9,99 €
"Tatsächlich war der irische Aufstand der erste Versuch, die Weltkarte des Imperialismus zu verändern– in einem Zeitabschnitt, dessen krönender Abschluss die erfolgreiche Russische Revolution von 1917 darstellt. Indem wir die Frage von Sozialismus und nationaler Befreiungsbewegung im Zusammenhang mit Irland im Jahr 1916 reflektieren, werden wir notwendigerweise mit dem Problem des Verhältnisses zwischen nationalen und sozialistischen Kämpfen in der heutigen Zeit konfrontiert.« (Priscilla Metscher) Seit langer Zeit befassen sich der Literaturwissenschaftler Thomas Metscher und die Historikerin Priscilla Metscher mit dem kämpferischen Leben, marxistischen Denken und Wirken des sozialistischen Arbeiterführers James Connolly, der im irischen Osteraufstand 1916 eine zentrale Rolle gespielt hat und nach dessen Scheitern am 12.Mai 1916 hingerichtet wurde. Die in diesem Buch zusammengefassten und erstmals vollständig auf Deutsch vorliegenden Beiträge der beiden Autoren sind ein Ergebnis dieser Studien. Ergänzend haben wir einige Originaltexte von James Connolly ins Deutsche übersetzt.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 160
Vorwort:Ein irischer Sozialist in der Epoche sozialer Revolution###
Thomas Metscher:James Connolly und der Marxismus
Einführende Bemerkungen
Kapitel 1: Die Prinzipien des Marxismus
Die Philosophie der Praxis
Marxismus als Materialismus
»Sinnlich menschliche Tätigkeit«
Die Geschichte und der menschliche Akteur
Klasse
Kultur
Dialektik
Kritische Theorie und experimentelles Denken
Die Ethik der Befreiung
Radikaler Humanismus und das Konzept des gesellschaftlichen Individuums
Kapitel 2: Integrativer Marxismus
Der Marxismus und die Kraft der Synthese
Kritik des reduktiven Marxismus
Kapitel 3: Der Marxismus James Connollys
Historischer Materialismus und historisches Denken
Klasse als ein Schlüsselkonzept von gesellschaftlicher Formation und historischem Fortschritt
Marxismus als radikaler Humanismus: Die Ethik der Befreiung und das Konzept des Sozialismus
Die Arbeiterklasse als das Subjekt der Geschichte
Die Theorie der zwei Kulturen
Marxismus und Demokratie
Marxismus und Aufklärung: Die Gesellschaft der Vereinigten Iren
Die sexuelle Frage: Die Emanzipation der Frauen und die Gleichheit der Geschlechter
Die nationale Frage, der Antikolonialismus und die Idee einer freien Nation
Das Bündniskonzept
Marxismus und religiöse Überzeugung: Ein pragmatisches Modell
Kapitalismus, Kolonialismus und Krieg
Kapitel 4: Connollys historische Stellung – ein zusammenfassender Ausblick
Priscilla Metscher:James Connolly und die erweiterte Klassenpolitik des Jahres 1916
Sozialistischer Republikanismus
Sozialismus und Krieg
Arbeitskämpfe und Klassenkonflikt im Vorfeld des Osteraufstandes
Der Osteraufstand
Eine Epoche der sozialen Revolution
Fazit
Anhang:James Connolly im O-Ton
Sozialismus und Nationalismus
Der südafrikanische Krieg
Arbeit, Nationalität und Religion
Die Frau
Nach dem Zusammenbruch dessen, was man einst die sozialistische Welt nannte, wurde der Marxismus offiziell für tot erklärt und dieser Tod wurde von den Mächten, die den Kalten Krieg gewonnen hatten und sich selbst als Sieger der Geschichte wähnten, triumphierend gefeiert. Die Frankfurter Allgemeine Zeitung (die führende deutsche Tageszeitung und ein Sprachrohr prokapitalistischer Ideologie mit internationalem Ruf und Einfluss) sprach mit einer Anspielung auf Samuel Beckett von den »Endspielen« des Marxismus und veröffentlichte eine Reihe von Artikeln aus der Hand von Autoren, die einst als Marxisten galten, sich aber im hellen Licht der letzten Ereignisse einen neuen Mantel umgehängt hatten und bereitwillig dabei helfen wollten, den Leichnam zu begraben. In dem kurzen geschichtlichen Zeitraum jedoch, der seit den Tagen dieser kapitalistischen Rückeroberung verstrichen ist, haben sich die triumphierenden Stimmen spürbar gelegt. Der Leichnam, anstatt zu verrotten und für immer in den Gedärmen der Geschichte zu verschwinden, fängt an »auszuschlagen« (um T.S. Eliots fesselnde Metapher zu verwenden). Marx’ Gespenst ist in recht vielen Plätzen dieser großen weiten Welt wieder aufgetaucht.
Einer der Gründe, in Wahrheit der Hauptgrund für die Wiederauferstehung des Marxismus ist die offensichtliche Unfähigkeit des Kapitalismus, auch nur eines der drängendsten Probleme dieser Welt – egal ob ökonomisch, politisch, kulturell oder mit Bezug auf die Umwelt – zu lösen; tatsächlich ist die dem Kapitalismus angeborene Barbarei seit dem Zusammenbruch des Sozialismus unzweifelhaft zum Vorschein gekommen. Der Kapitalismus – nun frei, seine Masken abzulegen – offenbart sich in dem, was er seinem Wesen nach ist: als Gesellschaft, aufgebaut auf den Trieben von Gier und Besitz, beherrscht vom Profitmotiv als seiner zentralen anthropologischen Substanz. Den zukünftigen Generationen wird er eine von Krieg, Hunger und Krankheiten geplagte und durch eine mögliche Umweltkatastrophe bedrohte Welt hinterlassen – »die verkehrte Welt«, charakterisiert durch die »Verwechslung und Vertauschung aller menschlichen und natürlichen Qualitäten«,[1] in der das Geld »die sichtbare Gottheit, […] die allgemeine Hure« und »das entäußerte Vermögen der Menschheit«[2] ist, wo die »Arbeit […] Wunderwerke für die Reichen, aber […] Entblößung für den Arbeiter«, »Paläste, aber Höhlen für den Arbeiter«, »Schönheit, aber Verkrüppelung für den Arbeiter«, »Geist, aber […] Blödsinn, Kretinismus für den Arbeiter« produziert,[3] wo der Mensch, als Arbeiter, auf »seine[…] tierischen Funktionen, Essen, Trinken und Zeugen« reduziert wird. »Das Tierische wird das Menschliche und das Menschliche das Tierische.«[4]
Trotz seiner enormen Veränderungen hat sich, was das essentielle Wesen des Kapitalismus angeht, nichts Substanzielles geändert seit Marx diese Zeilen schrieb. Die Extreme der materiellen Deprivation mögen den Schauplatz gewechselt haben und von den Metropolen in die sogenannte »Dritte Welt« gewandert sein, die geistige und psychische Deprivation aber hat sich im Zeitalter der Konsumentenideologie und der medialen Massenmanipulation intensiviert. Im Rahmen dieses Beitrages beabsichtige ich, einen bestimmten Standpunkt mit Hinblick auf den Ideenkorpus, der gemeinhin »Marxismus« bezeichnet wird (dialektischer und historischer Materialismus, um genauer zu sein), darzulegen – ein Ideenkorpus, der den Namen eines einzelnen Mannes trägt, in Wahrheit aber das Ergebnis und die kontinuierliche Arbeit von vielen Menschen ist. Ich werde diesen Standpunkt in drei Schritten präsentieren:
1.) Zunächst möchte ich einen kurzen Umriss dessen bieten, was der Marxismus in meinen Augen im Wesentlichen ist und was seine Grundprinzipien sind.
2.) Sodann werde ich versuchen, die Art des Marxismus zu beschreiben, von dem ich glaube, dass sie der einzige Marxismus ist, dem eine Zukunft verhießen ist. Ich schlage hierfür den Begriff »integrativer Marxismus« vor und werde versuchen zu erklären, was dies ist.
3.) In letzten Abschnitt beabsichtige ich nachzuweisen, dass der vom irischen Gewerkschafter und Sozialisten James Connolly vertretene Marxismus im Wesentlichen mit dem übereinstimmt, was ich »integrativen Marxismus« nenne. Ich werde Connollys Beitrag untersuchen. Ich bin der Überzeugung, dass sein Beitrag wichtig ist und in einer Reihe von Punkten eine bemerkenswerte substanzielle Aktualität besitzt.
Von Anfang an möchte ich klarstellen, dass ich mit der Einführung des Begriffs des »integrativen Marxismus« nicht beabsichtige, einen neuen Typus des Marxismus zu kreieren (es gibt bereits zu viele Marxismussorten in dieser Welt), vielmehr möchte ich herausarbeiten, was nach meinem Dafürhalten eine inhärente Qualität des klassischen Marxismus ist – also des Denkens von Marx, Engels, Lenin, Luxemburg, Gramsci und einer Reihe anderer, zu denen auch James Connolly gehört. Der Marxismus ist mehr als eine bloße ökonomische und politische Theorie. Er ist eine Weltanschauung mit philosophischem Fundament, das verstanden werden muss, will man seine ökonomischen und politischen Seiten begreifen. Jeder Versuch also, diese Theorie im Ganzen wie im Einzelnen zu erklären, muss ihre Grundlagen erläutern. Sich mit ihnen zu befassen, ist auch deswegen politisch essentiell, weil so viel Unsinn zur Frage im Umlauf ist, was Marxismus ist und was er nicht ist.
[1] MEW Ergänzungsband. Schriften bis 1844. Erster Teil, S. 566.
[2] Ebenda, S. 565.
[3] Ebenda, S. 513.
[4] Ebenda, S. 514f.
Der Marxismus, wie er sich im Lauf der letzten mehr als 150 Jahren entwickelt hat, ist ein Gedankengebäude, zu dem eine große Anzahl von Menschen, Männer und Frauen auf allen Kontinenten des Globus, beigetragen haben. Heute ist er nicht mehr länger ein »europäisches« Phänomen, sondern als Theorie international. Er existiert in einer Pluralität von Formen (als »pluraler Marxismus«, um einen nützlichen, von Wolfgang Fritz Haug geprägten Begriff aufzugreifen, und ist in keiner Weise ein abgeschlossenes Gedankengebäude. Das ist eine Schwäche, wie es eine Stärke ist. Als Stärke zeugt es vom Reichtum einer Theorie, in die eine Vielfalt historischer Erfahrungen und wissenschaftlichen Wissens Eingang gefunden hat. Die Schwäche liegt in der Tatsache, dass diese Formen zu einem Großteil voneinander abgekoppelt sind; sie widersprechen sich häufig in Detailfragen und gelegentlich auch in prinzipieller Hinsicht, ohne dass diese Widersprüche in adäquater Form diskutiert werden. Eine echte internationale Diskussionsplattform existiert nicht. Man könnte sogar sagen, dass es zum jetzigen Zeitpunkt kaum jemanden gibt, der vollständige Kenntnis über all die unterschiedlichen »Marxismen«, die existieren, vorweisen kann. Für die Zukunft wird es von grundlegender Wichtigkeit sein, alle diese Formen zusammenzufügen und eine theoretische Einheit herzustellen, ohne den Reichtum einzubüßen, den die Vielfalt der Formen enthält. Aus diesem Grund ist es wichtig, sich über die Grundprinzipien marxistischer Theorie zu einigen. Solche Prinzipien sind logischerweise notwendig und sie finden sich in eindeutiger Klarheit in Schriften der marxistischen Klassiker.