Am Sonntag geht Gott angeln - Dirk Grosser - E-Book

Am Sonntag geht Gott angeln E-Book

Dirk Grosser

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Beschreibung

Ausgehend von seinen Erfahrungen mit einem mehr als unkonventionellen irischen Priester stellt Dirk Grosser das keltische Christentum als einen Weg vor, die Verbindung zum Wunder der Schöpfung zu stärken und den eigenen Glauben zu einer spürbaren Wirklichkeit werden zu lassen. In den inspirierenden Begegnungen mit seinem Gegenüber wird hier ein tief empfundenes und lebendiges Christentum erlebbar, welches ein authentisches Verhältnis zum Heiligen pflegt, das das grundsätzliche Gutsein der Welt in den Vordergrund rückt und uns alle zur Feier an der großen Tafel Gottes einlädt. Ein wundervolles Buch, das humorvoll und zugleich tiefgründig eine uralte und fast vergessene Tradition vorstellt, die uns heute noch viel zu sagen hat.

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Seitenzahl: 248

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Copyright © Claudius Verlag, München 2019

www.claudius.de

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Umschlaggestaltung: Weiss Werkstatt München

Umschlagabbildung: © shutterstock/ Alexander_Evgenyevich

Layout: Mario Moths, Marl

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, 2019

ISBN: 978-3-532-60052-8

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Einleitung

Willkommen auf dem Friedhof der Konzepte

Herdfeuer und Geschichten

Anfänge

Ein ganz eigener Weg

Die Prozesstheologie des Grünen Mannes

Irischer Dauerregen und die Weisen aus der Wüste

Von Grund auf gut

Segnen und gesegnet werden

Jesus – der nette Kerl von nebenan und der ganze Kosmos

Irische Wandersandalen und ihre Spuren

Dem Himmel sei Dank, bin ich kein Profi …

Tá mo Dhia saor– mein Gott ist frei

Wasser zu Wein

Am Sonntag geht Gott angeln

Schlusswort

Literatur

Anmerkungen

Einleitung

Es gibt eine Menge Dinge in der menschlichen Geschichte, die in Vergessenheit geraten sind. Bei einigen davon ist das nicht weiter schlimm, denn niemand vermisst wohl ernsthaft das ptolemäische Weltbild, die Phrenologie oder so bahnbrechende Erfindungen wie mit Blei verlötete Konservendosen. Wir sehnen uns nicht nach der Medizin des Mittelalters zurück und jenseits von romantischen Vorstellungen ist auch die Dampflok für die meisten Zeitgenossen eher unattraktiv. Manches, was eine Zeit lang das Nonplusultra zu sein schien, wird irgendwann von etwas Sinnvollerem, Nachhaltigerem, Vernünftigerem oder schlicht Effektiverem abgelöst, während anderes sich ganz einfach als Irrweg entpuppt.

Bei einigen geistesgeschichtlichen Strömungen sieht die Lage allerdings anders aus. Obwohl scheinbar ausradiert, blieben von ihnen noch Fragmente und einzelne, leicht verloren wirkende Puzzleteile übrig, die wir heute mühsam zusammensetzen und dabei staunend entdecken, dass dieser oder jener Aspekt einer bestimmten Weltsicht uns heute ganz gut zu Gesicht stehen würde. Das ist so bei der Naturverbundenheit der nordamerikanischen Indianer und wird vielleicht ebenso irgendwann tragischerweise bei der im Untergang begriffenen Kultur Tibets so sein.

Auch das Thema dieses Buches betrifft eine solch untergegangene Geisteshaltung, deren Inhalte uns heute noch viel sagen und uns auf eine neue Spur in Richtung lebenswerter Zukunft setzen können.

Das keltische Christentum1 mitsamt seiner aus heidnischer Zeit stammenden Naturverehrung zeigt uns Wege auf, sowohl die Schöpfung mit all ihren verschiedenen Wesen wertzuschätzen als auch ein Gefühl für die grundlegende Quelle dieser Vielfalt zu bekommen, die wir in unserer Kultur Gott nennen und der wir uns mit einem gänzlich neu geerdeten Vertrauen zuwenden können.

Diese Weltsicht, deren Blütezeit genau genommen nur knapp zwei Jahrhunderte dauerte, ist wie dafür geschaffen, die Herzen der Menschen in unserer westlichen Leistungsgesellschaft zu weiten und in ihnen Platz für all das zu schaffen, was existiert: Platz für alle Menschen gleich welcher Herkunft, Hautfarbe, sozialer Stellung und sexueller Orientierung; Platz für diejenigen, deren Meinung uns nicht behagt, und auch für die, deren Glaube uns persönlich nicht anspricht; Platz auch für alle Wesen dieser Welt, die so verschieden von uns sind, die jedoch ihre je eigene wichtige Aufgabe in einem riesigen Kreislauf des Lebens erfüllen, und deren Lebensraum unseren Lebensraum auf natürliche Weise begrenzt; Platz letztlich für etwas, das größer ist als wir selbst und das unseren Blick von den Befindlichkeiten und Bedürfnissen unseres Ego auf die wirklich wesentlichen Dinge lenkt: Liebe, Mitgefühl, Humor, Freiheit und Gemeinschaft ... und Poesie.

Natürlich besteht bei solchen Rückgriffen auf längst verschüttete Vorstellungen immer die Gefahr, zu sehr auf die eigenen romantischen Impulse zu setzen und sich zu einer kritikfreien Lobhudelei hinreißen zu lassen. Doch ich gelobe feierlich, die Kelten nicht zu den Winnetous Europas hochstilisieren oder Ihnen den heiligen Patrick als Idealbild gelingenden Lebens unterjubeln zu wollen. Worum es mir geht, ist vielmehr, eine uralte und fast vergessene Tradition zu präsentieren, die durchaus ihren Platz in unserer modernen Welt verdient, und Ihnen auf mehreren Ebenen einen persönlichen Zugang zu dieser „grünen Spiritualität“ des keltischen Christentums zu verschaffen. Zu diesem Zweck erscheint es mir sinnvoller, davon zu berichten, was mich tatsächlich berührt hat, was eine wirkliche Veränderung in mir anstieß, was mich auch in Momenten großen Zweifels oder tiefer Traurigkeit aufatmen ließ und wie dies mit den Glaubensinhalten dieser besonderen Form der Spiritualität zusammenhängt, anstatt einen historischen Abriss zu schreiben. Worauf es letztlich ankommt, ist die Frage, was all dies heute für uns ganz konkret bedeuten kann und wie uns dieser uralte Schatz an Weisheit, der sich in der keltisch-christlichen Tradition offenbart, zu einem neuen Blick auf die Welt verhilft und uns für das Reich Gottes öffnet, das schon mitten unter uns ist.

Für mich war das keltische Christentum während einer Zeit großen Zweifels ein Weg, meine Verbindung zum Wunder der Schöpfung zu stärken und den eigenen Glauben, den ich nur noch als Theorie fassen konnte, wieder zu einer spürbaren Wirklichkeit werden zu lassen. Schritt für Schritt führte mich diese Form der Spiritualität zu einem lebendigen und tief empfundenen Christentum zurück. Die Segenswünsche, der Blick auf die Schöpfung, die Idee von Jesus als Freund und nicht als Herrscher, die erfrischende Alltäglichkeit der Spiritualität, die Gleichzeitigkeit von Bodenständigem und Mystischem, die Offenheit und das erzählerische Element, die Fokussierung auf das überall zugrunde liegende Gutsein – all dies ließ meine Seele wieder frei atmen, nachdem sie sich lange Zeit so angefühlt hatte, als wäre sie irgendwo zwischen Zweifeln, einer gewissen Resignation und bloßen Vorstellungen eingesperrt gewesen. Auf diesem Weg zurück zur Lebendigkeit und zum Vertrauen hat mir vor allem ein sehr ungewöhnlicher irischer Priester geholfen, der nicht nur wie eine Mischung aus Gandalf, Dumbledore, dem Mann aus den Bergen und einem in die Jahre gekommenen Jesus aussieht, sondern der sich auch mindestens so unkonventionell verhält, wie es die erwähnte Mischung vermuten lässt. Voller Mitgefühl und Humor ließ er mich an seinem Schatz keltischer Weisheit teilhaben, sodass ich nicht nur davon lesen und gewisse Dinge intellektuell verstehen, sondern sie vor allem wirklich erfahren konnte. Wie er immer sagt, ist Wahrheit für ihn vor allem das, was uns transformiert, was uns innerlich verwandelt und zu anderen Menschen macht. Alles andere sind nur schnöde Fakten, mit denen man sich vielleicht die Zeit vertreiben kann, die aber nicht sonderlich entscheidend sind. Die Erlebnisse, die ich mit diesem Priester hatte, und die Dinge, die er mir erzählte, waren für mich der Ausgangsort einer Reise in das keltische Christentum, die mich jeden Tag ein Stückchen weiter in die Tiefe führt. Ich habe längst nicht alles entdeckt, was es auf dieser Reise zu entdecken gibt, längst nicht alles durchdrungen, längst nicht alles wahrhaft gelebt. Doch in mir herrscht eine große und freudige Bereitschaft, mich auf diesem Weg weiter vom großen Geheimnis selbst führen zu lassen, mich fallen zu lassen, loszulassen, um letztlich getragen zu werden.

Wenn Sie also erfahren möchten, ob Mystiker zum Lachen in den Keller gehen, ob man ganz neu von Jesus denken kann, ob Mönche und Nonnen früher vielleicht ganz anders gelebt haben, ob die alte Kunst des Segnens heute noch eine Bedeutung hat, warum es bei den keltisch geprägten Christen einen Kreis um das Kreuz gibt, was Gott eigentlich sonntags macht und was das alles mit Ihnen und Ihrem ganz normalen Leben zu tun hat, das von der Schönheit der Welt in jeder Sekunde zu einer tiefen Verwandlung eingeladen wird, dann sind die folgenden Seiten womöglich genau das Richtige für Sie.

Willkommen auf dem Friedhof der Konzepte

Mögest du in jeder Wendung deines Lebens

die zärtliche Hand Gottes erkennen,

die dein Herz weiter macht

und dir Gelegenheit gibt, dich auf ganz neue Weise

in die Welt zu verlieben.

Die Geschichte unseres Glaubens ist selten eine Geschichte des permanenten Vertrauens, das uns erfüllt und uns niemals wanken lässt. Es gibt Momente, in denen uns eine gewisse Sicherheit trägt, dann aber auch wieder Momente, in denen wir glauben wollen, aber nicht können, in denen uns alle Glaubensinhalte nur wie reine Selbstkonditionierung vorkommen. Mir persönlich schien es oft, als hätten in mir ein hingebungsvoller Johannes und ein zweifelnder Thomas eine WG gegründet, in der sie nächtelang am Küchentisch diskutierten. So lange, bis ich von ihrem Gerede so genervt war, dass ich vom ganzen Thema Spiritualität nichts mehr wissen wollte. Hinzu kam, dass mein innerer Johannes sich leider als ein sehr stilles und in sich gekehrtes Bürschchen herausstellte, während mein innerer Thomas nie um ein gutes Argument verlegen war und jedes zarte Gefühl, das Johannes zeigen mochte, als bloßen Kitsch oder Bedürftigkeit identifizierte und somit alles wie eine Abrissbirne des Zweifels zerstörte.

Dabei hatte Jesus mich schon immer fasziniert: Seine Lehren, seine lebensnahen Gleichnisse, sein revolutionärer Blick auf die Welt, sein Reden über ein neues Reich der Gerechtigkeit, das wir selbst erschaffen könnten, und ebenso seine Wirkung auf Menschen wie Martin Luther King jr. oder Mahatma Gandhi waren für mich Eckpfeiler meiner Weltsicht.

Die Institution, die sich angeblich seiner Lehren angenommen hatte, beeindruckte mich dagegen weit weniger. Ihre Macht, die sie stets für sich genutzt hatte, auch wenn sie dafür jede Lehre Jesu verdrehen musste, ihre unrühmliche Rolle bei so vielen Gelegenheiten in der Geschichte, die religiös verbrämte Legitimation von Ungerechtigkeiten und Verbrechen, die Unterstützung, die sie Despoten zukommen ließ, wenn sie darauf hoffte, dadurch ihren eigenen Einflussbereich sichern zu können … all das schreckte mich eher ab. Wenn die Kirche Menschen im Namen dessen verurteilte, der nie einen Menschen verurteilt hatte, dann war das für mich an Schizophrenie kaum noch zu überbieten.

Und selbst wenn ich versuchte, darüber hinwegzublicken und mich auf die wirklich großartigen Einzelpersonen innerhalb dieser Institution zu konzentrieren, fühlte ich mich doch nie zu Hause. Wenn ich mal einen Gottesdienst besuchte und auf einer Kirchenbank neben drei winzigen Omis mit blau schimmernden Dauerwellen saß, die mit brüchigen Stimmen Kirchenlieder trällerten, während die Orgel etwas ganz anderes spielte, dann fand ich das in gewissem Sinne niedlich, aber dabei berührte mich innerlich einfach gar nichts. Wenn ich dann noch auf die Texte achtete wie „O ich armer Sünder“ oder „O Haupt voll Blut und Wunden“, wurde mir immer recht schnell bewusst, dass ich mich am falschen Ort befand.

Ich muss gestehen, dass ich irgendwann den gängigen Fehler beging, Glauben und Institution zu verwechseln, und als ich diejenigen, die ständig von Gott schwafelten, aus meinem Leben schmiss, auch gleich Gott selbst mit hinauswarf.

Eine unbestimmte Sehnsucht jedoch blieb. Eine Sehnsucht nach Mehr, nach Sinn und nach Tiefe, die mich eines Tages zu einem Buch des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber mit dem schönen Titel „Gottesfinsternis“ führte, in dem mich ein Satz förmlich ansprang: „Wir können das Wort ‚Gott‘ nicht reinwaschen, und wir können es nicht ganz machen; aber wir können es, befleckt und zerfetzt wie es ist, vom Boden erheben und aufrichten über einer Stunde großer Sorge.“2

Dieser Satz erschien mir, als sei er nur für mich geschrieben worden. In meiner Welt war das Wort „Gott“ entheiligt worden und ich hatte es nicht mehr ertragen, davon zu reden, obwohl ich doch instinktiv wusste, dass ich mir selbst etwas raubte (oder rauben ließ), wenn ich völlig auf die Verwendung und somit auch auf den Inhalt verzichtete. Mir wurde die Leerstelle bewusst, die dabei entstand, die Traurigkeit, die mich hinunterzog und mir den Blick für alles Gute verstellte.

Und indem mir die Leerstelle bewusst wurde, verwandelte sie sich in einen Sog, der nach Buber – der mir noch ein aufmunterndes „Alle Menschen haben Zugang zu Gott, aber jeder einen andern“3 mit auf den Weg gab – alles an mystischer Literatur in mich hineinspülte, dessen ich habhaft werden konnte.

Es war erhellend und bewegend, Meister Eckhart, Angelus Silesius oder Bernhard von Clairvaux zu lesen, mich mit Hazrat Inayat Khan oder Rumi auseinanderzusetzen und in die Gedankenwelt Hildegards von Bingen abzutauchen, aber ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht konnte ich mit diesen Menschen leider nicht mehr führen.

Solch ein Gespräch ergab sich erst später, als ich im Internet auf ein Video stieß, in dem Ken Wilber einen reichlich schrägen irischen Priester interviewte, der in Kalifornien eine Gemeinde leitete. Ich recherchierte, sah, dass dieser Priester auch ein Buch geschrieben hatte, las es begeistert und entschied mich, dieses Werk in deutscher Übersetzung in dem Verlag herauszugeben, in dem ich damals arbeitete und in dem ich jede Freiheit genoss. Mit unserem ersten Telefonat begann dann ein Gespräch, das bis heute nicht abgerissen ist … Ich wählte die Nummer in den USA, nachdem ich mich auf Vertragsverhandlungen vorbereitet und alle Zahlen parat hatte, die ausländische Autoren am meisten interessieren: Vorschusshöhe, Honorarstaffelung, Erscheinungsdatum, Höhe der Erstauflage. Doch Seán am anderen Ende der Leitung interessierte das alles nicht die Bohne. Er fragte mich nur eine Sache: „Warum? Warum möchtest du so ein Buch herausbringen?“

Ich muss gestehen, dass ich ob dieser Frage völlig perplex war und eine Weile herumstammelte, bis ich mich dazu entschloss, ihm einfach die Wahrheit zu sagen: dass ich selbst diese Leerstelle in meinem Herzen fühlte und dass ich die großartige Möglichkeit besaß, meiner eigenen Suche auch beruflich zu folgen, und Bücher herausbringen konnte, von denen ich mir versprach, dass sie mir auf meinem Weg halfen und unter Umständen auch anderen Menschen dienlich wären. Seán hörte ruhig zu und ich hatte das Gefühl, ihm alles sagen zu können, nichts zurückhalten, nichts zensieren zu müssen. Ich erzählte ihm von meinen Zweifeln und von meiner Überzeugung, dass ich wohl nie das werden würde, was man gemeinhin unter einem echten Christen verstand. Ganz lapidar meinte er nur: „Muss das irgendjemand sein?“

Ein halbes Jahr später erschien das Buch, Seán kam nach Deutschland geflogen und wir gingen das erste Mal gemeinsam auf Tour, verstanden uns von Anfang an prächtig und hielten in unseren Gesprächen stets eine gesunde Balance zwischen spirituellem Tiefsinn und gut gelauntem Blödsinn.

Seán war in der Tat der ungewöhnlichste katholische Priester, den ich jemals kennengelernt hatte. Ganz abgesehen von seinem leicht hippieartigen Äußeren, das viele Menschen überraschte, waren es vor allem seine Ansichten und die Konsequenzen, die er daraus zog, die mich beeindruckten. Als junger Priester war er nach Afrika geschickt worden, um dort zu missionieren, war aber eher selbst missioniert worden, wie er immer sagte. Die Erde, das Land und die Menschen zu lieben, war für ihn gleichbedeutend mit einem Gottesdienst. Zusammen zu feiern und zu tanzen, war für ihn das beste Gebet. Einen Menschen zu umarmen, ihm zuzuhören und ihn wirklich zu sehen, war für ihn Kontakt zum Mysterium selbst.

Als er Afrika verließ, konnte er nicht nur fließend Suaheli sprechen, sondern nahm von dort auch eine innere Freiheit mit, die er in jungen Jahren nicht gehabt hatte und die er nun niemals mehr missen wollte. Er ging nicht zurück nach Irland, sondern arbeitete in einer Gemeinde in Kalifornien, wo es aber nach einigen Jahren zu Problemen kam, da nicht allen Menschen (vor allem den Vorgesetzten) seine Art gefiel. Seán hatte keine Hemmungen, schon in den 1990er-Jahren schwule und lesbische Paare zu verheiraten, und fragte auch gar nicht lange, bevor er dies tat. „Liebe ist Liebe“, sagte er immer, „und Gott liebt die Liebe. Warum sollte ich mich also gegen irgendeine Liebe stellen, wo ich doch angeblich ein Diener Gottes bin?“

Nicht jeder Diener Gottes verstand seinen Dienst aber in dieser Weise, und so musste Seán die Gemeinde letztlich verlassen. Was dann geschah, hatten die Kirchenoberen aber in ihren schlimmsten Albträumen nicht vorausgesehen: Etwa 500 Gemeindemitglieder entschlossen sich kurzerhand, Seán zu begleiten, ihre Ursprungsgemeinde ebenfalls zu verlassen und gemeinsam eine neue Gemeinschaft zu gründen: die Companions On The Journey, die Gefährten auf dem Weg. Hier blühte Seán richtig auf, feierte Gottesdienste mit Katholiken, Protestanten, Hindus, Moslems, Juden und Buddhisten, teilte das Abendmahl mit homosexuellen, transsexuellen, atheistischen und geschiedenen Menschen. Er lud also auch all diejenigen an den großen Tisch Gottes, die an anderen Orten der Kirche nicht gern gesehen waren.

Einmal im Jahr besuchte er seine Familie in Irland, flog für vier Wochen herüber und verbrachte Zeit mit seinen Eltern und Geschwistern, seinen zahlreichen Nichten und Neffen … und mit mir. Wir trafen uns öfter auf der grünen Insel, gingen am Atlantik spazieren, unterhielten uns über Gott und die Welt. Wir liebten beide Hunde, die Berge und das Meer, und hatten ebenso eine gemeinsame Abneigung gegen Hierarchien, Ignoranz und Brokkoli. Mit anderen Worten: Wir verstanden uns blind.

Bei all diesen Gelegenheiten festigte sich nicht nur unsere Freundschaft immer mehr, ich begegnete in Irland auch einer fast vergessenen Tradition, die mir half, wieder Vertrauen in das Christentum zu fassen und Jesus ganz jenseits von der Institution Kirche wieder zu einem wichtigen Bestandteil meines Lebens werden zu lassen.

Meist holte Seán mich am kleinen Flughafen in Cork ab. Ich stand vor der Abfertigungshalle und wartete auf den „besten katholischen Shuttle-Service der Welt“, wie Seán sich angekündigt hatte. An solchen Orten die Menschen zu beobachten, kann ein unterhaltsamer Zeitvertreib sein, allerdings wird man manchmal auch auf unliebsame Weise mit seinen eigenen Vorurteilen konfrontiert.

Ich bemühe mich zwar stets, nicht allzu oberflächlich zu sein, doch als ich dort stand und ein tiefergelegtes Mercedes-Cabrio mit Breitreifen und lila-türkis-changierender Sonderlackierung angerollt kam, war mein erster Gedanke: „Ach, guck mal, der örtliche Drogenverticker kommt auch schon …“ Und ich schaute mich sogleich um, ob ich nicht irgendwo seine Freundin im Leoparden-Minikleid entdecken konnte, die er hier abholte. Doch als diese Blech-Scheußlichkeit vor mir anhielt und ich das grinsende Gesicht von Seán und sein aufforderndes Winken sah – und mir bewusst wurde, dass ich die Freundin im Leoparden-Kleid war – zerbröckelte diese Geschichte in meinem Geist. Ich warf meine Tasche in den Kofferraum und ließ mich auf die weißen Ledersitze plumpsen.

Seán brachte es gleich auf den Punkt: „Na, was anderes erwartet?“

Das war das Schöne an ihm: Man konnte mit ihm stundenlang über Theologie, die christliche Mystik oder das rätselhafte Wellen- bzw. Teilchenverhalten von Licht diskutieren, aber die wirklich wichtigen Dinge brachte er einem ganz beiläufig mit einem dahingeworfenen Satz bei. Er war kein Freund von Erwartungen und anderen verfestigten Geisteshaltungen, ließ sich immer auf alles ein und zeigte an allem ein offenes Interesse. Er hatte wirklich in Bezug auf rein gar nichts eine Theorie, wie es sein sollte, sondern schaute immer einfach darauf, was sich zeigte. Und er durchbrach gern die Vorstellungen, die andere sich von der Wirklichkeit machten. Ich hätte es ihm also wirklich zugetraut, dass er sich extra für diesen Abholdienst am Flughafen diese Zuhälter-Kutsche besorgt hatte, doch er klärte mich sogleich auf und erzählte mir, dass sein Bruder mit Gebrauchtwagen handelte und ihm immer für seinen Besuch in Irland irgendeinen Wagen zur Verfügung stellte, mit dem Seán dann herumbrausen konnte. Als ich Seamus und seinen Sinn für Humor später kennenlernte, fragte ich mich allerdings sofort, ob der Wagen vielleicht eine späte Rache für einen erduldeten Kindheits-Streich war.

Wie auch immer: Seáns kleiner Seitenhieb auf enttäuschte Erwartungen ließ uns gleich in ein Gespräch über die christliche Mystik und Meditation eintauchen, über eine innere Verfassung, die uns loslassen hilft, die uns mit neuen Augen sehen und uns dem gegenwärtigen Geschehen vorurteilsfrei zuwenden lässt.

Seán wusste nur allzu gut von meiner allgemeinen Ernüchterung, was Glaubensangelegenheiten betraf.

„Hat vielleicht auch mit enttäuschten Erwartungen zu tun“, sagte er. „Du erwartest von der Kirche, dass sie sich den Menschen zuwendet und sie bei ihrer Suche nach Gott unterstützt, während die Kirche nur erwartet, dass sich die Leute gefälligst an das halten, was sie mühsam versucht zu bewahren. Und dabei verstellt ihr die eigene Lehre den Blick auf die Wirklichkeit.“ Er lachte, schnitt eine Kurve und bretterte viel zu schnell zwischen winzigen Häusern und niedrigen Steinmauern entlang.

„Ich glaube, eine religiöse Institution ist immer in Versuchung, alles zu beschützen, was ihr lieb und teuer ist, und befindet sich damit ständig in Rückzugskämpfen. Und dann verkommt auch Gott zu einem festgefügten Bild, das man verteidigen muss, etwas, von dem man genau zu wissen meint, wie es aussieht, wie es beschaffen ist … Na ja, und wie alle anderen es sehen sollen.“

Ich nickte, nachdenklich, aber zustimmend. „Stimmt wohl. Gott ist dann Position und nicht mehr Situation.“

Seán machte einen kleinen Freudensprung auf seinem Sitz: „Genau! So kann man das eindampfen.“

Genau wie für mich war Gott für Seán tatsächlich immer Situation, immer aktuell, immer jetzt, immer lebendig, ein Geschehen, eine Geschichte, die sich in jedem Moment verändert und die stets einen offenen Ausgang hat. Eine Position dagegen ist genau das Gegenteil. Sie ist starr, unflexibel und im Grunde genommen tot.

Hier in Irland überkam mich nicht zum ersten Mal das Gefühl, als würde irgendetwas darauf warten, die seltsame Leere, die ich spürte, mit einem tiefen und seelenvollen Gehalt zu füllen. Einem Gehalt, der eher zwischen den Zeilen, zwischen den Menschen, zwischen den Schafgattern und Pubs wie ein unterschwelliger Pulsschlag zu fühlen war, eine leise gespielte Bodhran, die Lieder und Geschichten begleitete, welche von längst vergangenen Zeiten berichteten.

Nach und nach sollte ich verstehen, dass einer der größten Unterschiede zwischen unserer modernen Weltsicht und der der alten Kelten wohl darin besteht, dass wir versuchen, die Welt in Konzepte und Theorien zu fassen, um sie zu verstehen, während die Kelten als geborene Mystiker ihre Welt in Geschichten darstellten. Letztere sind weitaus offener, interpretationsabhängiger und eher an transformativer Wahrheit als an bloßen Fakten interessiert.

Die Geschehnisse, die in Mythen verpackt überliefert wurden, die Heldengestalten und Götter, die Interaktionen mit der Anderswelt und dem Göttlichen in vielerlei Ausformungen, sind ein Raunen aus der Tiefe der Zeit. Wir spüren eine Kraft, wissen aber nicht genau, wie sie beschaffen ist oder was sie in uns bewirkt. Wir ahnen etwas, spüren etwas, aber eine genaue Definition entzieht sich unserer Kenntnis. Es sind Geschichten, die etwas in uns anrühren, aber keine Philosophie, die mit analytischen Methoden arbeitet. Es sind keine Formeln, die Antworten liefern, sondern eher die ganz großen Fragen, die von uns eine gelebte Antwort fordern. In ihnen darf die menschliche Fantasie lebendig bleiben, sich vortasten, eigene Schlüsse ziehen und von dort aus weitergehen, immer der eigenen Sehnsucht folgend.

Der leider viel zu früh verstorbene Philosoph und Dichter John O’Donohue sagte einmal: „Die Fantasie ist die beste Freundin der Möglichkeit. Wo die Fantasie lebendig und wach ist, verhärtet oder verschließt sich das Faktische nicht, sondern bleibt stets offen und lädt zu neuen Schwellen der Möglichkeit und Kreativität ein.“4

Ähnlich sind die Geschichten der Bibel aufgebaut, auch wenn einige Zeitgenossen es lieber sähen, wenn es fest formulierte Handlungsanweisungen wären, die immer und für alle Zeit ihre wörtliche Gültigkeit haben würden. Seán sagt immer zu mir: „Die Bibel muss man lesen wie eine richtig gute antike Zeitung. Da werden wichtige Ereignisse geschildert, aber ebenso ganz persönliche Kommentare und Meinungen abgegeben; da gibt es Gedichte und Geschichten, einen Fortsetzungsroman, eine Rätselseite, die Wirtschaftsnachrichten und die politischen Seitenhiebe; da werden Vorkommnisse gedeutet und gefragt, was sie für den jeweiligen Verfasser bedeuten; es gibt Mitteilungen, die über einen begrenzten lokalen Bezug nicht hinausreichen, und solche, die globale Bedeutung, ja kosmische Bedeutung haben. Nur einen Comicstrip habe ich bislang noch nicht entdeckt. Aber vielleicht finden sie in Nag Hammadi oder so ja noch mal was in der Richtung. Man weiß ja nie …“

Dieser weite Sinn für Geschichten ist vielleicht ein Grund, warum die Kelten dem Christentum relativ offen gegenüberstanden, während andere zuvor heidnische Völker eher schwerlich Zugang fanden: Die Gleichnisse Jesu sind ähnlich offen wie die keltischen Mythen. Sie erzählen etwas, doch die Schlussfolgerung muss man selbst treffen. Auf diese Weise bleiben religiöse Vorstellungen lebendig. Sie bewegen sich, mäandern durch die Zeit, fordern jeweils auf andere Art heraus, verlangen, dass man mit seiner ganzen Existenz Antwort auf die implizierten Fragen gibt. Diese ursprüngliche Lebendigkeit begegnete mir in einem keltisch geprägten und damit ganz anderen Christentum und wurde für mich zu einem fast taoistischen Fließen, das mich endlich wirklich erreichte und was mich so sein und so glauben ließ, wie es mir entsprach.

Was mich wirklich bewegte, fand ich hier in mannigfaltiger Ausprägung: schlichte und mitfühlende Menschlichkeit. Das Reich Gottes ist ein anderer Name für diese Menschlichkeit. Es ist nicht festgefügt, es ist kein magischer Ort, der irgendwo weit entfernt unserer Ankunft harrt, es ist kein Luftschloss, kein Ideal. Das Reich Gottes ist ein lebendiges Geschehen, gestaltet von uns Menschen, die auf eine neue Weise leben möchten, die mit all ihren menschlichen, tierischen und pflanzlichen Brüdern und Schwestern eine wahrhaftige Beziehung eingehen möchten.

Ebenso bleibt auch Gott lebendig, wenn wir ihn als Geschehen betrachten, als das, was zwischen uns geschieht, wenn wir einander auf einer wirklich tiefen Ebene begegnen.

Gott als Person ist ein Konzept, eine Vorstellung, die wir jeweils so ausgestalten, wie es gerade für uns von Vorteil ist. Das zeigt sich vor allem dann, wenn Menschen davon reden, was angeblich Gottes Wille sei. Gott will dies, Gott will das – und wie es der Zufall will, stimmt Gottes Wille mit dem überein, was mir gerade als Ziel meines Tuns vorschwebt. Und so kann ich andere Länder überfallen und Menschen unterjochen, die nicht meinen Glauben teilen (wie könnten sie auch!), ich kann Menschen mit einem anderen Lebensstil verurteilen, da Gott ja nur meine ganz persönliche Art als richtig und gut abgesegnet hat. Und so kann ich mich immer weiter in ein „Ich bin richtig, die sind falsch!“ hineindenken und mich dabei von meiner Religion gerechtfertigt betrachten.

Seáns Einstellung und – wenn ich verallgemeinern darf – auch die Haltung der frühen keltischen Christen war eine ganz andere: Hier ist Gott eher eine wirkende Kraft, ein Werden und Wachsen, ein liebendes Geschehen zwischen gleichgestellten Gegenübern. Und solch ein liebendes Geschehen kennt keine starren Grenzen, kein für immer gültiges Richtig oder Falsch, sondern ist stets von Mitgefühl und Offenheit geleitet. Es ist eine Bewegung des Herzens, das um seine eigenen Fehler weiß und daher die der anderen achtsam halten kann. W.H. Auden hat das mit seinen berühmten Zeilen aus seinem Gedicht As I Walked Out One Evening in wunderschöne Worte gefasst: „Du sollst lieben deinen krummen Nächsten mit deinem krummen Herzen.“5

Die Kelten hatten diese Aufforderung schon verinnerlicht, als das Universum noch gar nicht an W.H. Auden gedacht hat.

Herdfeuer und Geschichten

Möge dein Heim stets

von einem wärmenden Feuer erhellt sein,

an dem man sich Geschichten erzählt,

die Fremde zu Freunden werden lassen.

Die keltisch-heidnischen Kulturen haben uns nichts Schriftliches hinterlassen, keine heiligen Texte, keine Abhandlungen über ihre Weltsicht, ihr Verhältnis zur Natur oder ihre spirituelle Tradition. Daher stammen die wenigen erhaltenen Texte über sie von römischen Invasoren oder christlichen Mönchen und sind somit recht tendenziös, was es nicht unbedingt einfacher macht, etwas über die frühe Zeit der keltischen Spiritualität herauszufinden.

„Das macht gar nichts“, meinte Seán, als ich dieses Dilemma beklagte. „Wenn du lernst, still zu werden, können dir die grünen Hügel, der Wind und die See alles erzählen, was du wissen möchtest.“

Das war wieder einmal die typische Antwort von jemandem, der Stunden damit zubringen konnte, eine Spinne beim Bau ihres Netzes zu beobachten, und der über solche Naturphänomene stundenlang Geschichten erzählen konnte, die nie mit Zwischentönen, Weitschweifigkeit, Unerklärlichem und einem Hauch der Anderswelt geizten.

Ich erinnere mich mit sanftem Schrecken an dreistündige Vorträge, die ich auf Tour mit ihm zu übersetzen hatte –, was wohl nicht nur Landes- sondern auch Familientradition war. Sein Großvater war über die Grenzen seines Dorfes hinaus als Geschichtenerzähler, Mythensammler und beliebter Redner bei Trauerfeiern und Hochzeiten bekannt gewesen. Sein Vater hatte ebenfalls Sprich- und Segensworte gesammelt und dadurch in Seán die für einen katholischen Priester sicher ungewöhnliche Meinung verfestigt, dass die Iren auch ohne das Christentum gut zurechtgekommen wären. Sie hatten ja ihre Sprichwörter und waren Meister in der Kunst des Segnens. Das reichte doch dicke an Spiritualität!

Als ich an einem Abend bei seiner Familie zu Gast war, wurde trotz lauschiger 18 Grad Außentemperatur ein Feuer im Kamin angeheizt, während sich Brüder, Schwestern, Onkel, Tanten, Freunde, Nachbarn und irgendwelche Leute, die wohl aus Versehen hier waren, auf einem Sammelsurium von Küchen- und Schaukelstühlen, Sesseln und Melkschemeln versammelten. Offenbar teilten alle Mitglieder der Familie O’Laoire die Vorliebe ihres weitgereisten Sohnes Seán für afrikanische Temperaturverhältnisse. Während sich mein T-Shirt langsam, aber sicher in eine Salzkraterlandschaft verwandelte, saßen die lustigen Iren in Strickpullis um das munter prasselnde Feuer und fühlten sich pudelwohl.

Vielleicht musste ich mir bewusst machen, dass das Herdfeuer der irische Inbegriff schlechthin für Gastfreundschaft war – schließlich taucht dieser Begriff in jedem dritten irischen Segenswunsch auf – und so wurde das Feuer angefacht, weil ein Gast da war, und nicht etwa, weil es kalt war. Da musste man einfach durch!

Es gab Scones, Tee, Bier und ein freundliches Lachen aus jeder Ecke. Padraig, der steinalte Nachbar, den ich nie in etwas anderem als seinem ölverschmierten Blaumann sah, gab zahnlos eine Geschichte nach der anderen zum Besten, die alle köstlich zu amüsieren schienen. Obwohl er angeblich Englisch sprach, verstand ich allerdings nicht ein einziges Wort.

Aber bald begannen auch andere zu erzählen und es entspann sich ein Hin und Her aus Mythen, Märchen und Geistergeschichten. Die Túatha Dé Danann schwebten durch den Rauch des Feuers, Fionn mac Cumhaills Weissagungskünste wurden gepriesen, Airmeds Umhang hüllte uns ein, und immer wieder wurde Bezug genommen auf Merkmale der Landschaft: „Westlich von Sligo steht ein Stein … Auf dem Hügel hinter dem Haus meines Großvaters … Auf dem Feld von Connor O’Douglan … An der Westküste von Inis Mór …“ So begannen viele Sätze, die irgendwann nach Stunden ineinander verschwammen, fast zu einem Hintergrundgeräusch wurden, das mich in vereinter Kraft mit dem einen oder anderen Stout und der saunaartigen Hitze einlullte. Ich fühlte mich der Zeit entrückt, hörte Seán von Brans nicht enden wollender Reise erzählen, dachte kurz, er spräche über mich, und fühlte mit einem Schlag den Unterschied zwischen den verwurzelten Menschen hier und meiner eigenen Rastlosigkeit und fehlenden Zugehörigkeit.

Ich stand etwas schwindelig auf und ging nach draußen, wo mich ein glitzernder Sternenhimmel erwartete, der mich sonst stets faszinierte und beflügelte, mich heute aber einfach noch verlorener fühlen ließ als sonst schon.

„Wir sind alle hier“, sagte Seán plötzlich neben mir, und ich erschrak, als hätte mir eine Banshee auf die Schulter geklopft. „Wir alle auf diesem kleinen blau-grünen Ball, der mit 107.000 km/h durchs All rast. Verrückt, oder?“

Solche Zahlenbeispiele hat Seán ständig auf Lager, da schlägt der Mathematiker in ihm diabolische Doppel-Salti.