Amerikas Schattenkrieger - Eva C. Schweitzer - E-Book

Amerikas Schattenkrieger E-Book

Eva C. Schweitzer

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Beschreibung

"Abhören unter Freunden, das geht gar nicht", so die empörte Reaktion von Angela Merkel auf das Abhören ihres Handys durch den US-Geheimdienst NSA. Unter Freunden? Geht gar nicht? Hätte die Kanzlerin das Material der Autorin Eva Schweitzer gekannt, wüsste sie, was unter den deutsch-amerikanischen Freunden alles möglich ist. Der Schattenkrieg zwischen Deutschland und den USA ist seit hundert Jahren im Gang, durch zwei Weltkriege und den Kalten Krieg bis heute befeuert durch Spionage und Propaganda. CIA-Agenten betreiben Zeitungen in Berlin, lancieren Nachrichten, um Deutschland auf Linie zu halten, schnüffeln die Forschungsabteilungen deutscher Firmen aus, und das amerikanische Verteidigungsministerium unterstützt Google dabei, das Kanzleramt zu fotografieren. Die Akteure sind bekannt, ihre Spionage-und Propaganda-Aktionen weniger: Es geht um Hollywood und seine Kollaboration mit dem Pentagon, um die Zusammenarbeit von Apple, Facebook und Google mit der CIA und der NSA.

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www.piper.de

ISBN 978-3-492-97024-2

© Piper Verlag GmbH, München/Berlin 2015

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Covergestaltung: Rothfos & Gabler, Hamburg

Covermotiv: Corbis

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Vorwort

Die deutsch-amerikanischen Beziehungen waren zwar immer eng, aber in der langen gemeinsamen und oft kriegerischen Geschichte ähnelten sie meist eher einem achterbahnartigen Auf und Ab. Und in den letzten Jahren waren sie eher angespannt. Dazu haben US-Präsident George W. Bush und der Irakkrieg beigetragen, aber auch die neuerlichen Enthüllungen von Edward Snowden, Julian Assange und WikiLeaks. Heute wissen wir, dass auch Bushs Nachfolger Barack Obama Deutschland flächendeckend belauschen lässt – sogar mithilfe des Bundesnachrichtendienstes. Der BND hat Millionen von Suchbegriffen für die NSA ins System eingespeist und so den Amerikanern bei der Industriespionage geholfen, unter anderem beim deutsch-französischen Rüstungskonzern EADS, der den Airbus baut. Das geschah womöglich mit Wissen der Bundeskanzlerin, deren Handy ebenfalls angezapft wurde. Wer noch alles bespitzelt wird – Politiker, Journalisten, EU-Beamte, Diplomaten, Mercedes-Benz, MTU, Siemens – stellt sich erst nach und nach heraus. Angeblich dient das alles der Terrorabwehr. Denn seit dem Anschlag auf das World Trade Center führen die USA einen heimlichen, unheimlichen Schattenkrieg auf der ganzen Welt, unterstützt vom BND, bei dessen Gründung die CIA Pate stand. Aber es geht nicht nur darum: Auch Konzerne wie Apple, Google, Microsoft, Facebook, Ebay, PayPal und Amazon liefern die Daten ihrer internationalen Kunden in Washington ab. Und auch Hollywood versteht sich als langer Arm der US-Außenpolitik, gerade in Kriegszeiten. Die Filme der Traumfabrik prägen noch heute das Bild der Amerikaner von Deutschland.

Spione, Propagandisten und Einflussagenten aus Amerika tummeln sich nicht erst seit gestern in Deutschland. Schattenkriege zwischen beiden Ländern werden seit mehr als 100 Jahren geführt. Schon bevor die USA in den Ersten Weltkrieg eintraten, veröffentlichten amerikanische Zeitungen antideutsche Karikaturen, während deutsche Agenten versuchten, den Munitionsnachschub nach England zu sabotieren. Im Zweiten Weltkrieg trainierte Sir William Stephenson, der angeblich das Vorbild für James Bond war, amerikanische Spione in New York, und Allen Dulles, der für das Office of Strategic Services in die Schweiz ging, suchte Kontakt zum deutschen Widerstand. Im Kalten Krieg finanzierte die CIA von Berlin aus antikommunistische Aufstände und half, den BND aufzubauen. Heute schreiben Interventionsbefürworter Kommentare in der New York Times, um Amerikas Kriege auch den Deutschen schmackhaft zu machen, während der BND darauf angewiesen ist, dass ihn die CIA vor islamistischen Anschlägen in Deutschland warnt.

Auch die Kriege in Irak und Afghanistan, die Militäreinsätze in Libyen, Syrien, Jemen, Pakistan und anderen Ländern und vielleicht demnächst auch im Iran und in der Ukraine werden von Spionen und Propagandisten aus Amerika begleitet. Und Deutschland ist überall dabei, oft auf Druck der USA, entweder mit Bundeswehrsoldaten oder indirekt, wenn Kampfflugzeuge der Air Force von Ramstein aus starten, oder wenn die NSA Daten der Telekom abfischt. Und wenn es nach den deutschen Amerikafreunden in transatlantischen Vereinen, Stiftungen, Denkfabriken und Zeitungen ginge, stünde die Bundeswehr bereits kurz vor Moskau und Teheran.

Aber es sind nicht nur die Amerikaner, die Einfluss bei uns nehmen. Auch viele Deutsche wirken und wirkten in Amerika: Pazifisten wie Victor Berger, der Gründer der amerikanischen Sozialdemokraten, die versuchten zu verhindern, dass Amerika in den Ersten Weltkrieg eintrat; Anarchisten wie Eric Muenter, der einen Anschlag auf J. P. Morgan verübte, den wichtigsten Finanzier des Waffengangs; Diplomaten wie Georg Gyssling, der Hollywood im Zweiten Weltkrieg auf einen nazifreundlichen Kurs brachte; oder Antifaschisten wie Herbert Marcuse, die versuchten, dem deutschen Widerstand Gehör zu verschaffen (vergebens). Nach 1945 traten preußische Offiziere wie Fritz Kraemer, der Mentor von Henry Kissinger, in Washington für den Vietnamkrieg ein und forderten, die Amerikaner sollten die Mauer einreißen. Und nach der Wende warnten Kulturschaffende wie Florian Henckel von Donnersmarck vor dem Überwachungsstaat.

Um diese verborgenen Kämpfe, um Lügen und Fälschungen, um die Kollaboration zwischen Hollywood und dem Pentagon, der CIA und dem Silicon Valley, um die NSA, das FBI und die Presse, um PR-Agenturen, Denkfabriken und deren Experten geht es in diesem Buch. Sein Thema ist der nie endende Schattenkrieg zwischen Deutschland und den USA, der 1914 anfing, als die Schüsse in Sarajevo fielen.

Bei meinen Recherchen habe ich mit Experten gesprochen, mit Journalisten und Regimekritikern, von Daniel Ellsberg über Oliver Stone bis zu Stephen Kinzer und vielen anderen. Ich habe unzählige Kriegsfilme gesehen und Bücher gelesen, Filmfestivals besucht, Debatten gelauscht – vom New Yorker bis zur Columbia School of Journalism – und Archive und Denkfabriken aufgesucht, in New York wie in Washington. Eine der wichtigsten Lehren dieses Buches ist, dass politische und weltanschauliche Grenzen nicht zwischen Deutschland und Amerika verlaufen. Vielmehr gibt es Kriegstreiber und Propagandisten, Aufklärer und Dissidenten auf beiden Seiten. Letzteren ist dieses Buch gewidmet.

Einleitung: Transatlantische Irritationen

»Wenn die Legende zur Wahrheit wird, druck die Legende!«

MAXWELL SCOTT in dem John-Ford-Western Der Mann, der Liberty Valance erschoss.

New York, im Juni 2014. Vor der Carnegie Hall sammelt sich das Publikum. Ein junger Mann in Lederjacke verteilt Flugblätter, die zum Widerstand im Konflikt zwischen Israel und Palästina aufrufen, ein anderer warnt vor dem Drohnenkrieg im Irak und im Jemen. Der obligatorische Polizeiwagen am Straßenrand hat das Blaulicht eingeschaltet. Ein Mann vom Workers Vanguard, dem Blatt für den sozialistischen Arbeiter, schimpft, die New Yorker würden alles schlucken, statt endlich mal Revolution zu machen. Drinnen, auf der Bühne, steht Glenn Greenwald, der großartige Reporter, der Edward Snowdens Kenntnisse über die NSA-Spionage publik gemacht hat. »Snowden ist in Armut aufgewachsen, aber er hat die Welt verändert«, sagt Greenwald. »Jedes Individuum hat die Macht, die Welt zu verändern. Lasst euch nicht einreden, dass ihr machtlos seid.«

Greenwald, der sein Buch No Place to Hide (dt. Die globale Überwachung)vorstellt, spricht vor einem vollen Saal, der Hunderte fasst. Alles, was in der New Yorker Intellektuellenszene Rang und Namen hat, ist anwesend. Der Abend beginnt mit Anthony Arnove, einem Weggenossen des Altlinken Noam Chomsky, und er bittet uns, die »Geräte auszumachen, mit denen die NSA uns ausspioniert«. Dann stellt Amy Goodman vom progressiven Sender Radio WBAI den Conferencier vor, Wallace Shawn, Sohn von William Shawn, des früheren Chefredakteurs des New Yorker. Shawn ist Schauspieler; letztes Jahr trat er in einem Video für Chelsea Manning auf, jenen Soldaten, der Videos über Kriegsverbrechen der U.S. Army im Irak an Wikipedia weitergab. Er wurde zu 35 Jahren Haft verurteilt. »Uns wird niemand verhaften«, sagt Shawn. »Ich habe, wie die meisten New Yorker der Mittelklasse, Risiken vermieden, mir passiert nichts. Ich verachte diese Leute, aber ich bin einer von ihnen. Aber Glenn ist anders, er setzt sich der Unsicherheit aus.« Er zwinkert und fügt hinzu: »Andererseits, heutzutage werden wir ja von intelligenten Demokraten wie Obama oder Clinton regiert, denen können wir trauen.« Alles lacht.

Dann spricht Greenwald. Er kommt gerade aus Berlin, wo er die Filmemacherin Laura Poitras getroffen hat, mit der er Edward Snowden in Hongkong besucht hatte. Er ist in Deutschland im Fernsehen aufgetreten und hat Interviews gegeben; er hat die deutsche Empörung über die NSA aus erster Hand miterlebt. »Alliierte wie Merkel auszuspionieren hat gar keinen Sinn, es geht nur darum, Macht zu demonstrieren«, sagt er. »Und um wirtschaftliche Interessen.« Aber in Amerika seien die Medien viel gleichgültiger als in Deutschland. »Ich habe mit Lawrence O’Donnell gesprochen« – ein Journalist vom liberalen Sender MSNBC – »und der hat gesagt, ihn störe das alles nicht.« Das habe auch Ruth Marcus in der Washington Post geschrieben oder Hendrik Hertzberg im New Yorker. »Das sind alles brave Demokraten. Der Mann von Marcus arbeitet sogar für Obama«, sagt Greenwald. »Für die Regierung sind die nicht bedrohlich. Aber das Kriterium für eine freie Gesellschaft ist, wie sie ihre Dissidenten behandelt.«

Dann spricht er über Snowden. Das meiste, was in den US-Medien über den ehemaligen NSA-Zuarbeiter behauptet werde, sei falsch. »Früher hätte ich mir nicht vorstellen können, dass alle Medien einem geheimen, von oben diktierten Drehbuch folgten. Aber nachdem ich das miterlebt habe, durchaus.« Das Drehbuch für Snowden laute, dass er ein russischer oder ein chinesischer Spion sei. »Das Wall Street Journal hat einen Schreiber, den sie ab und zu mal aus seinen Thinktanks hochziehen wie einen Tiefseetaucher. Der schrieb erst, Snowden sei ein chinesischer Spion, und ein paar Wochen später war er ein Spion für die Russen.« Wieder lacht alles. Das Wall Street Journal, das Hausblatt des konservativen Medienmoguls Rupert Murdoch, ist hier nicht sonderlich beliebt. Dabei sitze Snowden nur in Russland, weil die US-Regierung Ecuador unter Druck gesetzt habe, ihm kein Asyl zu gewähren, fährt Greenwald fort. »Journalisten nennen ihn einen ruhmsüchtigen Narzissten, aber nur deshalb, weil sie sich nicht vorstellen können, dass jemand seinem Gewissen folgt.«

Snowden wird oft mit Daniel Ellsberg verglichen, der die »Pentagon Papers« an die New York Times weitergab – geheime Akten über den Vietnamkrieg. Darin wurde enthüllt, dass die USA Flächenbombardements von Laos und Kambodscha angeordnet hatten. Präsident Richard Nixon ließ daraufhin bei Ellsbergs Psychiater einbrechen, um belastendes Material zu finden. »Ich habe mich oft gefragt, warum Nixon eine so aufwendige Intrige inszeniert hat«, sagt Greenwald. »Aber nun, wo ich beobachten kann, wie gegen Snowden gehetzt wird oder gegen Julian Assange von WikiLeaks, ist mir klar geworden: Das ist ein klassischer Trick der Propaganda. Dissidenten werden als Verrückte hingestellt, als Verschwörungstheoretiker. Die New York Times, die niemals ›Kriegsverbrechen‹ im Zusammenhang mit der U.S. Army schreibt, hat Assange als paranoid bezeichnet und Chelsea Manning als geisteskrank. Und wer verrückt wirkt, der wird radioaktiv. Dann weichen alle zurück, die eine Karriere zu verlieren haben. Niemand befasst sich mehr mit dem, was der Betreffende zu sagen hat.«

Zur gleichen Zeit, als Greenwald in New York sein Buch signiert, streiten deutsche Politiker darüber, ob sie Edward Snowden nach Berlin einladen sollen, damit er als Zeuge vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss aussagen kann. Das Verhältnis zwischen den USA und Deutschland ist seit dem Irakkrieg angespannt, als Bundeskanzler Gerhard Schröder erklärte, er werde nicht mitmachen. Dass trotzdem US-Kampfflugzeuge von Ramstein aus starteten, steht auf einem anderen Blatt. Merkel hat sich bemüht, die Wogen zu glätten. Dann aber wurde bekannt, dass selbst ihr Mobiltelefon vor den USA nicht sicher ist, von den E-Mails normaler Menschen ganz zu schweigen. Politiker bekamen die Empörung vieler Deutscher zu spüren und mussten etwas tun.

Aber wie weit reicht der lange Arm des US-Sicherheitsapparats? Christian Flisek, der für die SPD im NSA-Untersuchungsausschuss sitzt, fürchtet, dass Snowden in Deutschland nicht sicher wäre. Die CIA könnte ihn entführen und in den USA vor ein Kriegsgericht stellen. Es wäre nicht das erste Mal. Khaled el-Masri, ein Deutsch-Libanese, wurde zu Beginn des Irakkriegs in Mazedonien von der CIA gekidnapt und monatelang in einem US-Militärlager in Afghanistan gefoltert. Bei ihrem eigenen Staatsbürger hätten die USA überhaupt keine Skrupel. Und bei US-Politikern hält sich das Verständnis für deutsche Empfindsamkeiten sowieso in Grenzen. Seit den Anschlägen auf das World Trade Center, als die Flugzeugentführer aus Hamburg kamen, ist das Misstrauen der Amerikaner, das latent immer schon da war, enorm gewachsen. »Natürlich spionieren wir Deutschland aus«, räumte ein republikanischer Politiker freimütig ein. »Wir wollen schließlich vorbereitet sein, wenn Merkel in Polen einmarschiert.«

Die Aufregung um die NSA ist nur der neueste Höhepunkt der langen deutsch-amerikanischen Geschichte von Spionage und Propaganda. Ob es um WikiLeaks geht, um deutsche Leitartikler, die am Fulbright-Institut geschult wurden, um vom Pentagon erbetene deutsche Militärhilfe im US-Drohnenkrieg, um US-Flieger, die, in Ramstein betankt, in Richtung Afghanistan starten, oder um US-Grenzer, die – angeblich, weil sie Terroristen suchen – die Laptops deutscher Geschäftsreisender durchleuchten: In allen Kriegen gab es Verbindungen zwischen Amerika und Deutschland. Mal liefert der BND Amerika die »Beweise« für irakische Massenvernichtungswaffen, mal gründet das Pentagon das Office of Strategic Influence, das die deutsche Presse kriegsfreundlich stimmen soll, mal attackiert ein Kolumnist der New York Times Bundeskanzler Schröder, der nicht in den Irak einmarschieren will, mal werden New Yorker Regimekritiker in Berlin gefeiert. Und im kalten Krieg um die Ukraine laufen die transatlantischen Drähte genauso heiß wie im Streit um Israel. Spionage und Propaganda, gefälschte Fotos, erfundene Zahlen, falsche Fronten und »Psy-Ops«, psychological operations, sind genauso wichtig wie Bomben und Gewehre. »Meinungsmacher haben Kriege überhaupt erst möglich gemacht und werden das in unserem Jahrhundert voraussichtlich noch nachhaltiger tun«, schreibt der österreichische Journalist Viktor Farkas.

Nicht nur Snowden oder Ellsberg werden diffamiert. Auch Wladimir Putin gilt manchen Leitartiklern seit der Annektierung der Krim als verrückt, und seine Verteidiger werden als »Putinversteher« verunglimpft. Nun mag Putin kein Demokrat sein und aggressiv, unmoralisch oder völkerrechtswidrig handeln, aber eines ist er ganz gewiss nicht, nämlich schwer zu verstehen. Das heißt natürlich nicht, dass die heutige Kreml-Propaganda wahr ist – genauso wenig, wie die Moskauer Prozesse der Dreißigerjahre des vorigen Jahrhunderts rechtsstaatlich waren oder im stalinistischen Gulag Freiwillige arbeiteten. Auch die Sowjetpropaganda setzte Gerüchte in die Welt, etwa dass das AIDS-Virus aus einem US-Forschungslabor stamme.

Nicht nur Snowden-Fans wird vorgeworfen, sie seien Verschwörungstheoretiker, sprich: Verrückte. Der Verschwörungstheoretiker leidet unter dem Wahn, dass es Menschen gibt, die sich heimlich zusammentun, um etwas Böses auszuhecken. In Wirklichkeit gibt es natürlich nur gute Menschen und auch keine Heimlichkeiten. Außer in Russland. Oder in arabischen Ländern. Oder in China. Verschwörungen werden meist aufgedeckt, wenn heimische Politiker einander ein Bein stellen – wie beim Einbruch ins Watergate Hotel, dem Wahlkampfquartier der Demokraten, hinter dem letztlich Richard Nixon steckte. Oder als CDU und Stasi sich 1972 verschworen, um Willy Brandt zu stürzen. Aber wenn Schlapphüte im Ausland am Werk sind, dauert es oft Jahrzehnte, bis eine Verschwörung auffliegt. Wenn überhaupt. Das gilt für die Operation Paperclip, als die CIA Naziwissenschaftler in die USA holte, für die Operation Northwood, als die CIA Anschläge auf Flugzeuge plante, um diese anschließend Kuba in die Schuhe zu schieben, oder für den Iran-Contra-Waffendeal. Dass das Stuxnet-Virus gegen das iranische Atomprogramm von den USA und vom israelischen Auslandsgeheimdienst Mossad entwickelt wurde, galt ebenfalls lange als Verschwörungstheorie.

Und manche Verschwörung ist noch heute umstritten. Wurde Jassir Arafat mit Polonium ermordet? Wie starb Raoul Wallenberg, der schwedische Judenretter, der von der russischen Geheimpolizei in die Sowjetunion verschleppt wurde, und welche Rolle spielten die USA? Was wusste der deutsche Verfassungsschutz über die NSU-Morde? Wer steckte hinter der Anthrax-Attacke in Amerika nach 9/11?

Gelegentlich wird eine Verschwörungstheorie salonfähig – das NSA-Überwachungsprogramm PRISM fällt einem dazu ein, die Bilderberger oder der Reichstagsbrand von 1933. Für Letzteren wurde Marinus van der Lubbe – ein holländischer Kommunist – verurteilt (drei weitere Kommunisten wurden freigesprochen). Aber schon früh gab es Gerüchte, dass die Nazis dahintersteckten. Denn die nahmen den Brand zum Anlass, die Bürgerrechte der Weimarer Verfassung außer Kraft zu setzen und den demokratischen Rechtsstaat zu beseitigen. Eine solche Verschwörung wurde damals von einem Tribunal in London unterstellt, das von deutschen Kommunisten veranstaltet wurde, die vor den Nazis geflohen waren. Unter Historikern ist der Reichstagsbrand bis heute umstritten. Er ist eine der großen Verschwörungstheorien des 20. Jahrhunderts, wie die Ermordung von John F. Kennedy, der japanische Angriff auf Pearl Harbor und die Anschläge auf das World Trade Center. Und manchmal verbreitet auch die US-Regierung Verschwörungstheorien – etwa, dass sich Saddam Hussein mit Osama bin Laden verschworen habe, um Massenvernichtungswaffen zu beschaffen.

Zur Propaganda gehört auch, wie Aufständische benannt werden. Mal sind es Widerstandskämpfer, mal Terroristen, mal Partisanen, mal Freiheitskämpfer und mal Marionetten des Auslands. Als die Serben unter Slobodan Milošević Bosnien abhalten wollte, sich aus dem serbischen Einflussbereich zu entfernen, taten sie das Gleiche wie zur Zeit des Habsburgerreiches oder unter dem Prinzregenten Paul von Jugoslawien oder im Zweiten Weltkrieg ab 1941 unter Tito – aber plötzlich waren sie die Bösen. Ähnliches gilt für die Ukrainer, die sich seit mehr als 100 Jahren mit den Russen streiten, aber erst seit Neuestem zu den Guten gehören.

Auch die Kunst der Verleumdung ist Moden unterworfen. Lange war es opportun, Gegner als homosexuell zu diffamieren, als jüdisch oder ihnen schwarze Vorfahren anzudichten (in den USA wurde Eleanor Roosevelt von Republikanern als »Negerin« geschmäht). Heute fiele das auf den Verleumder zurück. Als Adolf Hitler an die Macht kam, wurde getuschelt, er sei Halbjude oder schwul oder beides. Ähnliche Gerüchte kursierten über Reinhard Heydrich. Heute würde jeder, der so etwas behauptete, als antisemitisch oder schwulenfeindlich gelten. Als der US-Senator John McCain in den republikanischen Vorwahlen des Jahres 2000 gegen George W. Bush antrat, starteten seine innerparteilichen Gegner eine Flüsterkampagne: McCain habe ein schwarzes außereheliches Kind. McCain stellte klar: Das Kind sei seine Adoptivtochter aus Bangladesch. McCain verlor zwar gegen Bush, aber die Kampagne zementierte die Wahrnehmung der Republikaner als rassistische Partei, was letztlich zum Wahlsieg Barack Obamas beitrug. Ein echter Pyrrhussieg also.

Wer schreibt, der bleibt

Das Wort Propaganda wurde 1622 von Papst Gregor XV. geprägt, der ein Propagandabüro, eine Congregatio de Propaganda Fide, schuf, eine »Kongregation für die Verbreitung des Glaubens«, um der Irrlehre des Protestantismus entgegenzutreten. Und seit Könige zu Felde ziehen, machen spätere Legenden aus Verlierern Sieger und aus Menschenschlachtern Mäzene. Eines der berühmtesten Beispiele ist der Kampf David gegen Goliath. Ob es David, den König der Israeliten, überhaupt gegeben hat, ist genauso umstritten wie die Frage, ob das Heilige Land zu seiner Zeit derart bedeutend war. Jerusalem hatte damals 1500 Einwohner, und David wird in Quellen außerhalb der Bibel nirgends erwähnt. Wenn überhaupt, war er eher ein blutrünstiger Warlord denn ein gütiger König. Ähnlich umstritten ist, ob die Israeliten tatsächlich lange in ägyptischer Sklaverei lebten.

Apropos Ägypter: Um 1274 v. Chr. kämpfte Ramses II. gegen die Hethiter im Gebiet der heutigen Türkei. Danach ließ der Pharao diese »Schlacht von Kadesch« auf Papyri als großen Sieg mithilfe des Gottes Amum darstellen. Die Papyrusrollen blieben bis heute erhalten. Erst im 20. Jahrhundert wurden bei Grabungen im alten Hethiterreich Tafeln mit babylonischer Keilschrift gefunden, nach denen Ramses von den Hethitern geschlagen wurde. Man sieht, dass das alte Journalistenmotto »Wer schreibt, der bleibt« schon damals galt.

Ein ähnlich begnadeter PR-Meister war Alexander der Große, der König von Mazedonien (der in Europa und Asien eine ähnliche Blutspur hinterließ wie später Napoleon). Nach dem Sieg über das Persische Reich ließ er Münzen prägen, auf denen er als Sohn des Zeus abgebildet war. Auch Homers Ilias sollte nicht für bare Münze genommen werden: Der Trojanische Krieg war nicht der schönen Helena geschuldet, sondern der Tatsache, dass die Griechen einen Zugang zum Schwarzen Meer wollten. Ebenso wenig der Krieg der Römer gegen Karthago. Die Römer, die die Stadt nahe dem heutigen Tunis bis auf die Grundmauern zerstörten, behaupteten, alle Karthager würden ihrem Gott Baal ihren erstgeborenen Sohn opfern. Die römischen Geschichtsschreiber Diodorus Siculus und Plutarch schilderten im Jahr 310 v. Chr. sogar eine Szene, bei der kleine Jungen in Karthago in die Arme einer steinernen Baal-Statue gelegt wurden. Am Sockel der Statue werde, so die Römer, ein riesiges Feuer entzündet, die Kinder würden verbrennen. Archäologische Beweise dafür wurden niemals gefunden.

Briten und Amerikaner stehen Ramses und Alexander wenig nach. So hat es die um den Heiligen Gral kämpfenden Ritter der Tafelrunde um König Artus nie gegeben. Und Kolumbus, der 1492 Amerika entdeckte, begann noch im gleichen Jahr, Lügen zu verbreiten, als er den friedlichen Stamm der Taino von Haiti als Kannibalen beschrieb, die Säuglinge schlachteten und äßen. In Wahrheit töteten seine Männer die Taino.

Auch der Unabhängigkeitskrieg der amerikanischen Kolonien gegen Großbritannien erscheint bei kritischer Betrachtung in etwas anderem Licht. Nach amerikanischer Lesart ging es bei diesem Krieg um die Freiheit – in Wahrheit allerdings nur um die Freiheit weißer Plantagenbesitzer; sie waren die Einzigen, die damals wählen durften. Der britische Historiker Simon Schama stellt in Rough Crossings fest: »Diese Revolution wurde zuallererst deshalb veranstaltet, um die Sklaverei zu schützen.« Immerhin waren fast alle »Gründerväter« Sklavenhalter. Auch aus Sicht der Indianer sieht der Krieg anders aus: Viele, von den Mohawk bis zu den Cherokee, verbündeten sich mit den Briten gegen die Amerikaner; die Briten luden sogar einen Häuptling der Mohawk nach London ein. Wenn die Vereinigten Staaten am 4. Juli den Unabhängigkeitstag begehen, liest man davon selten.

Von dem griechischen Philosophen Aischylos stammt das Bonmot »Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer«. »Die Menge von Schwindelei im Namen des Patriotismus in Kriegszeiten in allen Ländern reicht aus, alle anständigen Leute erröten zu lassen«, schrieb der britische Diplomat, Parlamentarier und Pazifist Arthur Ponsonby in Falsehood in Wartime, das 1928 erschien (dt. Lügen in Kriegszeiten). Das Prinzip sei immer das gleiche: Siege würden übertrieben dargestellt und Niederlagen minimiert. Das Volk werde überzeugt, dass die eigene Seite schuldlos sei, ihr Anliegen gerecht und die Boshaftigkeit des Feindes jenseits allen Zweifels bewiesen sei. Dazu bediene die Regierung sich der Lüge, gefälschter Übersetzungen, Dokumente und Fotos, hysterischer Übertreibung, des Verbots von guten Nachrichten über die Gegenseite und vorgetäuschter Empörung. Wenn der Gegner Gräueltaten begehe oder illegale, grausame oder verbotene Taktiken oder Waffen verwende, sei dies typisch für seinen verdorbenen Volkscharakter, beim eigenen Lager hingegen handele es sich in solchen Fällen stets um Einzelfälle, ein Versehen oder Notwehr. Die USA prägten den Begriff »Kollateralschaden«. »Die Absicht der Propagandisten ist, einen Teil der Menschen vergessen zu lassen, dass der andere Teil ebenfalls menschlich ist«, schrieb der dystopische Schriftsteller Aldous Huxley 1936: »Letztlich existiert Propaganda, um menschliche Wesen durch diabolische Abstraktionen zu ersetzen. In gleicher Weise haben die, die den Krieg verteidigen, ein nett klingendes Vokabular von Abstraktionen erfunden, um den Prozess des Massenmords zu beschreiben.«

Der Harvard-Professor John Mearsheimer beschreibt in Why Leaders Lie, warum Staatsführer im Krieg lügen: »Der Hauptgrund dafür ist, einen strategischen Vorteil für ihr Land zu erzielen.« In einer gefährlichen Welt sei dies notwendig, um zu überleben. In den Fünfzigerjahren des vorigen Jahrhunderts log Nikita Chruschtschow in Bezug auf die Atombombe – er übertrieb das nukleare Potenzial der UdSSR, um US-Präsident Eisenhower zu beeindrucken. In den Sechzigern log John F. Kennedy in der Kubakrise; in den Siebzigern versprachen erst Johnsons Verteidigungsminister Robert McNamara und danach Nixons Außenminister Henry Kissinger, sie würden Westdeutschland im Falle eines sowjetischen Angriffs mit Atomwaffen verteidigen. Auch das, so Mearsheimer, war gelogen. Bevor die USA in den Irakkrieg zogen, sagte Pentagonchef Donald Rumsfeld, er habe »bombensichere Beweise«, dass Saddam Hussein und Osama bin Laden Verbündete seien. Zwei Jahre später erzählte er der Denkfabrik Council on Foreign Relations: »Ich habe keine echten Beweise, dass die beiden Verbindungen hatten.« Am meisten gelogen aber wurde im Zweiten Weltkrieg, als Winston Churchill sagte, die Wahrheit sei so kostbar, dass sie Leibwächter aus Lügen haben sollte, während Franklin D. Roosevelt erklärte, dass er absolut gewillt sei, falsche Fährten zu legen und Unwahrheiten zu erzählen, wenn es helfe, den Krieg zu gewinnen. Dass Hitler, Goebbels und Stalin logen, dass sich die Balken bogen, versteht sich von selbst.

»Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen«

Manche Stereotypen sind schon seit Jahrtausenden in Gebrauch. Der Gegner wird nicht nur als böse dargestellt, sondern am besten gleich als Babymörder. Baal, Herodes oder die Götter der Azteken – sie alle sind heute als Babymörder bekannt, was meist auf der Geschichtsschreibung ihrer siegreichen Gegner beruht. Auch zum Repertoire von Antisemiten gehört es seit mehr als 1000 Jahren, den Juden zu unterstellen, sie töteten christliche Kinder, um aus deren Blut Mazzen zu backen.

Im Ersten Weltkrieg schrieben britische Zeitungen, Wehrmachtsoldaten hackten Säuglingen in Belgien die Hände ab, spießten sie auf oder schenkten ihnen vergiftete Bonbons. Im Zweiten Weltkrieg sah man auf italienischen Postern GIs, die mit Flinten auf Kinder zielten. Im Golfkrieg von 1990 trat eine kuwaitische »Krankenschwester« auf und berichtete über Brutkastenbabys, die angeblich von irakischen Soldaten getötet wurden – eine Kampagne der PR-Agentur Hill + Knowlton. Im Bosnienkrieg wurde von amerikanischen PR-Strategen verbreitet, Serben würden schwangeren Bosnierinnen die Bäuche aufschlitzen. Erst nachdem die Bundesregierung im Rahmen eines NATO-Einsatzes Truppen geschickt hatte, stellte sich heraus, dass das gelogen war.

Ähnlich war es schon im Vietnamkrieg gewesen: Als amerikanische Aktivisten nach dem Massaker von My Lai Bilder von toten Babys veröffentlichten, zogen Studenten skandierend durch Washington, New York und Chicago und klagten US-Präsident Lyndon B. Johnson an: »Hey, hey, LBJ, how many kids did you kill today?« Das berühmteste Kriegsfoto aller Zeiten zeigt ein nacktes kleines Mädchen, das schreiend, von Napalm verbrannt, auf den Fotografen zurennt. Dabei wurde ausgerechnet dieser Napalm-Einsatz nicht von der U.S. Army angeordnet, sondern von den Südvietnamesen. Und nicht ohne Grund beklagte sich Israel nach der Bombardierung von Gaza im Jahr 2014, dass Worte gegen die Fotos von toten Kindern machtlos seien.

Denn Fotos sind wichtig. Im Zweiten Weltkrieg war es in Großbritannien verboten, Fotos von britischen Bombenopfern zu zeigen, damit die Bevölkerung nicht demoralisiert wurde. Auch die Nazipropaganda achtete sorgfältig darauf, dass keine Horrorfotos aus den KZs nach außen drangen. Die tatsächlich veröffentlichten Bilder waren gestellt, sie zeigten zufriedene Arbeiter in gestreifter Häftlingskleidung (die Fotos von todkranken Überlebenden, die wir heute kennen, wurden nach der Befreiung gemacht). Und nach dem Golfkrieg weigerten sich sämtliche US-Medien, ein Bild zu drucken, das die Leiche eines verbrannten irakischen Soldaten auf dem »Highway of Death« zeigte, wo die U.S. Army einen Flüchtlingskonvoi bombardiert hatte. Die Legende vom »klinisch« sauberen Krieg wäre durch die Veröffentlichung desavouiert worden.

Fotos werden auch gerne gefälscht. Die einfachste Methode ist, den Bildtext frei zu erfinden, ein beliebter Trick der Briten (und Franzosen) im Ersten Weltkrieg. So wurde aus einer Tierkörperverwertungsanstalt eine Gruselfabrik, in der Soldaten zu Seife verkocht wurden. Am Ende des Zweiten Weltkriegs entstand das Foto von Jewgeni Chaldej, das die Rote Fahne über dem Reichstag zeigt – der Fotograf hatte das Ereignis allerdings mit rot gefärbten Tischdecken nachgestellt. Ebenfalls nachträglich inszeniert war der Handschlag von Torgau an der Elbe zwischen US-Soldaten und Rotarmisten 1945. Tatsächlich hatte das erste Zusammentreffen der Alliierten schon Stunden vorher in Strehla stattgefunden. Dort war der GI Albert Kotzebue mit fünf Kameraden über den Fluss gesetzt, wo er die ersten Sowjetsoldaten traf. Dort stand Kotzebue »inmitten von 300 Leichen – Frauen, Kinder, alte Menschen«, so der Historiker Uwe Niedersen im Stern. Das sei nicht die historische Szene gewesen, welche die USA festhalten wollten. Das bekannte Foto wurde einen Tag später gemacht, in Torgau, mit anderen Soldaten.

Für den Ruf sind tote Kinder nie gut, das wusste schon die russische Propaganda nach dem Zweiten Weltkrieg. So stellt das Ehrenmal im Treptower Park in Berlin einen russischen Soldaten dar, der ein gerettetes deutsches Kind trägt. Ähnlich denken die Amerikaner: Als das Smithsonian Institute 1995 in Washington, D.C., eine Ausstellung über Hiroshima veranstaltete, mussten die Kuratoren auf Druck der Army Fotos von verkohlter Kinderkleidung entfernen. Im heutigen digitalen Zeitalter ist es noch einfacher, Bilder zu fälschen, aber auch einfacher, sie zu enttarnen. So protestierten 2014 Zuschauer, als die ARD den russischen Einmarsch in die Ukraine mit einem Foto von einem russischen Panzer in Georgien aus dem Jahr 2008 illustrierte. Der Sender musste sich entschuldigen.

Auch mit Zahlen wird gerne geschummelt. Als Arthur Ponsonby sein Buch schrieb, war das Motto der Krieg führenden Parteien noch: »Unsere Verluste sind gering, die des Gegners enorm.« Heute, wo Millionen von Zivilisten umkommen, rechnen die USA die Opferzahlen lieber klein. So sind in Vietnam, Laos und Kambodscha nach US-Schätzungen eine Million Menschen umgekommen, nach vietnamesischen Schätzungen bis zu fünf Millionen. Im Irakkrieg sind dem US-Militär zufolge etwa 100 000 Iraker ums Leben gekommen. Laut der britischen Zeitschrift PLOS Medicine, die sich auf irakische Quellen stützt, waren es mehr als eine Million. Genau umgekehrt ist es natürlich, wenn die USA eingreifen wollen. Im Balkankrieg berichteten US-Medien von bis zu einer Million toter Bosnier. Tatsächlich waren es etwa 60 000. Doch Amerika steht damit nicht alleine: Die Sowjetunion beziffert ihre Verluste im Zweiten Weltkrieg auf 20 bis 30 Millionen Tote. Tatsächlich waren nicht nur die meisten davon Ukrainer, vielmehr enthält diese Zahl auch die Toten des stalinistischen Gulag und der Säuberungen sowie die Opfer von Stalins Zwangsumsiedlungen.

Ein weiterer Klassiker der Propaganda ist die Beteuerung: »Wir haben diesen Krieg nicht gewollt.« Was auch derjenige behauptet, der angefangen hat. Man hat dann eben auf eine Provokation reagiert, in Notwehr gehandelt oder sich zu einem Präventivschlag gezwungen gesehen. So gilt der Amerikanische Bürgerkrieg in den Südstaaten als »War of Northern Aggression«. Mit dem berühmtesten Spruch der vorgetäuschten Defensive aber ist die deutsche Wehrmacht am 1. September 1939 in Polen einmarschiert: »Seit 5 Uhr 45 wird jetzt zurückgeschossen«, verkündete Hitler im Reichstag. Dem Einmarsch waren zwar monatelange Scharmützel zwischen Polen und Deutschen im Grenzgebiet vorausgegangen, aber keines hatte ausgereicht, um einen glaubwürdigen Kriegsgrund zu liefern. Deshalb inszenierte die SS einen angeblichen polnischen Überfall auf den Radiosender Gleiwitz in Schlesien, mit frischen Leichen in gefälschten Uniformen. Hitler selbst bemerkte dazu: »Die Auslösung des Konfliktes wird durch eine geeignete Propaganda erfolgen. Die Glaubwürdigkeit ist dabei gleichgültig, im Sieg liegt das Recht.«

Die Kunst des Präventivschlags beherrscht niemand so gut wie die Vereinigten Staaten. Die USA führten einen »vorsorglichen Angriff« in praktisch jedem Krieg, gegen Kanada 1812 und gegen Mexiko 1836 – wo ein US-Spähtrupp von Mexikanern angegriffen wurde, aber auf mexikanischem Territorium – und in den Indianerkriegen. Dabei beriefen sie sich stets auf die Doktrin der »Manifest Destiny«, wonach es die »offensichtliche Bestimmung« der Weißen sei, den amerikanischen Kontinent bis zur Westküste zu erobern. Noch Präsident Theodore Roosevelt glaubte, dass »Gottes erwähltes Volk«, die Amerikaner, das Land der roten Wilden erben sollte.

Der erste Krieg gegen die Indianer fand 1610 statt, als die englischen Siedler in Jamestown, Virginia, die Konföderation des Häuptlings Powhatan angriffen – drei Jahre nach ihrer Ankunft. Sie brannten die Hauptstadt nieder, töteten 70 Indianer, köpften die Frau des Häuptlings und warfen seine Kinder ins Meer. Nach der Unabhängigkeitserklärung erklärten die USA den Irokesen, die unter Tecumseh vereint waren, den Krieg. Auf Grundlage des »Indian Removal Act« von 1830 schickte Präsident Andrew Jackson die Cherokee, die Seminolen und drei weitere Stämme aus Georgia, Tennessee und Florida auf den Trail of Tears, einen Todesmarsch von 1000 Meilen. Es folgten Kriege gegen die Sioux und die Cheyenne, die in der Schlacht am Little Big Horn gipfelten, dann gegen die Comanche in Texas sowie die Navajo und die Apachen in New Mexico und Arizona. 1886 kapitulierte Häuptling Geronimo und wurde mit den letzten 36 von 500 Kriegern interniert. Aber selbstredend waren immer die Indianer schuld. So sprach die Journalistin und Autorin Susan Faludi noch 2007 in der New York Times von dem ererbten »Trauma«, weil die frühen Kolonisten in einer »Atmosphäre des Terrors« gelebt hätten, heimgesucht von Indianern, die keine Europäer waren und keine Flagge trugen.

Dass die Indianer im kollektiven Gedächtnis der amerikanischen Nation als böse Aggressoren gelten, liegt auch daran, dass Hollywood sie als grausame Wilde darstellte, die Babys umbrachten oder entführten und Weiße skalpierten. Dabei war das Skalpieren eine Erfindung der Weißen: So zahlte die kalifornische Regierung 50 Dollar Belohnung für jeden indianischen Skalp, um den Staat während des Goldrausches indianerfrei zu machen.

Ein interessantes Element charakterisiert fast alle amerikanischen Kriege: Sie wurden stets erklärt, nachdem ein Schiff angegriffen worden war. Als 1890 das US-Kriegsschiff Maine im Hafen von Havanna explodierte, zogen die USA in den Krieg gegen Spanien. Damals war Kuba eine spanische Kolonie, die mit Unterstützung der USA um die Unabhängigkeit kämpfte. Die Verleger Joseph Pulitzer und William Randolph Hearst schickten Reporter nach Kuba, denen Widerständler frei erfundene Horrorgeschichten von Leichenbergen erzählten. Als es keine Fotos von Leichen gab, schickte Hearst einen Zeichner. Als der Zeichner kabelte, in Havanna gebe es keinen Krieg, kabelte Hearst zurück: »Schicken Sie mir Bilder, und ich sorge für den Krieg.« Aber einen Kriegsgrund fanden die USA erst, als die 266 US-Soldaten auf der Maine starben. Hearst-Blätter schrieben damals, Spanien habe einen Torpedo auf das Schiff abgefeuert, das sei bewiesen. Dabei hatte eine Explosion im Maschinenraum die Todesopfer gefordert.

Das Schiff, das Amerika letztlich in den Ersten Weltkrieg brachte, war die Lusitania, ein mit Waffen beladener britischer Dampfer, der von einem deutschen U-Boot versenkt wurde. Es folgte ein Trommelfeuer britischer Propaganda, bis die USA Deutschland den Krieg erklärten. Der Zweite Weltkrieg begann für die USA, als die japanische Luftwaffe im Dezember 1941 Pearl Harbor auf Hawaii attackierte, wo die US-Pazifikflotte lag. Mehrere Schiffe sanken, darunter die USS Arizona mit 1177 GIs an Bord. Damals hatten die USA noch keinen Auslandsgeheimdienst; sie stützten sich auf die Briten. Nach Pearl Harbor bauten sie das Office of Strategic Services auf, aus dem die CIA wurde. Oberspion des OSS in Europa war Allen Dulles, der von Bern aus deutsche Widerstandskämpfer gegen die Nazis als Spione rekrutierte.

Auch der Kampfeinsatz der USA in Vietnam begann mit einem Schiff, der USS Maddox, die 1964 angeblich im Golf von Tonkin von nordvietnamesischen Torpedobooten angegriffen wurde. Die Informationen über den »Tonkin-Zwischenfall« stammten von der neuen Spionagebehörde NSA, der National Security Agency.

Der vorerst letzte Anschlag auf ein US-Schiff geschah im Jahr 2000. Ziel war die USS Cole, die in der jemenitischen Hauptstadt Aden vor Anker lag. Hinter der Attacke steckte eine neue terroristische Gruppe: al-Qaida. Ganz neu war sie allerdings nicht, ging sie doch auf die Mudschaheddin zurück, die von der CIA im Afghanistankrieg gegen die Sowjets unterstützt worden waren. Damals hatte sich in den USA eine kleine, aber einflussreiche Gruppe gesammelt, das Project For The New American Century (PNAC). Ziel dieser sogenannten Neokonservativen war die globale militärische Dominanz der USA. Aber ihre Stunde schlug erst am 11. September 2001, als eine al-Qaida-Zelle aus Hamburg das New Yorker World Trade Center mit zwei gekaperten Flugzeugen angriff. Die terroristischen Attacken lieferten den USA den Vorwand für einen ewigen Krieg im Mittleren Osten.

Die Panik der Silicon-Valley-Milliardäre

Mit dem Internet hat sich vieles verändert. Der Medienwissenschaftler Marshall McLuhan sah das bereits in den Siebzigerjahren des vorigen Jahrhunderts voraus und schrieb in seinem Buch Culture is our Business: »Der Dritte Weltkrieg wird ein Guerilla-Informationskrieg sein, wo es keinen Unterschied zwischen Militärs und Zivilisten als Teilnehmer geben wird.« Spionage ist einfacher geworden; schon deshalb, weil viele dem Internet alles anvertrauen. Heute bekommen amerikanische IT-Konzerne wie Google und Microsoft Subventionen vom Pentagon, wie Hollywood im Zweiten Weltkrieg. Und sie fungieren als langer Arm der US-Regierung: Amazon etwa entfernte WikiLeaks von seiner Plattform, nachdem Julian Assange, ein Australier in der ecuadorischen Botschaft in London auf der Flucht vor Schweden und den USA, die Kriegsvideos von Chelsea Manning veröffentlicht hatte.

Mit dem Internet ist Amerika keine Insel mehr. Heute finden Aktivisten aus aller Welt Gehör, vom iranischen Blogger über das YouTube-Video aus Palästina bis zum Facebook-Poster aus der Ukraine. Aber nicht überall, wo Aktivist draufsteht, steckt auch einer drin. Es gibt bezahlte »Megaphone«, die im Auftrag von Regierungen oder von Konzernen Kommentare posten, und Agenten, die in sozialen Netzwerken mit erfundenen Profilen herumspionieren. Mit dem Internet hat sich auch eine internationale Widerstandsszene formiert, wie WikiLeaks und Anonymous. Natürlich steht der eine oder andere dort auch auf der Gehaltsliste der NSA.

Ebenfalls neu ist, dass Medien in den USA mit ausländischem Geld finanziert werden. Al Jazeera aus Qatar zählt dazu oder Russia Today, die beide auf Englisch senden. Der Guardian aus Großbritannien brachte von seinem New Yorker Büro aus Snowdens NSA-Story heraus, in New York sitzt auch das Recherchenetzwerk des Exil-Iraners Pierre Omidyar, für das Glenn Greenwald arbeitet. Auch deutsche Medienkonzerne wie Bertelsmann und Holtzbrinck sind in den USA vertreten. Metropolitan Books, der Verlag, der Greenwalds Buch verlegt hat, gehört zum Holtzbrinck-Konzern, der die Zeit herausgibt.

Diese Zusammenarbeit zwischen Silicon Valley, CIA, NSA und Pentagon, sagt Glenn Greenwald in der Carnegie Hall, sei zugleich auch ihre Schwachstelle. »Bei denen herrscht echte Panik, denn die haben Angst, dass sie international Marktanteile verlieren, wenn Ausländer fürchten, dass ihre Daten nicht sicher sind.« Deswegen müsse der Druck aufrechterhalten werden. »Unsere Regierung nimmt die Panik von Silicon-Valley-Milliardären sehr viel ernster als die von uns.«

Dieses Buch soll keineswegs ein Plädoyer für die Abkoppelung Deutschlands von Amerika sein. Mit der Westorientierung ist die Bundesrepublik ganz gut gefahren. Das darf aber nicht so weit gehen, dass wir uns in amerikanischen Kriegen verheizen lassen – schon gar nicht auf der Grundlage von Lügenmärchen, die von Meinungsmachern und dem Pentagon aufgetischt werden, zumal die Amerikaner ihr eigenes Geschwätz von gestern nicht ernst nehmen und die Verbündeten schneller wechseln, als die schwerfällige deutsche Politik reagieren kann. Es geht auch nicht darum, das Gegenteil von dem zu glauben, was in der Zeitung steht, oder seine Informationen von Russia Today zu beziehen oder von ominösen Websites. Es gibt immer noch Experten, die vertrauenswürdig sind, und Medien, die kritisch und kenntnisreich berichten, viele davon aus Amerika. Ohne Journalisten wie Seymour Hersh, Dexter Filkins oder Glenn Greenwald, ohne Organisationen wie FAIR und viele andere wäre dieses Buch nicht entstanden. Man sollte alles, was man liest, mit gesundem Misstrauen prüfen, sich dabei aber seine Unvoreingenommenheit bewahren und ab und zu über den eigenen Tellerrand blicken.

1 Der Erste Weltkrieg

Babymörder in Belgien und anderswo

»Im Krieg ist die Wahrheit das erste Opfer.«

GEFLÜGELTES WORT

New York, im August 2014, im Kinosaal des Museum of Modern Art. Der Erste Weltkrieg ist ausgebrochen. Verstört läuft ein junges Mädchen über das Schlachtfeld, auf der Suche nach ihrem amerikanischen Geliebten, der für die Franzosen kämpft. Sie umklammert ihr Brautkleid. Ihre Mutter und ihr Großvater sind der Hunnenarmee zum Opfer gefallen, der jüngste Bruder hat nur knapp überlebt. Endlich findet sie den schwer verwundeten Geliebten und fällt in Ohnmacht. »So verbringen sie die Brautnacht«, heißt es – bis ein böser deutscher Offizier namens Von Strohm das Mädchen vergewaltigen will. Wie alle bösen Deutschen in US-Propagandastreifen trägt er ein Monokel. »Wenn wir Amerikaner Kriegsfilme drehen«, meint Lawrence Suid, der die Reihe im MoMA vorstellt, »dann machen wir das gründlich. Wir machen keine Gefangenen.«

Wir sehen Hearts of the World von D. W. Griffith. Der 1918 gedrehte Streifen war der erfolgreichste Propagandafilm des Ersten Weltkriegs, der, begleitet von einem Sinfonieorchester, in allen amerikaischen Kinos lief. Die Kartenverkäufe waren rekordverdächtig, und die Kritiker jubelten. Neben Stars wie Lillian Gish war Erich von Stroheim zu sehen, der auf den bösen Hunnen abonniert war. Griffith war ein Filmpionier, berühmt geworden durch (dt. ), eine Hymne auf die Südstaaten im Bürgerkrieg. Aber war kein amerikanischer Film. Er wurde in England gedreht und vom britischen War Office Committee finanziert; ein Teil des Gewinns wurde an die britische Kriegskasse abgeführt, wie die berichtete. Der Film war der späte Höhepunkt einer beispiellosen Propagandaschlacht des britischen Empire, die nur ein einziger Ziel hatte: Amerika zum Kriegseintritt zu bewegen.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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