Schotten dicht - Peter Jackob - E-Book

Schotten dicht E-Book

Peter Jackob

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Beschreibung

Der Gewinn des Hauptpreises bei der Polizei-Tombola führt Schack Bekker auf ungewohntes Gebiet. Nicht ganz freiwillig ist der eigensinnige Mainzer Kommissar mit dem Kreuzfahrtschiff "Pandora" auf dem Rhein unterwegs. Doch die anfänglich idyllische Reise nimmt eine dramatische Wendung: Während der Rückfahrt durch das Mittelrheintal erkranken mehrere Passagiere und Besatzungsmitglieder an einem Virus. Als ein Mann an den Folgen stirbt und kurz darauf ein Mord geschieht, ahnt Bekker, dass er gegen mehr als nur körperliche Unpässlichkeiten zu kämpfen hat. Festgesetzt durch Quarantäne, kommt er einer ungeheuren Machenschaft auf die Spur.

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Seitenzahl: 264

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Peter Jackob
Schotten dicht
Kommissar Schack Bekker ermittelt auf dem Rhein
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2014 Gollenstein Verlag
Satz – Inhalt: Karin Haas
Umschlag: Axel Weber
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-283-7
Jede Ähnlichkeit zu tatsächlichen Ereignissen oder Personen ist rein zufällig. Aus erzähltechnischen Gründen wurde die Mainzer Mordkommission in die Altstadt verlegt und die Originalroute der Schiffsreise etwas geändert.
Für I. J.
»Sehen Sie«, sagte Miss Marple, »genau wie ich vermutet habe, hat sich am Ende alles als ganz, ganz einfach herausgestellt. Eines der einfachsten Verbrechen.«Agatha Christie, 16 Uhr 50 ab Paddington(übersetzt von Ulrich Blumenbach)

Inhalt

Übles Erwachen
Tombola der Träume
Keine Besserung in Sicht
Aufbruch zu neuen Ufern
Der Ausbruch
Der Tote
Die Untersuchung
Mord im Maschinenraum
Die Fehlentscheidung
Ein Schlag ins Gesicht
Erna wieder an Bord
Von Kellnern und Mitreisenden
Niesbergs Erzählungen
Tausend Mal
Verhöre zum Ersten
Verhöre zum Zweiten
Eine unerhörte Wendung
Corinne Nimmer
Um Haaresbreite
Das Endspiel
Die Rochade
Der Wolf im Schafspelz
Die letzte Schlacht
Fester Boden
Das Geschenk

Übles Erwachen

Bekker hing über der Toilette und musste sich ein weiteres Mal übergeben. Es dauerte mehrere Minuten, bis er in der Lage war, sich zum Bett zurückzuschleppen. Alles drehte sich, nur mit Mühe schaffte er es, sich hinzulegen. Er schloss die Augen und versuchte, das Chaos in seinem Kopf zu ordnen. Zuerst hatte er bei dieser Geschichte unglückliche Umstände vermutet, mittlerweile wusste er, dass das nicht stimmte. Aber wer war in der Lage, eine solch aberwitzige Tat so minutiös und vor allem so aufwendig zu planen?
Er nahm sein Wasserglas vom Nachttisch, trank einen Schluck und fühlte erneut den krampfenden Magen, den stechenden Schmerz in der Bauchgegend. Er stöhnte auf. Das Schiff lag wie ein toter Wal auf dem Rhein – ein Virus hatte einige der Passagiere und Besatzungsmitglieder erkranken lassen, die »Pandora« war in Folge der Ereignisse unter Quarantäne gestellt worden. Bekker vergrub sich tiefer unter seine Decke. Sobald es ihm besser gehen würde, musste er zum Kapitän. Er fror erbärmlich und die Zeit lief ihm davon.
Wenn es ihm nicht gelang, in Kürze die erforderlichen Ermittlungen einzuleiten, würde spätestens mit der Grundreinigung des Schiffes, die fraglos notwendig war, jede Spur verloren gehen. Außerdem hatte bislang wohl niemand auch nur die leiseste Ahnung, dass es sich beim Todesfall Egon Nimmer sehr wahrscheinlich um Mord handelte. Der Kommissar der Mainzer Mordkommission sah auf seinen kleinen Wecker, der leise tickend auf der Ablage neben dem Bett stand, und versuchte abzuschätzen, welche Mittel ihm zur Verfügung standen. Bekker spürte, wie sich der Magen hob und seine Kehle enger wurde – es war wieder soweit. Er quälte sich ins Bad. Dann hing er erneut mit dem Kopf über der Toilettenschüssel, bis er schließlich völlig entkräftet auf den Vorleger glitt und einschlief.

Tombola der Träume

»Liebe Gäste, noch einen kurzen Moment. Gleich ist es soweit … es geht um den Hauptgewinn des heutigen Abends.« Der Moderator griff einen Umschlag vom Rednerpult, den er routiniert öffnete, und zog eine Karte heraus. »Den ersten Preis … eine zehntägige Schiffsreise auf dem Rhein, von Köln über Nimwegen und Rotterdam bis nach Mainz, hat gewonnen … Ihr Kollege … Jacques Bekker!«
Verhaltener Beifall. Einige klatschten, weil sie so am besten ihre Enttäuschung darüber verbergen konnten, nicht selbst gewonnen zu haben. Andere freuten sich deshalb, weil sie wussten, dass der Gewinner kaum Gefallen an dieser Reise finden würde. Den Hauptpreis des Abends ablehnen konnte man eigentlich nicht. Das war ein ungeschriebenes Gesetz. Schack Bekker unterhielt sich gerade angeregt mit Gerd Denne und hatte die Verlosung überhaupt nicht mitbekommen. Seine langjährige Kollegin Erna Dunst stieß ihn an.
»Schack, du hast gewonnen!«
Bekker wandte sich zu ihr um und schien nicht recht zu verstehen, was sie ihm zu sagen versuchte. Die Tombola hatte er gar nicht registriert, weshalb er auch nicht nachvollziehen konnte, warum sie ihn so durchdringend ansah.
»Bitte Ernie, was auch immer es sein könnte, ich gewinne nie! Und das ist auch ganz gut so.«
»Nein, im Ernst, ich erzähl dir keinen Mist.«
Die sonore Stimme aus dem Mikrofon, die aus einem Werbespot hätte stammen können, bat den Kommissar, nach vorne auf die Bühne zu kommen. Bekker beharrte weiter auf seiner Meinung, dass es sich nicht um ihn handeln könne, was zweifellos an den zahlreichen Weinschorlen lag, die er sich, wie jedes Mal zu diesem Anlass, bereits gegönnt hatte.
»Das hier halt ich nur besoffen aus«, war sein immer gleicher Trinkspruch während des Polizeiballs. Der Conférencier bemerkte nun mit erhobener Stimme und mittlerweile gereiztem Ton: »Herr Kommissar, der Abend endet nicht mit der Verleihung Ihres Preises!« Daraufhin ruhten die Blicke aller Anwesenden auf Bekker, der endlich erkannte, dass es sich keineswegs um einen Scherz handelte. Er drehte sich in die Runde, da er in einiger Entfernung zur Bühne saß, und sah in teils auffordernde, teils grinsende oder einfach nur gelangweilte Gesichter, die ihm eines deutlich vor Augen führten: Er musste diesen Preis entgegennehmen.
Bekker hob entschuldigend die Hände, lächelte und bahnte sich seinen Weg durch den eng besetzten Saal des Kurfürstlichen Schlosses zur Bühne. Er bekam einen Umschlag in die linke Hand gedrückt, dann schüttelte ihm der drahtige Conférencier die rechte mit übertriebener Begeisterung. Anschließend erzählte der Mann hinter dem Mikrofon dem Gewinner sowie dem gesamten Festsaal noch einmal stichpunktartig, wohin die Fahrt gehen würde und dass in seinem Reisepaket natürlich alle Landgänge und Veranstaltungen inklusive seien.
Bekker hatte höchstens die Hälfte des Gesagten mitbekommen und versuchte, sein Unbehagen so gut wie möglich zu verbergen. Der schnittige, auf jugendlichfrisches Aussehen getrimmte Conférencier übergab ihm auch schon das Mikrofon, womit endgültig klar war, dass sich der Kommissar für den Preis bedanken musste. Der erst kürzlich und nach langem Hin und Her zum Hauptkommissar ernannte Bekker wusste, dass letztlich kein Weg an dieser unglückseligen Fahrt vorbeiging. Vor allem jetzt, da nun endlich seine Beförderung erfolgt war und er die Position ordentlich auszufüllen hoffte, konnte er unmöglich sagen, dass ihm diese Reise einen Scheiß bedeutete. Um genau zu sein, er würde sogar dafür bezahlen, nicht mitfahren zu müssen. Bekker hatte zwischenzeitlich nicht mehr mit dem beruflichen Aufstieg gerechnet. Eigentlich war nach dem Fall der Don-Juan-Morde alles klar gewesen, aber mehrere für die Polizeidirektion ungünstige Entwicklungen im Budget-Bereich hatten diesen Karriereschritt damals doch noch platzen lassen. Er sah in den Raum hinein, holte kurz Luft und begann zu reden: »Also, das ist wirklich eine … Riesenüberraschung!« Er versuchte so erfreut wie möglich zu klingen. »Eine Schiffsreise, und dazu auf dem Rhein. Das ist wirklich … große Klasse. Das war schon immer ein Traum von mir«, log er. »Ich … jedenfalls, das ist … vielen herzlichen Dank.«
Im Raum prustete jemand hinter vorgehaltener Hand los. Bekker erkannte seinen Freund, den Polizeifotografen Werner Niesberg. Dieser versuchte mit rot angelaufenem Kopf, einen Lachanfall zu unterdrücken, was ihm, für alle hörbar, in keiner Weise gelang. Als der Kommissar schließlich zurück an den Tisch kam, sah er Niesberg nur kurz an und bemerkte trocken: »Du bist ein Arsch, und zwar einer, wie er im Buch steht.«
»Tut mir leid, Schack, aber du auf einem dieser fahrenden Modellbauschiffchen. Am besten benennst du die Decks nach den Straßen in der Vilzbach. Dann fühlst du dich bestimmt recht schnell heimisch.«
Niesberg brach erneut in Gelächter aus und konnte sich auch nach Minuten nicht beruhigen. Dass Bekker die Vilzbach, das Herz der Mainzer Altstadt, liebte und diese auch nur verließ wenn unbedingt nötig, war kein Geheimnis unter den Kollegen. Die Vorstellung, dass er, der äußerst ungern verreiste, eine Flusskreuzfahrt unternehmen musste, fand der Fotograf einfach zu komisch.
»Werner, vielleicht legen wir einfach alle zusammen und schicken dich mit«, warf Erna ein.
»Gott bewahre, ich werde ja selbst in der Badewanne seekrank.«
»Na, dann würde sich die Sache ja sogar richtig lohnen. Den Spaß sollten wir uns eigentlich gönnen.«
Niesberg konnte natürlich nicht ahnen, dass die Hauptkommissarin bereits den Entschluss gefasst hatte, die Kollegen genau dazu zu überreden. Am besten sollte man die beiden in einer gemeinsamen Kabine unterbringen, dachte sie und konnte sich bei dieser Vorstellung ein breites Grinsen nicht verkneifen. Sie genoss gerade einen Schluck Weißburgunder aus Flonheim, als der Rechtsmediziner Prof. Dr. Walter Kur zurück in den Festsaal an den Tisch kam und mit einem Blick erkannte, dass etwas Ungewöhnliches passiert sein musste.
»Ich höre?«, fragte er in die Runde.
»Schacks Traum wird endlich wahr«, verkündete Niesberg und deutete dabei auf den Kommissar.
»Dein Traum, Schack?«, fragte der Mediziner ein wenig irritiert, denn noch hatte ihn niemand über Bekkers gewonnene Flusskreuzfahrt aufgeklärt. Diesen begann die Situation zu nerven, er versuchte sich aber zurückzuhalten.
»Die Tombola, Walter. Es wurde doch eine Schiffsreise verlost. Und wer gewinnt die? Kannst du dir das vorstellen? Ausgerechnet ich muss den Scheiß-Hauptpreis gewinnen.«
»Vielleicht nimmst du einfach jemanden von uns mit?«, schlug der Rechtsmediziner vor. Bekker griff sein Schoppenglas, trank es aus und stand auf. »Bin gleich wieder da.«
Er verließ den Saal und ging zu den Toiletten. Während er am Pissoir stand, überdachte er die Konstellation noch einmal. Natürlich konnte er nicht ablehnen. Er mochte Kreuzfahrten nicht, dieses Eingepferchtsein auf dem Wasser. Beim Händewaschen schüttelte er den Kopf und murmelte »Schotten dicht. Das wars dann« vor sich hin. In diesem Augenblick kam sein Kollege Dingmann durch die Tür und blieb hinter ihm am Waschbecken stehen.
»Ach, was hätte ich so gern gewonnen, Schack. Aber dir gönne ich das von Herzen, ehrlich!«
»Danke, das ist wirklich nett von dir«, antwortete Bekker und begann, sich ein klein wenig mit dem Gedanken anzufreunden, die Reise zu machen. Wenigstens ist es keine Kreuzfahrt auf dem Meer, sagte er sich und verließ die Toilette. In der Halle wurde ein Lied angestimmt – Bekker lauschte kurz, drehte ab, ging zu einer der Fensterfronten des Schlosses und sah hinüber zum Rhein. Er konnte diese Reise nicht ablehnen. Man hätte es ihm als Arroganz, womöglich sogar als Ignoranz ausgelegt. Erschwerend kam hinzu, dass viele seiner Kollegen die Schiffstour nur zu gerne gemacht hätten. Lautes Klatschen drang aus dem Festsaal. Bekker wandte sich um und grummelte auf seinem Weg zurück zur Feier: »Acht Tage Urlaub kostet mich der Scheiß.«
Als er gegen halb drei Uhr morgens dem Festnebel entkommen war und leicht schwankend am Rhein entlang in Richtung Altstadt spazierte, hatte er schon mehrfach erfolglos versucht, die Schiffsreise aus seinem Kopf zu verbannen. Nur der Tod würde ihn davor retten können, in eine riesige Konservenbüchse gepfercht von Köln nach Rotterdam und zurück nach Mainz geschippert zu werden. »Aber das Wöchelsche geht auch rum«, nuschelte er und blieb am Ufer auf der Höhe des Fischtorplatzes stehen. Er sah hinüber zur anderen Rheinseite Richtung Maaraue. Es störte ihn nach wie vor, dass man Mainz in den Nachkriegsjahren zu einer geteilten Stadt gemacht hatte. Ein Zustand, der noch immer auf Rücknahme wartete.
In seiner Jugend war er während des Sommers mit dem Kostheimer Bötchen übergesetzt, das nur ein paar Meter von hier entfernt seinen Anleger gehabt hatte, und dort ins Freibad gegangen. Den ganzen lieben langen Sommer, dachte er und stieg die Stufen zum Flussufer hinunter, wo er sich setzte. Es war noch immer angenehm warm. Er schloss die Augen und sinnierte vor sich hin. Seine Tochter Klara war zum zweiten Mal schwanger, und ihre Brüder, die Zwillinge Theo und Dominik, entwickelten sich prächtig. Mit Helene, seiner Ex-Frau, lief es in Sachen Kinder mittlerweile recht gut. Doch bei jeder Gelegenheit, die nicht eindeutig geregelt oder verabredet war, kam es zu kleineren Zwistigkeiten. Bislang waren sie nicht gravierend, aber Bekker hatte die Zeiten noch gut in Erinnerung, als er in regelmäßigen Abständen Anwaltsbriefe von seinem ehemaligen Schwiegervater, Martin Säumling, bekommen hatte. Schließlich hatte Klara eingegriffen und eine Regelung zwischen ihren Eltern erwirkt, die bis zum heutigen Tag weitestgehend funktionierte. Bekker zog die Schuhe aus und streckte seine Füße ins Wasser. Die Temperaturen der letzten Tage waren deutlich besser zu ertragen als noch die Hitze der zurückliegenden Wochen. Er blickte in den schwarzblauen Himmel, der ihn einzuhüllen schien, gähnte lauthals und befeuchtete sich die Lippen. Halb vier, glücklicherweise war morgen Samstag und er hatte keinen Bereitschaftsdienst. Bekker überlegte kurz, ob er noch einen Absacker nehmen sollte, verwarf den Gedanken aber gleich wieder. Das kühle Wasser wirkte entspannend.
Er musste eingeschlafen sein, denn als er die Augen öffnete, fiel ihm die noch recht schwache Sonne ins Gesicht. Er zog seine Strümpfe und Schuhe an, stieg die Stufen nach oben und kramte an der Rheinpromenade stehend in seinen Taschen. Ein Jogger kam ihm vom Rathaus her entgegen. Bekker fragte ihn nach einer Zigarette, was ihm einen ungläubigen Blick und Kopfschütteln einbrachte. Er überquerte den Fischtorplatz und steuerte auf den kleinen Gemischtwarenladen an der gegenüberliegenden Straßenecke zu. Er hatte sich sein Jackett über die Schulter geworfen und pfiff ein Liedchen, als er an der Ampel stand. Der Kommissar grüßte den Besitzer, der gerade seinen Werbeaufsteller hinaustrug und vor dem Eingang platzierte. Die Ampel sprang auf Grün und er überquerte gemächlich die Rheinstraße. Nach einem kurzen Plausch kaufte er eine Schachtel blaue Gauloises, dazu Streichhölzer und einen frisch aufgebrühten Kaffee, der hier weiterhin einen Euro kostete. Fast so wie früher, als man einen Becher Kaffee für eine Mark bekam, dachte er. Hier schien die Welt noch in Ordnung zu sein. Ein frisch gekochter Kaffee, nicht aus einem Kaffeevollautomat, das Wort klang schon wie Kaffeevollidiotenautomat. Ein stinknormaler Filterkaffee, wie man ihn jahrzehntelang getrunken hatte und der einen Euro kostete, das hatte für den Kommissar etwas Grundsolides.
Zufrieden machte er sich auf den Weg nach Hause und durchquerte den langgezogenen Torbogen am Mauritzenplatz. Dann ging es weiter durch die enge, gepflasterte Weintorstraße bis zum ältesten noch erhaltenen Haus der Stadt, dem Haus zum Stein. Von dort aus erreichte er gleich darauf den Graben. Er grüßte zwei Bekannte, die ihm entgegenkamen. Es wurde noch kurz über die 05er gefachsimpelt und sich auf ein paar gemeinsame Bierchen nach dem nächsten Heimspiel hinter der Stehtribüne verabredet. Dann verschwand er, mit sich und der Welt zufrieden, in den Hauseingang.

Keine Besserung in Sicht

Als Bekker aufwachte, fühlte er sich schwach und sein Kopf dröhnte. Er stand auf, um zu pinkeln, und warf einen Blick in den Badezimmerspiegel. Er sah grauenhaft aus. Zurück im Zimmer setzte er sich auf den Stuhl neben dem Bett. Sein Herz schlug wild, der Wecker zeigte sechs Uhr morgens. Die Sonne würde in Kürze aufgehen, doch war er zu erschöpft, um sich darauf zu freuen. Er musste erst einmal zu Kräften kommen und dann die undurchsichtigen Vorkommnisse zu verstehen suchen. Der bloße Gedanke daran, sich bis in den Frühstückssaal zu quälen, raubte ihm jede Energie. Bekker ließ sich aufs Bett fallen und zog die Decke über den Kopf. Aber vielleicht fantasierte er nur und es war gar nichts Dramatisches passiert – vielleicht hatte er die Ereignisse, bevor ihn der Virus matt gesetzt hatte, völlig falsch eingeschätzt. Er schloss die Augen und lauschte seinem galoppierenden Herzschlag. Wenig später schlief er erneut ein.

Aufbruch zu neuen Ufern

Bekker hatte entschieden, die Reise im Spätsommer anzutreten. Während der ersten Septembertage würde es noch angenehm warm sein, die Wettervorhersage verhieß dauerhaft Temperaturen um die 25 Grad Celsius. Die Kreuzfahrt sollte am 26. August in Köln starten und am 6. September in Mainz enden. Zuerst ging es flussabwärts über Nimwegen bis nach Rotterdam, dann folgte die Rückreise flussaufwärts bis nach Mainz. Bekker hatte sich vorgenommen, während der Schiffsreise intensiv zu lesen. Alle Krimis mit Miss Marple sollten es werden. Dieses Vorhaben verwarf er jedoch wieder, als er herausfand, dass es zwölf Romane über die alte Dame mit dem scharfen Verstand aus dem fiktiven Örtchen St. Mary Mead gab. Er entschied sich für ein paar ausgewählte Klassiker der Reihe und hatte mit vier Bänden noch immer reichlich Lesestoff dabei. Eigentlich las Bekker für sein Leben gern, doch kam er zu selten dazu. Neben Miss Marple hatte er auf Anraten seiner Tochter einen weiteren Klassiker eingepackt, »Gullivers Reisen«, von dem er nur die beiden populären Teile kannte. »Damit du einen Eindruck bekommst, was einem auf einer Reise noch alles passieren könnte«, hatte Klara ihm mit auf den Weg gegeben. Wie recht seine Tochter damit haben sollte, konnte sie nicht im Entferntesten ahnen. Das Cover des Buchs zeigte den breitbeinig dastehenden Gulliver, durch dessen Beine die Armee von Lilliput ihre Parade exerzierte. »Manchmal ist man ein Riese und dann wieder ein Zwerg«, hatte der Kommissar beim Betrachten des Umschlagbildes gemurmelt. Als er überlegte, wohin er lieber reisen würde, zu den Zwergen nach Lilliput oder den Riesen nach Brobdingnag, entschied er sich instinktiv für die Riesen und wunderte sich gleichzeitig darüber.
Die Wochen bis zur Abfahrt verliefen ruhig. Im August hing große Hitze über der Stadt und versetzte die Bewohner in eine noch größere Lethargie, als dies ohnehin üblich war während dieser Zeit des Jahres. Bekker hatte begonnen, nachdem er seinen anfänglichen Unmut überwunden hatte, vermutlich sogar angeregt durch die anstehende Schiffsreise, den Bootsführerschein zu machen. Entgegen seiner Befürchtung vertrug er das Schaukeln auf dem Rhein besser als erwartet. Der Kommissar war froh darüber, dass er persönliche Vorhaben mittlerweile recht entschlossen verfolgte. Dazu gehörte sein alter Traum, nach der Pensionierung mit einem Boot kleinere Fahrten auf dem Rhein zu unternehmen.
Bekker hatte bereits einen Tag vor der Abreise seinen Koffer vollständig gepackt und war am Abend noch einmal in die »Kleine Stadthalle« in der Umbach gegangen. Helga, die Wirtin und langjährige Vertraute des Kommissars, öffnete zur Feier des Tages »e Proseccosche«.
»Mein Schack verlässt unser goldisches Mainz und macht sich auf den Weg hinaus in die Welt. Guck bloß, dass du gesund wiederkommst.«
Sie saßen eine ganze Weile zusammen und plauderten über Alltägliches. Helga hatte vor, die Einrichtung der »Stadthalle« zu erneuern, was Bekker zwar nicht grundsätzlich ablehnte, aber mit einer gewissen Skepsis betrachtete. Er übergab ihr seinen Wohnungsschlüssel, trank noch eine letzte, den Abend beschließende Rieslingschorle und machte sich auf den Heimweg, der ihn zurück in die Altstadt führen würde. Als er von der Großen Langgasse kommend die Ludwigstraße kreuzte, drehte er sich zum Dom um, sah ihn eine Weile an und verbeugte sich leicht theatralisch. Dort stand »sein« Dom. Ihn mit einem Possessivpronomen zu belegen, war die typische Art der Mainzer, ihre Verbundenheit gegenüber dem massigen und facettenreichen Bauwerk auszudrücken, das altväterlich die umliegenden Gassen und Straßen im Visier zu haben schien. Der dunkelblaue Nachthimmel lag wie ein Abendgewand um das Gotteshaus. Bekker ging langsam weiter, blieb dann ein weiteres Mal stehen und sah den Dom erneut an: »Du hast dir das halbe Mäntelchen vom Sankt Martin umgehängt«, brummelte er und nickte, als stimme er sich selbst zu. Die Statue des Hauptpatrons thronte seit 1769 über dem Westchor des Doms. Dann trottete er weiter. Er holte eine Zigarette aus dem silbernen Etui, das er von seiner Tochter zum Geburtstag bekommen hatte, und zündete sie an. Morgen früh würde er mit dem Zug nach Köln fahren, von wo aus die Flusskreuzfahrt in Richtung Rotterdam startete. Er überlegte, ob noch etwas einzupacken war, denn eigentlich fehlte immer irgendwas.
So wie letztes Jahr, als Bekker schon auf der Straße vor dem Haus stand und bemerkte, dass sein Handgepäck noch in der Wohnung lag. Damals hatte er sich dazu durchgerungen, einen alten Schulfreund in Irland zu besuchen. Fünf Tage verbrachte er an der Westküste der grünen Insel. Erst fühlte er sich ein wenig unwohl in der Fremde; doch als der letzte Tag anbrach, wollte er gar nicht mehr weg. Während seines Aufenthaltes hatte sich der Kommissar ziemlich schnell an Dunkelbier gewöhnt; Guinness war ihm eine Spur zu bitter gewesen, weshalb er sich für »Kilkenny« entschieden hatte. Wieder zurück in Mainz, war er anfangs mehrfach in irischen Pubs gewesen. Er hatte sogar versucht, Helga zu überreden, »Kilkenny« auf die Karte zu nehmen – ein aussichtsloser Versuch, wie er schnell feststellte. Also kaufte er ab und an ein paar Flaschen. Kurz bevor man den ersten Schluck trank, war der perfekte Moment der Erinnerung an die Abende in Irland.
Der Kommissar lief die Altstadttangente entlang bis zur Heringsbrunnengasse, bog dort nach links ab und schlenderte quer durch die Vilzbach. Wenig später saß er auf seinem Balkon und leerte genüsslich das letzte »Kilkenny«, das sich noch in seinem Kühlschrank befunden hatte. Er überlegte, was er nach seiner Ankunft in Köln noch unternehmen könnte, bis es zum Einchecken auf das Schiff ging. Da der Hauptbahnhof unmittelbar neben dem Kölner Dom lag, wollte er diesen auf jeden Fall besuchen und in einer der umliegenden Kneipen zur Einstimmung auf die Reise ein paar Kölsch trinken. Das hatte er sich für seinen kurzen Besuch in der Bischofsstadt vorgenommen. Über diesen Gedanken nickte er ein und erwachte schließlich fröstelnd auf dem Balkon, es dämmerte bereits. Drinnen kroch er auf dem Sofa unter eine Decke und schlief gleich wieder ein.
Als ihn schließlich die Sirene eines Krankenwagens weckte und er auf die Uhr sah, stieß der Kommissar einen Schrei aus und sprang auf. In genau 25 Minuten würde sein Zug vom Mainzer Hauptbahnhof abfahren. Trotz Bekkers recht stämmiger Figur gelang es ihm, sich in kürzester Zeit anzuziehen. Auf das Duschen, das Überprüfen der Unterlagen von Ausweis bis Reisebestätigung, den Kaffee samt Morgenzeitung, den entspannten Gang auf die Toilette – auf all das musste er verzichten. Er rief ein Taxi und erledigte, so konzentriert wie möglich, die letzten Vorbereitungen. Dann stürmte er aus der Tür und die Treppen nach unten.
Wenig später sprang er in das Taxi, doch beim Anblick des Fahrers war ihm sofort klar, dass dieser Mann kein Verkehrsdelikt begehen würde, damit sein Fahrgast den Zug noch rechtzeitig erreichte. Am Münsterplatz verriet Bekker der Blick auf seine Uhr, dass nur noch sieben Minuten bis zur Abfahrt des Zuges verblieben. Er überschlug den zeitlichen Ablauf: Es dauerte sicher noch vier weitere Minuten, bis der Wagen endlich am Westeingang des Bahnhofs ankommen und er bezahlt haben würde. Erst wollte der Kommissar den Fahrer dazu anhalten, etwas mehr Gas zu geben, aber er besann sich und schwieg. Es gab Menschen, die durch zusätzlichen Druck immer langsamer wurden; als würden sie aus lauter Panik jeden Vorgang zu entschleunigen suchen. Und genau so ein Mann saß am Lenkrad des Wagens, in den er gestiegen war. Natürlich schafften sie es nicht, die Ampel am Binger Schlag, die nur etwa 300 Meter vom Hintereingang des Bahnhofs entfernt lag, noch bei Grün zu erreichen – und Orange hatte bei diesem Fahrer denselben Effekt wie Rot. Bekker überlegte, ob er aussteigen und zum Haupteingang rennen sollte. Nein, noch war genügend Zeit, sagte er sich, selbst wenn man den völlig unnötigen Stopp an dieser Ampel mit einrechnete. Warum war er heute Morgen nicht aufgewacht? Was war mit seiner inneren Uhr? Ganz abgesehen davon, hätte sein Wecker funktionieren müssen. Der Kommissar hatte ihn nicht noch einmal angesehen. Was passierte, wenn dieses Unglücksgerät in seiner Abwesenheit einfach ansprang? Sollte er Helga bitten, vorbeizugehen und nachzuschauen? Nein, das war wirklich zu viel des Guten. Dann soll er eben läuten, dachte Bekker. Endlich fuhr das Taxi wieder. Dem Kommissar kam es vor, als würde dieser Wagen, und nur dieser Wagen, die Straße entlangkriechen. Außerdem machte sich in ihm mehr und mehr das Gefühl breit, er werde den Zug verpassen und, wer konnte das zu diesem Zeitpunkt wissen, womöglich auch das Einschiffen. Blanker Unsinn, es würde schon alles klappen, dachte er sich. Dann musste eben der Abstecher in die Kölner City ausfallen, was bedeutete: kein Dom, kein Kölsch und keinen Spaziergang.
Endlich hielt das Taxi auf der Westseite des Bahnhofs, er zahlte und stand samt Rollkoffer und einer prall gefüllten Stofftasche mit der Aufschrift »BekkerMord« auf dem Trottoir. Die Tasche hatten ihm seine Kollegen zum 25-jährigen Dienstjubiläum geschenkt, da sich der Kommissar, trotz des darüber herrschenden Unmuts seines Vorgesetzten Dr. Meiner, seit Jahren mit »BekkerMord« am Telefon meldete. Er schaute auf die Uhr – noch zwei Minuten bis zur Abfahrt des Zuges. Im nächsten Moment rannte er los, was dazu führte, dass der Koffer schlingerte und zur Seite fiel. Fluchend riss ihn der Kommissar herum, kollidierte dabei mit einer Passantin, die Bekker als Rüpel beschimpfte, und bahnte sich seinen Weg zu den Rolltreppen. Es würde knapp werden, sehr knapp. Und dabei hatte er nicht getrödelt, weder beim Bezahlen noch beim Aussteigen. Er erreichte den Übergang, von dem aus man zu den verschiedenen Bahnsteigen gelangte. »Gleis 3« las er auf der überdimensionalen Anzeigetafel, dann hörte er die Ansage, dass der Zug bereits eingefahren war und in Kürze zur Abfahrt bereit wäre. Bekker hetzte die Treppe hinunter, sah den Schaffner am Gleis stehen, der mit gebieterischem Blick den mittlerweile leeren Bahnsteig kontrollierte und danach das Signal zur Abfahrt an den Zugführer weitergab. Der Kommissar nahm die letzten beiden Stufen trotz Gepäcks in einem Sprung, hastete auf die letzte noch offene Zugtür zu, in die der Bahnbeamte eben eingestiegen war. Er rief dem Mann entgegen, er solle die sich schließende Tür noch einmal öffnen, doch vergeblich. Bekker erreichte das Abteil, stand vor der verschlossenen Tür und blickte in das regungslose Gesicht des Zugbegleiters, der keinerlei Anstalten machte, den Hilfe suchenden Blick des Kommissars zu erwidern. Bekkers Ärger steigerte sich von Sekunde zu Sekunde.
»Komm, mach die Tür auf«, sagte er zwar laut, aber noch ohne zu schreien. In seiner Not kramte er seinen Dienstausweis hervor und hielt ihn an die Scheibe. Die Augen des Schaffners huschten kurz über das Dokument und starrten dann erneut am Kommissar vorbei ins Nichts. Er meinte, ein unmerkliches Grinsen des Bahnbeamten zu erkennen, was ihm endgültig die Zornesröte ins Gesicht trieb. Der Zug setzte sich langsam in Bewegung; Bekker trommelte mit den Fäusten gegen das Türfenster und schrie dem Zugbegleiter wüste Beschimpfungen hinterher. »Dumme Sau« und »Arschtörtchen« waren noch die weniger drastischen Ausdrücke, die diesen aber nicht zu erreichen schienen. Er stand – mittlerweile deutlich süffisant lächelnd, aber ansonsten vollkommen bewegungslos – hinter der Scheibe und sah nach draußen.
Der Zug gewann an Geschwindigkeit. Bekker stand da und atmete schwer, denn in seiner Rage war er ein ganzes Stück an der Seite des Zuges mitgelaufen. Er schloss die Augen und überlegte kurz, was er jetzt tun sollte. Wann würde der nächste Zug abfahren, und wie bekam er seine Fahrkarte umgebucht? Er nahm die Rolltreppe hinauf in den ersten Stock des Bahnhofs, wo sich die Schalter befanden. Die junge Frau hinter dem Tresen, ihr Name war Stünder, registrierte die schlechte Laune Bekkers schon, als dieser sich ihr näherte. Der Kommissar grüßte kurz, berichtete von seinem Missgeschick und fragte nach dem Folgezug. Die wegen seines forschen Tons anfänglich abweisende Reaktion von Frau Stünder hätte beinahe einen zweiten Wutanfall Bekkers an diesem Morgen zur Folge gehabt; und zwar in dem Moment, als sie ihm mitteilte, dass er mit einem Frühbucherticket eigentlich keinen Ausweichzug nehmen könne. Als Beamtem fiel ihm jedoch sofort auf, dass die junge Frau das Wörtchen »eigentlich« gebraucht hatte, was ihn aufhorchen ließ. Er witterte die Chance, dass Frau Stünder das Regelwerk der Deutschen Bahn etwas im Sinne seiner Situation auslegen würde. Angesichts der Tatsache, dass der Zug ganz geringfügig zu früh abgefahren war, eröffnete sich ihr das weite Feld der Sonderregelungen. Bestimmt half es auch, dass Bekker Hauptkommissar der hiesigen Polizei war. Schließlich lief alles sehr viel unkomplizierter und schneller ab als erwartet, weshalb ihm sogar genügend Zeit blieb, in die Bahnhofsbuchhandlung zu gehen, sich den »Kicker« zu holen und noch zu frühstücken. Als er gute 90 Minuten später im Ruheabteil des ICE saß und nicht einmal einen Sitznachbarn hatte, war seine Welt wieder vollständig in Ordnung.

Der Ausbruch

Draußen auf dem Gang hörte der Kommissar Stimmen. Es gab also noch Besatzungsmitglieder und Gäste, die sich auf den Beinen halten konnten.
Vor zwei Tagen, am 3. September, waren während der Fahrt durch das Mittelrheintal innerhalb von wenigen Stunden einige Personen auf dem Schiff an einem Virus erkrankt. Übelkeit, Erbrechen und heftige Kreislaufprobleme waren die Symptome. Bekker ging es anfänglich noch gut und er half mit, die ersten Maßnahmen einzuleiten.
Da die Zahl der Infizierten stetig anwuchs, musste man sich vordringlich um diese kümmern. Die Gesunden versuchten den Erkrankten bestmöglich zu helfen, doch fielen mit jeder neuen Stunde weitere Gäste wie auch Schiffspersonal dem Virus zum Opfer. Man entschied sich dafür, die Steuermannschaft abzuschotten und alle übrigen Personen von ihr fernzuhalten. Trauriger Höhepunkt der Erkrankungswelle war der Tod von Egon Nimmer, der mit dem Kommissar im Speisesaal am selben Tisch gesessen hatte. Den heftigen Brechanfällen des 70-jährigen Geschäftsmannes war der Zusammenbruch seines Kreislaufs gefolgt, wovon er sich nicht mehr erholt hatte. Kurz darauf war er an Herzversagen gestorben. Es gelang, die »Pandora« bis nach Mainz zu manövrieren, wo sie am Rheinufer in den Fluten lag. An das Verlassen dieser schwimmenden Krankenstation war erst einmal nicht zu denken. Wegen des hoch ansteckenden Virus war das Schiff unter Quarantäne gestellt worden.
Bekker versuchte sich zu erinnern, wieso ihn mit einem Mal Zweifel beschlichen hatten, dass dieser Virus tatsächlich die Ursache für Nimmers Tod gewesen war. Schon seit dem ersten Tag der Reise hatte dieser sich unwohl gefühlt und mit dem Kommissar darüber gesprochen. Er selbst vermutete einen Magen-Darm-Infekt. Es war allerdings nie so gravierend, dass er den ganzen Tag hätte im Bett liegen müssen, doch ging es ihm nicht besonders gut. Bekker konnte sich zuerst keinen Reim darauf machen, was genau zu Nimmers Tod geführt hatte, aber ihm genügte der Krankheitserreger als Antwort nicht.
Auch nachdem die heftigsten Virus-Attacken bei Bekker abgeklungen waren, fühlte er sich immer noch schwach. Er hatte den Eindruck, wie eine Pellwurst auf dem Bett zu liegen und auch in absehbarer Zeit nicht zu Kräften zu kommen. Erneut machte sich diese Schwere in seinem Körper breit und wieder fielen ihm die Augen zu. Der Kommissar versuchte die Müdigkeit abzuschütteln und ging in Gedanken die letzten Stunden vor Ausbruch der Epidemie durch: Die Gäste hatten gemeinsam im Speisesaal gefrühstückt. Das üppige Buffet hatte wie gewohnt keine Wünsche offengelassen, ob gebratene Würstchen und Speck, Fischplatten, Eiervariationen, die große Käseauswahl vom holländischen Gouda bis zu französischem Rohmilchkäse – es war alles vorhanden, was das Herz begehrt. Auch gab es eine große Auswahl an Brot, Kuchen und Croissants. Bekker war zu Beginn der Reise skeptisch gewesen, denn er liebte das typische Mainzer Marktfrühstück, Fleischwurst und Paarweck, dazu schwarzen Kaffee an den Arbeitstagen und am Samstag eine Weinschorle, wenn es nicht zu früh am Morgen war. Mittlerweile hatte er sich nicht nur an dieses Buffet gewöhnt, sondern überlegte schon, wo er nach seiner Rückkehr in Mainz ein vergleichbares Frühstück, zumindest einmal die Woche, bekommen könnte.
Erst hatte der Kommissar vermutet, dass die Übelkeit an Bord von einer Salmonellenvergiftung herrührte. Der Schiffsarzt, Dr. Mederlich, war jedoch schon recht bald einem anderen Verdacht nachgegangen, der sich auch bewahrheiten sollte. Dieser war nur deshalb an Bord, weil die »Pandora«, die für gewöhnlich auf der Donau in Richtung Schwarzes Meer mit ärztlicher Betreuung unterwegs war, kurzfristig für die »Aurora« eingesetzt werden musste, die nach einem Unfall nicht fahrtüchtig war. Flusskreuzfahrten in Mitteleuropa fanden, bis auf wenige Ausnahmen, wegen der ausreichend vorhandenen Anzahl an Krankenhäusern entlang der Strecken, ohne Schiffsarzt statt.
Bekker hatte während der Reise an einem großen runden Tisch, der links vom Eingang an der Fensterfront stand, gesessen. Zur Rechten von ihm saßen Egon Nimmer, Inhaber einer Werbeagentur aus Geisenheim, und seine Frau Corinne, sowie Laura und Günther Sick aus Frankfurt; sie war Steuerfachgehilfin und er Investmentbanker. Eine Berufsgruppe, der Bekker ohne jede Erklärung die Arbeitserlaubnis entzogen hätte. Den Platz daneben hatte Dirk Krude inne, ein stämmiger Installateur aus Koblenz, der recht häufig am Handy hing und Instruktionen an seine Mitarbeiter durchgab. Mit am Tisch saß auch Bekkers Kollegin und gute Freundin Erna Dunst. Die Mordkommission hatte auf ihren Vorschlag hin zusammengelegt und ein weiteres Schiffsticket für Niesberg gekauft, weil dieser sich hämisch über seinen Freund und dessen Tombolagewinn amüsiert hatte. Der Polizeifotograf hatte sich zuerst geweigert mitzufahren, dann aber zugestimmt. Er wollte kein Spielverderber sein, obwohl ihm schon schlecht wurde, wenn er im Schaukelstuhl saß. Jedoch eine Woche vor der Abreise stand Niesberg plötzlich mit einem Kinderwagen im Arbeitszimmer von Dunst und Bekker.