AMANI - Rebellin des Sandes - Alwyn Hamilton - E-Book
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AMANI - Rebellin des Sandes E-Book

Alwyn Hamilton

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Beschreibung

Die 16-jährige Scharfschützin Amani will nichts mehr, als Dustwalk, einem Kaff mitten in der Wüste, den Rücken zu kehren. Bei einem Schießwettbewerb, der Amani die Freiheit bringen soll, kreuzt Jin ihren Weg: ein faszinierender Fremder, der von den Schergen des Sultans verfolgt wird. Jin soll zu den Rebellen gehören, die den abtrünnigen Prinzen Ahmed unterstützen. Amani und Jin werden Reisegefährten wider Willen und kämpfen bald ums Überleben – gegen magische Djinn, gegen die Soldaten des Sultans und eine mysteriöse, tödliche Waffe. Unversehens steckt Amani mitten in einer Rebellion, die das Schicksal ihres Landes entscheiden könnte und ihre Gefühle für Jin offenbart …

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Seitenzahl: 414

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Alwyn Hamilton

Aus dem Englischen

von Ursula Höfker

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen

1. Auflage 2016

© 2016 by Alwyn Hamilton

Published by Arrangement with BLUE EYED BOOKS LTD., UK

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur

Thomas Schlück GmbH, 30827 Garbsen

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel

»Rebel of the Sands« bei VIKING,

an Imprint of Peguin Random House, NewYork.

© 2016 by cbt Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Ursula Höfker

Umschlaggestaltung: Carolin Liepins, München,

unter Verwendung mehrerer Motive von

© Arcangel/Rekha Garton; Shutterstock/bikeriderlondon

he · Herstellung: wei

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN 978-3-641-17245-9V001

www.cbt-buecher.de

Leute, die sich nach Einbruch der Dunkelheit noch in Deadshot aufhalten, führen nichts Gutes im Schilde, hieß es. Ich führte zwar nichts Gutes im Schilde. Aber auch nicht unbedingt etwas Schlechtes.

Ich glitt aus Blues Sattel und band die Stute an einem Pfosten hinter der Bar Zur staubigen Kehle fest. Der Junge, der an den Zaun gelehnt auf dem Boden saß, musterte mich argwöhnisch. Aber vielleicht lag dieser Eindruck auch nur an seiner zerschlagenen Visage. Ich zog die breite Krempe meines Huts tiefer ins Gesicht, als ich aus dem Hof trat. Den Hut hatte ich meinem Onkel geklaut, genau wie das Pferd. Also, eher geborgt. Alles, was ich besaß, gehörte laut Gesetz ja meinem Onkel, bis hin zu den Kleidern, die ich auf dem Leib trug.

Die Schwingtür zur Bar flog auf und spuckte Licht und Lärm und einen fetten Betrunkenen aus, der ein hübsches Mädchen im Arm hielt. Bevor ich wusste, was ich tat, hatte ich die Hand an meiner Sheema und prüfte, ob sie noch richtig saß und den Großteil meines Gesichts verdeckte. Ich war bis zu den Augen vermummt und selbst Stunden nach Sonnenuntergang schwitzte ich unter all den Stofflagen wie ein Sünder beim Gebet. Ich sah wahrscheinlich eher wie ein verirrter Nomade aus als wie ein echter Scharfschütze, aber solange ich nicht aussah wie ein Mädchen, spielte alles Weitere keine große Rolle. Heute Nacht würde ich, wenn mit nichts anderem, dann wenigstens mit meinem Leben von hier verschwinden. Viel besser wäre es natürlich, wenn ich mit ein paar Münzen in der Tasche verschwinden könnte.

Es war nicht schwer, die Schießarena auf der anderen Seite von Deadshot auszumachen. Es war das Gebäude in der Stadt, in dem es am lautesten zuging, und das wollte etwas heißen. Die riesige, leer geräumte Scheune am Ende der staubigen Straße wimmelte nur so von Leuten und war taghell erleuchtet. Sie lehnte an einem halb verfallenen Gebetshaus, dessen Eingang mit Brettern vernagelt war. Möglich, dass die Scheune irgendwann einmal einem ehrlichen Pferdehändler als Stall gedient hatte, aber wie es aussah, war das schon Jahre her.

Je näher ich kam, desto dichter wurde die Menge. Wie Bussarde, die zu einem frischen Kadaver schwärmen.

Ein Mann mit blutiger Nase wurde von zwei anderen gegen eine Wand gedrückt, während ein Dritter dem Mann immer wieder die Faust ins Gesicht donnerte. Ein Mädchen rief etwas aus einem Fenster, das einen Eisenrechen zum Erröten gebracht hätte. Ein paar Fabrikarbeiter, die noch ihre Arbeitskleidung trugen, drängten sich um einen Nomaden in einem ramponierten Wagen. Der Nomade bot lautstark Djinni-Blut zum Verkauf an, das »rechtschaffenen Leuten« ihren Herzenswunsch erfüllen sollte. Sein breites Lächeln wirkte in dem öligen Lampenlicht verzweifelt, was kein Wunder war. Seit Jahren hatte in dieser Gegend niemand mehr ein echtes Erstwesen gesehen, geschweige denn einen Djinni. Außerdem hätte der Mann wissen müssen, dass kein Wüstenbewohner glaubte, aus einem Djinni könnte etwas anderes herausfließen als reines Feuer – und dass niemand in Deadshot sich für »rechtschaffen« hielt. Die Einwohner der Letzten Provinz gingen oft genug zum Gebet, um beides besser zu wissen.

Ich versuchte, stur geradeaus zu blicken und so zu tun, als hätte ich das alles schon zig Mal gesehen.

Würde ich an den Gebäuden vorbei weiter hinaufsteigen, könnte ich über Sand und Gestrüpp hinweg bis nach Dustwalk sehen, wo ich zu Hause war. Allerdings wäre da nichts weiter zu entdecken als dunkle Häuser. Dustwalk stand mit der Sonne auf und legte sich mit ihr schlafen. Anständiges, ehrliches Verhalten gehörte nicht in die dunklen Nachtstunden. Könnte man vor Langeweile sterben, wären alle Leute in Dustwalk bereits Kadaver im Sand.

In Deadshot aber tobte das Leben.

Niemand schenkte mir groß Beachtung, als ich in die Scheune schlüpfte. In der Schießarena hatten sich bereits eine Menge Menschen versammelt. Große Öllampen hingen reihenweise von den Deckenbalken und verliehen den Gaffern einen fettigen Glanz. Dürre Kinder stellten Flaschen auf und wichen den Schlägen eines dicken Mannes aus, der sie anschrie, weil sie ihm zu langsam waren. Waisen, allem Anschein nach. Wahrscheinlich Kinder, deren Väter in der großen Waffenfabrik am Rand von Dustwalk gearbeitet hatten, bis fehlerhafte Maschinen sie in Stück rissen. Oder bis sie eines Tages betrunken zur Arbeit gegangen waren und sich so verbrannt hatten, dass sie nicht mehr weiterleben konnten. Mit Schießpulver zu arbeiten, war nicht gerade ungefährlich.

Ich war so damit beschäftigt mich umzuschauen, dass ich fast direkt in diesen Riesen von Mann neben der Tür hineingelaufen wäre. »Vorn oder hinten?«, fragte er. Seine Hände ruhten locker auf einem Säbel an seiner linken Hüfte und einer Pistole an der rechten.

»Was?« Gerade noch rechtzeitig fiel mir ein, dass ich meiner Stimme einen tieferen Klang geben musste. Ich hatte zwar die ganze Woche geübt, meinen Freund Tamid nachzuahmen, klang aber immer noch wie ein Junge und nicht wie ein Mann. Das angeheuerte Muskelpaket an der Tür schien das nicht zu interessieren.

»Drei Fouza für einen Stehplatz hinten, fünf für einen Stehplatz vorn. Wetten werden ab zehn entgegengenommen.«

»Und wie viel kostet ein Stehplatz in der Mitte?« Verdammt. Das war mir rausgerutscht. Tante Farrah versuchte jetzt schon ein Jahr lang erfolglos, den Klugscheißer aus mir herauszuprügeln. Ich hatte so das Gefühl, es könnte mehr wehtun, wenn dieser Mann es versuchte.

Aber er runzelte nur die Stirn, als vermutete er, ich sei einfältig. »Vorn oder hinten. Mitte gibt es nicht, Junge.«

»Ich bin nicht zum Zuschauen hergekommen«, erklärte ich, bevor ich die Nerven vollends verlor. »Ich will schießen.«

»Warum stiehlst du mir dann meine Zeit? Melde dich bei Hasan.« Er stieß mich in Richtung eines korpulenten Mannes mit einer leuchtend roten Pluderhose und einem dunklen, ans Kinn geklatschten Bart. Der Typ stand hinter einem niedrigen Tisch mit Bergen von Münzen, die auf und ab hüpften, als er mit den Fingern auf die Platte trommelte.

Ich holte durch meine Sheema tief Luft und versuchte, nicht so auszusehen, als wollte mein Magen durch meinen Mund das Weite suchen. »Wie hoch ist das Nenngeld?«

Durch die Narbe an seiner Lippe erweckte Hasan den Eindruck, als würde er ständig höhnisch grinsen. »Fünfzig Fouza.«

Fünfzig? Das war fast alles, was ich besaß. Alles, was ich im letzten Jahr »gespart« hatte, um nach Izman fliehen zu können, der Hauptstadt von Miraji. Um weit von hier wegzukommen.

Obwohl mein Gesicht von der Nase an abwärts verdeckt war, musste Hasan mein Zögern bemerkt haben. Er ließ den Blick bereits über mich hinwegwandern, als sei für ihn schon klar, dass ich ohnehin gleich wieder gehen würde.

Das gab den Ausschlag. Ich ließ das Geld auf den Tisch klimpern. Es waren eine Handvoll Louzi-Münzen und ein paar halbe Louzi-Münzen, die ich eine um die andere während der letzten drei Jahre zusammengekratzt hatte. Tante Farrah meinte immer, es würde mir nichts ausmachen, als Depp dazustehen, solange ich damit einem anderen beweisen konnte, dass er falsch lag. Vielleicht hatte Tante Farrah ja recht.

Hasan beäugte die Münzen skeptisch, doch als er sie mit der Geschwindigkeit eines geübten Geldraffers zählte, musste er zugeben, dass es genau fünfzig Fouza waren. Einen kurzen Moment war meine Befriedigung größer als meine Nervosität.

Er hielt mir ein Stück Holz hin, das wie ein Anhänger an einer Schnur hing. In Schwarz war die Nummer 27 darauf gemalt. »Hast du denn genug Übung im Schießen, Siebenundzwanzig?«, fragte Hasan, als ich mir die Schnur um den Hals hängte. Der Anhänger schlug gegen die Tücher, die ich mir fest um die Brust gebunden hatte, damit sie flacher wurde.

»Ein bisschen«, wich ich aus. In Dustwalk fehlte es an fast allem, und nicht nur in Dustwalk, sondern in der ganzen Letzten Provinz. Lebensmittel. Wasser. Kleidung. Nur von zwei Dingen hatten wir mehr als genug: Sand und Pistolen.

Hasan schnaubte. »Dann solltest du ja eigentlich wissen, dass deine Hände nicht zittern dürfen.«

Ich presste die Hände an den Körper, um sie ruhig zu bekommen, als ich den Schießplatz betrat. Wenn ich eine Pistole nicht halten konnte, ohne zu zittern, spielte es kaum eine Rolle, dass ich zielen gelernt hatte, bevor ich lesen konnte. Ich stellte mich im Sand in die Reihe neben einen Mann, der aussah, als sei er unter seiner schmutzigen Arbeitskleidung nur Haut und Knochen. Ein Mann mit einer Achtundzwanzig um den Hals stellte sich auf meine andere Seite.

Die Stände ringsherum füllten sich. Die Wettanbieter brüllten Quoten und Zahlen durcheinander. Wäre ich ein Spieler, hätte ich gewettet, dass ich keinerlei Gewinnchancen hatte. Kein Mensch, der seine fünf Sinne beisammen hatte, würde Geld auf einen mageren Jungen setzen, der nicht mal den Mumm hatte, seine Sheema herunterzunehmen und sein Gesicht zu zeigen. Vielleicht konnte ich ja irgendeinem hirnlosen Betrunkenen zu einem kleinen Vermögen verhelfen, wenn ich bewies, dass die, die ihre fünf Sinne beisammen hatten, falsch lagen.

»Guten Abend, meine Herren!« Hasans Stimme schallte über die Menge und brachte sie zum Schweigen. Dutzende Kinder liefen zwischen uns herum und verteilten die Pistolen. Ein Mädchen mit verfilztem Haar und bloßen Füßen reichte mir meine. Als ich das Gewicht in meiner Hand spürte, wurde ich sofort ruhiger. Rasch schnippte ich die Kammer auf; sechs Patronen steckten sauber aufgereiht darin. »Die Regeln sind bekannt. Ihr haltet euch also besser daran, sonst schlage ich euch eure Betrügerfressen höchstpersönlich ein, so wahr mir Gott helfe.« Aus den Zuschauerreihen erschollen Gelächter und ein paar Anfeuerungsrufe. Es wurden bereits Flaschen herumgereicht und Männer zeigten in dieser Art und Weise auf uns, die ich von meinem Onkel kannte, den ich oft beim Verkaufen von Pferden beobachtet hatte. »Jeder hat sechs Patronen und sechs Flaschen. Wer am Ende noch Flaschen stehen hat, ist raus. Die ersten Zehn stellen sich auf.«

Der Rest von uns blieb stehen, als die Nummern eins bis zehn nach vorne traten, die Zehen an einer auf die Erde gemalten weißen Linie. Ich schätzte die Entfernung zwischen ihnen und den Flaschen auf etwa zwölf Fuß.

Jedes Kind konnte das schaffen.

Dennoch gelang es zwei Männern, schon mit ihrer ersten Patrone daneben zu schießen. Am Ende hatte nur die Hälfte der Schützen alle Flaschen getroffen.

Einer von ihnen war doppelt so breit wie alle anderen Teilnehmer. Er trug etwas, das vielleicht einmal eine Armeeuniform gewesen war. Inzwischen war sie jedoch zu abgetragen, um mit Sicherheit sagen zu können, ob es einmal glänzendes Armeegold war oder ob sie einfach nur schmutzig und voller Wüstenstaub war. Er trug die Nummer eins als dicken Strich auf dem Stück Holz auf seiner Brust. Und er bekam den größten Applaus von allen. Ein paar Leute riefen »Dahmad! Dahmad! Champion!«, als er sich umdrehte und sich eines der Kinder griff, die herumwuselten und die Glasscherben aufsammelten. Dahmad sagte etwas zu dem Jungen, aber so leise, dass ich ihn nicht verstand. Dann stieß er ihn weg. Der Junge kam wenige Augenblicke später mit einer Flasche braunem Fusel zurück und Dahmad trank in großen Zügen. Dabei lehnte er sich an die Stangen, die den Schießplatz von den Zuschauerplätzen trennten. Er würde nicht lange Champion bleiben, wenn er sich betrank.

Die nächste Runde war noch trostloser. Nur einer der Schützen traf alle seine Flaschen. Als die Verlierer davonschlurften, konnte ich das Gesicht des Gewinners deutlich sehen. Er war nicht von hier, so viel stand fest. Mit einem Fremden hatte ich nicht gerechnet. Hier waren alle aus der Gegend. Niemand, der sie noch alle beisammen hatte, kam freiwillig in die Letzte Provinz.

Er war jung, vielleicht ein paar Jahre älter als ich, und gekleidet wie wir. Er hatte eine grüne Sheema locker um den Hals geschlungen und trug Wüstenkleider, die so weit waren, dass man schwer sagen konnte, ob er tatsächlich so breitschultrig war, wie es aussah. Sein Haar war so schwarz wie das jedes mirajinischen Jungen; selbst seine Haut war dunkel genug, dass er als einer von uns hätte durchgehen können. Aber er war einfach keiner von uns. Er hatte ein seltsam scharfgeschnittenes Gesicht, wie ich bisher noch keines gesehen hatte, mit hohen, schräg stehenden Wangenknochen, einem eckigen Kinn und Brauen wie dunkle Striche über den unheimlichsten Augen, die ich je gesehen hatte. Er sah übrigens gar nicht schlecht aus. Ein paar der Männer, die ausgeschieden waren, spuckten vor ihm aus. Ein Mundwinkel des jungen Fremden hob sich, als müsste er sich das Lachen verkneifen. Dann, als spürte er meinen Blick auf sich, schaute er mich an. Ich sah rasch weg.

Elf von uns waren noch übrig, und obwohl ich nur halb so breit war wie alle anderen, rangelten wir wegen des überzähligen Schützen um genügend Platz an der Linie.

»Beweg dich, Siebenundzwanzig.« Ein Ellenbogen traf mich hart in die Seite. Ich hob mit einem Ruck den Kopf und hatte schon eine Erwiderung auf den Lippen. Doch sie blieb mir im Hals stecken, als ich erkannte, wer sich da neben mich stellte: Fazim Al’Motem.

Ich widerstand dem Drang zu fluchen. Fazim hatte mir jeden Kraftausdruck beigebracht, den ich kannte, damals, als er acht war und ich sechs. Als wir dabei erwischt wurden, wie wir sie gebrauchten, hatte er mir die Schuld für alles gegeben und dann wurde mir der Mund mit Sand ausgeschrubbt. Dustwalk war ein Dorf. Ich kannte Fazim mein ganzes Leben und hasste ihn, seit ich einigermaßen zu Vernunft gekommen war. Dieser Tage verbrachte er die meiste Zeit im Haus meines Onkels, wo auch ich wohnen musste, und versuchte, meiner Cousine Shira unter die Kleider zu fassen. Hin und wieder versuchte er, auch mich zu begrapschen, wenn Shira nicht hinschaute.

Was zum Teufel wollte er hier? Da er die Pistole in der Hand hielt, konnte ich es mir ja eigentlich denken.

Zur Hölle mit ihm.

Als Mädchen erkannt zu werden, war eine Sache. Etwas ganz anderes wäre es, von Fazim erkannt zu werden. Ich war, seit man mich beim Fluchen erwischt hatte, immer wieder in Schwierigkeiten geraten, aber halb totgeschlagen hat man mich nur ein Mal. Es war direkt nach dem Tod meiner Mutter, als ich mir ein Pferd meines Onkels gestohlen hatte, um aus Dustwalk zu verschwinden. Ich schaffte es bis halb nach Juniper City, bevor sie mich schnappten. Einen ganzen Monat konnte ich auf keinem Pferd sitzen, nachdem Tante Farrah und ihre Gerte mit mir fertig waren. Falls Tante Farrah herausbekam, dass ich in Deadshot gestohlenes Geld verspielte, würde sie mich verprügeln, bis sich das »halb tot« anfühlte wie »tot«.

Das Klügste wäre, auf dem Absatz kehrtzumachen und zu verschwinden. Nur würde das bedeuten, dass ich fünfzig Fouza ärmer war. Und Geld war knapper als Schläue.

Ich merkte, dass ich dastand wie ein Mädchen, und straffte die Schultern, bevor ich mich den Zielen zuwandte. Die Kinder flitzten immer noch herum und stellten Flaschen auf. Fazim verfolgte sie mit dem Lauf seiner Pistole, rief dabei »Päng, päng, päng!« und lachte, wenn sie zusammenzuckten. Ich wünschte, seine Pistole würde nach hinten losgehen und ihm dieses Grinsen aus dem Gesicht schießen.

Kurz darauf waren die Kinder verschwunden und zurück blieben nur wir Schützen und unsere Flaschen. Wir waren die letzte Gruppe vor dem Ende der ersten Runde. Rechts und links von mir wurde bereits geschossen. Ich konzentrierte mich auf meine sechs Flaschen direkt vor mir. Einen solchen Schuss hätte ich mit verbundenen Augen abgeben können. Aber ich war vorsichtig. Ich überprüfte die Entfernung, richtete den Lauf aus, überprüfte meine Sichtachse. Als ich zufrieden war, drückte ich ab. Die ganz rechte Flasche explodierte und meine Schultern entspannten sich ein wenig. Die nächsten drei Flaschen fielen in rascher Folge.

Mein Finger drückte zum fünften Mal auf den Abzug. Ein Schrei lenkte mich kurz ab. Es kam keine weitere Warnung, bevor mich jemand rammte.

Mein Schuss ging daneben.

Fazim war von einem anderen Schützen angerempelt worden und rammte im Fallen mich. Ein weiterer Schütze fiel auf ihn. Buhrufe ertönten aus der Menge, als Fazim sich im Sand mit dem anderen Mann balgte. Der bullige Türsteher ging bereits dazwischen. Fazim wurde am Kragen auf die Seite geschleift. Hasan blickte ihm gelangweilt nach und wandte sich dann wieder an die Menge. »Die Sieger aus dieser Runde –«

»He!« Ich rief, ohne nachzudenken. »Ich will noch eine Patrone.«

Gelächter erscholl ringsherum. So viel zu meinem Vorsatz, keine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Mein Nacken brannte von all den Blicken, die auf mir ruhten. Aber das hier war zu wichtig. Zu wichtig, um nicht zu fragen. Hohn und Spott standen auf Hasans Gesicht geschrieben und im Gegenzug spürte ich diese Mischung aus Beschämung und Wut in meiner Kehle aufsteigen. »So funktioniert das nicht, Siebenundzwanzig. Sechs Patronen, sechs Flaschen. Keine zweite Chance.«

»Aber das ist unfair! Er hat mich gestoßen.« Ich wies auf Fazim, der an der Mauer stand und sein Kinn rieb.

»Und das hier ist kein Schulhof, Kleiner. Wir brauchen nicht fair zu sein. Du kannst jetzt deine letzte Patrone verschießen und ausscheiden oder gleich abtreten und dich geschlagen geben.«

Was für eine beschissene Wahl war das denn? Ich war der Einzige, der noch eine Patrone hatte. Die Menge begann mich johlend aufzufordern, aus dem Weg zu gehen. Zornesröte stieg in mein verhülltes Gesicht.

Ich stand allein auf der Linie und hob meine Pistole. Ich spürte das Gewicht der letzten Kugel in der Kammer, ließ meinen Atem langsam entweichen und blies dabei meine Sheema von den Lippen, wo sie geklebt hatte.

Eine Kugel. Zwei Flaschen.

Ich trat zwei Schritte nach rechts und dann einen halben Schritt zurück. Ich drehte meinen Körper und versuchte vor meinem geistigen Auge alles zu sehen. Genau in die Mitte, und ich würde die zweite nie treffen. Zu weit seitlich angeschnitten, und keine würde zerbrechen.

Fünfzig Fouza.

Ich blendete die Rufe und Pöbeleien ringsherum aus. Ich ignorierte die Tatsache, dass ausnahmslos aller Augen hier auf mich gerichtet waren und dass ich jede Chance, unauffällig zu bleiben, vergeben hatte. Stattdessen stieg Angst in mir hoch. Dieselbe Angst, die schon in den vergangenen drei Tagen in meinem Magen gelauert hatte. Seit der Nacht, als ich nach Einbruch der Dunkelheit durch das Haus meines Onkels geschlichen war und zufällig gehört hatte, wie Tante Farrah meinen Namen nannte.

»… Amani?«

Ich hatte nicht mitbekommen, was sie vorher gesagt hatte, aber mein Name genügte, damit ich auf der Stelle stehen blieb.

»Sie braucht ’nen Mann.« Die Stimme meines Onkels trug besser als die seiner Erstfrau. »Ein Mann könnte endlich ein bisschen Verstand in sie hineinprügeln. Kein Monat mehr, und Zahia ist ein Jahr tot. Dann darf Amani heiraten.« Nach dem Tod meiner Mutter hatten die Leute irgendwann aufgehört, ihren Namen wie einen Fluch auszusprechen. Jetzt redete mein Onkel von ihrem Tod eher wie von einer geschäftlichen Angelegenheit.

»Es ist schwer genug, Männer für deine Töchter zu finden.« Tante Farrah klang ärgerlich. »Jetzt soll ich auch noch einen für den Balg meiner Schwester finden?« Tante Farrah sprach den Namen meiner Mutter nie aus. Nicht, seit man sie gehängt hatte.

»Dann nehme ich sie zur Frau.« Onkel Asid sagte es, als redete er vom Verkauf eines Pferdes. Ich hatte mich im Sand auf meine Arme gestützt; jetzt knickten sie fast ein.

Tante Farrah stieß ein verächtliches Zischen aus; es kam von weit hinten in ihrer Kehle. »Sie ist zu jung.« In ihrer Stimme war dieser ungeduldige Ton, der normalerweise ein Gespräch beendete.

»Nicht jünger als Nida war. Sie lebt ohnehin in meinem Haus. Isst mein Essen.« Normalerweise hatte Tante Farrah als Erstfrau das Sagen im Haus, doch ab und zu blieb ihr Mann beharrlich, und gerade jetzt erwärmte Onkel Asid sich verdammt schnell für diese Idee. »Sie kann entweder als meine Frau hierbleiben oder als die eines anderen gehen. Ich bin dafür, dass sie bleibt.«

Ich war nicht dafür.

Ich entschied mich abzuhauen oder bei dem Versuch zu sterben.

Und plötzlich sah ich alles ganz klar. Ich und mein Ziel. Wichtig war nur das Ziel.

Ich drückte ab.

Die erste Flasche zerbarst sofort. Die zweite wackelte einen Moment lang am Rand der Holzstange. Ich konnte den Sprung in dem dicken Glas sehen, wo ich sie getroffen hatte. Ich hielt den Atem an, als die Flasche vor und zurück wippte.

Fünfzig Fouza, die ich womöglich nie wiedersah.

Fünfzig Fouza verlieren und damit meine einzige Möglichkeit, von hier wegzukommen.

Die zweite Flasche fiel auf die Erde und zerschellte.

Die Menge brüllte. Ich ließ die Atemluft langsam entweichen.

Als ich mich umdrehte, schaute Hasan mich an, als sei ich eine Schlange, die gerade einer Falle ausgewichen war. Hinter ihm stand der Fremde und beobachtete mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Ich konnte nicht aufhören hinter meiner Sheema zu grinsen. »Wie war ich?«

Hasans Lippen kräuselten sich verächtlich. »Aufstellen für die zweite Runde.«

Ich wusste nicht, wie lange wir geschossen hatten.

Lange genug, dass sich in meinem Kreuz Schweiß sammelte. Lange genug, dass Dahmad, der Champion, zwischen den einzelnen Runden drei ganze Flaschen Fusel trinken konnte. Und lange genug, dass ein Mann nach dem anderen aus dem Wettbewerb ausscheiden musste. Aber ich hatte immer noch eine Pistole.

Das Ziel lag mir gegenüber am anderen Ende des Schießplatzes, Flaschen auf einem sich langsam drehenden Brett, das ein Junge mit einer Kurbel antrieb. Ich drückte sechs Mal ab. Vor lauter Gebrüll der Menge hörte ich das Glas nicht mal splittern.

Eine Hand landete auf meiner Schulter. »Unsere Konkurrenten für die heutige Endausscheidung!«, rief Hasan dicht neben meinem Ohr. »Der Champion aus unseren eigenen Reihen, Dahmad!« Der Mann wankte vom vielen Alkohol und hob die Arme hoch in die Luft. »Unser erneuter Herausforderer, die Schlange des Ostens.« Der Fremde reagierte kaum auf die Pöbeleien und das Gejohle. Lediglich einen Mundwinkel zog er in die Höhe, schaute aber nicht auf. »Und ein Neuling an diesem wunderschönen Abend.« Hasan riss meinen Arm mit einem schmerzhaften Ruck hoch und die Menge rastete aus, brüllte und stampfte mit den Füßen, bis die Scheune bebte. »Der Blauäugige Bandit!«

Der Spitzname bereitete meiner Aufregung und Freude mit einem Schlag ein Ende. Panisch suchte ich den Schießplatz nach Fazim ab. Ich mochte als Junge durchgehen, doch meine Augen konnte ich nicht verbergen. Alles andere an mir war so dunkel, wie das von einem Mädchen aus der Wüste erwartet wurde, aber durch meine blauen Augen fiel ich auf. Fazim war zwar beschränkt, aber falls er noch hier war, reichte sein bisschen Verstand vielleicht gerade noch aus, um zwei und zwei zusammenzuzählen und nicht auf drei zu kommen. Dennoch grinste ich hinter meiner Sheema und genoss den Jubel. Hasan ließ meinen Arm los. »Zehn Minuten, um die letzten Wetten abzuschließen, Leute. Unsere finale Runde steht bevor.«

Es gab einen Ansturm auf die Wettanbieter. Da es nichts anderes für mich zu tun gab, sank ich in einer leeren Ecke des Platzes in den Sand und lehnte mich an die Umzäunung. Meine Beine fühlten sich noch etwas wacklig an, mein Hemd klebte schweißnass an meinem Bauch und mein Gesicht war hinter dem Stoff meiner Sheema bestimmt ganz rot.

Aber ich war auf der Siegerspur.

Ich schloss die Augen. Es war tatsächlich möglich, dass ich mit dem Geldtopf hier rausging.

Ich rechnete es rasch im Kopf durch. Das Preisgeld belief sich auf über tausend Fouza. Ich müsste knapsen bis zu meinem Tod, um tausend Fouza zusammenzustehlen und zu sparen. Vor allem da die Minen in Sazi vor ein paar Wochen eingebrochen waren. Ein Unfall. Fahrlässig platzierter Sprengstoff. So die offizielle Verlautbarung. Nur dass ich hinter vorgehaltener Hand auch etwas von Sabotage gehört hatte. Dass jemand eine Bombe gelegt hätte. Die wilderen Gerüchte besagten, ein Erstwesen sei es gewesen. Ein Djinni, der Sazi für seine Sünden bestrafte.

Doch ganz egal, was geschehen war, kein Metall aus den Minen bedeutete keine Schusswaffen und damit kein Geld. Jeder schnallte den Gürtel in letzter Zeit enger. Und ich hatte nicht mal genug, um mir einen Gürtel zu kaufen.

Aber mit tausend Fouza konnte ich verdammt viel anstellen. Diese Sackgassen-Wüste hinter mir lassen, die durch Fabrikqualm angetrieben wurde. Ich konnte mich sofort auf den Weg nach Izman machen. Ich bräuchte nur mit der nächsten Karawane nach Juniper City zu ziehen. Von dort gab es Züge nach Izman.

Izman.

Nie konnte ich an die Stadt denken, ohne die Stimme meiner Mutter zu hören, die den Namen wie ein hoffnungsvolles Gebet flüsterte. Wie ein Versprechen einer größeren Welt. Eines besseren Lebens. Eines, das nicht am Galgen mit einem kurzen Fall und einem plötzlichen Ruck endete.

»So, ›Blauäugiger Bandit‹.« Ich öffnete die Augen, als der Fremde sich neben mich setzte und die Arme auf die Knie stützte. Er schaute mich nicht an, als er weitersprach. »Immer noch besser als ›Schlange des Ostens‹.« Er hielt einen Wasserschlauch in den Händen. Mir war bis zu diesem Moment nicht bewusst, wie durstig ich war, und ich folgte dem Schlauch mit den Augen, als er einen großen Schluck nahm. »Einen gewissen zwielichtigen Beigeschmack hat es aber auch.« Er blickte mich aus den Augenwinkeln an. In seinen Worten lag etwas, das selbst im gutgläubigsten Trottel die Ahnung weckte, dass er gefährlich war. »Hast du auch einen richtigen Namen?«

»Klar. Aber du kannst mich Oman nennen, wenn du mich irgendwie nennen musst.« Meine Augen mochten einiges über mich verraten, aber ihm zu sagen, dass ich Amani Al’Hiza hieß, würde eine ganze Menge mehr verraten.

Der Fremde schnaubte. »Komisch, ich heiße auch Oman.«

»Komisch«, bestätigte ich trocken. Trotzdem zuckte ein Lächeln um meine Mundwinkel. Vermutlich hieß die Hälfte aller in Miraji geborenen Männer Oman nach unserem erhabenen Sultan. Keine Ahnung, ob die Eltern dieser Männer geglaubt hatten, sie könnten dadurch die Gunst unseres Herrschers erlangen – nicht dass sie jemals auch nur in seine Nähe kamen –, oder ob sie glaubten, Gott könnte ihnen vielleicht versehentlich seine Gunst erweisen. Aber ich wusste, dass der Fremde genauso wenig Oman hieß wie ich. Alles an ihm war fremd, von den Augen bis hin zu dem kantigen Gesicht und der Art, wie er seine Wüstenkleider trug – als gehörten sie nicht auf seine Haut. Selbst seine Worte waren mit einem Akzent gefärbt, obwohl er ein reineres Mirajin sprach als die meisten Leute hier.

»Wo bist du zu Hause?«, fragte ich, bevor ich mir auf die Zunge beißen konnte. Wann immer ich den Mund aufmachte, lief ich Gefahr, als Mädchen erkannt zu werden. Aber ich konnte nicht über meinen Schatten springen.

Der Fremde trank wieder einen Schluck Wasser. »Nirgendwo Bestimmtes. Du?«

»Nirgendwo Interessantes.« Das Spiel konnte ich genauso spielen.

»Durst?« Er bot mir den Schlauch an, wobei er mich ein bisschen zu genau beobachtete. Ich war ausgetrocknet, aber ich traute mich nicht, meine Sheema anzuheben, auch nicht ein winziges Stück. Außerdem waren wir hier in der Wüste. Man gewöhnte sich an den Durst.

»Ich werd’s überleben«, erwiderte ich und versuchte, mir nicht mit der Zunge über die trockenen Lippen zu fahren.

»Wie du willst.« Er nahm noch einen großen Schluck. Ich beobachtete, wie sein Adamsapfel gierig auf und ab hüpfte. »Unser Freund scheint welchen zu haben. Durst, meine ich.«

Ich folgte seinem Blick zu Dahmad. Mit hochrotem Kopf leerte er schon wieder eine Flasche.

»Umso besser für dich.« Ich zuckte mit den Schultern. »Ich hätte euch beide auf jeden Fall geschlagen. So wirst du jetzt wenigstens Zweiter.«

Der Fremde brach in fröhliches Gelächter aus. Ich freute mich wie ein Kind, dass ich es ihm entlockt hatte. Einer der Männer, der sich zu den Wettanbietern vordrängelte, schaute stirnrunzelnd zu uns herüber. Als könnten wir einen Komplott aushecken. »Ich mag dich, Kleiner«, sagte der Fremde. »Und du hast Talent. Deshalb gebe ich dir jetzt einen Rat: Steig aus.«

»Glaubst du wirklich, das funktioniert bei mir?« Ich bemühte mich um einen draufgängerischen Ton und straffte die Schultern.

»Siehst du unseren Freund da drüben?« Er wies mit dem Kinn auf Dahmad. »Er tritt für das Haus an. Hasan wird reich, wenn Dahmad gewinnt. Sie mögen es nicht, wenn Fremde ihn schlagen.«

»Und woher weißt du das alles? Du bist doch nicht aus der Gegend.«

Der Fremde beugte sich verschwörerisch zu mir herüber. »Weil ich ihn letzte Woche geschlagen habe.« Wir beobachteten beide, wie Dahmad schwankte und sich an der Mauer abstützte.

»Scheint mir nicht allzu schwer zu sein.«

»Ist es auch nicht. Die zwei Männer, die Hasan hinter mir hergeschickt hat, um mich in einer Gasse zu stellen und mir das Geld abzuknöpfen, waren dagegen schon eine größere Herausforderung.« Er öffnete und schloss seine Faust und ich sah halb verheilte Wunden auf seinen Knöcheln. Er ertappte mich, wie ich darauf starrte. »Keine Sorge.« Er zwinkerte mir zu. »Du solltest erst mal die beiden Typen sehen.«

Ich verbannte alles, was für ihn nach Sorge ausgesehen haben könnte, aus meinen Augen. »Trotzdem bist du wieder hier und gibst ihnen noch eine Gelegenheit.«

Jetzt wandte er mir seine volle Aufmerksamkeit zu; alles Scherzhafte war verschwunden. »Wie alt bist du? Dreizehn?« Sechzehn, fast siebzehn als Mädchen, doch für einen Jungen wirkte ich jünger. »Jemand, der schießen kann wie du, bringt es in ein paar Jahren weit, vorausgesetzt er wird heute Nacht nicht getötet. Es wäre keine Schande, wenn du aussteigst. Wir wissen alle, dass du schießen kannst. Du brauchst bei dem Beweis nicht zu sterben.«

Ich betrachtete ihn kritisch. »Warum bist du zurückgekommen, wenn es so gefährlich ist?«

»Weil ich das Geld brauche.« Er nahm noch einen Schluck aus dem Wasserschlauch, bevor er aufstand. »Und wenn es Ärger gibt, überstehe ich ihn immer lebend. So war es zumindest bisher.« Ich spürte einen Stich, als er das sagte. Ich wusste, wie sich Verzweiflung anfühlte. Er streckte mir die Hand hin, um mir aufzuhelfen. Ich ergriff sie nicht.

»Du kannst es nicht mehr brauchen als ich«, sagte ich leise. Und einen Moment lang hatte ich das Gefühl, als verstünden wir uns. Wir standen beide auf derselben Seite. Und dennoch waren wir Gegner.

Der Fremde ließ seine Hand sinken. »Wie du willst, Bandit.« Er ging davon. Ich blieb noch einen Augenblick sitzen und redete mir ein, dass er nur versuchte mich einzuschüchtern, damit ich aufgab. Ich wusste, Dahmad konnten wir beide schlagen. Aber der Fremde war ein respektabler Schütze.

Ich war besser. Ich musste besser sein.

Die Wettanbieter wiesen ihre letzen Kunden ab, als wir drei wieder an die Linie traten. Als das kleine barfüßige Mädchen dieses Mal zu mir gelaufen kam, hatte sie nur eine Kugel dabei. In der anderen Hand hielt sie einen schwarzen Stoffstreifen.

»Unsere Endrunde heute!«, verkündete Hasan. »Blindekuh.«

Ich griff nach der Augenbinde, doch Schüsse ließen mich innehalten.

Ich duckte mich, bevor mir klar wurde, dass die Schüsse von draußen kamen. Jemand schrie. Die Hälfte unserer Zuschauer war auf den Beinen und reckte den Hals, um zu schauen, was sich da draußen an neuer Unterhaltung bot.

Sehen konnte ich nichts, aber den Ruf verstand ich nur zu gut.

»Im Namen des Rebellenprinzen Ahmed! Ein neues Morgenrot, eine neue Wüste!« Mir brach am ganzen Körper Gänsehaut aus.

»Verdammt.« Der Fremde rieb sich mit den Knöcheln übers Kinn. »Das war unklug.«

Ein neues Morgenrot, eine neue Wüste. Jeder hatte den Schlachtruf des Rebellenprinzen schon gehört, wenn auch nur geflüstert. Man musste schon ein Idiot sein, um seine Unterstützung für den abtrünnigen Sohn des Sultans so laut hinauszuschreien. Es gab zu viele Männer mit alten Vorstellungen und neuen Waffen, um in der Letzten Provinz ein Wort gegen den Sultan zu äußern.

Einzelne Sätze waren aus dem allgemeinen Stimmengewirr herauszuhören. »Der Rebellenprinz wurde schon vor Wochen in Simar umgebracht.« »Ich habe gehört, er versteckt sich mit seiner Dämonenschwester in den Derva-Höhlen.« »… am besten sofort aufhängen!« »Er marschiert in diesem Augenblick in Richtung Izman!«

Die Hälfte dieser Geschichten hatte ich auch schon gehört. Und ein halbes Dutzend weitere dazu. Seit dem Tag der Sultansprüfungen, an dem Prinz Ahmed, nachdem er fünfzehn Jahre zuvor verschwunden war, wieder auftauchte, um sich um den Thron seines Vaters zu bewerben, bewegten sich die Geschichten über ihn auf dem schmalen Grat zwischen Nachrichten und Legenden. Es hieß, er hätte die Sultansprüfungen haushoch gewonnen und der Sultan hätte versucht, ihn umbringen zu lassen, anstatt ihn zum Thronerben zu ernennen. Dass Ahmed Magie angewandt und somit betrogen, aber dennoch verloren hätte. Das Einzige, was in allen Versionen übereinstimmte, war, dass er, nachdem es ihm nicht gelungen war, bei den Prüfungen den Thron zu gewinnen, in der Wüste untergetaucht war, um eine Rebellion anzuzetteln und den Thron doch noch besteigen zu können.

Ein neues Morgenrot, eine neue Wüste.

Ich wurde plötzlich ganz aufgeregt. Die meisten Geschichten, die ich kannte, handelten von längst vergangenen Ereignissen, die längst verstorbenen Menschen widerfahren waren. Die Geschichte des Rebellenprinzen spielte zu unser aller Lebzeiten. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit groß war, dass er in allernächster Zeit umgebracht wurde.

Das Handgemenge draußen war kurz, dann schleifte der Hüne vom Eingang einen Jungen am Kragen herein. Er war wahrscheinlich so jung, wie ich mit meiner Verkleidung aussah. Die Buhrufe Betrunkener gingen durch die Menge, als er an ihnen vorbeigeführt wurde.

»Sieh mal einer an!« Hasans Stimme übertönte den Tumult, als er versuchte, die Aufmerksamkeit der Menge zurückzugewinnen. Der Junge hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Über sein Gesicht lief Blut. Er sah aus, als hätte er ein paar brutale Schläge ins Gesicht bekommen, aber nichts Schlimmeres. Noch keine Schussverletzungen oder Stichwunden. »Wie es aussieht, haben wir einen Freiwilligen!«

Der Hüne schleifte den Jungen nach vorn und stieß ihn gegen das Ziel. Dann stellte er die Flasche auf den Kopf des Jungen. Mir sank das Herz wie ein Stein in den Magen.

»Dann spielen wir jetzt ein neues Spiel! Verräter-Roulette«, schrie Hasan mit weit ausgebreiteten Armen. Die Menge antwortete mit Gebrüll.

Ich konnte die Flasche treffen, ohne den Jungen zu verwunden. Der Fremde auch. Doch der Champion torkelte und nahm schon wieder einen großen Schluck aus der Flasche. Ich war mir nicht mal sicher, ob er den Boden treffen würde, wenn er stolperte, geschweige denn sonst etwas.

Der Junge wankte und die Flasche fiel mit einem dumpfen Aufschlag in den Sand. Die Menge reagierte mit Hohn und Spott darauf. Der Junge sah aus, als würde er gleich anfangen zu weinen, als Hasans Handlanger seine Schulter zurückstieß, bis er wieder aufrecht stand, und die Flasche dann erneut auf seinen Kopf stellte.

»Der Junge kann mit seinen Verletzungen kaum aufrecht stehen, geschweige denn die Flasche gerade halten.« Ich schnappte die Worte des Fremden auf. Sie waren an Hasan gerichtet. »Man kann nicht auf etwas schießen, das nicht oben bleibt.«

»Dann schieß eben nicht.« Hasan wedelte mit der Hand. »Wenn ihr zu feige seid, du und der Bandit, könnt ihr ja gehen. Lasst meinen Mann gewinnen.« Darauf zählte Hasan also. Dass der Fremde und ich kneifen und Dahmad gewinnen lassen würden. Nur damit so ein Kind am Leben blieb.

Lediglich so ein Junge, der jünger war als ich und an den Armen bereits Narben von der Arbeit in der Fabrik hatte.

Nein.

Es hieß er oder ich.

Der Junge würde mit seinen rebellischen Sprüchen ohnehin nicht lang in der Wüste überleben. Nicht, wenn die halbe Letzte Provinz ihn wegen Verrats in Stücke reißen würde. Was spielte es für eine Rolle, wenn ich schoss und ein anderer ihn umbrachte? Es wäre noch lange nicht meine Schuld, wenn er starb.

»Oder schieß ihm in den Kopf, dann warst du wenigstens nah dran«, witzelte Hasan. Ich ballte die Hand zur Faust. »Mir ist es egal.« Natürlich war es ihm nicht egal. Er rechnete damit, dass wir ausstiegen. Wir beide wussten das.

»Glaubst du nicht, es sieht ein bisschen verdächtig aus, wenn wir beide aussteigen und deinen Mann gewinnen lassen?«, fragte ich und fiel damit dem Fremden ins Wort.

ENDE DER LESEPROBE