Amanecer - Sophie Stein - E-Book

Amanecer E-Book

Sophie Stein

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Beschreibung

Eine junge Frau kämpft sich durch ein Labyrinth aus Träumen, Erinnerungen und entgleitenden Gegenwarten, als sie versucht,
die Wahrheit über das Verschwinden ihrer Schwester herauszufinden. Auf einer Insel, wo sie für ein Jahr studieren will, trifft sie auf eine Gruppe junger Leute, darunter Lázaro, in dessen Gegenwart Aziza unter merkwürdigen Hautverbrennungen leidet. Über ihn kommt sie auch in Kontakt mit den Guanchamánes, einer geheimen Organisation, die das Wesen der Träume erforscht. Als sie schließlich an einem ihrer Experimente teilnimmt, gerät sie in einen Strudel von Parallelwelten.

Sophie Steins Erstlingsroman ist ein Trip in die Riftzonen von Mythos und Schlaf, ein Text, dessen flimmernde Sprache unser Bild der Wirklichkeit in eine phosphoreszierende Schwebe versetzt.

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Seitenzahl: 239

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ähnliche


SOPHIE STEIN

AMANECER

DIAPHANES

Meiner Familie

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Amanecer

Motten und Eidechsen

Die Karawane

Der Baumgott

Ein gelbes Blatt

Ein seltener Käfer

Té à la menthe

Die Bank der Traumsammler

Die Begegnung

Der Raum

Mediodía

Klagende Haie

Schuppen und Fell

Perlmuschel

Sommernacht

Die Spitze des Bergs

Eine glühende Blume

Tarde

Gespräche

Einschlafen

Atardecer

Gespenster

Magenschaum

Individuum est ineffabile

Synapsen

Die rote Qualle

Der Wahrsager

Winternacht

Teeschollen

Die Frau in den Schatten

Noche

Der tiefste Punkt

Im Wal

Jahresringe

Laila und Madschnun

AMANECER

EIERSCHALENRISSE

Geschichten formen sich in der Fäulnis der Wolken. Durch das Fenster starren Krähen herein, sie werfen Erde aus dem Blumentopf. Scheinwerferzischen steigt von der regenzerfurchten Straße auf, und die Zimmerwände beginnen sich in stillem Rhythmus zu schälen.

Im Angesicht der Krähenblicke bilde ich mir ein, dass mit jeder Geschichte irgendwo eine Schale rissig wird und etwas Zerzaustes entschlüpft. Dass Zimmerwände sich von Brüchen durchzogen ausdehnen, wölben und unvermeidlich aufplatzen, um den Denkenden zu einer neuen Stufe, innerhalb einer weiteren Eierschale, zu heben.

Als schaumige Blasen hängen die Geschichten an der Innenwand meines Schädels. Dort entstehen sie, wachsen heran, reifen und gleiten mit einem dumpfen Plopp wie mehliges Fallobst zu Boden. Zizababy singt in ihrem Kinderbett. Aus ihrem Mund wachsen gläserne Regenbogenfäden, und ihre Eltern weben silberne Blumen daraus. Es sind liebende Eltern, die sich Tag und Nacht um sie kümmern, sie ernähren und sanft berühren. Schmatzend schlürft das Baby seine Milch im Arm der Mutter. Es schluckt und schnauft und stößt ein lustvolles Stöhnen aus, das Schmerz oder Wut auszudrücken scheint. Dabei lallt es unverständliche Worte und windet sich vor Genuss. Wenig später liegt das schmatzende, summende Baby erneut in einer prallen Fruchtblase aus Wonne, trinkt puren Nektar aus Blütenkelchen und nagt am Mark eines Johannisbrotes.

Danach bin ich eingeschlafen und wieder aufgewacht. Ein Morgen hängt im Staub des Fensterrahmens wie fahle Girlanden, und ich befinde mich auf dem Weg zum Berliner Flughafen, sur ma route. In meinem Gehirn zerschmilzt eine Chemikalie, verändert die wahrgenommene Welt, ihr Licht, ihre trübe Konsistenz. Die Silhouetten der Vogelkörper vor dem eisblauen Himmel glühen heller. Plötzlich kann ich durch die windige Seide des Morgens rennen, zwischen Autos und Lastwagen hindurchschlüpfen, um den Bus zu erwischen, und lächeln – an solchen Tagen, an denen ich daran glaube, der Käpt’n meiner Seele zu sein.

Außer Atem und mit geschwollenem Gesicht kann ich durch die zischende Öffnung der Schwingtüren treten, einen Sitzplatz suchend durch den Gang torkeln, während der Bus bereits wieder losgefahren ist und hin und her schwankt. Den Rucksack dann auf den Schoß nehmen, während die anderen mich betrachten, mir ihre Blicke ins Gesicht drücken und der Boden gesprenkelt ist mit Schnipseln aus Hell- und Dunkelgrau.

Beim Erwachen hat ein rhythmisches Geräusch aus meiner Wirbelsäule gedröhnt. Irgendetwas Schwieriges, vielleicht in dem Moment Geträumtes, etwas Zähflüssiges, das ich tun oder sagen musste, das aber bloß unverständlich laut aus meinem Rückgrat schallte. Bis sich schließlich der Ton mit dem Klingeln des Weckers vermischte.

Jetzt, direkt vor mir, bahnt sich durch die raschelnde Menge ein langer, geflochtener Zopf. Er läuft und bahnt, bahnt und drängt, hält stehend inne. Auch ich laufe, mit meinem ratternden Koffer, die Augen geweitet und wie bei einer Kröte vorgedrückt, um alle Schilder und Wegweiser hereinzulassen; und während ich so durch die steilen Hallen und Korridore fliege, blende ich festentschlossen die Dämonen aus, die mir an den Seiten Grimassen schneiden. Ich weiß, dass sie da sind. Sie tanzen in den Augenwinkeln. Doch ich ignoriere sie und laufe stur geradeaus, immer weiter, bis ich am Gate angekommen bin.

Beim Warten auf das Boarding zupfen meine Nagelspitzen kleine Fetzen aus meiner Lippe. Die Wärme meines Atems reagiert mit meiner Haut und erzeugt einen Geruch nach Kaffee und Vanille. Ich nehme ihn auf, sauge mich selbst ein und werde zum Perpetuum Mobile.

Unter dem Flugzeug gleitet der Atlantik dahin. Dehnungsstreifen aus Silber durchziehen seine Haut und flackern im Takt eines anderen Herzschlags als der Rest des Blaus. Es wirkt fast, als sei dort unten die Meeresschale aufgerissen, sodass man in das rohe Fleisch darunter blicken kann. Eine dumpfe Ahnung hat mich beschlichen. Der nagende Eindruck, das Flugzeug nähere sich unaufhaltsam der letzten verbliebenen Insel. Die Brandung rollt auf mich zu und treibt mich in höhergelegene Gegenden, drängt mich mit jedem Schritt in finsterer werdende Wälder.

Das Flugzeug taucht in eine Schicht aus goldenem Dunst. Plötzlich beginnt die Maschine, auf und ab zu hüpfen und zu schwingen wie ein Pendel. Beim Frühstück heute Morgen hat ein Haar im Müsli gelegen. In diesem Moment kommt mir wieder das Gespräch in den Sinn. Hinter meiner Stirn entfaltet die Erinnerung sich unvermittelt, selbstständig, ein pulvriger Schmetterling zwischen meinen Schläfen.

Es war Nachmittag, und durch zwei Fenster fiel zitronengelbes Licht ins Auslandsbüro der Romanistischen Fakultät. Die Haare des Professors lagen an seinem Schädel wie die feuchten Daunen eines frisch geschlüpften Kükens. Auf einmal trübte sich das Licht im Raum wie in einem schmutzigen Aquarium. Die Welt roch plötzlich jünger und an den Rändern leicht verbrannt. Hinter einem kleinen quadratischen Fenster fiel nun bleigrauer Regen. Und eine unbeantwortete Frage hing in der Luft.

Mein Gesicht gegen das Kabinenfenster gepresst, sehe ich den Schneekristallen beim Schmelzen zu. Geriffelte Gänsehaut auf blauweißer Meeresoberfläche. Auch meine Haut erzittert und zieht sich fröstelnd zusammen, denn dort unten, auf den Wellen, treibt ein weißer Punkt. Eine große Möwe vielleicht oder bloß eine Schaumkrone?

Von der Antwort auf die Frage schien meine Zulassung zum Auslandsprogramm abzuhängen. So viel war mir klar, als Gegenwart und Vergangenheit ineinanderglitten und Identitäten sich zu überlagern begannen – mein eigenes Ich und das andere Ich, das mir so vertraut ist wie eine zeitlebens oft verspürte Emotion oder der grünbewachsene Pfad, der hoch zum Haus meiner Kindheit führt. Also holte ich tief Luft und sagte, an die beiden Männer vom französischen Kultusministerium gewandt: „Son père est sous-chef de la gare.“

Ja, der Vater des jungen Soldaten aus Lyon, der mit mir Französisch geübt hatte – Pierre –, war Eisenbahner. Pierre war in der Nähe unserer Wohnung stationiert gewesen und meine Mutter hatte für ihn die Hemden gewaschen und gebügelt. Wie ungewöhnlich es doch war, dass man uns deutschen Studenten überhaupt gestattete, ins Ausland zu gehen, fuhr es mir durch den Kopf. Eine großzügige Geste der Franzosen, die nach dem Ersten Weltkrieg undenkbar gewesen wäre.

Seit dem letzten Krieg waren erst vier Jahre vergangen. Doch diesmal war etwas anders. Seit Kriegsende hatten die Franzosen die Wiedereröffnung der Universität in der ehemaligen Luftwaffenkaserne vorangetrieben und diese auch rasch erreicht. Allen war klar, dass die Feindschaft zwischen den Ländern enden musste.

„Je ne connais pas le fils, mais je connais le père“, sagte da unvermutet der linke Fragesteller. Er kannte Pierres Vater? Mit einem leichten, aber vielsagenden Lächeln fügte er hinzu: „Voudriez-vous le revoir?“

Ich konnte mein Glück kaum fassen. Ein unglaublicher Zufall wollte es, dass der Mann Pierres Vater persönlich kannte. Und ob ich Pierre wiedersehen wollte! Damit war ich für das Stipendium zugelassen und würde, für die Dauer eines année scolaire, nach Frankreich reisen.

„Meine Damen und Herren, in wenigen Minuten beginnen wir mit unserem Landeanflug auf Nivaria. Wir bitten Sie, sich auf Ihre Plätze zu begeben und sich anzuschnallen.“

Die Durchsage des Kabinenpersonals holt mich zurück in die Realität. Eine von trockenen Sträuchern übersäte Erde ist am Fensterrand aufgetaucht. Sie ist durchwebt von braunen Wegschnüren. Wellenkämme brechen sich an schwarzem, scharfkantigem Küstengestein. Sie zerplatzen bei der geringsten Berührung wie schaudernde Früchte, prall gefüllt mit Fruchtfleisch aus gleißendem Schaum.

Ich kenne das Lebensgefühl dieses anderen, aus der Vergangenheit stammenden Ichs, ich kenne die Farben, in denen es denkt. Während der wenigen Sekunden, in denen es mich ausfüllt wie ein Tintentropfen, der in ein Wasserglas fällt und sich unaufhaltsam darin ausbreitet, während es blau durch meine Adern geistert und unsere Gedanken sich miteinander verweben, begrüße ich es freundlich, heiße ich es willkommen zurück in meiner Welt.

Ich muss das malen. Ein Gedanke, der mir wie eine Ohrfeige durch den Kopf rauscht. Als würde der Anblick realer werden, wenn man ihn mit Farben auf ein Stück Leinwand oder einen Fetzen Papier presst, als könnte man somit versichert sein, dass der Moment wirklich stattgefunden hat. Dann das harte Aufsetzen auf der Landebahn. Eine Fanfare ertönt und ich trete, unter einer blendenden Septembersonne, aus dem Flughafengebäude.

Die Fahrt mit dem guagua dauert eine gute Stunde, bringt mich vom südlichen Teil der Insel entlang der schroffen Ostküste hinauf in den Norden. Eine Reihe weiter seufzt ein Touristenpärchen über die sich zu lange hinziehende Fahrt. Die beiden sprechen miteinander – wohl um Pausen, die wie Gewitterwolken heraufziehen, zu füllen, um Lücken des Gefühls zu schließen und Lichtungen in der Konversation zu bepflanzen, offenbar nicht in der Absicht, sich das Ausgesprochene mitzuteilen. Derweil ziehen staubige Schluchten und Ebenen vorüber; mit ihnen Bananenplantagen und landwirtschaftlicher Terrassenbau.

Vor Urzeiten ist der Archipel einem unter Erdplatten verborgenen Magmaherd entstiegen. Er bäumte sich auf und türmte Schichten aus geschmolzenem und wieder erkaltetem Gestein auf, bis er die Oberfläche des Ozeans durchbrach und bald hoch und mächtig über sie hinausragte. Es kommt mir unwirklich vor, dass ich an der Universidad de La Coralina studieren werde, auf dem größten von acht Vulkaneilanden, wie erfunden. Weitab von jeder Festlandküste und umgeben von tosendem, schwarzem Wasser. Es klingt fast wie eine weitere Geschichte gegen das Verschwinden.

Mein weit geöffneter Blick bleibt an flatterndem Mumienstoff hängen, der Gewächshäuser mit im Verborgenen gedeihenden Pflanzen verhüllt. Und dann, immer wieder, taucht zwischen den Buckeln und Anhöhen das Meer auf – sein stechend blauer, den Puls für einen Moment ins Stocken bringender Augenaufschlag.

MOTTEN UND EIDECHSEN

Eine Muschel öffnet und schließt sich leise atmend. Ich entsteige, gebückt, durch eine schmale Seitenöffnung dem klickenden und schnaufenden guagua und ziehe den Koffer aus seinem Bauch. Wende mich dann, den Griff fest umschlossen haltend und an der Bushaltestelle unter einer Palme und einem fernen Stück Himmel zurückbleibend, der sich ringsum manifestierenden Stadt zu. Erst jetzt scheint sie sich, unter meinem Orientierung suchenden Blick, zu entfalten und in den Himmel zu schrauben. Ein innerer Gärungsprozess lässt Hochhäuser aufquellen und Straßen dampfend Blasen werfen – wogende Netzschäume aus Möglichkeiten. In dieser unbekannten Hefestadt also mache ich mich auf die Suche nach einem Einkaufszentrum, um etwas Essbares und eine Sim-Karte zu finden.

Das Angebot im Supermarkt ähnelt im Großen und Ganzen jenem, das mir aus der Heimat bekannt ist. Es gibt Obst und Gemüse, Dosen, Getränke, Utensilien zur Körperpflege und zur Haushaltsreinigung. Haustierprodukte, Süßigkeiten, Knabberzeug und Backwaren stehen in säuberlich sortierten Reihen. Ganz hinten bieten einige Theken Käse, Wurst, Fisch und Fleisch an.

In einer fünften Theke wuselt und zirpt es lautstark. Insekten und kleinere Lebewesen – roh, gebraten oder gerade noch lebendig – liegen darin zum Verkauf ausgebreitet. Was noch lebt, sind in Folien gewickelte Eidechsen mit apathisch kreiselnden Schwänzen. Außerdem Heuschrecken, die zornig an mit Luftlöchern versehenen Boxen kratzen und deren Hinterläufe vergeblich ihre verklebten Flügel zu säubern versuchen. In einer Brühe, von der auf Wunsch Portionen abgeschöpft werden, zappeln fette Käfer mit irisierenden Panzern. Jedes Mal, wenn die beschürzte Verkäuferin die Kelle zurücklegt, wandert der Griff mit einem reibenden Geräusch am Rand des Topfes entlang.

Eindeutig tot sind hingegen die Frösche und Fuchsohren auf dampfendem Eis, die metallisch schimmernden Fleischstücke und mehrere Pfoten mit schwarzem Fell. Auch verschiedene glänzende Pasteten und blutige Würste regen sich nicht. Die Geräusche der noch Lebenden jedoch steigen als schwirrender Klangnebel über der gläsernen Theke auf, verdichten sich zu einer schrillen Musik, einem Gefangenenchor, der durch die Regalreihen weht und den Kunden an die Kehle springt. Wie ein unsichtbarer Dampf drückt er sich bis zu den automatischen Türen und weiter nach draußen, wo er sich mit dem Wind und dem lärmenden Licht vermischt.

Um hinauf in die kälteren Höhen der Universitätsstadt und zu meiner Bleibe für die kommende Nacht zu gelangen, steige ich in ein Taxi. Ein milder, nieselnder Frühlingsregen hat eingesetzt und benetzt die Windschutzscheibe mit einem Schleier funkelnder Tropfen, die zu klein und durchsichtig sind, als dass es sich lohnen würde, den Scheibenwischer anzuschalten. Dem Auto haftet ein Aroma von Pfeffer und Zimt an.

„Woher kommst du?“ Blechern schallt die Stimme des Fahrers, wie aus einem Brunnenschacht, zu mir herauf.

„Aus Deutschland. Ich habe in Berlin gewohnt.“ Ich rede schnell, verschlucke fast die Silben.

„Ah, muy bien. Ich kenne Frankfurt. Machst du hier Urlaub?“

„Nein. Ein Auslandsjahr an der Universidad de La Coralina.“

Er nickt und erzählt mir, wie er mit acht Jahren von Venezuela hierherkam. Sozusagen sei er Nivarianer. Spanische Philologie und Literatur habe er hier studiert. Er klopft auf das Lenkrad.

„Aber mir gefällt meine Arbeit.“

Vieles vom Studium habe er bereits vergessen, erzählt er. Und am Feierabend, nach zwölf oder dreizehn Stunden Taxifahren, bliebe ihm oft keine Kraft mehr, um noch ein Buch in die Hand zu nehmen.

„Si tuviese yo las telas bordadas del cielo…”, zitiert er, mit einer ausschwenkenden Armbewegung in Richtung Himmel, Yeats auf Spanisch. Um zu verdeutlichen, was mit telas gemeint ist, zupft er an seinem Pulloverärmel und tippt auf meine Jacke. Das lyrische Ich sei zu arm, um seiner Geliebten die von goldenem und silbernem Licht durchwebten Himmelstücher zu schenken, erklärt er. Nur seine Träume könne es unter ihr ausbreiten, und es bitte daher seine Geliebte, behutsam aufzutreten. Immerhin wandele sie auf seinen Träumen. Ich notiere mir den Namen des Gedichts auf der Rückseite eines alten Kassenzettels. Dann steige ich aus, das Taxi wendet und fort sind der Mann und seine Gedichte.

„Bienvenida“, sagt im Türrahmen stehend die junge Studentin. „Du musst Aziza sein.“

Ihre Augen sitzen wie Kohlenstücke über ihren Wangen und nähren ein lautloses Feuer. Sie betrachten mich sorgfältig. Auch in ihrer Stimme schwingt dieser kaum merkliche Hall mit; tönender bei ihr, weniger erstickt, als käme er nicht von tief unten heraufgekräuselt – aus einer Tropfsteinhöhle oder einem steinernen Schacht –, sondern aus großer Höhe herabgefallen. Aus den nachtgrauen, mit ihren Bäuchen über die Dächer der Stadt schabenden Wolken vielleicht.

Lyras Gesicht signalisiert eine ehrliche Freundlichkeit, mit einem Hauch von verhaltener Kühle darüber, so, wie wenn im Herbst die Luft kälter wird, der Boden und die Seen und das Mark der Bäume aber noch die Wärme des Sommers in sich tragen. Im nächsten Moment macht sie eine eigenartig vertrauliche Geste und wischt mit der Seite ihres Handballens einen Film Regentropfen von meiner Stirn.

„Komm herein“, sagt sie mit einem Lächeln, drückt mir, wie aus einem Tagtraum gerissen, zwei Küsse auf mein erhitztes Gesicht und zieht mich ins Innere eines warm beleuchteten Wohnzimmers. Mit einem Ruck schließt sie die Tür und lehnt sich mit Schwung dagegen, bis das Schloss leise einschnappt.

„Wie war deine Reise?“ Ihre Stimme hat etwas Abwesendes, Fernes angenommen. Als würde eine Farbe in der Palette fehlen. „Konntest du im Flugzeug schlafen?“

Ich schüttele den Kopf. „Ich habe viel aus dem Fenster geguckt.“

Hinter einem Bambusperlenvorhang erspähe ich einen Balkon. Davor, zwischen zwei Sofas, auf denen sich bunt zusammengewürfelte Decken und Kissen häufen, steht eine Rosenquarzlampe auf einem niedrigen Tisch aus blassem Holz. Lyra nimmt mir die Jacke ab und hängt sie an die Garderobe.

„Stell die Sachen einfach irgendwo ab. Du bist im Süden gelandet, stimmt‘s?“

Ich nicke. „Danke noch mal, dass du mich bei dir aufnimmst.“

Sie winkt ab. „No te preocupes, chica. Das ist wirklich kein Problem.“

Während ich den Koffer abstelle und meine restlichen Sachen über einen Stuhl lege, ist sie wieder im Innern der Wohnung verschwunden. Nun ruft sie mich von einem anderen Zimmer aus.

„Wir bereiten Gazpacho zu! Magst du mitmachen?“

„Lassen wir sie doch erst mal ankommen“, schlägt eine andere Stimme vor, aus derselben Richtung.

Ich folge dem Band der Stimmen durch den schmalen Flur und nach links in eine hell erleuchtete Küche. Hinter einem Tresen sitzt Lyra auf einem Barhocker. Sie ist über ein Schneidbrett voll dunkel glänzender Tomaten gebeugt. Hinter ihr, am Herd, zieht ein etwa gleichaltriger Mann mit raschen Bewegungen einen hölzernen Spatel durch eine Pfanne, in der grüne Minipaprikas brutzeln. Er trägt eine altmodische, bunt gestreifte Kochschürze. Seine Augen sind in Konzentration nach unten gerichtet.

Wie süße Galle steigt etwas in meinem Hals auf und verteilt sich sirupartig unter meiner Zunge. Dunkel und bedrohlich flattert es durch den Raum wie ein Schwarm aufgescheuchter Motten. Gleichzeitig graben sich schmerzhafte Fäuste aus Abneigung und Entsetzen in meinen Magen. Der Mann hat den Holzspatel zur Seite gelegt und wischt sich die Hände an der Schürze ab.

„Hola, qué tal? Ich heiße Lázaro.” Sein flüchtiger Begrüßungskuss hinterlässt ein unangenehmes Brennen auf meinen Wangen.

„Das ist mein Bruder“, ergänzt Lyra.

Eine mehlige Taubheit drückt mir von hinten ins Gesicht. Eine Verbindung ist durchtrennt, eine essentielle Sehne – und unendliche Müdigkeit senkt sich auf mich herab. Es ist diese uralte Angst, verbunden mit Erinnerungen an eine Albtraumphase meiner Kindheit: Die Furcht, meine Lider könnten zu schwer zum Offenhalten werden und meine Augen gleichsam verkleben. Die wilde Befürchtung, hier und jetzt, mitten im Gespräch, vor Erschöpfung zu erblinden. Das Perlmutt von Lázaros Augen jedoch bleibt geschmolzen und offen, durchgehend. Es driftet nicht ab, es erkaltet nicht.

„Wir haben hier Tomaten, Gurken, Paprika. Was noch? Knoblauch und ein paar Zwiebeln. Es muss alles püriert werden.“ Lyra drückt mir einen Stabmixer in die Hand. Noch immer flüstert das Perlmutt an den Rändern meiner Wahrnehmung. Später, später in der Nacht, wenn ich allein bin, wird das Chaos ungestört hinter meinen geschlossenen Lidern hervorquellen, wird eine Flüssigkeit so schwarz wie Teer aus einem Paar schlafender Augen treten.

DIE KARAWANE

In dem schmalen, hohen Gefäß verwandeln sich die Zutaten in rotgrünen Brei. Wir schneiden das restliche Gemüse klein und naschen von den öligen und mit grobem Salz bestreuten Schoten. Lázaro schmeckt die Suppe mit Salz, Pfeffer und Chili ab und verziert sie mit goldbraun gebratenen Croutons und Gemüsestücken.

Während wir gegessen haben, ist die Außentemperatur drastisch gesunken. Lyra befüllt zwei Wärmflaschen mit kochendem Wasser und reicht mir eine, damit ich meine Füße wärmen kann. Um meine Schultern legt sie eine Wolldecke und Lázaro rückt den orangeglühenden Heizstrahler in meine Nähe. Vor der Balkontür, in der sich die Rosenquarzlampe spiegelt, wirbeln jetzt Schneeflocken.

„Tut mir leid, die Häuser hier haben keine Heizung“, sagt Lyra und schiebt die Wärmflasche unter ihren Wollpullover.

„Wie ist es möglich, dass es schneit?“, frage ich. „Heute Mittag war es noch so heiß.“

„Mikroklima“, erwidert sie achselzuckend und wirft ihrem Bruder einen ratlosen Blick zu.

Wir räumen ab und spülen die Teller. Beim Zähneputzen fallen mir die Augen zu und es gelingt mir gerade noch, mich schwankend auszuziehen und in die Jogginghose und ein weites T-Shirt zu schlüpfen. Nur ein leichtes Prickeln in den tieferliegenden Hautschichten meiner Wangen ist noch spürbar.

Das Fauchen des Inselwindes beschwört die Stürme der Vergangenheit herauf. Während ich mich in dem fremden Bett einrichte, verwandelt er sich in das Heulen vor den Fensterläden meines Kinderzimmers, in das Kratzen der Fichtenzweige gegen die Hauswand bei Nacht und das stumpfsinnige Klagen des Käuzchens in den Wipfeln der großen Tannen.

Ich bin schon halb eingeschlafen, als mein Körper erneut wie ein Geysir in die Höhe drängt und mir das dringende Bedürfnis vermittelt, aufzustehen und ans Fenster zu treten. Ich schlage die Decke zurück und schiebe meinen Körper an den Rand der Matratze. Meine Füße schrecken vor der Kälte des Bodens zurück, sie schnappt nach meinen Zehen. Dann aber tragen sie mich sanft zum Fenster.

Mit jeder Zelle nehme ich nun das Gewicht der Wohnungen wahr, den Tonnendruck ihrer Zementplatten und der Möbelstücke und Menschen, die sich über meinem Kopf stapeln. In meinem milchigen Blick spiegelt sich die vor Kälte schwarz und weiß verdichtete, schneewirbelnde Mitternacht. Ein Gespenst aus Rauch und Wind und Eis und Stille. Lange Zeit sind das Wippen der schneeverkrusteten Palmen und das Schaudern ihrer Ananaskörper entlang der ausgestorbenen Allee die einzige Bewegung.

Da entdecken meine blinzelnden Augen die Karawane. Stumm, aus westlicher Richtung, nähert sich ein Dutzend grauer Silhouetten. Im Schatten der knirschenden Dattelpalmen und mit gleichmäßigen Schritten durchschreiten sie die Straße, einige von ihnen in lange Gewänder gehüllt, mit denen sie Furchen durch den Neuschnee ziehen, andere in gewöhnlichen Anoraks und modernen Winterjacken steckend. In ihren Haaren und auf den Mützen über ihren gesenkten Köpfen zappeln Schneeflocken. Das Blut in meiner Halsschlagader hat im Rhythmus der Stimmen von der anderen Seite der Erde zu singen begonnen.

Rückwärts lasse ich mich ins Bett fallen und verschließe mit der Decke Hals, Augen und Ohren. Nur ein Schlitz zum Atmen soll offenbleiben. Eine bedrohliche Energie ist in das Zimmer eingedrungen. Als ich die Decke wieder ein wenig anhebe, bemerke ich an der gegenüberliegenden Seite des Zimmers, auf dem Boden vor dem Kleiderschrank, eine ungewöhnliche Tiefe im Schatten des Stuhls. Da ist eine Schwärze, dunkler als die Abwesenheit von Licht, und während ich das Loch länger und länger betrachte, macht sich darin ein klaffendes, von einem zuckenden Kreis umgebenes Auge zu schaffen, das mir langsam, quälend langsam, seinen wimpernlosen Blick zuwendet.

Noch in den letzten Sekunden des Wachseins schwebend, nehme ich wahr, wie sich schnatternde Wesen zwischen meine Gedanken drängen, und Menschen in Blasen sich Unhörbares zurufen – dann vergesse ich alles, was soeben geschehen ist.

Aus der Asche des Tages steigt die Zeit meiner Kindheit auf, neu und frisch, wenn auch zerfasert in verworrene Anordnungen und Geflechte zerfließender Aquarelllichter. Eine Kindheit, deren Bewohner ich mal als einen süßlich-phlegmatischen Molkengeruch erinnere – herüberwehend aus den Weiten eines Ehebetts, auf dessen linker Seite meine Mutter schlief – mal als eine samtene, in der Sonne gereifte und mit zartem Flaum überzogene Stimme, von der anderen Seite herübermurmelnd: Almas Stimme, die sich leitend, schützend oder einhüllend über uns erheben konnte.

Auch in Form blaubrauner Farbkleckse in einem Schrebergarten, die ich von einem Baum aus erblickte – ein Gärtner –, tauchen die Wesen, die diese Zeit bevölkerten, in meinem Gedächtnis auf. Nicht zuletzt besteht die visuelle Spur, die eine ihrer zentralsten Figuren in mir hinterlassen hat, in einigen rautenförmigen Hautzellen auf einer bleichen Kinderhand, die meiner Schwester Yaela, Baby Moon, gehörte.

Es ist sonderbar, aber eher denke ich an Personen aus der Vergangenheit auf diese Weise als in ihrer eigentlichen menschlichen Form. Wäre es möglich, meinen Schädel zu öffnen – ihn aufzusägen und einen Blick in die Windungen meines Gedächtnisses zu werfen –, würde man dort anstelle eines kohärenten Bildes nur gesichtslose Geister und unzusammenhängende Assoziationen umherhuschend vorfinden.

Greifbarer als meine Erinnerungen an die Menschen erscheinen mir jene an die Orte meiner Kindheit. Unser Haus stand auf einer buckligen, von Eiben und Vogelbeeren bewachsenen Anhöhe; ringsherum wucherte die Wildnis. Es gab ein kleines Meer von der Größe eines Schulteichs, mit Salzfröschen, Molchen und Blasen schleimigen Laichs. Mitten auf einem Blumenhügel lag dieses kleine Meer, im Schatten eines Birkenwäldchens, und seine an die Ufer schwappenden Gezeiten waren salzgetränkt und ohne jede Spiegelung. Ganz in der Nähe klafften Grotten in einer steilen Felswand. Und wenn man noch weiterlief, in Richtung Obstwiese, fand man sich in einem Irrgarten aus glatt geschliffenen Eiszeitbrocken wieder, die, größer noch als das Haus, durch das Blätterdach in den Himmel einbrachen.

Das Präriegras schien beseelt zu sein: Wie ein einziger fedriger Organismus wogten die kopfhohen Halme unter dem Gewicht der Heuschrecken, die sich hoffnungslos in den Nestern schwarzgelb gestreifter Spinnen verfingen. Birnbäume mit aufgesprungener Rinde, Stachelbeeren und Wespen, die über gärenden Äpfeln im Gras summten, existierten neben schwitzenden Ponys hinter elektrischen Zäunen, die ich unterschlüpfte, um ihre rauen und fettigen Mähnen zu streicheln. Der von Brombeeren zugewachsene Wohnwagen neben dem Kornfeld befand sich nicht weit entfernt von den Bahngleisen und einem sumpfigen Bach. Die Ruine – ein morsches Bahnhofsgebäude mit halb eingesunkenem Fußboden und einem feuchtkalten Keller – markierte auch die Haltestelle, von der mich an Wochentagen dreizehn Jahre lang um acht Uhr morgens ein Bus abholte und in die nächstgelegene Stadt zur Schule brachte. Doch am Ende dieser Tage, an denen ich den Geschmack der je nach Wetter und Jahreszeit krümeligen, knirschenden, vereisten oder glitschigen Erde auf der Zunge mit mir herumtrug, musste ich stets in die Schatten des Hauses zurückkehren, wo meine Mutter, Alma und Baby Moon auf mich warteten.

DER BAUMGOTT

Mein aufgefächertes Ich verdichtet sich zögerlich, bündelt sich aufs Neue wie das Licht eines Prismas. Mit geschlossenen Augen rieche ich, wie durch das Glas die erste Tageshelligkeit hereingeflossen kommt. Sie lässt die Gegenstände auf dieser Seite des Fensters mehrdimensional und lebendig, mit einem abgründigen, pochenden Bewusstsein aufgeladen leuchten. Das Keuchen der ersten tranvías, die sich durch die Straßen hieven, wächst wie Venen aus sonnengelbem Licht von meinen Ohren bis zu den Fußsohlen.

Bin ich wirklich hier? Auf Nivaria? An einem Ort, den ich mir seit so langer Zeit vorgestellt habe, dass er sich schon fast wie ein Teil von mir anfühlt? Ein Druckgefühl im Rücken lässt mich den Oberkörper von der Matratze heben und unter mich blicken. Aus dem Laken blinkt mir die Spitze eines Küchenmessers entgegen. Vorsichtig ziehe ich es heraus, ertaste dann ein Stück weiter ein Brotmesser, das auf die gleiche Art in der Matratzenfüllung steckt. An der wellenförmig geschliffenen Klinge, die senkrecht nach oben zeigt, trocknet eine braune Schokoladenspur.

Ich höre ein hohes Kichern und schaue auf. Augenblicklich wird meine Aufmerksamkeit von einem schwarzen Strand eingenommen, der in einen Bilderrahmen eingefasst die Wand ziert. Zwei kleine Kinder spielen darin, ein Junge und ein Mädchen. Ihr Lachen wird vom Wind davongetragen und verdampft heiß über dem Lavasand, nur um weiter in der Ferne, im Glitzern der Wellen, erneut aufzutauchen.

Ich mustere erst den Stuhl neben dem Kleiderschrank, dann betrachte ich die vollen Bücherregale. Auf einer Ablage stehen mehrere dicke Ordner, die mit Aufschriften versehen sind: „Pflanzenkunde“, „Mythenlehre“, „Das Würdige Gefäß“.

Über dem Kopfende des Bettes befindet sich eine Korkplatte. Sie dient als Pinnwand für eine Unmenge verschiedenförmiger Zettel, auf denen kurze Gedichte geschrieben stehen. An den Wassern von Babylon, von Ernesto Cardenal, wurde auf rosa Löschpapier mit unregelmäßig abgerissenen Rändern notiert, in einer sich vor und zurück neigenden Kugelschreiberschrift. Ich kann nicht sagen, wo oder wann, aber es kommt mir vor, als hätte ich die Worte schon einmal vernommen:

An den Wassern von Babylon

sitzen wir und weinen,

wenn wir an Zion denken.

Wir sehen die Wolkenkratzer von Babylon,

die Lichter, die sich im Wasser spiegeln,

die Lichter der Nachtklubs und der Bars von Babylon.

Wir hören ihre Musik –

und weinen.

An die Weidenbäume am Ufer

haben wir unsere Zithern gehängt,

an die Trauerweiden –

und wir weinen.

Einem Teil von mir kommt dieses Gedicht vertraut vor. Als zartes Hintergrundtröpfeln hat es meine Berliner Tage ausgehöhlt und ist unbemerkt in mein Bewusstsein eingedrungen. Die Worte strömten aus der Stimme der Einsamkeit selbst – man kann sie in jeder größeren Stadt vernehmen. Und nun lese ich sie hier erneut, in einem fremden Zimmer an eine Korkwand gepinnt.

Widerstrebend, als müsste ich sie mir schmerzhaft von der Haut schälen, schlage ich die schlafwarme Decke zurück. Neben dem Schreibtisch halte ich noch einmal inne. Notizhefte, Schnellhefter, lose Papiere und Bücher liegen darauf verteilt. Mit der gleichen wilden, hin und her fliegenden Handschrift wurde ein kurzer Text in ein aufgeschlagenes Notizbuch notiert. Der Text besitzt weder Titel noch Verfasserangabe:

Ich trage einen Schatz in mir, der immer wieder aufs Neue gefunden werden muss. Wimpern des Staunens sollen meinen Körper zum Glitzern bringen. Zitternde Kuppen die endlosen Konturen meines Ertrinkens nachfahren, als hätten sie nie zuvor gefühlt.

Ich will diese Grenzenlosigkeit des Ichs, des reinen Seins. Dieser helle Punkt inmitten des Glühens, der will ich sein, wo die Zeit stillsteht und alle Menschen sich in einem großen Traum begegnen, in einem einzigen kosmischen Seufzer atmen und sich zur Bestimmung ihres Lebens verweben.

Erschrocken trete ich vom Schreibtisch weg. Ein Blick auf die erste Seite des Buchs bestätigt meine Befürchtung: Notizen von L. L. M.

Eilig verlasse ich das Zimmer. In der Küche sind die lauten Farben von gestern in ihre alte Ursprünglichkeit gewichen. Blass und beschädigt, vielleicht in ihrer wahren Form, zeigen sie sich zu dieser Stunde. Unter dem dünnen T-Shirt zieht sich meine Haut zusammen.

Ein Knacken in meinem Rücken lässt mich herumfahren. Im Türrahmen steht Lázaro, in einem dunkelgrünen Mantel und Wanderschuhen, einen Rucksack über der Schulter. An seinem Bein taucht eine bleigraue Katze auf.

„Guten Morgen. Hast du gut geschlafen?“, fragt die Katze.

Lázaro hält ein Glas unter die Pumpe, die seitlich an einem Wasserbehälter aus Plastik befestigt ist. Luftblasen gurgeln ins Innere des Behälters und das Geräusch vermischt sich mit dem blauen Ton des Morgens, der an den Stühlen, dem Tresen und der Kochnische haftet. Er reicht mir das Glas.

„Wohin gehst du?“, frage ich.

„Ich treffe ein paar Freunde. Wir wollen wandern gehen. Die Berge sind schön um diese Uhrzeit.“

„Es ist bestimmt sehr friedlich jetzt dort oben.“

„Ja, friedlich auf eine gewisse Art. Die Energie ist heller. Das Licht und die Luft sind dichter.“

„Als würde ein Teil des Universums noch schlafen?“

Er nickt, lächelnd. „Und wäre noch nicht wachsam genug, um seine Geheimnisse zu verbergen.“