Gummistiefel.

«Ein Wetter ist das wieder!», schimpfte er. «Wir haben Ende Januar, Hochsommer, aber es regnet bei knapp acht Grad! Zieh dich bloß warm an, Grace!»

Sie verdrehte die Augen. Es war wirklich unwirtlich draußen, die ganze Woche schon. Aber das kam einfach vor auf der neuseeländischen Südinsel. Das konnte sich auch schnell wieder ändern.

Etwas später verrichtete sie, wasserdicht und warm verpackt, ihre Arbeit im Stall und auf der Weide. Es gab viel zu tun auf der elterlichen Farm mit rund 1000 Schafen. Zum Glück hatten sie Hilfe von mehreren fleißigen Angestellten, unter ihnen auch Menschen aus aller Herren Länder, die einen Farmstay oder Work and Travel absolvierten. Sie arbeiteten hier einige Monate und verdienten sich Geld, um danach das Land zu bereisen.

Sie hatten auf diese Weise viele schöne Bekanntschaften gemacht. So hatte Grace sogar ihren Schweizer Mann kennen gelernt. Marco war vor fünf Jahren für einen halbjährigen Farmstay zu ihnen auf die Farm gekommen. Doch dann war er länger geblieben, denn sie hatten sich schnell verliebt, und bald war klar gewesen, dass er in Neuseeland und bei ihr bleiben würde.

Nun waren sie schon drei Jahre verheiratet. Sie erinnerte sich gerne an die zwei Hochzeitsfeste, die sie gefeiert hatten, eines in Neuseeland und das andere in der Schweiz, sodass alle daran teilnehmen konnten, ihre Verwandten und Freunde sowie auch seine.

Im Moment war Marco für einen Monat in seiner Heimat und besuchte seine Familie und seine Freunde. Normalerweise begleitete ihn Grace, doch dieses Mal war sie mit dem Baby zu Hause geblieben. Die über 24-stündige Reise wollten sie der erst sechsmonatigen Emily noch nicht zumuten.

Aber Grace vermisste Marco schrecklich. Er war sonst immer für sie da, half ihr viel mit der Kleinen und war ständig gut gelaunt. Er war der starke Mann an ihrer Seite, sie fühlte sich sicher bei ihm. Er hatte in der Schweiz die Ausbildung zum Landwirt gemacht, so passte er sogar beruflich perfekt in ihr Umfeld und war auch auf dem Hof eine riesige Hilfe. Er hatte überhaupt kein Problem mit dem rauen Leben hier weitab von der Zivilisation.

Grace zählte die Tage, bis er endlich wieder zurück nach Neuseeland kommen würde. Sie freute sich schon darauf, ihn in genau zwölf Tagen am Flughafen in Christchurch abzuholen. Er würde seine Mutter mitbringen, die noch nie in Neuseeland gewesen war. Sie wollte endlich das Land, in das ihr Sohn gezogen war, kennenlernen und natürlich die Familie ihrer Schwiegertochter und ihre erste Enkeltochter Emily. Es war nicht einfach für sie, so weit entfernt von ihrem Sohn zu sein und ihn so selten zu sehen.

Auch Grace freute sich auf diesen Besuch. Ihre Schwiegermutter hatte sie immer herzlich aufgenommen, wenn sie in der Schweiz zu Besuch gewesen waren. Sie konnten sich zwar nicht gut unterhalten, da Grace praktisch kein Deutsch und die Schwiegermutter wenig Englisch sprach, aber Marco spielte immer charmant den Dolmetscher, wenn seine Mutter mit ihrem Englisch nicht weiterkam.

Endlich war es Mittag und Grace hatte ihre Arbeit erledigt. Sie zog sich im Vorraum ihre nassen Überkleider aus und ging zum Händewaschen ins Bad.

Schon von Weitem hörte sie ihre Tochter schreien. Was war bloß mit dem Kind los? Emily schrie manchmal stundenlang.

Liz kam mit dem Baby zu ihr. «Nimmst du sie mal, ich muss schnell fertig kochen, ich bin heute Morgen zu fast nichts gekommen.» Vorsichtig überreichte sie Grace das schreiende Kind.

«Seit wann geht das so?»

«Ach, fast den ganzen Morgen, ich musste sie ständig herumtragen, sie ließ sich kaum beruhigen.»

Grace drückte ihre Tochter sanft an sich und redete ihr gut zu, da klingelte ihr Smartphone.

«Hallo, Marco! Schläfst du noch nicht, es ist ja schon Mitternacht bei euch.»

Am anderen Ende der Welt konnte Marco außer dem Weinen seiner Tochter kaum etwas hören. Grace übergab das schreiende Kind ihrem Vater, der gerade zur Tür hereingekommen war, und ging mit dem Telefon in ihre kleine Wohnung.

«Kannst du mich jetzt verstehen?»

«Ja, viel besser. Wie geht’s denn meinen zwei Liebsten? Schreit

Emily die ganze Zeit so?»

Grace drückte das Smartphone fest an ihr Ohr, als wäre sie Marco so etwas näher. «Marco, es ist furchtbar ohne dich, ich vermisse dich so schrecklich!»

«Ich dich doch auch, mein Schatz. Was meinst du, warum ich bis Mitternacht durchhalte, um dich anzurufen, du weißt doch, wann ich normalerweise zu Bett gehe!»

Grace musste lachen. Marco war ein extremer Frühaufsteher. Er hatte überhaupt keine Probleme, wenn der Wecker um fünf klingelte. Doch abends war er spätestens um zehn todmüde und zu nichts mehr zu gebrauchen. Trotzdem hatte er mit dem Anrufen gewartet, bis sie mit der Arbeit fertig war.

«In zwei Wochen bin ich wieder bei euch, ich freue mich. Doch ich genieße es auch, hier mal wieder alle meine alten Freunde zu treffen, und Mutter weicht mir kaum von der Seite. Sie hat mich sehr vermisst.»

«Klar, das verstehe ich gut. Grüß sie ganz lieb von mir.»

«Mach ich. Sie hat furchtbare Angst vor dem Flug, ich glaube, ich muss ihr noch ein Beruhigungsmittel besorgen.» Marco lachte sein herrlich ansteckendes Lachen am anderen Ende. «Ich muss langsam Schluss machen, mein Schatz. Gib Emily einen dicken Schmatzer von mir und sag ihr, sie soll dich diese Nacht schlafen lassen, okay?»

«Das mache ich. Hoffentlich versteht sie das mit dem Schlafen. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal durchgeschlafen habe.»

«Das ist nicht gut. Sobald ich wieder da bin, übernachte ich mit der Kleinen für ein paar Nächte im Gästezimmer, damit du wieder einmal richtig schlafen und zu Kräften kommen kannst, versprochen!»

So war Marco. Grace bekam feuchte Augen und schluchzte ins

Telefon: «Du bist der Beste!»

«Dann passen wir ja zusammen, denn du bist die Beste. Ich liebe dich, mein Schatz!»

Grace erschien es fast unerträglich, weitere zwölf Tage ohne ihn auszuhalten.

Sie strich über ihr Smartphone, aus dem sie eben noch seine liebevolle Stimme mit dem sympathischen Schweizer Akzent vernommen hatte. Sie trocknete ihre Augen mit dem Ärmel und verließ ihre Wohnung.

Aus der großen Wohnküche roch es köstlich. Grace hatte Hunger und freute sich auf ein schmackhaftes Essen mit ihren Eltern. Die Angestellten aßen in der Gemeinschaftsküche im Haus nebenan, wo sie ihre Zimmer hatten. Das war gut so, denn auf diese Weise hatte die Familie ein bisschen Privatsphäre.

Emily hatte sich bei Mahora beruhigt und lag jetzt friedlich in seinen kräftigen Armen. Das war ein köstliches Bild: das kleine, hellhäutige Baby in den Armen seines großen, kräftig gebauten Großvaters mit der dunklen Hautfarbe.

Mahora war sozusagen ein Vollblut-Maori. Seine Frau Liz hatte zwar eine Maori-Mutter, ihr Vater war aber Europäer. Sie hatte ihn leider nie kennengelernt, da er sich noch vor ihrer Geburt von ihrer Mutter getrennt hatte und nach Europa zurückgekehrt war. Sie war etwas hellhäutiger als die meisten Maori, aber dunkler als die von Europäern abstammenden Neuseeländer. Grace hatte etwa die gleiche Hautfarbe wie Liz, ihre Tochter Emily aber glich stark ihrem blonden und hellhäutigen Schweizer Papa.

«Unser kleines Bleichgesicht ist eingeschlafen», flüsterte Mahora und grinste Grace stolz an.

Kapitel 3 : Ein Jobangebot

Ben erwachte und brauchte einen Moment, um sich zurechtzufinden. Wo war er? Er hörte Kinderstimmen und Lachen. Die Erinnerung kam langsam zurück. Er fasste sich an seinen Kopf, der Verband war in der Nacht abgefallen.

Ben richtete sich schnell auf und sprang aus dem Bett. Wie viel Uhr war es wohl, hatte er lange geschlafen? Der Akku seines Smartphones war leer und er hatte jedes Zeitgefühl verloren. Er stolperte fast über seine Tasche. Wer hatte die geholt und dahingestellt? Ihm war das alles peinlich. Er brauchte dringend eine Dusche, ob er einfach danach fragen sollte?

Zögernd verließ er das Zimmer und schon wurde er von den Kindern bestürmt. Halb Englisch, halb Schweizerdeutsch redeten sie auf ihn ein. Die zwei kleinen Jungen hatte er am Vorabend kurz gesehen, aber die beiden älteren Kinder waren noch nicht zu Hause gewesen.

«Du bist Ben, oder?», fragte Leah.

«Schläfst du immer so lange?», wollte Chloe wissen.

Liam zeigte ihm seinen Ball und rief: «Kommst du mit nach draußen zum Spielen?»

Ein wenig hilflos schaute Ben sich um, da trat zum Glück Stella aus der Küche.

«Hey, Kinder, das ist unser Gast, er heißt Ben. Er hat sicher Hunger.» Sie warf ihm ein fröhliches Lächeln zu und scheuchte die Kinder scherzend fort. «Husch, husch, ihr Wilden, lasst Ben etwas Zeit.»

Nur Josh, den Jüngsten, behielt sie auf ihrem Arm, die drei anderen stürmten lautstark in ihr großes gemeinsames Spielzimmer.

«Guten Morgen, Ben, hast du gut geschlafen?»

«Ähm, ja, danke, tief und fest. Wie viel Uhr ist es denn?»

Stella stellte einen Teller und eine Tasse für ihn auf den Tisch und lachte. «Es ist schon zehn Uhr. Die Kinder lärmen sicher seit sieben, du musst einen Schlaf wie ein Schweizer Murmeltier im Winterschlaf haben!»

Ben war das peinlich! Er schaute zu Boden und stotterte: «Ach, du meine Güte, ich bin sonst kein Langschläfer!»

Stella lachte. «Wie geht es deinem Kopf ?»

«Danke, viel besser.»

Sie nahm ihn bei der Hand, schüttelte entschuldigend den Kopf und zog ihn mit sich, während Josh noch immer auf ihrem Arm hockte. «Du möchtest sicher zuerst einmal duschen, komm, ich zeig dir alles.»

Sie schien Gedanken lesen zu können! Sie ließ seine Hand wieder los. Eigentlich schade, dachte er.

Stella führte ihn in das einfache kleine Badezimmer und drückte ihm ein Duschtuch in die Hände. «Nimm dir alles, was du brauchst. Duschgel, Shampoo und keine Ahnung, was Männer sonst noch so nötig haben. Bedien dich einfach bei Phils Zeug, okay?»

«Super, vielen Dank!», sagte Ben erleichtert.

Stella blieb im Bad stehen und Ben räusperte sich.

«Ach, du meine Güte, entschuldige, bin schon weg.» Stella errötete und verschwand schnell um die Ecke.

Ben musste schmunzeln. Sie war echt süß.

Er genoss die Dusche wie wohl noch keine vorher. Vorsichtig ließ er das Wasser auch über seine verschwitzten und blutverkrusteten Haare fließen. Die Wunde brannte noch ein wenig. Die Kopfschmerzen waren aber wie weggeblasen.

Unterdessen machte Stella das Frühstück für Ben. Sie selber hatte schon lange mit den Kindern, Julia, Phil und Taonga gegessen.

Die drei waren danach an ihre Arbeit gegangen. Julia war jeden Morgen in einer Klinik beschäftigt und die Männer hatten auf dem zukünftigen Campingplatz viel zu tun. Stella war für die vier Wildfänge zuständig, bis Julia wieder zurück war. Die Mädchen hatten gerade Weihnachtsund Sommerferien, die bis Ende Januar dauerten, und die Jungen waren immer zu Hause, da sie noch nicht zur Schule gingen.

Ben trat frisch geduscht und mit neuen Kleidern ins Esszimmer.

«Vielen Dank für alles!»

Stella lächelte ihn fröhlich an. «Kein Problem.»

Dieses Lächeln! Ben konnte seinen Blick kaum von Stella wenden. Sie war wunderschön, sogar in den etwas seltsamen Kleidern, die sie trug. Heute war es ein geblümtes ärmelloses Kleid, unter dem sie kurze Leggins trug. Ihr Haar hatte sie zu einem Zopf geflochten. Ben schaute zu Boden, es war unhöflich, sie so anzustarren.

Stella schien es zum Glück nicht bemerkt zu haben. «Magst du nichts essen? Du bist schon um dein Abendessen gekommen, da du so schnell eingeschlafen bist.» Sie schien fast ein bisschen besorgt zu sein.

Ben griff herzhaft zu, er hatte tatsächlich eine ganze Weile nichts mehr gegessen.

Phil schaute kurz vorbei und vergewisserte sich, dass alles in Ordnung war. Er wollte auch hören, wie es Ben ging.

«Alles in Ordnung, vielen Dank, Phil», sagte Stella lächelnd.

«Ja, herzlichen Dank», stotterte Ben.

Josh krabbelte am Boden herum. Stella hatte ihr Gesicht in die Hände gestützt und schaute Ben beim Essen zu.

Er schien wirklich Hunger zu haben und Stellas New Zealand Breakfast zu mögen. Seine Haare waren noch nass und deshalb nicht so wild wie am Vortag. Nur hier und da kämpfte sich eine vorwitzige Locke heraus. Er hatte kräftige Arme und Hände.

Stella überlegte sich, was er von Beruf sein könnte. «Arbeitest du auf dem Bau oder so?»

Ben schaute erstaunt auf. Wie war sie plötzlich auf diese Frage gekommen? «Wieso meinst du?»

Stella zeigte lächelnd auf seine Oberarmmuskeln und sagte: «Ich überlege mir gerade, wie du wohl zu denen gekommen bist.» Sie lächelte ihn wieder an und fügte hinzu: «Im Büro bekommt man die wohl nicht und auch nicht im Studium, oder?»

Ben erzählte von seinem Job in der Zimmerei und davon, dass er gerne kletterte. «Eigentlich würde ich jetzt, wenn es nach meinem Vater ginge, in irgendeinem Hörsaal sitzen, aber ich konnte mich bis jetzt für kein Studium erwärmen.»

Stella hörte interessiert zu. «Dann bist du sozusagen nach Neuseeland geflüchtet vor den Plänen deines Vaters?»

«So ungefähr.»

Stella schaute ihn lange nachdenklich an. «Aber da ist noch mehr, oder?»

Ben hätte sich fast verschluckt. Diese junge Frau konnte wohl wirklich Gedanken erraten. Er erzählte ihr einiges, was ihn schon lange bedrückte, sogar von Naemi. Er konnte es selbst fast nicht glauben, aber er redete und redete und Stella hörte geduldig und interessiert zu und stellte sehr einfühlsame Fragen. Er hatte sich noch nie jemandem so anvertraut, aber er merkte, dass es guttat. Er erzählte ihr sogar, wie sehr er vom Glauben enttäuscht war und dass er ziemlich sicher nie mehr eine Kirche betreten würde.

Stella schaute ihn traurig an. «Das tut mir leid. Menschen können so verletzen. Wenn sie dann auch noch Christen sind, schmerzt es noch viel mehr. Von Christen erwarten wir einfach mehr, ist es nicht so?» Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. «Ja, Menschen enttäuschen uns, aber Gott ist anders!»

Ben schwieg. Sie war also anscheinend auch Christin.

Stella musste zwischendurch immer wieder nach den Kindern sehen, einen Streit schlichten oder ihnen etwas zu trinken einschenken. Sie machte dies mit einer Ruhe und Freundlichkeit, die ihn faszinierten.

«Und du bist Erzieherin?», fragte er sie mehr zum Scherz.

«Genau!», schmunzelte sie. «Ich habe meine Ausbildung in einer Kindertagesstätte im letzten Sommer, also im Schweizer Sommer, abgeschlossen.»

Sie senkte ihren Blick und schwieg einen Moment. Dann schaute sie Ben traurig an.

«Was ist passiert?», fragte er.

«Ich konnte meine Ausbildung dort als Einzige ohne ein vorheriges Praktikum beginnen, was zwar erlaubt, aber in diesem Beruf unüblich ist. Na ja, die Chefin fand einfach, dass ich sehr geeignet für den Beruf bin. Meine Kolleginnen waren aber immer eifersüchtig und haben mich das spüren lassen. Ich war deswegen natürlich auch die Jüngste, sie nannten mich das Baby. Als ich dann von meiner Chefin als frisch Ausgebildete die Gelegenheit bekam, als Gruppenleiterin zu arbeiten, wurde ich von meinen Mitarbeiterinnen gemobbt. Es war so schlimm, dass ich am Ende des Herbstes kündigen musste, ich hielt es einfach nicht mehr aus!»

Ben war schockiert und wütend gleichzeitig. Er warf Stella einen ermutigenden Blick zu, damit sie weitererzählte.

«Da fragte mich Julia an, ob ich ihr hier mit den Kindern und dem Haushalt unter die Arme greifen könnte. Ich könnte gleichzeitig Englisch dabei lernen. Sie konnte so eine gute Arbeitsstelle bekommen, bei der sie jeden Morgen in einer Klinik arbeitet. Es ist in ihrem Beruf keine Selbstverständlichkeit, regelmäßig arbeiten zu können, deshalb war sie froh, diese Tätigkeit annehmen zu können, natürlich auch aus finanzieller Sicht. Tja, und jetzt bin ich hier.»

Stella schaute auf die Uhr und erschrak. Es war fast Mittag und sie sollte doch das Mittagessen für alle zubereiten. Ben half ihr und gemeinsam schafften sie es, etwas Leckeres auf den Tisch zu zaubern, bis Julia, Phil und Taonga eintrafen.

Beim Essen sprachen sie darüber, dass sie dringend Mitarbeiter bräuchten, aber das Geld fehlte, um sie zu bezahlen.

«Wir brauchen Hilfe, sonst schaffen wir das nicht. Solange wir den Campingplatz nicht eröffnen können, haben wir keine Einnahmen. Und die benötigen wir dringend», klagte Phil.

Er arbeitete von Montag bis Mittwoch als Englischlehrer an einer höheren Schule und auch Taonga hatte verschiedene zusätzliche Jobs, um das Einkommen etwas zu verbessern, doch es kam einfach zu wenig zusammen.

Phil schaute ernst drein und sogar Taonga fehlte heute das Lachen. «Wir sind mit allen Projekten im Rückstand. Die Surfschule ist nicht so weit wie geplant. Dein Laden, Julia, ist noch eine Baustelle. Unsere kleine Kirche, die auf unserem Land steht, hätte dringend eine Renovierung nötig. Es sind einfach zu viele Projekte auf einmal und wir sind alle etwas chaotisch veranlagt, wir bräuchten jemanden, der das Ganze planen und leiten könnte.»

Ben hörte gespannt zu. «Was sind das für Projekte, die ihr da plant und wie kam es dazu?»

Phil begann Ben alles genau zu erklären. Er erzählte von dem großen Landstück, das er geerbt hatte, und die Ideen, die sie dafür hatten. «Dieses Stück Land hat mein Großvater vor über 75 Jahren von Maori erworben. Er baute dieses Haus, wir haben es kürzlich renoviert und angebaut. Mein Großvater war Pastor, er baute auch die kleine Kirche da drüben, die dringend saniert werden müsste.»

Phil schöpfte sich noch einmal eine große Portion. Er lächelte Julia an und fuhr fort: «Meine Frau Julia ist sehr künstlerisch begabt und fertigt aus Naturmaterialien, die sie in der Umgebung findet, wunderschöne Deko Objekte an, die sehr beliebt sind. Wir sind dabei, ihr einen kleinen Laden zu bauen, in dem sie dann die Sachen verkaufen kann.»

Julia schüttelte den Kopf und klagte: «Meine Sachen stapeln sich überall, ich habe die Übersicht verloren.»

Phil nickte. «Dann ist da noch unser größtes Projekt, der Campingplatz. Das Campen ist in Neuseeland sehr beliebt. Einerseits bei den Neuseeländern, denn die meisten können sich keine Ferien außerhalb des Landes leisten, weil man, wohin man auch will, sehr lange fliegen muss. Aber auch die vielen ausländischen Touristen übernachten gerne auf Campingplätzen.»

Nun strahlte Taonga übers ganze Gesicht, sodass seine weißen Zähne aufblitzten. «Ich bin unter anderem auch Surflehrer und da zu diesem Landstück ein Stück Strand gehört, würden wir gerne eine Surfschule aufbauen.»

«Taonga ist außerdem Pastor, am Sonntag predigt er in der alten Kirche, es kommen jeweils etwa 50 Leute. Viele dieser Menschen unterstützen uns, wo sie können, jeder macht das, was er gut kann», erklärte Julia weiter.

Phil nickte. «Aber es läuft alles ein bisschen chaotisch, wir Neuseeländer sind sehr spontan und nicht so organisiert wie ihr Schweizer.» Stella hatte nicht alles verstanden, aber das Wichtigste schon und nun schaute sie Ben mit großen, fragenden Augen an. Diese Augen!

Bens Herz schlug Purzelbäume.

Sie war irgendwie so naiv, zum Verlieben naiv, sie schien überhaupt nicht zu ahnen, was sie in ihm auslöste.

«Nun?» Stella lächelte Ben an.

«Äh, was meinst du?»

Stella lachte: «Du bist doch handwerklich begabt und suchst in Neuseeland einen Job, nicht wahr? Zudem hast du die Matura gemacht, da wirst du doch wohl auch ein bisschen gelernt haben, wie man Projekte plant und wie man zu Finanzen kommt und so weiter. Oder für was hast du so lange die Schulbank gedrückt?» Sie grinste.

«Na ja», meinte er.

Sie zwinkerte mit den Augen und rief laut in die Runde: «Das ist doch der Mann, auf den ihr gewartet habt, oder etwa nicht?»

Ben war so erstaunt, dass er vergaß, den Bissen, den er gerade im Mund hatte, weiter zu kauen. Er schaute entgeistert drein und stotterte: «Äh, mir kommen da schon ein paar Ideen.»

Die vier schauten ihn erwartungsvoll an. Ben erzählte, was ihm durch den Kopf gegangen war, als sie von ihren Projekten erzählt hatten. Phil und auch Julia und Taonga waren begeistert.

«Übernimmst du den Job?», fragte Phil. «Ehrlich gesagt, können wir dir nur ein Taschengeld bezahlen. Aber du könntest hier wohnen und essen und alles mitbenutzen, was du benötigst. Vom Surfbrett über Werkzeug bis zum Auto. Was denkst du?»

Ben hatte immer noch den Bissen im Mund. Er kaute und schluckte, dann räusperte er sich. Acht Augenpaare waren auf ihn gerichtet. Er schaute in die stahlblauen Augen von Stella und wusste nicht, was es noch zu überlegen gab. Wo bekäme er noch einmal ein solches Angebot? Er könnte hier helfen, etwas Geniales aufzubauen. Seine Ideen, seine Planung und Organisation wären gefragt. Und der im Moment für ihn aufregendste Gedanke an der Sache war, dass er sich nicht von Stella verabschieden müsste und sie besser kennenlernen könnte. Geld war ihm nicht so wichtig.

«Tja, ich könnte es zumindest einmal versuchen.»

Phil sprang von seinem Stuhl auf, rannte um den Tisch und umarmte Ben. Dieser wusste überhaupt nicht, wie ihm geschah.

«Lass ihn, Phil, der arme Kerl ist erst seit vorgestern in Neuseeland und weiß noch nicht, wie verrückt ihr alle seid!» Julia schaute den verdutzten Ben mitleidig an. «Eines wirst du schnell lernen, Ben, die Neuseeländer sind ziemlich verrückt, mein Mann ist da keine Ausnahme. Aber er freut sich wirklich sehr, dass du uns unterstützen möchtest. Wir alle freuen uns sehr!»

Ben musste lachen. Diese Familie war tatsächlich total anders als seine in der Schweiz. Aber ihre Art gefiel ihm immer mehr. «Ich müsste aber vermutlich mein Visum ändern, mit dem Visitor Visa darf ich nicht arbeiten und ein Working Visa konnte ich ohne einen Job in Neuseeland nicht beantragen. Ein Working Holiday Visa habe ich auch nicht bekommen, da die Schweiz nicht in der EU ist und kein entsprechendes Abkommen mit Neuseeland hat.»

«Ja, das ist alles etwas kompliziert, aber ich werde mich darum kümmern», entgegnete Phil fröhlich.

Nach dem Essen stellte sich Stella zur Verfügung, die Küche wieder auf Vordermann zu bringen, und Ben meldete sich freiwillig, um sie dabei zu unterstützen. Die Männer waren bereits wieder draußen bei der Arbeit. Julia war mit den Kindern ebenfalls dort, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass das mit der Küche für die beiden wirklich okay war.

Stella drehte sich abrupt vom Waschbecken um und spritzte Ben dabei mit der nassen Bürste mitten ins Gesicht. «Sorry!» Lachend reichte sie ihm das Geschirrtuch, damit er sich abtrocknen konnte.

«Ich bin manchmal etwas ungeschickt. Geht’s?» Ben schmunzelte. Sie war so süß.

«Weißt du, ich finde es echt toll, dass du hierbleibst. Ich glaube, du wirst eine gute Unterstützung sein in diesen Projekten. Du bist nicht nur handwerklich geschickt, sondern auch sehr clever.»

Woher wollte sie das wissen? Sie kannte ihn erst seit gestern. «Ich hoffe, ich enttäusche dich nicht. Du kennst mich doch kaum.»

Stella lächelte ihr bezauberndes Lächeln, sodass es in Bens Magengrube kribbelte. «Weißt du, ich bin nicht gerade sehr klug, aber ich habe ziemlich gute Menschenkenntnisse. Du bist genau der Richtige für diesen Job.»

Ben krauste die Stirn. «Nicht klug, wie um Himmels Willen kommst du darauf ?»

Stellas Augen nahmen einen traurigen Ausdruck an. «Das hat man mir oft genug in der Schule gesagt. Ich bin einfach anders. Ich lerne anders als die meisten. Ich war nie sehr gut in der Schule, ich hätte wohl eine kreativere Form des Lernens benötigt.»

Stella hatte die Pfannen fertig abgewaschen und wandte sich Ben ganz zu. «Ich kann einige Dinge ziemlich gut. Ich bin musikalisch, kann gut zeichnen und ich schneidere meine Kleidung selbst. Aber damit kommt man in der Schule nicht sehr weit.»

Ben schaute sich ihr Kleid nochmal genauer an. «Darf ich?», fragte er und nahm den Stoff des weiten Kleides ohne eine Antwort abzuwarten in die Hand. «Du hast das selbst genäht?», fragte er ungläubig. Er hatte gestern gedacht, dass er solche Kleider noch nie gesehen hatte, kein Wunder, wenn Stella sie selbst entwarf.

«Ich mag keine Kleider von der Stange, darum schneidere ich mir fast alles selbst, so wie es mir gefällt.»

Ben war fasziniert. Die Kleider hätten ihm normalerweise nicht so sehr gefallen, aber sie passten perfekt zu Stella und machten sie zu etwas ganz Besonderem. «Wunderschön ... äh, das Kleid!» Eigentlich fand er nicht nur das Kleid toll.

Stella lächelte erfreut. «Ich wurde immer ausgelacht wegen meiner Kleider. In der Schule trugen die Mädchen eine Zeit lang nur schwarze Klamotten. Ich fühlte mich jeden Tag wie auf einer Beerdigung.»

Ben musste lachen.

«Ich mag es bunt und verstehe nicht, warum ich mich wie alle anderen kleiden soll, nur um dazuzugehören.»