Am Limit - Peter Jackob - E-Book

Am Limit E-Book

Peter Jackob

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Beschreibung

Im rechtsmedizinischen Institut ereignet sich ein mysteriöser Einbruch: Die Leiche eines jungen Spitzensportlers wird gestohlen. Zeitgleich steht ein internationaler Kongress zum Thema Doping an. Einer der führenden Experten, der Sportmediziner Leeuwen, der als Topredner auf der Agenda steht, wird kurz vor seinem Auftritt tot im Hotelzimmer gefunden. Bekker vermutet eine Verbindung zwischen dem toten Mediziner und dem Sportler. Mitten hinein in die gefährlichen Ermittlungen platzt die Nachricht, dass Bekker noch einmal Vater wird. Da kommt selbst der Kommissar an seine Grenzen.

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Peter Jackob
AM LIMIT
Kommissar Schack Bekkerermittelt im Schatten des Doms
Alle Rechte vorbehalten · Societäts-Verlag
© 2018 Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Satz: Bruno Dorn, Societäts-Verlag
Umschlaggestaltung: Julia Desch, Societäts-Verlag
Umschlagabbildung: Axel Weber
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-323-0
Für R.K.
Wenn das Doping die Gene erreicht,wird uns kein Test der Welt mehr weiterhelfen.Robin Parisotto (Erfinder des EPO-Tests)
Die dargestellten Ereignisse sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Gegebenheiten oder Personen ist rein zufällig. Aus erzähltechnischen Gründen wurde die Mordkommission in die Altstadt verlegt.
DER EINBRUCH
Mainz, Oberstadt – Sonntagnacht
Es nieselte, leichter weißer Nebel lag über Mainz. Nur die im Wind wogenden Äste durchbrachen mit ihrem Knacken die Stille. Zwei Männer in schwarzen Overalls näherten sich mit schnellen Schritten vom Kästrich kommend der Martinsstraße. An deren Ende bogen sie links ab, passierten das Schulungszentrum der Mainzer Uniklinik und erreichten das Institut der Rechtsmedizin. Die beiden dunklen Gestalten umrundeten das Gebäude, legten Gesichtsmasken an und kletterten über die rückwärtige Mauer auf das Gelände des Instituts. Der Hof war nur diffus beleuchtet. Die Eindringlinge liefen an der Steinwand entlang in Richtung der Glastür des Sektionssaals, drei Seziertische lagen im Sichtfeld. Sie sahen sich kurz an und nickten einander zu. Der Kleinere der beiden holte Werkzeug aus dem Rucksack, das er seinem Partner in die Hand drückte. Dieser begann geschickt das Schloss zu bearbeiten – es dauerte nur wenige Augenblicke, bis die Tür aufsprang. Die Männer verschwanden im Innern der Rechtsmedizin. Schnell und zielsicher bewegten sie sich durch den Sektionssaal, gingen nach links und blieben vor den mannshohen Kühlschränken stehen, in denen die Toten aufbewahrt wurden. Sie öffneten das Fach B 221 und zogen die Bahre heraus. Unter dem Leichentuch kam ein dunkelhäutiger junger Mann zum Vorschein, sportlich, Anfang 20, noch nicht obduziert. Routiniert wurde ein Leichensack auf dem Boden ausgebreitet und der Tote hineingelegt. Sie hatten, was sie wollten. Schnell und unauffällig verschwanden sie auf demselben Weg aus dem Institut, auf dem sie gekommen waren. Nachdem sie die Mauer überquert hatten, transportierten sie die Leiche an den Rand des angrenzenden Waldstücks. Der Größere der beiden nahm sein Handy zur Hand und sendete eine SMS. Wenig später näherte sich ein weißer Kombi von der Gaustraße und hielt neben ihnen am Straßenrand. Ein kontrollierender Blick des Fahrers, kurz darauf öffnete sich der Kofferraum. Die beiden Männer trugen den Toten zum Wagen und hievten ihn hinein – gleich danach nahm der Kombi wieder Fahrt auf und verschwand in Richtung Pariser Straße. Die Männer zogen ihre Masken ab, gingen über den Fichteplatz und verschwanden im Grüngürtel.
Ein Stadtstreicher, der auf einer Parkbank gelegen und gedöst hatte, bekam die Szene beiläufig mit. Er setzte sich auf und rieb sich verwundert die Augen.
DAS RÄTSEL
Altstadt, Am Graben – Montagmorgen
Bekker stellte den Kragen seines Mantels auf und trat hinaus in den kalten Morgen. Der Nebel hing wie ein Vorhang in den Straßen und vermittelte den Eindruck, als habe er seine Arme mitten ins Herz der Stadt ausgestreckt. Der Kommissar bog in die Jakobsbergstraße ein und holte sich bei der Bäckerei Vetter einen mit Schinken und Käse belegten Roggenweck. Montagmorgen, eine Woche vor seinem 60. Geburtstag. Ihm war bewusst, dass die Zeit langsam knapp wurde. „Ausgerechnet am Rosenmontag“, murmelte er vor sich hin, „das passt wie der Arsch auf den Eimer“.
Bekker lief die Weißliliengasse entlang Richtung Polizeirevier. Es war kurz vor neun, die bevorstehende Besprechung hätte er am liebsten ausfallen lassen, doch das ging natürlich nicht. Wieder kreisten seine Gedanken um den nahenden runden Geburtstag, den er, ohne groß darüber nachzudenken, während der Weihnachtsfeier der Mordkommission großspurig angekündigt hatte. Normalerweise zelebrierte er seinen Geburtstag nicht. Zumindest nicht offiziell. Wer an diesem Tag bei ihm zu Hause vorbeikam oder ihn in der Stadt traf, war eingeladen, und damit hatte es sich dann auch. Im Überschwang hatte er aber dieses Mal jeden, der Lust auf ein Gelage habe – genau das waren seine Worte gewesen – eingeladen. Ein Rückzieher war nun nicht mehr möglich. Zu allem Übel hatte Bekker nicht beachtet, dass sein Jubeltag auf einen ganz besonderen Tag fallen würde, nämlich auf den höchsten Mainzer Feiertag … Rosenmontag. „Du dämlicher Hutsimpel“, brummte er und biss in seinen Weck.
Etwas später klingelte das Handy, es war seine Kollegin und mittlerweile auch Lebensgefährtin Erna Dunst. Nach langen Jahren des voneinander Angezogenseins war es schließlich passiert – ausgerechnet während der Quarantäne bei einer Flusskreuzfahrt auf dem Rhein. Dass das Schiff zu alldem „Pandora“ hieß, hatte die beiden nicht davon abgehalten. Die Beziehung lief weit besser als zuerst angenommen. Es langsam angehen zu lassen und diese Liaison als ein ‚ausgedehntes Schäferstündchen‘ zu betrachten, hatte sicherlich geholfen, den Druck zu mindern. Anfänglich hatten sie ihre Beziehung noch geheim gehalten, doch nach den dramatischen Ereignissen während der Ermittlungen zu ihrem letzten Fall war dies nicht mehr möglich gewesen. Die Tatsache, dass die Kollegen keine Fragen stellten oder anzügliche Bemerkungen machten, war ein deutliches Indiz für die unausgesprochene Zustimmung. Es fühlte sich gut an, fand der Kommissar.
„Guten Morgen, Schack.“ Sie klang liebevoll und geschäftig. „Wo bist du?“
„Ecke Heringsbrunnengasse, ich bin gleich da.“ Bekker versuchte freundlich zu klingen, doch das war morgens wirklich nicht seine Stärke.
„Kommst du bitte direkt in die Rechtsmedizin? Walter braucht unsere Unterstützung. Ich bin schon auf dem Weg.“
Professor Walter Kur, Leiter des rechtsmedizinischen Instituts, hatte zu so früher Stunde auf dem Revier angerufen? Ziemlich ungewöhnlich, dachte Bekker und fragte nach. „Der Walter hat bei uns auf dem Revier angerufen? Wir erwarten doch gar keinen Bericht.“
„Stimmt, er hat am Telefon auch nicht gesagt, worum es geht. Gerd Denne war dran. Es muss irgendetwas vorgefallen sein.“
„Gut, ich bin in zehn Minuten da.“
Bekker lief die Maria-Ward-Straße hinauf und passierte die Stephanskirche, die über den Dächern der Altstadt thronte. Ihre in Blautönen gehaltenen Chagall-Fenster boten bei guten Lichtverhältnissen ein wahrlich erhebendes Schauspiel. Allerdings nicht an einem so diesigen Morgen wir heute. Bekker mochte es, an sonnigen Tagen dort einen kurzen Zwischenstopp einzulegen und für ein paar Minuten die Farbenpracht der Fenster zu genießen. Er überquerte die Gaustraße und erreichte wenig später sein Ziel. Was mochte nur geschehen sein, fragte er sich, als das Institut der Rechtsmedizin vor ihm auftauchte.
An der Pforte teilte man ihm mit, dass er gleich abgeholt werden würde. Bekker kannte das Prozedere nur zu gut, der Weg hinunter in die Katakomben, wie er den Bereich des Sektionssaals und der Kühlschränke nannte, war durch eine gläserne Sicherheitstür abgeschirmt. Er sah sich um. Der Eingangsbereich war in die Jahre gekommen und sah weder sonderlich einladend noch repräsentativ aus. Eine Renovierung schien dringend nötig, aber in Zeiten leerer Kassen war damit kaum zu rechnen.
„Das Rathaus fällt bald zusammen, das Kurfürstliche Schloss bröckelt, unser Gutenberg-Museum sieht aus wie ’ne schlechte Kopie eines Gebäudes aus dem ehemaligen Arbeiter- und Bauernstaat und unser Städtchen hat nichts Besseres zu tun, als am laufenden Band zu feiern“, meckerte er, obwohl der Kommissar eigentlich gesellig war. Nein, er hatte ganz und gar nichts dagegen, zu feiern, aber wenn ein Fest das nächste jagte, das Marktfrühstück mit Weck, Worscht und Woi zu einem Ganztagsbesäufnis ausartete, dann war das doch einigermaßen gewöhnungsbedürftig. Der Mainzer litt nun einmal am Horror vacui, der Angst vor der Leere. Er war ja keinen Deut besser. Aber diese ewige Festtagsstimmung ging ihm jedes Jahr mehr auf die Nerven. „Das muss das Alter sein, Schack“, grummelte er.
Es dauerte nicht lange, bis Professor Kurs Stellvertreter, Dr. Maximilian Büben, auftauchte. Bekker hatte den Wiesbadener Mediziner seit ihrem ersten Aufeinandertreffen nicht ausstehen können. Erschwerend kam hinzu, dass Büben vor Bekker eine Beziehung mit Erna gehabt hatte. Wenn er ihm begegnete, bemühte sich der Kommissar, den Gedanken daran zu verdrängen.
„Guten Morgen, Herr Kommissar.“ Bübens leicht nasale Sprechweise reizte Bekker, aber er beließ es dabei, den letzten Bissen seines Weck zu nehmen und mit vollem Mund „Morgen“ zu nuscheln.
„Der Professor hat mich gebeten, Sie abzuholen.“
„Nett vom Walter. Was ist denn passiert?“, wollte der Kommissar wissen.
„Nennen wir es … einen merkwürdigen Zwischenfall.“
„Einen merkwürdigen Zwischenfall, aha“, wiederholte Bekker, „geht’s vielleicht ein bisschen genauer, Büben?“
Der Rechtsmediziner war bereits auf der Treppe ins Untergeschoss und vermied es, zu antworten. Eigentlich wäre es mal wieder an der Zeit, ihm zu sagen, was er für ein Arsch ist, dachte Bekker.
Büben öffnete die Sicherheitsglastür. Gemeinsam gingen sie ein Stück geradeaus, bogen dann nach links ab und standen schließlich im Sektionssaal der Mainzer Rechtsmedizin. Jedes Mal, wenn der Kommissar den Raum betrat, fühlte er sich unwohl. Und das, obwohl dort eigentlich eine angenehme Atmosphäre herrschte, denn er war nicht ganz so hypermodern und steril wie vergleichbare Sektionssäle. Dennoch, der Kommissar hätte lieber auf den Besuch verzichtet.
„Arschtörtchen“, nuschelte er leise aber vernehmlich und kaute den letzten Rest seines Brötchens weiter. Büben fuhr herum, doch Bekker sah ihn nur gänzlich unbeteiligt an. Sein Blick glitt zu der Flügeltür, die angelehnt war. Bevor weitere Nettigkeiten zwischen dem Kommissar und dem stellvertretenden Chef der Rechtsmedizin ausgetauscht werden konnten, betraten Professor Kur und Hauptkommissarin Dunst den Sektionssaal.
Bekker sah Kur an und hob die Schultern. „Was soll denn die Geheimniskrämerei, Walter?“ Ihm fiel auf, dass sein Freund angespannt aussah und nicht auf seine neckende Spitze reagierte. „Ich muss euch etwas zeigen“, war alles, was er herausbekam. Der Tonfall passte zu seinem Gesichtsausdruck.
NATHAN MAULIDI
Oberstadt, Rechtsmedizin – Montagmorgen
Professor Kur ging voran zu den mannshohen Kühlschränken, in denen die Leichen aufbewahrt wurden. Er deutete auf das Fach B 221 und zog eine leere Bahre heraus. Schack sah ihn fragend an.
„Und was soll mir das jetzt sagen, Walter?“
„Da lag bis gestern Abend noch ein Ausnahmetalent der Leichtathletik. Als ich heute Morgen ankam, war die Flügeltür des Sektionssaals, die auf den Innenhof hinausführt, aufgebrochen. Kurz darauf habe ich das leere Kühlfach entdeckt.“
„Ich rufe die Spurensicherung“, bemerkte Erna und entfernte sich von den beiden.
„Wie hieß der Mann?“
„Nathan Maulidi. Er war einer der kommenden afrikanischen Spitzenläufer, der die letzten Tage in Mainz trainiert hat.“
„Wie ist er gestorben?“
„Gestern Nachmittag ist er beim Training zusammengebrochen und war kurz darauf tot. Für ihn kam jede Hilfe zu spät.“
„Einfach so zusammengeklappt und tot? Kein Mord also?“
„Es sieht auf den ersten Blick nicht danach aus.“
„Die Tatsache, dass Maulidis Leiche aus einem deiner Kühlfächer gestohlen wurde, bietet natürlich jede Menge Raum für Spekulationen“, bemerkte Bekker nachdenklich. „Hast du Unterlagen über den Toten?“
„Ja, die habe ich, aber sie scheinen mir wenig aufschlussreich.“ Kur starrte hinaus auf den Hof. Als er sich wieder seinem Freund zuwandte, stand ihm die Verärgerung ins Gesicht geschrieben. „Eine Leiche aus meinem Institut zu stehlen, einfach unglaublich!“, platzte es aus ihm heraus. „In meiner gesamten Laufbahn ist mir so etwas noch nicht untergekommen. Komm Schack, wir gehen in mein Büro, und ich mache uns einen Kaffee. In der Zwischenzeit kannst du die Unterlagen durchgehen.“
„Kaffee ist immer eine gute Idee“, freute sich Bekker. Er sah zu Erna herüber. Sie war noch immer am Telefon und gab Schack zu verstehen, im Sektionssaal auf die Spurensicherung warten zu wollen.
Im Büro gab Kur Bekker die Mappe, dann machte er sich an seiner neuen Siebträger-Kaffeemaschine zu schaffen. Der Kommissar konnte diesen ganzen Kaffeemaschinen-Hype nicht nachvollziehen. Kur gehörte zu denjenigen, die sich in epischer Breite über den ‚perfekten Espresso‘ auslassen konnten, aber er achtete immerhin darauf, nur Gleichgesinnte damit zu behelligen. Bekker hörte, wie sein Kollege den Siebträger mit Kaffee befüllte und wieder einsetzte. Während er wartete, schlug er die Mappe auf und begann, die Informationen durchzugehen: Maulidi war 21 Jahre alt und kam aus Tansania. Er hatte bei dem Sportmedizinstudenten Albrecht Finkel gewohnt. Der junge Mann gehörte im Juniorenbereich zur Weltspitze im 400-Meter-Lauf. Der Rechtsmediziner kam derweil mit einem Espresso zu Bekker, stellte ihn auf den eleganten dreibeinigen Kaffeetisch, um den drei nicht minder elegante Stühle standen, und fragte Bekker, ob er Zucker wolle.
„Zucker bräuchte ich nur, wenn dein Espresso nicht schmecken würde“, lachte der Kommissar und griff die Tasse. „Machst du das Theater auch zu Hause?“, wollte er von Kur wissen. Der sah ihn an und schüttelte den Kopf. „Nicht mehr.“
„Du hast es mit der Kaffeekocherei eindeutig übertrieben“, riet er. Jetzt war es Kur, der lachte. „Dafür habe ich ja hier mein Refugium. Hast du etwas Interessantes in den Unterlagen über den Mann gefunden?“
„Nathan Maulidi, 21 Jahre alt, geboren in Arusha, der Hauptstadt von Tansania. Afrikameister der Junioren im letzten Herbst. Er hatte gute Chancen, einer der Stars der Leichtathletikszene zu werden.“ Bekker trank einen Schluck Espresso und sprach dann weiter. „Dieser Nathan Maulidi trainiert hier in Mainz und stirbt auf der Tartanbahn während des Lauftrainings. Ein paar Stunden später verschwindet seine Leiche aus der Rechtsmedizin. Ich denke, man muss schon in Betracht ziehen, dass hier etwas nicht stimmt.“
„Denkbar, oder nicht? Ohne Leiche kann ich dir allerdings nichts dazu sagen. Wir haben aber seine Sportkleidung hier. Die solltest du natürlich untersuchen lassen.“
„Das auf jeden Fall, Walter. Wo wohnt denn dieser Finkel?“, grummelte Bekker vor sich hin und blätterte in den Unterlagen. „Ah, hier haben wir es ja, er wohnt im Augustinergässchen.“
„Fängst du dort mit der Recherche an?“
„Ich denke schon.“
Bekker leerte seinen Espresso. Eine Zigarette hätte jetzt gut gepasst, aber Walter war mittlerweile Nichtraucher. Wer hatte dem Ostafrikaner ermöglicht, nach Deutschland zu kommen, fragte er sich. Eine solche Reise war teuer und normalerweise für einen jungen afrikanischen Läufer finanziell kaum zu stemmen, denn bei den Junioren gab es so gut wie nichts zu verdienen. Hatte Maulidi bereits einen Manager, der ihm diese Reise finanziert hatte? Gut möglich. Ein paar dieser Herren haftete kein sonderlich guter Ruf an. Es hieß, dass viele Sportler gnadenlos ausgenutzt würden, vor allem dann, wenn sie es nicht bis in die absolute Weltspitze schafften. Er würde Erna bitten, Maulidis Background zu beleuchten. Sie liebte diese Art der Recherche.
„Was ist los, Schack?“, fragte Walter Kur, der Bekkers abwesenden Gesichtsausdruck bemerkt hatte.
„Eigentlich nichts. Nur werde ich den Eindruck nicht los, dass hinter dem Verschwinden der Leiche deutlich mehr stecken könnte.“
Das Telefon klingelte, es war Erna mit der Information, dass die Spurensicherung da sei. Man habe Kleidung und Sporttasche des Toten durchsucht und im Saum seiner Regenjacke ein Handy gefunden. Die Jackentasche habe ein Loch gehabt.
„Ein Handy? Na, das ist doch was. Könntest du rausbekommen, ob Maulidi einen Manager hatte?“
„Na klar. Und das ist wichtig, weil …?“
„Es dürfte für einen jungen afrikanischen Läufer kein leichtes Unterfangen sein, nach Europa zu kommen. Er brauchte Geld für den Flug, ein Visum und natürlich eine Unterkunft. Und das ist sicher noch nicht alles. Ich gehe jetzt gleich mal bei diesem Sportmedizinstudenten vorbei, bei dem Maulidi untergekommen ist. Er heißt Albrecht Finkel und wohnt im Augustinergässchen.“
„Schöne Ecke. Gut, und ich versuche so viel wie möglich über Nathan Maulidi herauszubekommen. Dann bis später im Büro.“
„Bis dann.“ Bekker legte auf. Die Kaffeemaschine begann zu brummen, was nur bedeuten konnte, dass Walter noch einen Espresso machte. Gleich darauf stand eine frische Tasse auf dem Tischchen vor dem Kommissar.
„Danke, Walter.“ Er hatte wirklich Lust auf eine Zigarette. „Meinst du, ich könnte am offenen Fenster …?“
„Von diesem Laster kommst du, wenn überhaupt, nur los, wenn es dir wirklich an den Kragen gehen sollte. Wünsche ich dir natürlich nicht. Klar kannst du eine rauchen. Warte“, Kur ging zum Fenster und schwang es auf. Bekker folgte ihm. Draußen war es noch immer diesig, aber allmählich verzog sich der Dunst und es wurde heller.
„Und du feierst deinen Sechzigsten tatsächlich am Rosenmontag, Schack? Ich hätte nicht gedacht, dass es dabei bleibt.“
„Manchmal rede ich einfach zu viel, und im falschen Moment. Ein Rückzieher ist nicht mehr drin. Hätt’ ich nur geschwiegen, wär’ ich Philosoph geblieben. Oder so ähnlich.“
Kur grinste amüsiert. „Ja, du warst ziemlich gut drauf, als du die Ankündigung gemacht hast. Man sollte eben nicht in den guten alten Zeiten schwelgen und auch keine allzu großen Reden schwingen. Das geht eigentlich immer schief.“
„Du machst dir keine Vorstellung davon, wie schwierig es ist, einen Laden zu finden, der bereit ist, am Rosenmontag einen runden Geburtstag auszurichten“, seufzte Schack vernehmlich.
„Mit Ausnahme von der Kleinen Stadthalle“, warf Kur ein.
„Die ist zu klein, und außerdem möchte ich, dass Helga mitfeiert.“
„Also hast du doch schon was gefunden?“
„Lass dich überraschen, noch ist ja ein bisschen Zeit.“
„Noch Zeit? Du hast vielleicht Nerven. Vergiss nicht, du musst auch noch Einladungen rausschicken.“
Bekker nickte, es sah aber ganz danach aus, als würde er seinem Freund nur mit halbem Ohr zuhören. Kur beließ es dabei. Eine Sache gab er seinem alten Freund aber noch mit auf den Weg: „Seht zu, dass ihr die Leiche findet, sonst stehen wir auf ziemlich verlorenem Posten. Wenn du mir Maulidi bringst und er tatsächlich ermordet wurde, dann bekomme ich das auch raus. Und wenn ich meinen guten Ruf davon abhängig mache. Versprochen.“
„Ich hege die Hoffnung, dass uns dieser Sportmedizinstudent ein paar wichtige Informationen liefern wird.“
„Halt’ mich einfach auf dem Laufenden, Schack.“
AUGUSTINERGÄSSCHEN
Altstadt, Augustinergässchen – Montagmorgen
Bekker machte sich zu Fuß auf den Weg in das Herz der Altstadt. Dieses Mal nahm er die Gaustraße, kaufte sich einen Kaffee zum Mitnehmen und machte Halt bei dem Buchladen Shakespeare und so, wo er sich den neuesten Schorlau-Krimi kaufte. Er mochte politische Krimis, außerdem war ihm dieser Ermittler Dengler sympathisch. Vielleicht weil er rundum kompetent und nicht übermäßig ambitioniert war. Hohe Qualität bei der Arbeit musste nicht immer zwangsläufig mit krankhaftem Ehrgeiz zusammenfallen, fand Bekker. Das gefiel ihm. Die Romane waren bestens recherchiert und neben der Lesefreude wurde man zudem noch über einen Skandal informiert, dessen Hintergründe man in den meisten Fällen nur ungenügend kannte. Als er zehn Minuten später die Augustinerstraße erreichte, gönnte er sich in der Piccola Salumeria noch eine Focchaccia mit gegrillten Zucchini und halbgetrockneten Tomaten. Man muss dem Körper etwas Gutes tun, damit die Seele Lust hat, darin zu wohnen … oder so ähnlich jedenfalls.
Er hatte noch immer keinen Ort gefunden, wo er seinen Geburtstag ausrichten konnte. Dann kam ihm die Idee, seinen Lieblingsgriechen zu fragen. Bekker war sich allerdings nicht sicher, ob dieser am Rosenmontag geöffnet haben würde. Das wäre zumindest eine Möglichkeit. Er zog sein Handy aus dem Mantel und wählte die Nummer des Lokals, aber es meldete sich nur der Anrufbeantworter. Anrufbeantworter! Früher, als diese Dinger aufkamen, schienen sie gleich zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen: Zum einen gaben sie einem das Gefühl ewiger Erreichbarkeit und zum anderen die wunderbare Gelegenheit, unliebsame Anrufer auf Band zu parken. „Parakalo! Hier ist die Taverne Syros. Sie rufen leider außerhalb unserer Öffnungszeiten an. Bitte sprechen Sie nach dem Signalton.“
„Hallo, hier ist Schack. Ich müsste etwas besprechen. Also, es geht um eine Feier, die ich gerne bei euch ausrichten würde. Dazu bräuchte ich das ganze Lokal. Besser, ich melde mich nachher nochmal bei euch.“ Bekker schüttelte den Kopf über die Art und Weise, wie er auf den AB gesprochen hatte. Er hatte weder seinen vollständigen Namen, noch das Datum oder den genauen Anlass erwähnt. „So ganz richtig tickst du nicht, mein Lieber“, murmelte er vor sich hin.
Auf Höhe der Frankfurter Hofs war ein Banner quer über die Straße gespannt worden. ‚Internationaler Dopingkongress‘ war darauf zu lesen. Das Ganze begann morgen. Das Thema Doping im Sport tauchte regelmäßig in den Medien auf. Man hatte den Eindruck, dass es alle paar Jahre einen großen Skandal gab, die Schuldigen wie die sprichwörtliche Sau durchs Dorf getrieben wurden und dann erst einmal wieder Ruhe einkehrte und alles weiterlief wie zuvor. Dass der Radsport verseucht war, wusste man, auch in der Leichtathletik und beim Wintersport ahnte man die Ausmaße. Bekker überlegte, wann es bei den Olympischen Winterspielen diesen Skandal mit den österreichischen Sportlern gegeben hatte. Turin 2006, ja, daran konnte er sich noch gut erinnern. Wenn man die Sache emotionslos betrachtete, war klar, dass es natürlich nicht nur eine Skisportnation gewesen war, die gedopt hatte. Gerade erst kürzlich hatte er eine Doku in der ARD gesehen, in der es um den Leistungszuwachs durch Steroide, EPO etc. ging. Niemand, der nicht vollkommen naiv war, konnte ernsthaft glauben, dass die Leistungen in der Spitze ohne jedes Hilfsmittel erreicht werden konnten. Und wenn doch, bedeutete es, dass man um Längen besser sein musste als viele andere. Was muss das für ein beschissenes Gefühl sein, dachte Bekker, vor allem, weil man seine Gegner ja meist über Jahre hinaus kennt und vermutlich ein Gefühl dafür hat, was der oder die Einzelne zu leisten imstande ist. Und, was die Person möglicherweise bereit ist, zu tun, um siegreich zu sein. „Ein Moloch“, sagte sich Bekker und ging weiter. Er war am Augustinergässchen vorbeigelaufen, weshalb er in die nur wenige Meter weiter gelegene Augustinerreul, die die Mainzer auch liebevoll ‚Reilsche‘ nannten, einbog. Dabei handelte es sich um das schmalste Gässchen der Altstadt, die auch zu dem Haus führte, wo sich Albrecht Finkel und Nathan Maulidi eine Wohnung geteilt hatten. Bekker erreichte die Eingangstür und klingelte. Als sich nichts tat, klingelte er erneut, dann ein weiteres Mal. Endlich meldete sich jemand an der Sprechanlage.
„Hallo?“
„Ist da Albrecht Finkel?“
„Ja, wer spricht?“
„Hauptkommissar Bekker. Ich möchte Ihnen ein paar Fragen über ihren Mitbewohner Nathan Maulidi stellen.“
„Der ist nicht da.“
„Ich weiß, sind nur ein paar Fragen.“
„Erster Stock.“ Der Summer ertönte, und Bekker drückte die Tür auf. Der Eingangsbereich des Hauses war hell und überschaubar, eine langgezogene Holztreppe führte nach oben. Der Kommissar ließ sich für gewöhnlich Zeit beim Treppensteigen, denn er konnte es nicht ausstehen, außer Atem zu geraten, ganz besonders dann, wenn gleich eine Befragung oder etwas Ähnliches anstand. Die Tür links vom Absatz stand einen Spalt breit offen. Bekker klopfte und trat ein. Er stand in einem kurzen, rechteckigen Flur, von dem aus es rechter Hand in die Küche und geradeaus ins Wohnzimmer ging. Mehrere Sportschuhe und Trainingsjacken fielen ihm auf.
„Ich bin gleich bei Ihnen“, kam es aus dem hinteren Teil der Wohnung. Der Kommissar warf einen Blick in die Küche – eine einfache Kaffeemaschine fiel ihm ins Auge, außerdem jede Menge Vorratsdosen, die Müsli und ähnliche Zerealien beinhalteten. Eine große Schale mit Obst, ein Mixer. Er ernährt sich, wie man es erwarten würde, befand Bekker. Allerdings stand auch eine Kiste Bier unter dem Fenstersims. Das war ja fast wie bei ihm zu Hause.
Er ging weiter ins Wohnzimmer, das auffallend aufgeräumt aussah. Fernseher und Couch samt Couchtisch standen rechts, ein Esstisch und zwei Stühle waren ziemlich zentral im Raum platziert und links eine recht gut gefüllte Bücherwand. Dazu eine Deckenleuchte, die aus drei Strahlern bestand und exakt auf Couch, Regal und Tisch gerichtet war. Auch lag nichts herum, weder Sportschuhe noch Trainingstasche oder Studienmaterial. Finkel war ganz offenkundig jemand, der Ordnung mochte und womöglich auch brauchte, denn so lernte es sich zweifelsohne besser. Er war gespannt, wie es in Maulidis Zimmer aussehen würde.
Als Finkel den Raum betrat, begutachtete Bekker ihn mit einem gekonnt schnellen Blick – sein Gegenüber war gut einen Meter neunzig groß, hatte dunkelbraunes Haar, die Seiten waren ausrasiert. Er trug ein Laufshirt und kurze Hosen, war sportlich und ziemlich muskulös, aber nicht unnatürlich. So stellte man sich einen Modellathleten vor, perfekt fürs Werbeplakat. Seinem Auftreten nach zu urteilen, schien er vom Tod seines Zimmergenossen noch nichts zu wissen. Bekker entschied sich spontan für eine andere Gesprächstaktik als gewöhnlich. Er würde Finkel nicht gleich über den Tod seines Zimmergenossen aufklären. Warum er so vorgehen wollte, hätte er nicht sagen können. Lag es daran, dass ihm beim Anblick dieses jungen Mannes der Begriff Selbstoptimierung nicht aus dem Kopf ging? Der Ausdruck kennzeichnete für Bekker eine Fehlentwicklung, nicht nur auf physischer Ebene. In einem gesunden Körper wohnte nicht zwangsläufig ein gesunder Geist. Diese verkürzte und aus dem Zusammenhang gerissene Aussage des römischen Satirikers Juvenal hatte sich schon einmal eine ganze Bewegung als Leitsatz auf die Fahnen geschrieben. Diese Riefenstahl-Ästhetik war momentan wieder vollends präsent.
„Guten Morgen, Herr Finkel“, begann er das Gespräch und stellte sich nochmals vor.
„Hallo Herr Kommissar“, erwiderte der Sportmedizinstudent.
„Sie wissen vermutlich nicht, warum ich hier bin.“
„Nein, das weiß ich nicht.“
„Nathan Maulidi wohnt doch für ein paar Wochen bei Ihnen, oder?“
„Ja, er ist zum Training aus Tansania in Mainz und wohnt für drei Wochen bei mir.“
„Seit wann ist er denn hier?“
„Seit zehn Tagen.“
„Wissen Sie, wann er aus dem Haus gegangen ist?“
„Er ging gestern Mittag zum Training und ist seitdem nicht mehr hier aufgetaucht. Wo er jetzt ist, kann ich Ihnen leider nicht sagen. Wir haben uns seitdem nicht mehr gesehen.“
„Verstehen Sie sich gut mit ihm?“
Finkel irritierte die Frage, das hatte Bekker auch beabsichtigt. „Ja, schon. Aber wir haben nicht sonderlich viel gemein. Jeder geht mehr oder minder seinen eigenen Weg.“
Der Student wirkte ruhig und selbstsicher, er wusste nichts von Maulidis Tod und dem Verschwinden der Leiche, da war sich Bekker sicher. Oder er war ein genialer Lügner. Der Kommissar würde ihn testen.
„Ich muss Ihnen leider mitteilen, dass ihr Mitbewohner gestern gegen 17 Uhr während des Trainings zu Tode gekommen ist.“
„Was sagen Sie da?“, brach es aus Finkel heraus. „Das kann doch nicht wahr sein!“ Er war plötzlich weiß wie die Wand, Schweißperlen standen ihm auf der Stirn.
„Setzen Sie sich erst einmal hin auf den Schock.“
Er tat, wie ihm geheißen, und ließ sich auf die Couch fallen. Man konnte ihm ansehen, wie er versuchte, das Gehörte zu begreifen.
„Aber das, nein, das kann doch nicht sein. Maulidi war topfit, ein Ausnahmetalent.“ Und er wiederholte ungläubig: „Wie kann das denn sein? Ich, ehrlich, ich bin total fertig.“ Sein Entsetzen klang aufrichtig und unverstellt.
„Wissen Sie, warum er hier in Deutschland war?“
„Nein, keine Ahnung.“ Die Antwort kam Bekker etwas zu schnell, er würde später noch einmal nachhaken.
„Wie kam es dazu, dass er bei Ihnen gewohnt hat?“
„Ich vermiete dieses Zimmer gelegentlich unter, wenn ich Geld brauche. Wochen- oder auch monatsweise, das klappt ganz gut. Sie wissen ja, in Mainz ist es nicht gerade einfach, eine Bleibe zu finden.“
„Das alte Lied, viele Studenten und viel zu wenig bezahlbare Wohnungen. Hat sich Maulidi direkt an Sie gewandt?“
„Ja, per Mail. Er hat den Kontakt wohl von jemandem bekommen, aber von wem, weiß ich nicht.“
„Ich müsste mal sein Zimmer sehen. Könnten Sie … ?“
„Aber klar.“ Finkel kam auf die Beine und bat den Kommissar, mitzukommen. Das Zimmer lag zum Innenhof, es passten gerade mal ein Bett, ein kleiner Tisch samt Stuhl und ein Schrank hinein. Alles sehr sauber und aufgeräumt.
„Dann lasse ich Sie mal Ihre Arbeit machen“, bemerkte Finkel und ließ den Kommissar allein.
„Ist gut, danke.“
Das Bett war gemacht, neben dem Kissen lag ein Buch. Bekker las den Titel: „Born to run“ von Christopher McDougall. Er griff nach dem Buch und las den Klappentext. Es ging um den mexikanischen Stamm der Tarahumara, die die Fähigkeit besitzen, länger und besser zu laufen, als die besten Ultra-Runner. Er sollte unbedingt einen Blick in das Buch werfen. Im Schrank stand der ausgeräumte Koffer Maulidis, nur wenige Kleider hingen an den Bügeln. Dazu ein Paar einfache, abgetragene Straßenschuhe. Der junge Mann war definitiv nicht wohlhabend gewesen. Wie also hatte er, oder wer hatte ihm die Reise finanziert? Und vor allem, warum? Was wollte Maulidi hier in Mainz während der Wintermonate? Keinen Afrikaner zog es bei frostigen Temperaturen ohne Grund ins kalte Deutschland.
Nachdem Bekker sich in dem kleinen Zimmer umgesehen hatte, musste er feststellen, dass es nichts weiter zu finden gab außer seinem Ausweis, den Reiseunterlagen und einem Foto mit ihm in Laufkleidung vor dem Kilimandscharo, dem Wahrzeichen Tansanias. Die Miete, fiel dem Kommissar ein, wie hatte Maulidi seine Miete bezahlt? Bekker ging zurück zu Finkel. Er fand ihn in der Küche beim Obstschneiden.
„Ihr Sportlerfrühstück?“, fragte Bekker ihn.
„Mir ist zwar gerade nicht nach essen zumute, aber ein gesundes Frühstück ist die halbe Miete für den Tag. Ich habe eine Frage, Herr Kommissar.“
„Nur zu.“
„Gibt es irgendetwas Ungewöhnliches an seinem Tod?“
„Nun, die Todesursache konnte bislang nicht geklärt werden. Und wenn Zweifel bestehen, ob jemand eines natürlichen Todes gestorben ist, treten wir von der Mordkommission auf den Plan.“
Finkels Augen weiteten sich. „Mordkommission? Um Himmels willen! Nathan ist doch beim Training zusammengebrochen.“
„Wenn aber die Leiche aus der Rechtsmedizin verschwindet, schrillen bei uns natürlich die Alarmglocken.“ Er würde ihm nicht sagen, dass Maulidi noch nicht obduziert gewesen war.
„Nathans Leiche gestohlen?“ Finkels Verblüffung, bei der Bekker auch ein gewisses Entsetzen zu erkennen glaubte, war nicht gespielt. „Und Sie glauben, er wurde umgebracht?“
„Das kann ich nicht sagen. Fakt ist allerdings, wir haben einen ungeklärten Todesfall und die Leiche wurde gestohlen. Ein ziemlicher Aufwand, wenn nichts vorliegen würde.“
„Da haben Sie natürlich Recht.“ Finkel atmete schwer, er hatte das Messer zur Seite gelegt und strich sich mit der linken Hand über die Stirn. Die Situation schien ihn sichtlich zu überfordern.
„Noch eine letzte Frage: Ist Ihnen an Maulidis Verhalten irgendetwas aufgefallen, dass Sie stutzig gemacht oder irritiert hat?“
Dieses Mal überlegte der Student länger, er schien abzuwägen, in Gedanken Situationen durchzugehen. Schließlich sah er auf und schüttelte langsam und bestimmt den Kopf. „Nein, das könnte ich wirklich nicht sagen. Nathan war ein umgänglicher und freundlicher Typ, aber auch sehr ernst- und gewissenhaft. Total diszipliniert eben. Scheiße, ich kann das nicht glauben …“
„Vielen Dank, Herr Finkel. Das war es erstmal. Ich lasse Ihnen meine Karte hier, falls Ihnen noch etwas einfallen sollte.“
Als Bekker wieder vor dem Haus stand, hatte leichter Regen eingesetzt. Er schaute noch einmal hinauf zu den Fenstern der Wohnung, wo Maulidi die letzten Tage seines Lebens gewohnt hatte. Irgendein Geheimnis umgab ihn, das stand außer Frage. Noch wussten sie zu wenig über den jungen Ostafrikaner. Als er wieder auf die Augustinerstraße trat, fragte er sich, ob Erna bei ihrer Recherche etwas über Maulidi herausgefunden hatte.
UNTER BEOBACHTUNG I
Mainz, Trainingsgelände – Rückblick: Sonntagnachmittag
Alles war perfekt vorbereitet, zwei Tage hatte er den jungen Sportler beobachtet. Immer war es der gleiche Ablauf: Er machte sich warm, trainierte eine Stunde, dann folgte eine viertelstündige Pause. Erneut eine halbe Stunde Training, wieder eine Pause und abschließend nochmal dreißig Minuten.
In den Pausen trank er Wasser aus einer großen PET-Flasche. Es war ein Leichtes gewesen, die Flasche im Anschluss an die erste Pause auszutauschen und sich dann in sicherem Abstand aufzuhalten. Aus einiger Entfernung beobachtete er den jungen Mann, der athletisch seine Runden drehte. Schnell, elegant, fast wie eine Gazelle. Dann plötzlich, nach vielleicht fünf Minuten, krampfte der Sportler. Ein kurzer Aufschrei, er griff sich ans Herz, taumelte noch ein paar Meter und brach schließlich auf der Tartanbahn zusammen. Es dauerte eine ganze Weile, bis man ihn entdeckte, denn die anderen Sportler trainierten in der Halle. Die Wiederbelebungsversuche waren erfolglos. Im Krankenwagen wurde er abtransportiert. Als das Martinshorn kaum mehr zu hören war, kam der Unbekannte zurück auf den Sportplatz. Dort durchsuchte er vergeblich die Tasche des Läufers nach dessen Handy, tauschte die Plastikflasche wieder aus und verschwand vom Trainingsgelände. An der Häuserecke angekommen, nahm er sein Handy zur Hand und sendete eine kurze Textnachricht: Die Gazelle ist erledigt. Just in diesem Moment starb Nathan Maulidi im Krankenwagen.
FRAGEN ÜBER FRAGEN
Altstadt, Polizeirevier – Montagmittag
Hauptkommissarin Erna Dunst stand am Fenster ihres Büros und sah in den Regen hinaus. Was für ein bescheidenes Wetter, dachte sie. Ihr war es gelungen, sich in kurzer Zeit ein recht vollständiges Bild von dem Toten zu machen. Schack hatte mit seiner Vermutung richtig gelegen, Nathan Maulidi hatte tatsächlich seit einem halben Jahr einen Manager. Josef Elster, ein Österreicher, der international arbeitete und einen etwas zweifelhaften, aber dennoch untadeligen Ruf besaß. Er war eine ziemlich große Nummer im Sportmanagement, der Stars des Spitzensports unter Vertrag hatte. Auf junge Toptalente zu setzen, diente sicherlich dazu, seine Stellung langfristig zu sichern. Die Kommissarin hatte die Adresse der Agentur herausgesucht und würde gleich dort anrufen. Die Information über den Tod von Elsters Schützling war Anlass genug. Und sie war gespannt, wie der Manager auf die Nachricht, dass die Leiche verschwunden war, reagieren würde. Das war definitiv kein alltäglicher Vorfall, und falls Elster in irgendwelche anrüchigen Geschäfte verwickelt war, besaß diese Information womöglich einiges an Sprengkraft.
Erna ging zurück an ihren Schreibtisch und wählte die Nummer. Eine freundliche, jung klingende Frau mit starkem österreichischen Akzent meldete sich. „Grüß Gott, Sportagentur Elster. Mein Name ist Marianne Mündel. Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Guten Tag, Frau Mündel. Hauptkommissarin Dunst aus Mainz. Ich müsste Josef Elster wegen einem seiner Klienten sprechen. Könnten Sie mich bitte verbinden?“
„Polizei? Wenn Sie sich einen Augenblick gedulden, stelle ich Sie gerne zu Herrn Elster durch.“
Alphörner in Dauerschleife schallten Erna entgegen. Es dauerte eine ganze Weile, bis das Gedudel endlich abbrach, es in der Leitung knackte und sich eine sonore Stimme meldete. „Grüß Gott, Josef Elster am Apparat. Mit wem habe ich die Ehre?“
„Hauptkommissarin Erna Dunst aus Mainz. Ich müsste mit Ihnen über Ihren Schützling Nathan Maulidi sprechen.“
„Nathan Maulidi? Ja, bitte, ich bin ganz Ohr.“
„Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass Herr Maulidi gestern während des Trainings zu Tode gekommen ist.“
Stille am anderen Ende der Leitung. Nach ein paar Augenblicken fragte die Kommissarin nach: „Herr Elster, sind Sie noch dran?“
„Ja, natürlich. Entschuldigen Sie bitte. Gestorben beim Training, sagen Sie? Wenn Sie aus Mainz anrufen, ist das vermutlich auch in Mainz passiert, nehme ich an?
„Ganz genau.“
„Das darf doch nicht wahr sein.“ Wieder folgte eine längere Unterbrechung des Gesprächs, die Elster dieses Mal jedoch selbst beendete. „Und die Todesursache?“
Jetzt würde Sie sehen, wie er reagierte. „Das können wir momentan noch nicht sagen.“
„Wieso das denn? Die Todesursache in solchen Fällen ist doch meist Herzversagen, ein Infarkt oder auch mal ein Aneurysma.“
„Das ist nicht der Grund, Herr Elster. In unserem Fall fehlt es an der zu obduzierenden Leiche.“ Erneutes Schweigen, die Kommissarin wartete ab.
„Haben Sie die Leiche verlegt, oder wie darf ich Ihre Bemerkung verstehen?“ Elster war nach wie vor ausgewählt höflich, aber sein Tonfall wurde ein wenig schärfer.
„Nathan Maulidis Leiche wurde noch in der Nacht nach seinem Tod aus der Mainzer Rechtsmedizin gestohlen.“
„Wie bitte? Habe ich das richtig verstanden? Das kann doch nicht sein. So etwas habe ich ja noch nie gehört.“ Elster klang empört.
„Das sind leider die Fakten. Wir stehen bislang vor einem Rätsel. Darf ich Ihnen noch ein paar Fragen zu Herrn Maulidi stellen?“
„Aber natürlich.“