Verschossen - Peter Jackob - E-Book

Verschossen E-Book

Peter Jackob

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Beschreibung

Ein feuchtfröhlicher Abend in der Mainzer Altstadt: Schack Bekker feiert ausgelassen mit seinem Kneipenfreund Norbert Neumann und den Jungs von der Bundesliga-Tipprunde. Der Kommissar ahnt nicht, dass er Neumann zum letzten Mal sieht. Ein paar Tage später erfährt er von seiner Kollegin Erna, dass der Freund spurlos verschwunden ist. Von dunklen Machenschaften und fatalen Wettmanipulationen, die mit Neumanns Abtauchen in Zusammenhang stehen, weiß bis dato noch niemand etwas. "Verschossen" ist nicht nur ein folgenschwerer Elfmeter, der zum Auslöser einer tödlichen Eskalation wird. "Verschossen" ist auch die längst überfällige Liebesgeschichte zwischen dem eigenwilligen Mainzer Altstadtkommissar und der charmanten Kollegin. Ein Muss für Fans von Schack Bekker, Meenzer Urtyp, der in seinem neuen Fall gewohnt schnoddrig ermittelt und kein Blatt vor den Mund nimmt.

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Seitenzahl: 267

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Peter Jackob
Verschossen
Kommissar Schack Bekker ermittelt in Mainz
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2016 Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Satz: Julia Desch, Societäts-Verlag
Umschlag: Axel Weber
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-237-0
Die dargestellten Ereignisse sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit tatsächlichen Gegebenheiten oder Personen ist rein zufällig. Aus erzähltechnischen Gründen wurde die Mordkommission in die Altstadt gelegt.
Die Menschen verlieren zuerst ihre Illusionen, dann ihre Zähne und ganz zuletzt ihre Laster.
Hans Moser
Für Albert, Alexander, Bernd, Geraldine, Helga, Peter, Jürgen, Klaus, Lothar, Niklas, Ralf, Winfried und die ganze Narrenschar

Prolog

Leon verabschiedete sich, schwang seine Sporttasche über die Schulter und verließ den Sportplatz, der etwas außerhalb lag. Das private Sondertraining war beendet, hart und schweißtreibend war es gewesen. Nur noch ein paar Jahre, dann würde er es geschafft und sich seinen großen Traum erfüllt haben. Er gehörte zur Elite der Nachwuchskicker und war auf dem Sprung, sich selbst unter den Besten der Besten einen Namen zu machen. Nichts und niemand würde ihn aufhalten können, sein Talent war nach Meinung vieler Trainer überragend: ein top Torhüter mit Gardemaß-Größe.
Er hatte herausragende körperliche Voraussetzungen, war dazu mit unverzichtbaren Attributen wie Wille, Intelligenz und Durchsetzungsvermögen reich gesegnet. Außerdem hatte Leon einen ehemaligen Fußballprofi als Vater, der es mit seinem ungeheuren Ehrgeiz bis in die 2. Bundesliga geschafft hatte und ihm mit Rat und Tat zur Seite stand. Er liebte sein Leben. Manchmal hätte er sich zwar gewünscht, von seinem Vater nicht ganz so intensiv betreut zu werden, aber man konnte nicht alles haben.
Jede Hürde hatte Leon bislang ohne Schwierigkeiten gemeistert. Selbst die lästige Schule bekam er auf die Reihe. Nur gelegentlich nahm er die Lernbetreuung in Anspruch, die der Verein zur Verfügung stellte. Ab und an fragte sich Leon, ob nicht alles etwas zu leicht ging. War vielleicht alles nur ein Traum? Nein: es war real und einfach phantastisch.
Er ging über den Feldweg nach Hause. Der zehnminütige Spaziergang war ideal, um seinen müden Knochen Ruhe zu gönnen. Leon träumte von den großen Stadien, in denen er in Zukunft spielen würde. Und natürlich von den Zuschauern, die ihm und der Mannschaft zujubeln würden. Es war angenehm warm, gerade so, dass man den Trainingsanzug tragen konnte, ohne zu schwitzen.
Plötzlich tauchten zwei Typen rechts und links von ihm auf und gingen neben ihm her. Leon schätzte ihr Alter auf 30, vielleicht auch etwas älter. Der kleinere der beiden sah ungepflegt aus, war untersetzt, etwas dicklich und trug einen schwarzen Rucksack. Der andere war deutlich größer, hager, blass und grinste dumm vor sich hin. Leon wollte die unbehagliche Situation entschärfen und sprach sie an. Er fragte, woher sie kamen, doch er bekam keine Antwort. Auch wenn er gewiss kein ängstlicher Teenager war, aber ganz geheuer schien ihm das nicht.
Ein paar Minuten vergingen, bis der Lange ihn plötzlich anblaffte:
„Kennst du Justin Schmidtke-Rosen?“
„Na klar, mit dem spiele ich zusammen.“
„Warum hast du deinen Freund hängen lassen?“
Leon antwortete verwundert: „Was? Ich Justin hängen lassen? Das stimmt nicht.“
Langsam begann er zu ahnen, worauf die beiden anspielten, und so fügte er hinzu: „Bei einer Sache habe ich ihm einmal richtig geholfen, aber das war es in dieser Angelegenheit auch.“
Wieso wussten sie überhaupt etwas davon? Er hatte Justin gesagt, dass es genug sei und er diesen Mist nicht mehr mitmache. Sein Kumpel musste selbst sehen, wie er aus der Scheiße rauskam. Und damit Schluss. Wütend setzte er nach: „Was geht euch beide das überhaupt an? Verpisst euch!“
Das stellte sich als unverzeihlicher Fehler heraus, denn der Untersetzte zog blitzschnell einen Baseballschläger aus dem Rucksack und schlug zu. Erst ins Kreuz, dann mehrfach auf das rechte Knie. Leon schrie auf und fiel – er versuchte hochzukommen, sich zu wehren, doch eine Flut von Tritten und Schlägen hämmerte gnadenlos auf ihn ein. Dann war plötzlich alles vorbei und ihm wurde schwarz vor Augen.
Als Leon wieder zu sich kam, lag er noch immer auf dem Feldweg und konnte sich nicht rühren. Der Geschmack von Blut – er spuckte aus. Diese höllischen Schmerzen waren kaum zu ertragen. Als er nach mehreren Versuchen hochkam, konnte er sein rechtes Bein nicht anwinkeln. Das Knie blockierte und er hatte zudem den Eindruck, sein linker Fuß sei so dick angeschwollen, dass dieser nie mehr in einen Schuh passen würde. Leon schaffte nur ein paar Meter, dann musste er sich an den Feldrand setzen und ausruhen. Tränen liefen ihm übers Gesicht, aber nicht wegen der Schmerzen.
Als die Untersuchungen abgeschlossen waren, blieb Leon nur noch, auf die Einschätzung des Mannes zu warten, auf den er all seine Hoffnungen setzte. Mit ungeheurer Akribie hatte sich Professor Lothar um ihn gekümmert und jegliche Möglichkeit ausgelotet. Der Heilungsverlauf nach der Operation war hervorragend gewesen, auch das Aufbautraining war ohne Probleme verlaufen. Doch als er wieder voll ins Mannschaftstraining einsteigen wollte, hatten sich mit einem Mal unerträgliche Schmerzen eingestellt und das Knie hatte sich entzündet. Keine Therapie half. Jedes Mal, wenn Leon versuchte, das Knie zu belasten, waren die Schmerzen wieder da.
Als der Professor die Tür seines Besprechungszimmers öffnete, sah er ernst aus. Die Diagnose war niederschmetternd, denn es gab, rein physisch betrachtet, keinen Grund für Leons Schmerzen. Und das bedeutete, es gab auch keine klare Therapie.
Jede mögliche Behandlung wurde versucht, doch das Resultat war immer dasselbe: Das Knie entzündete sich bei starker Belastung. Leistungssport würde also nicht mehr möglich sein. Für Leon Fersting brach die Welt zusammen: Sein lang gehegter Traum, Profi zu werden, war wie eine Seifenblase geplatzt.
Bald darauf verließ Leon seinen Vater und zog nach Köln, um Abstand zu gewinnen und ein neues Leben zu beginnen. All das, was geschehen war, wollte er ein für alle Mal vergessen.

Die Feier

Prost, dass die Gurgel nicht verrost“, rief Werner Niesberg, sein Schoppenglas in die Höhe reißend. „Auf unseren Schack, der nicht an seinen glanzvollen Tipperfolg aus dem Vorjahr anknüpfen konnte. Also, wenn es bei uns einen Absteiger geben würde, dann wäre er fällig.“
Die Runde stieß ein weiteres Mal auf den Ausrichter des Abends an und Niesberg fuhr fort:
„Trinkt, was ihr könnt! Ihr wisst ja: Punkt Mitternacht ist der Zauber vorbei, dann kann auch unser Schack wieder gut lachen. Und nachdem wir jetzt festlich gespeist haben, kommt endlich die mit großem Interesse erwartete Aufgabe, die wie immer der Gewinner dem Letztplatzierten stellt.“
Er wandte sich ans andere Tischende.
„Norbert, was hast du denn im Sinn?“
Norbert Neumann, ein schmächtiger Mann, der kaum mehr als 1,70 Meter maß, blickte mit funkelnden Augen in die Runde und erhob sich übertrieben langsam, was dem Ganzen eine gewisse Spannung verlieh. Sein verschmitztes Lächeln verriet, dass er sich etwas Besonderes für Bekker ausgedacht hatte. Neumann, der erst seit wenigen Jahren im Kreis der Kleinen Stadthalle verkehrte, sah sich um. Irgendwie war es gerecht, dass er gewonnen hatte. Ihm war es letztendlich zu verdanken, dass diese Tipprunde überhaupt existierte und seitdem jeder Bundesliga-Spieltag ein besonderes Vergnügen darstellte, denn die Spannung hing nicht mehr nur von der Qualität der Partien ab. Neumann rieb sich die Hände, holte tief Luft und setzte zu einer Rede an:
„Wir alle wissen, dass der Schack ein eingefleischter 05er ist. Ganz im Gegensatz zu mir, der ich tief aus dem Hessischen stamme und die Eintracht im Blut habe.“ Er hielt wie ein geübter Zeremonienmeister inne, der durch die Pause seinem Publikum die Gelegenheit gibt, alle möglichen und unmöglichen Szenarien im Kopf durchzuspielen und es damit in seinen Bann zog.
„In drei Wochen spielt die Eintracht in Mainz.“ Neumann zog aus seinem Hemd zwei Eintrittskarten heraus. „Also habe ich meine alten Kontakte genutzt und zwei Karten besorgt. Für den Herrn Kommissar und mich.“
„Aber es gibt doch noch Karten. Und Schack hat ohnehin eine Dauerkarte“, wandte Professor Walter Kur, Leiter der rechtsmedizinischen Abteilung, ein.
Bekker schien bereits verstanden zu haben, was sein Kneipenfreund vorhatte: „Das kann nicht dein Ernst sein, Nobert.“
Niesberg, der nicht gleich begriff, worauf Bekker hinauswollte, blickte zwischen den beiden hin und her und sagte nur: „Raus damit!“
Neumann legte die Eintrittskarten nebeneinander auf den Tisch und deutete auf den Block: J.
„Du hast doch was an der Erbs, Norbert! Zu euren Schwarzkitteln stelle ich mich ganz gewiss nicht“, sagte Bekker bestimmt.
„Ich dachte, Spielschulden sind Ehrenschulden.“
„Aber es gibt Grenzen“, warf Bekker ein, auch wenn ihm klar war, dass er aus der Sache nicht herauskommen würde. Lamentieren war lächerlich, und das Letzte, was er sein wollte, war ein Spielverderber.
Niesberg meldete sich zu Wort.
„Das wird bestimmt lustig, Schack. Du solltest nur nicht im falschen Moment jubeln, denn dann hilft dir auch deine Polizeimarke nichts mehr.“
Sein breites Grinsen fiel jedem am Tisch auf.
„Aber das Schönste ist, dass du die Eintracht-Lieder hautnah miterlebst“, lachte Neumann. „Du weißt ja, ich habe wirklich nichts gegen die 05er, aber euer Liedgut ist nicht gerade das einfallsreichste.“
„Babbel di Babb“, raunzte Bekker ihn an, obwohl er wusste, dass Neumann nicht völlig Unrecht hatte. So etwas Kultiges wie das Schlumpflied bräuchte es mal wieder. Aber das war natürlich leichter gesagt als getan. Immerhin gab es die legendäre „Humba“, die von Mainz aus in die ganze Liga Einzug gehalten hatte.
„Mitsingen kannst du vergessen. Ich geh’ mit, halt’ meine Schnauze und fall’ nicht auf. Das war es dann aber auch.“
„Wir treffen uns zur Mittagszeit bei der Helga, trinken noch ein, zwei, drei Bierchen und nehmen dann den Bus am Höfchen. Einverstanden?“
„Amen, so sei es“, gab Bekker zur Antwort, bestellte eine Runde Mutters Bester, stand auf und ging zur Toilette. Da hatte sich Norbert ja was Schönes ausgedacht. Natürlich fühlte es sich übel an, im Eintracht-Block stehen zu müssen, aber es würde zweifelsohne einiges zu lachen geben, wenn die Geschichte überstanden war. Bislang hatten die 05er in der Bundesliga ja noch kein Spiel zu Hause gegen die Eintracht verloren. Bloß nicht dieses Mal, wenn er in den Gästeblock musste, dachte der Kommissar, das wäre die Höchststrafe. Wenn es einen Gott gab, möge er ihn verschonen.

Bekkers Welt

Bekker strauchelte, als er vom Salmengäßchen kommend auf den Liebfrauenplatz wankte. Der Norbert hatte wirklich einen Dachschaden, aber vielleicht war es gar nicht so schlecht, das Spiel mal vom Gästeblock aus zu erleben. Viel gelacht hatten sie, meist über dieselben alten Witze und Anekdoten, die doch eigentlich jeder kannte.
„Rucke di gu, rucke di gu, Blut ist im Schuh“, nuschelte der Kommissar und grinste. Gestern hatte er seine Enkelin Anne zu Besuch gehabt und mit ihr Aschenputtel geschaut. Sie hatte es schrecklich aufregend gefunden und sich für ihren nächsten Besuch bei ihm eine Wiederholung gewünscht. Natürlich würde er ihr diese Bitte erfüllen.
„Ruuucke di guu, en blutische Schuh“, rief Bekker lachend. Im nächsten Moment stolperte er über einen aus dem Boden herausstehenden Pflasterstein. Die Tücken der Altstadt!
„Was soll denn der Scheiß?“, brummte er und blieb stehen. Er besah sich die Stelle, wo sich der Stein seiner Meinung nach hätte befinden müssen, doch da war er nicht. Sobald dieses gefährliche Objekt aufgespürt war, würde er Meldung erstatten und die Stelle abflattern lassen.
„Gefährdung für Leib und Leben – eine Geeefährdung isses.“ Er mühte sich auf den Boden und observierte ernst dreinblickend das steinige Feld um ihn herum. Doch wie nicht anders zu erwarten, war der vermeintliche Übeltäter nicht auszumachen. Also legte er den Kopf aufs Pflaster.
„Ich find’ dich sowieso. Komm raus, Feigling!“
Plötzlich griff ihn jemand am Arm. Bekker drehte sich um und wollte schon lospoltern, doch dann erkannte er Neumann.
„Ei, Norbert, wo kommst du denn her? Wir hatten uns doch schon verabschiedet.“
„Was machst du denn da, Schack?“, fragte der in Cord gekleidete Tippkönig.
„Ich muss noch was in Ordnung bringen“, lallte der Kommissar und deutete dabei schwungvoll, aber wenig koordiniert mit der Hand auf den Boden um sich herum, „und dann geh’ ich heim ins Bett.“
„Bist du hingefallen?“
„Nein, nein. Ich such’ lediglich einen Übeltäter, also, sowas in der Art.“
Er stockte kurz und schlug ungestüm die Hände zusammen. „Lass es einfach, Norbert.“
Der schmunzelte.
„Ich mache doch gar nichts. Komm, Schack, ich helfe dir hoch.“
„Das kannste natürlich machen, sollste aber nicht müssen. Na ja, auch egal. Aber der Platz gehört abgeflattert.“ Bekkers Arm malte einen imaginären Kreis in die Luft.
„War ich nicht vorhin der Letzte bei der Helga? Wo kommst du denn jetzt her?“
„Ich bin zum Rhein runter und habe mich noch ans Wasser gesetzt, um einen klaren Kopf zu bekommen.“
„Also, ’nen klaren Kopf hast du doch, Norbert.“
„Mag sein, aber manchmal ist es besser, man überdenkt Sachen mehrmals. Und wo kann man das besser als am Wasser?“
„Stimmt!“, bemerkte der Kommissar resolut. „Der flach spielt, der hoch gewinnt.“
„Du und deine Sprüche, Schack.“
Bekker raffte sich auf und kam vom Boden hoch. Mit einer etwas schwungvollen Umarmung verabschiedete er sich von seinem Tippfreund.
„Dann mach’s mal gut, Norbert.“
„Du auch.“
Neumann ging in Richtung Mailandsgasse davon. Bekker sah ihm nach, bis dieser das Gutenberg-Museum hinter sich gelassen hatte und aus seinem Blickfeld verschwunden war. Dann wankte er über den Domplatz, passierte die Nagelsäule, dieses ambivalente Wahrzeichen vaterländischer Gesinnung des 1. Weltkriegs. Am liebsten hätte er sich dort kurz auf die Stufen gesetzt, entschied sich aber, den Heimweg nicht unnötig zu verlängern.
„Die Schwerkraft des Alkohols…“, brabbelte er. Für einen neutralen Beobachter musste es wie eine geheime Choreographie ausgesehen haben, so gekonnt wechselte er seinen Laufweg, um nur nicht von der sogenannten „Rentnerrinne“ abzukommen. Unnötig zu erwähnen, wie lästig ein unebenes Pflaster ab einer gewissen Promillezahl sein konnte.
Neumann hatte damals vorgeschlagen, eine Bundesliga-Tipprunde einzuführen. Mittlerweile ging sie bereits in die dritte Saison. Seine langjährigen Freunde und Kollegen Erna Dunst und Werner Niesberg, der Rechtsmediziner Walter Kur, Marcello, Bekkers italienischer Freund, sein Gefährte aus Kindertagen, Leo Anrim, Helga, die Wirtin der Kleinen Stadthalle und ein paar Stammgäste machten mit, insgesamt waren sie zu zwölft. Getippt werden konnte jeweils bis zum Beginn der ersten Partie des Spieltags. Das wöchentliche Ranking, das auf einer Tafel neben der Theke vermerkt wurde, sorgte eigentlich immer für Gesprächsstoff.
Bekker hatte von Anfang an den Eindruck gehabt, dass Neumann den Nervenkitzel und die aufgeheizte Stimmung während der Spiele liebte. Was wusste er eigentlich sonst von ihm? Nicht sonderlich viel. Er kam aus Frankfurt, aufgewachsen in Sachsenhausen, wenn er sich recht entsann. Neumann war plötzlich da gewesen und gleich zu einem regelmäßigen Besucher der Stadthalle geworden. Er hatte Bekker erzählt, dass es ihn nach Mainz verschlagen hat, weil man hier in Ruhe leben könne.
„Ihr nehmt jeden so, wie er ist, solang’ er sich nicht wie ein totaler Stinkstiefel verhält.”
An diese Aussage konnte Bekker sich noch gut erinnern. Warum die Mainzer so gesellige Menschen waren, hatte vermutlich historische Gründe. Über Jahrhunderte war es keine Seltenheit gewesen, dass viele Bewohner hinter den schützenden Mauern der Stadt zu sechst, siebt oder gar zu acht in ziemlich kleinen Wohnungen zusammenlebten. Vermutlich jedoch eher hausten. War es da ein Wunder, dass man unter diesen Umständen in die Wirtshäuser und Weinstuben drängte und lieber außerhalb der eigenen vier Wände zusammensaß? So etwas musste sich im Laufe der Zeit auf die Mentalität auswirken.
Neumann hatte gelacht und seine These als gewagt, aber durchaus interessant bezeichnet. Ob er nicht ein bisschen viel Norbert Elias gelesen habe, hatte er ihn gefragt.
„Stimmt genau. Über den Prozeß der Zivilisation“, hatte Bekker verblüfft geantwortet und gestaunt, dass Neumann Kenntnisse im Bereich von Sozialtheorien hatte.
Er drehte seine Zigarette zwischen Daumen und Ringfinger hin und her, nahm einen Zug und blies einen Rauchring in die Luft. Dann schickte er mehrere kleine Ringe hinterher, schnalzte zufrieden mit der Zunge und blickte in den klaren Himmel.
Bekker wollte doch noch nicht nach Hause. Leicht schwankend durchquerte er die Domstraße, die bei den Mainzern schon seit jeher das kalte Loch hieß. Dann setzte er sich noch einen Moment auf die Treppen zum Schwimmbad des Priesterseminars in der Grebenstraße. Dort hatte er als Kind seine ersten Schwimmabzeichen gemacht. Das Becken war ihm damals ungeheuer tief vorgekommen und das Wasser saukalt. Er fingerte eine weitere Zigarette aus der Schachtel, seine letzte für heute, sagte er sich, und zündete sie gedankenverloren an. Diese elenden Skandale um die Kirche. Er schüttelte den Kopf.
Die Situation mit Helene hatte sich schon nach der Geburt ihrer Tochter Klara verkompliziert. Als dann die Zwillinge Theo und Dominik geboren wurden, ein Unfall, den Bekker vor seinen Söhnen niemals zugeben würde, war die Ehe endgültig in die Brüche gegangen. Er hatte darauf bestanden, die Kinder erst einmal nicht taufen zu lassen, sie sollten zu einem späteren Zeitpunkt selbst entscheiden können. Einen Aufschrei der Entrüstung hatte es deswegen in der Familie Säumling gegeben, dem alten Mainzer Geld- und Fastnachtsadel. Was waren das für Diskussionen mit seiner Exfrau gewesen. Schließlich war er von seinem Schwiegervater, ein stadtbekannter Anwalt, zu einem persönlichen Gespräch in dessen Raucherzimmer gebeten worden. Die Sache verlief nicht sehr glücklich, die Situation eskalierte bereits während der ersten Zigarre und dem zweiten Glas Brandy. Bekker nannte seinen Schwiegervater einen größenwahnsinnigen und bornierten Arschkriecher. Vielleicht hätte er sich diese Formulierung sparen sollen, andererseits…
Türen waren geflogen und Drohungen ausgesprochen worden, die der alte Säumling, das musste man ihm lassen, auch in die Tat umgesetzt hatte. Dieses Sackgesicht hatte ihm beruflich und privat das Leben zu versauern versucht, das von diesem Moment an keine geruhsame Flussreise mehr gewesen war, sondern eine aufreibende Wildwasserfahrt.
Es ging so weit, dass er nach dem Scheitern seiner Ehe nur noch per Anwalt mit Helene kommunizieren konnte. Ein teurer Spaß, den er sich natürlich leistete, denn es ging um seine Kinder. Immerhin gelang es seinem Schwiegervater nicht, ihn von diesen fernzuhalten, doch die Situation verlangte Bekker emotional viel ab. Wenigstens kann man gegen seine Falten anfressen, dachte er grinsend und ging weiter.
Letztendlich war er doch zum Hauptkommissar aufgestiegen und mit Klara und seinen Jungs konnte das Verhältnis heute kaum besser sein. Wenn er es recht überlegte, war er zufrieden, doch den worst case, wie es in Murphy’s Law hieß, hatte er dennoch immer auf der Rechnung. „Fahr zur Hölle, Däumling“, nuschelte Bekker.
Bekker passierte das Weinhaus Hottum, in dem er schon in seiner Kindheit mit seinen Eltern sonntags beim Frühschoppen gesessen hatte. Damals kannte man normalerweise den Wirt noch, eine zuverlässige Quelle für Neuigkeiten aus dem Viertel. Und es gab nicht an jeder Ecke Systemgastronomie.
Den Anfang machte damals der Wienerwald, schoss es ihm durch den Kopf. Wie hieß nochmal der Spruch? „Heute bleibt die Küche kalt, wir gehen in den Wienerwald“ – ja, ja, die Werbung liebt den Reim und kloppt es uns hinein.
Er fiel aus der Zeit, das war Bekker bewusst. Seine Jungs amüsierten sich, wenn er aus deren Sicht blödsinnige Fragen zu WhatsApp, Instagram oder Twitter stellte. Er spielte das Spiel mit, ihre Zeit war angebrochen. Sie waren die Digital Natives, und er überließ ihnen das Feld. Er spürte, dass es ihnen guttat.
Bekker erreichte die Augustinerstraße. Was hatte sich die Altstadt seit Anfang der 70er Jahre verändert! Heruntergekommen war das Viertel gewesen, so gut wie nicht renoviert. In vielen Häusern waren die Toiletten noch auf der Treppe oder auf dem Flur gewesen, Zentralheizung und Bäder eine Seltenheit. Und doch hatte die Altstadt immer schon einen besonderen Charme gehabt, denn die Mainzer verliehen dem Viertel mit ihrer Lebensart und der Kneipenkultur eine besondere Originalität. Heinz Schenk, der alte Bembelschwenker, war ja auch im Kirschgarten aufgewachsen. All das war über die Jahre ein wenig verlorengegangen, denn viele Bewohner der Altstadt hatten im Zuge der Renovierungen ihre Wohnungen räumen müssen und waren in die Neustadt gezogen.
Allerdings hielt sich Bekkers Wehmut in Grenzen. Die Geschichten der Gassen würden auch diese Entwicklung überstehen. Er erinnerte sich dabei gerne an die Worte seines Freundes Niesberg, für den die aktuelle Situation nicht mehr als eine unbedeutende Momentaufnahme war: „Schack, die Gassen sind voll von Geschichten und Gefühlen, sie haben ein Eigenleben. Das kriegst du nicht kaputt.“
Niesberg hatte die Angewohnheit, Dinge so lange zu wiederholen, bis sie irgendwann gar nicht mehr anders konnten, als wahr zu werden. Bekker musste schmunzeln.
Am Graben angelangt, sah er hinauf zur Zitadelle, von der aus die Römer mit der Besiedlung des Landstrichs begonnen hatten. Als er endlich den Hauseingang erreicht und den Schlüssel im Schloss hatte, mühte er sich die Treppe in den fünften Stock zu seiner Wohnung hinauf, wo er schwer atmend aufs Sofa fiel und gleich darauf einschlief.

Trautes Heim, Glück allein

Das folgende Wochenende verbrachte Bekker zwischen Bett, Balkon und Kühlschrank. Die letzte Woche hatte einiges an Energie gekostet und jetzt, da Erna zu ihrer Schwester nach Bonn gefahren war, wollte er die Zeit nutzen, um auszuruhen und etwas Kraft zu sammeln. Am kommenden Donnerstag erwartete er sie zurück. Schon jetzt war die Vorfreude groß.
Dass es zu einer Beziehung mit seiner Kollegin gekommen war, konnte er noch immer nicht recht glauben. Im Büro hielten sie die Sache geheim, lediglich Bekkers bester Freund Niesberg wusste davon, und das auch nur deshalb, weil er Erna und Schack während den Ermittlungen ihres letzten großen Falls zufällig sehr vertraut miteinander auf dem Kreuzfahrtschiff gesehen hatte. Es waren wunderbare Tage und wunderbare Nächte, der Kommissar genoss jede Minute mit ihr. Schon von Anfang an hatte es zwischen ihnen geknistert, aber die Tatsache, dass er um einiges älter und noch dazu ihr Vorgesetzter war, hatte eine Verbindung eigentlich ausgeschlossen. Dass ihre Beziehung während der Quarantäne auf einem Schiff begonnen hatte, zwischen Kotztüten und Kriminellen, verdeutlichte, wie außergewöhnlich sie war.
Bekker hatte sich einen Espresso gemacht und lag nun in eine Decke gehüllt auf seinem Liegestuhl auf dem Balkon. Es war nicht sonderlich warm, gute 15 Grad, doch die Sonne schien. Er war gerade eingenickt, als sein Handy klingelte. Erst spielte er mit dem Gedanken, nicht dranzugehen, dann rang er sich doch dazu durch.
„Ja?“
„Schack, wo bleibst du denn?“, rief sein Freund Leo Anrim ins Telefon, „Die Bundesliga-Konferenz fängt gleich an, und wir sind ziemlich vollständig.“
„Leo, ich liege auf dem Balkon und will heute mal nichts von euch wissen. Unser Spiel bei den Arsch-Bayern schenke ich mir. Da ärgere ich mich doch nur.“
„So, der Herr Bekker genießt also die samstägliche Ruhe. Du weißt schon, dass du dich unbedingt zum Fußballschauen treffen wolltest und alle madig gemacht hast, die keine Lust hatten. Ich bin mal so frei und rate: Sonnenbrille, die alte Fleecejacke, Zigaretten und eine Kanne Espresso?“
„Yep, als ob du mich schon eine Zeit lang kennen würdest.“
„Dann bleib halt, wo du bist. Wenn du irgendwas ohne Lust tust, bist du sowieso nicht zu ertragen.“
„Vielleicht komm ich später vorbei.“
„Du kommst nicht vorbei. Aber denk dran, wir sind nächsten Samstag auf meiner Terrasse verabredet.“
„Das vergesse ich bestimmt nicht. Den Blick muss man sich ab und zu gönnen.“
Anrim bewohnte ein komplettes Haus in der Uferstraße und der Blick von seiner Dachterrasse war überwältigend. Man sah über die Rheinauen hinweg bis in den Taunus. Dazu einen schönen Rotwein und ein Stück totes Fleisch, am liebsten Rind oder Lamm, von wegen vegan. Das waren Abende, die Bekker im Gedächtnis blieben. Er schloss die Augen und war im nächsten Moment eingeschlafen.
Dass an diesem Samstagnachmittag Norbert Neumanns letzter Besuch in der Kleinen Stadthalle stattfand, er wenige Tage danach als vermisst gemeldet werden und sich die Ereignisse in einer Weise überschlagen würden, wie Bekker es noch nie erlebt hatte, konnte der selig in seinem Stuhl dahindösende Kommissar nicht ahnen.
Vielleicht war es das Beste, dass man eben nicht immer wusste, was einem bevorstand. Sonst bliebe man womöglich am Morgen, ganz in Oblomows Manier, im Bett liegen und ließe die Dinge geschehen, die ohnehin nicht zu ändern waren.

Nächtliches Erwachen

Am frühen Donnerstagmorgen klingelte jemand Sturm und hörte nicht mehr auf. Bekker fuhr aus dem Schlaf hoch und gähnte. Halb vier, verriet ihm ein Blick auf seine Uhr. Halb vier? Der Kommissar kratzte sich am Kopf. Welcher Idiot stand mitten in der Nacht vor seiner Wohnung?
Er wartete ab und hoffte, dass sich jemand einen Scherz erlaubte, doch vergebens. Ohne Unterlass drang der schrille Ton zu ihm ins Schlafzimmer.
Schließlich stand er auf und quälte sich zur Sprechanlage im Flur.
„Ja?“, krächzte er.
„Da bist du ja endlich. Werner, hier. Mach bitte die Tür auf, Schack.“
„Sag mal, spinnst du eigentlich? Was ist denn los?“
„Mach auf“, insistierte Niesberg, der ihn unter normalen Umständen nicht um diese Uhrzeit aus dem Bett geklingelt hätte, da war Bekker sich sicher. Das konnte wiederum nur bedeuten, dass etwas nicht stimmte.
Er drückte den Summer, öffnete die Wohnungstür und ging ins Bad, um zu pinkeln. Als er wieder in den Flur trat, stand sein Freund mit einem kleinen Rollkoffer und blauer Ikea-Tasche im Eingang.
„Du ziehst ein Gesicht, als wäre dir gerade Chefchen Meiner im Schlaf erschienen“, bemerkte Bekker.
„Red’ nicht so einen Quatsch, Schack.“
„Die Gerda?“
„Ja“, und nach einer kurzen Pause fügte Niesberg leise hinzu, „ich bin rausgeflogen.“
„Ihr hattet doch erst Hochzeitstag und alles war prima, oder?“
„Wir waren gestern Abend im Frankfurter Hof und haben uns Caveman angesehen. Kennst du das Stück?“
„Da war ich mit der Erna drin. Wir haben uns herrlich amüsiert. Wie kann man denn danach Krach kriegen?“
„Wenn ich’s wüsste, würd’ ich nicht hier stehen.“
„Stell’ erst einmal die Sachen ab und komm in die Küche.“
Niesberg ließ sein Gepäck fallen und folgte Bekker, der zwei Bierflaschen aus dem Kühlschrank holte. Er fragte gar nicht erst, ob Niesberg lieber Kaffee wollte, nahm einen Löffel aus dem Besteckkasten, öffnete die Flaschen und setzte sich zu seinem Freund an den Tisch. Sie prosteten sich zu und tranken eine Weile, ohne zu sprechen. Schließlich fragte Bekker: „Was ist schief gelaufen, Werner?“
Der leerte erst sein Bier, bevor er antwortete.
„Man kann gar nicht richtig sagen, wie die Scheiße anfängt. Ein Wort ergibt das nächste. Anfangs könntest du noch zurückrudern, das machst du aber nicht. Die Situation wiederholt sich zwei-, dreimal, du verpasst endgültig den Moment, die ganze Chose nimmt Fahrt auf, und – peng“, Niesberg schlug die fleischigen Hände zusammen, „kommt’s zum großen Knall.“
„Wegen der Kinder?“, riet Bekker.
„Es ist alles wie immer, Schack. Früher hab’ ich angenommen, sie wären der Grund für unsere Streitereien, aber das kannst du knicken. Außerdem sind sie ja keine Kinder mehr, sondern junge Erwachsene. Nein, die Sache sitzt tiefer. Zwischen uns herrscht großes Unverständnis, nichts, was man einfach so wegdiskutieren kann. Gerda ist nur noch genervt und meckert dauernd an mir rum, sie hat ständig etwas auszusetzen. Ihr reicht es, und zwar endgültig. Als wir vorhin nach Hause kamen, hat jeder dem anderen all das, was er schon lange mal loswerden wollte, an den Kopf geknallt.“
„Ihr habt die Täterä auf den Tisch und so weiter“, ergänzte Bekker.
„Tacheles geredet, Schack“, korrigierte ihn sein Freund.
„Jetzt schlaf dich erst mal aus und kipp’ nicht gleich das Kind mit dem Bad aus.“ Aufmunternd klopfte er ihm auf die Schulter.
„Da sind wir schon drüber raus. Das Kind ist schon lange nicht mehr in der Wanne. Verdammt, Schack, das kann doch alles nicht wahr sein!“
Niesberg schlug mit der Faust auf den Tisch.
„Da muss man erst kurz vor der Rente stehen, um zu erkennen, dass man sich die ganzen Jahre was vorgemacht hat. Unsere Beziehung hat nie funktioniert, alles war eine einzige Mogelpackung.“ Er schüttelte den Kopf. „Ich nehme mir noch ein Bier. Willst du auch eins?“
Der Kommissar lehnte ab.
„Übertreib mal nicht. Ihr hattet auch richtig gute Zeiten.“
„Es ist vorbei, Schack. Aus und vorbei.“
Bekker überlegte, ob er aufstehen und ins Bett gehen sollte, denn er wusste, was gleich passieren würde: Niesberg würde sich weiter in die Situation hineinsteigern und die Welt als „verkackten Scheißhaufen“ beschimpfen. Nein, er sollte das Gespräch jetzt abbrechen.
„Komm, wir legen uns hin. Du übernachtest in Klaras Zimmer. Da schläft nur ab und zu mal meine Nichte, die kleine Anne. Und morgen sieht die Welt schon wieder ganz anders aus“, versuchte er ihn zu beschwichtigen.
„Lass mich mit diesen saudummen Beschönigungen in Ruhe, Schack. Die Situation ist nicht mehr zu retten.“
Niesberg ging zum Kühlschrank. Den Kronkorken der Flasche flippte er ins Spülbecken.
„Wieso bist du so sicher, dass es keinen Weg zurück gibt?“
„Ich kenne Gerda, die Sache ist endgültig. Erklären kann ich dir das nicht.“
„Zu sagen, du kennst Gerda, ist doch kein Argument.“
„Du solltest mich so gut kennen, dass es dir als Begründung genügt.“
Bekker stieß mit seinem Freund an und sah hinaus in den dunklen Himmel. Der Kommissar mochte den Blick über die Dächer der Stadt – nur das Treppensteigen bis in den fünften Stock wurde von Jahr zu Jahr beschwerlicher, und an einen Aufzug war nicht zu denken. Aus dem Augenwinkel sah er, dass Niesberg die Hände vor sein Gesicht gelegt hatte und leise vor sich hin fluchte. Nie hätte er sich träumen lassen, dass dieser einmal mit gepackten Sachen vor seiner Tür stehen würde. Man steckt eben nicht drin, dachte Bekker.
„Schack, wie wäre es denn, wenn ich die nächste Zeit hier bliebe?“, nuschelte Niesberg.
„Du kannst heute hier schlafen, meinetwegen auch morgen und wenn es unbedingt sein muss, auch noch übermorgen. Kraft tanken für neue Taten, sozusagen.“
„Ich habe gehofft, dass vielleicht längerfristig…“ Weiter kam Niesberg nicht.
„Du hast was gehofft? Das kann doch nicht dein Ernst sein!“, platzte Bekker dazwischen. Niesberg hatte doch nicht etwa vor, sich längerfristig bei ihm einzuquartieren? Eine Wohngemeinschaft etwa, im zarten Alter von…oh nein, das war echt zu viel des Guten! Er gab vor, auf Toilette zu müssen. Im Flur drückte er die Stirn an die Wand und hätte am liebsten aus Leibeskräften „Nein, du verdammter Idiot!“ geschrien. Wollte er ihre Freundschaft aufs Spiel setzen? Natürlich war der Gedanke überzogen, aber die Erfahrung lehrte, dass es oft Probleme gab, wenn man jemanden für längere Zeit bei sich wohnen ließ, ohne dessen häusliche Gewohnheiten zu kennen. Schlimmer war jedoch der Umstand, dass damit die Abende mit Erna nicht mehr in gewohnter Weise ablaufen konnten. Nackt durch die Wohnung laufen und auch andere nette Dinge wurden damit unmöglich.
Niesbergs Invasion in sein Zuhause kam ihm wie ein schlechter Traum vor. So gut, wie bis zu diesem Moment, war sein Leben schon seit Jahren nicht mehr verlaufen. Und jetzt saß mit seinem Freund eine personifizierte, unverrückbare Tatsache in der Küche. Oder die normative Kraft des Faktischen, wenn man es philosophisch betrachtete. Wie um alles in der Welt könnte er Niesbergs Bitte ablehnen und ihn vor die Tür setzen?
Der Kommissar ging in die Küche zurück, öffnete das Fenster und griff sich eine Gauloises aus der Schachtel. Die Nachtluft war kühl und trocken, tief sog er den Rauch der Zigarette ein. Die Wohnung war zweifellos groß genug, er hatte hier immerhin mit seiner Exfrau Helene und den drei Kindern gewohnt. Doch Niesbergs Präsenz bedeutete vor allem, dass er in seinen eigenen vier Wänden nicht mehr tun und lassen konnte, was er wollte.
Plötzlich stand Niesberg neben ihm: „Schack, ich habe nochmal nachgedacht. Dich zu fragen, war eine beschissene Idee. Vergiss es, ich möchte dich nicht in die Verlegenheit bringen.“
Bekker hatte sich diesen Satz von seinem Freund erhofft, doch jetzt fühlte er sich gar nicht gut an. Er würde es bereuen, ihn wegzuschicken.
„Werner, du kannst fürs Erste deine Zelte hier aufschlagen.“
„Bist du sicher?“
„Hast du denn Alternativen? Lass es uns eine Woche versuchen, dann sehen wir uns in die Augen und entscheiden. Einverstanden?“
„Ich verbiege mich, wie ich kann“, antwortete Niesberg verlegen. Er wusste, dass Bekker zweifelte, und nicht ganz zu Unrecht, denn es erforderte einiges an sozialer Kompetenz, um in einer Wohngemeinschaft zu überleben.
Bekker musterte Niesberg.
„Das bekommen wir schon hin. Ich hole Block und Stift, um Küchen- und Klodienst einzuteilen. Außerdem muss festgelegt werden, wer an welchen Tagen was einkauft.“
Niesberg sah Bekker mit großen Augen an.
„Schack, nichts für ungut, aber es ist halb fünf.“
Der Kommissar zuckte mit den Achseln. Sein ernster Gesichtsausdruck signalisierte, dass er den Einwand seines Freundes nicht nachvollziehen konnte. Dann aber lachte er unvermittelt los.
„Ich wollte dein verdattertes Gesicht sehen, das hilft mir beim Einschlafen. So schlimm wird’s nicht werden, Werner, aber ein paar Sachen müssen wir schon organisieren. Lass uns jetzt Schluss machen, gleich klingelt schon wieder der Wecker.“

Der Morgen danach

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