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Das Märchen Amor und Psyche erzählt die Geschichte von Verwicklungen und Entwicklungen in Beziehungen. Diese bilden Grundmuster, die uns prägen, aber nicht festlegen. Jederzeit besteht die Möglichkeit, einengende Beziehungen hinter sich zu lassen und fei zu werden, für sich selbst und für andere. So geht es auch Amor und Psyche. Sie finden zu sich selbst und zueinander, idem sie sich von der Macht der Götter lösen, d. h. sich von der Bindung an die Eltern und deren Prägung befreien. Am Ende sind sie nicht nur ein Paar, sondern zwischen ihnen entsteht etwas Drittes, das ihre Beziehung überschreitet.
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Seitenzahl: 159
Veröffentlichungsjahr: 2019
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Vorwort
Mit „Amor und Psyche“ auf Zypern
Das Märchen des Apuleius: Zusammenfassung des Inhalts
Der menschheitsgeschichtliche Horizont von ”Amor und Psyche“
Die Geschichte von Amor und Psyche
paartherapeutisch gelesen …
… tanztherapeutisch bewegt
Sprechen und verstehen (paartherapeutische Reflexion) – sich zeigen und bewegen (tanztherapeutische Präsenz)
Entwicklungsaufgaben, die sich Amor und Psyche stellen
Verwicklungen und Entwicklungen in Beziehungen
Der lebensgeschichtliche Hintergrund oder wie unsere Vergangenheit unsere Beziehungen prägt
Paarbeziehung: Ein Sechs-Personen-Stück
Amor und Psyches Befreiung aus missbräuchlichen Beziehungen in der Familie
Verelterlichung und Ersatzpartnerschaft
Verinnerlichte Arbeitsmodelle prägen, aber legen nicht fest
Ambivalenztoleranz erwerben
Gespaltene Strukturen in Paarbeziehungen
Polarität von Nähe und Distanz, von Bindung und Autonomie
Die Wunsch-Angst-Dynamik
Die Spaltung und Delegation der Grundängste
Störungen der Triangulierungsfähigkeit
Den Blick riskieren oder die Projektion zurücknehmen
Von der Verliebtheit zur Liebe
Projektionen in Paarbeziehungen
Zurücknahme der Projektion
Aufmerksamkeit für das eigene Selbst
Von der Objektbesetzung zum Selbstbezug
Der Körper als Gegenüber
Tanzende Bewegungen vom Körper-haben“ ”zum ”Leib-sein“
Die Prüfungen der Psyche: Stationen auf dem Weg in die Beziehungsfähigkeit.
Den Körnerhaufen sortieren: Arbeit an der inneren Differenzierung
Ein Paar: Zwei psychisch getrennte Menschen
Die Botschaft der Schilfrohre: flexibel werden
Der Flug des Adlers: Zum Intuitiven tritt das Geistige
Der Abstieg in die Unterwelt: Kontakt mit dem Unbewussten aufnehmen
Die ursprüngliche Ganzheit
Ganz Werden: Von der Spaltung zur bezogenen Gegenpoligkeit
Gespaltene Ganzheit und Delegation an den Partner
Das sexuelle Erwachen des Paares
Vom Sex zur Erotik
Erotik und Hingabe
Sexuelle Konflikte
Sexualität braucht Freiraum, Spielraum Schutzraum
Die Hochzeit von Amor und Psyche
Seelische Verbundenheit statt emotionaler Abhängigkeit
Wege zu seelischer Verbundenheit: Alltagsrituale, Bewegungen und offene Momente
Das Paradox von seelischer Verbundenheit (Einssein) und Getrenntheit (Zweisein) zugleich
Die doppelte Bedeutung der Grenze
Die Ich-Selbst-Dynamik in Paarbeziehungen als bezogene Polarität
”Ich“ werden
”Selbst“ werden
…bezogen auf Paarbeziehungen
Ein Paar als verschränktes Beziehungsfeld
Verschränkung von reflexiv und präsent sein
Verschränkung als das Dritte der Paarbeziehung
Die Vergöttlichung Psyches oder Spiritualität in Paarbeziehungen
Das Paar – äußere Gestalt und inneres Sein
Distanzierung von inneren Konzepten schafft neue Beziehungsqualitäten
Weitere heilsame Auswirkungen von spiritueller Erfahrung
Literatur
Die Verbindung von griechischen Mythen, Psychotherapie und Tanztherapie beschäftigt uns seit vielen Jahren. Unter den Themen ”Kultur und Psyche“, ”Mythos und Psyche“ und ”Der bewegte Mythos“ haben wir dieses Interesse in unseren zahlreichen Selbsterfahrungsworkshops auf Kreta, Sizilien und Zypern umgesetzt. Insbesondere das antike Märchen ”Amor und Psyche“ hat uns motiviert, unsere paar- und tanztherapeutischen Erfahrungen zu verbinden. Dieses Zusammenspiel von paartherapeutischem Arbeiten und tanzenden Paarbewegungen fassen wir unter den Begriffen von ”Reflexion“ mit Bezug auf die Paartherapie und ”Präsenz“ mit Bezug auf die Tanztherapie zusammen.
Für uns als Kollegen und Ehepartner war die Beschäftigung mit der Geschichte von Amor und Psyche herausfordernd und bereichernd. Herausfordernd, weil sie Themen berührt, die uns als Paar betreffen, aber auch, weil es um die Balance zwischen persönlichem Berührt- Sein und Verstehen, ging. Das war unsere Form, paartherapeutische Reflexion mit tanztherapeutischer Präsenz zu vereinen. Bereichernd haben wir das gemeinsame Schreiben erlebt, denn es war eine Form, die Balance zwischen unseren unterschiedlichen Kompetenzen als Paartherapeut und als Tanztherapeutin immer wieder neu zu finden. Wir haben aber darauf verzichtet, die jeweiligen Textpassagen je einem von uns namentlich zuzuordnen, verstehen wir das Ganze doch als unser gemeinsames Projekt. Wir hoffen, dass so ein gut lesbarer und in sich geschlossener Text entstanden ist. Celia Norf hat aus der Tochter-Position für uns als Paar wertvolle Anregungen zur Verfügung gestellt und das Lektorat übernommen. Dafür und dass sie an unseren Schreibprozessen engagiert beteiligt war, danken wir ihr auf besondere Weise. Wir widmen das Buch den Teilnehmerinnen und Teilnehmern unserer Workshops und wünschen allen Leserinnen und Lesern Inspiration und Unterstützung für ihr Beziehungs(er)leben!
Düsseldorf, den 20. Oktober 2018
Dieter Funke, Renate M. Paus
Zypern ist die Insel der Aphrodite, der Göttin der Liebe. Aber hinter diesem wohlklingenden Namen verbirgt sich auch eine Göttin, die ihre Schattenseite hat. Diese andere Seite zeigt sie im Märchen ”Amor und Psyche“. Hier wird sie als bösartige und Intrigen- spinnende Muttergottheit dargestellt, die von Neid auf die Schönheit des Mädchens Psyche, in die sich ihr Sohn Amor verliebt, zerfressen wird. Doch dazu später mehr.
Diese Geschichte um Aphrodite, Amor und Psyche bildet den inneren Wegweiser dieses Buches. Ihm liegen Erfahrungen zu Grunde, die wir auf einem Workshop auf Zypern mit Paaren zur Geschichte von ”Amor und Psyche“ gemacht haben. Dabei führte uns das Märchen auf einen Weg, dessen Ziel das Erreichen oder Wiederherstellen von seelischer Verbundenheit und Nähe ist, oder anders gesagt: Ziel des Weges ist, der Liebe eine (neue) Chance zu geben. In dieser Woche auf Zypern haben wir – mit dem Märchen als Wegweiser – vier Zugangswege gewählt, die den Weg zum Paar-Werden und Paar-Sein erschließen:
Im
spirituellen Zugang
durch morgendliche Meditation wurde versucht, durch Achtsamkeit für die eigenen Gefühle, Wünsche und Erwartungen die Projektion dieser auf den Partner vorzubeugen und dem Selbst-Sein als Vorrausetzung für gelingende Beziehung Raum zu geben.
Die
paartherapeutische Auslegung
des Märchens bot einen theoretischen Rahmen, um die Konflikte und Entwicklungsaufgaben in Paarbeziehungen von einem übergeordneten beziehungsanalytischen Standpunkt aus zu verstehen und zu besprechen. Dabei bildeten die einzelnen Stationen und Szenen des Märchens den roten Faden innerer Entwicklung und Reifung zum je eigenen Frau- und Mannsein als Voraussetzung für Beziehungsfähigkeit.
Der
tanztherapeutische Zugang
ermöglichte den Paaren auf der Körperebene Erfahrungen zu machen, die sich der Sprache entziehen und eher im Bereich des Intuitiven und Unbewussten angesiedelt sind. Durch Bewegung und Tanz wurden neue, kreative Zugänge zum eigenen Selbst und zum jeweiligen Partner oder zur Partnerin möglich.
In den abschließenden
verbalen Sitzungen
bestand die Möglichkeit, das Erlebte zur reflektieren und mit Hilfe der Gruppe vorgestellte Paar- und Beziehungskonflikte zu bearbeiten.
Naturgemäß kann der Prozess zwischen den Partnern und zwischen den Paaren in der Gruppe nicht festgehalten werden, weil es stets ein momentaner Prozess ist, der sich der objektivierenden sprachlichen Darstellung zu Recht entzieht. Vor allem das, was sich in der morgendlichen Meditation und der tanztherapeutischen Inszenierung der einzelnen Szenen des Märchens innerseelisch bei den TeilnehmerInnen und zwischen den Paaren ereignete, entzieht sich weitgehend der sprachlichen Darstellung. Wir hoffen mit vorliegendem Text, dass das tanz- und paartherapeutische Konzept, das diesem Workshop zugrunde liegt, sichtbar und nachvollziehbar wird.
Anhand dieses vierfachen Zugangsweges wird deutlich, was sich unserer Meinung nach für gelingende Paarbeziehungen und für die Wiedergewinnung von seelischer Intimität, körperlicher Nähe und emotionaler Verbundenheit als hilfreich erweist:
verstehen, was geschieht,
neue Bewegungen ausprobieren,
den Blick ins eigene Innere und auf das übergeordnete Ganze richten.
Was das heißt lässt sich mit dem Tagesablauf unseres Workshops erschließen.
Der Tag beginnt mit der morgendlichen Meditation. Dieser spirituelle Tageseinstieg dient dem Ziel, die Haltung der Introspektion und Achtsamkeit für die eigene innere Welt einzuüben. Es geht dabei nicht in erster Linie darum, meditative Fähigkeiten zu erwerben, sondern vor allem um die Sensibilisierung der Aufmerksamkeit für innere Vorgänge. Wenn diese achtsame Beobachtung des eigenen Fühlens, Empfindens und Denkens im Alltag verlorengeht, stehen wir in der Gefahr, unbewusste Wünsche und Ängste auf den Partner zu projizieren und diese nicht mehr als eigene zu erkennen. Die in der Meditation eingeübte Haltung der Aufmerksamkeit für das, was an Gefühlen, Empfindungen und Gedanken im eigenen Selbst auftaucht, hilft, die Projektion dieser Anteile auf den Partner zurückzunehmen. Was damit im Einzelnen gemeint ist, wird im Kapitel über die Projektion genauer erläutert.
Nach der Meditation schließt sich die erzählerische Präsentation einer Szene des Märchens und dessen paartherapeutische Auslegung an. Die sich aus den paartherapeutischen Impulsen ergebende tanz- und ausdruckstherapeutische Weiterführung setzt sowohl die innere Getrenntheit der Partner als auch deren Verbundenheit erfahrungsnah in Szene. Dabei werden durch Bewegungen des Körpers, durch Gestik und Mimik neue Erfahrungen möglich, die die rein verbale paartherapeutische Arbeit übersteigen.
Dieser ”bewegenden“ Begegnung der Paare folgt eine verbale Gruppensitzung, die den Abschluss des jeweiligen Tages bildet. In diesen Sitzungen wird versucht, das Erlebte und körpernah Erfahrene in Sprache zu bringen, es im Modus der Reflexion einzuholen, zu vertiefen und neue Perspektiven zu erarbeiten.
Wenden wir uns jetzt dem Inhalt des Märchens zu.
Die Erzählung von Amor und Psyche ist Teil der ”Metamorphosen“ (auch ”Der goldene Esel“ genannt) des spätrömischen Dichters Lucius Apuleius (* um 123, † um 170). Die Erzählung ist in elf Kapitel gegliedert. Die äußere Rahmenhandlung dreht sich um die Abenteuer des Erzählers Lucius, der (als Strafe für seine Neugier) in einen Esel verwandelt wird und erst nach langer Irrfahrt am Ende wieder seine menschliche Gestalt zurückerhält. Die Geschichte vom Göttersohn Amor und der sterblichen Königstochter Psyche beginnt am Ende des vierten und endet am Anfang des sechsten Kapitels und bildet somit das Zentrum des Romans.
Hier die Zusammenfassung des Märchens.1 Die vollständige Fassung liegt vor in der Übersetzung von A. Schaeffer in dem Buch zu ”Amor und Psyche“ von Erich Neumann (siehe Literaturverzeichnis!).
Ein Königspaar hatte drei Töchter. Die Jüngste, Psyche, war von so großer Schönheit, dass ihr Ruf sich überall verbreitete und sie zum Gegenstand von Anbetung und Verehrung wurde. Sie wurde sogar für Aphrodite, der Göttin der Schönheit, zur Konkurrenz. Diese musste mitansehen, wie sich die Menschen von ihr abwandten, ihren Kult vernachlässigten und Psyche, der Sterblichen, himmlische Ehren zukommen ließen. Aus Kränkung und Eifersucht trug sie ihrem Sohn Amor auf, Psyche ins Unglück zu stürzen, indem er dafür sorgen solle, dass sie mit dem hässlichsten und schändlichsen Mann verheiratet werden solle.
Psyche war wegen ihrer Schönheit einsam, weil kein Mann sich ihr hingab, war sie doch schön, aber auch unberührbar. Um Rat zu holen, wandte sich der Vater an das Orakel von Delphi und erhielt den Auftrag, seine Tochter wie eine Leiche zu kleiden und auf einen einsamen Berggipfel zu führen, wo sie von einem Dämon zur Todeshochzeit entführt würde. Aber statt eines Dämons wurde Psyche sanft in die Lüfte enthoben und von Zephyr, dem Gott der Winde, auf Geheiß Amors, der sich in sie verliebt hatte, in ein Schloss getragen. Hier stand ihr alles zu Diensten und eine unsichtbare Stimme lockte sie ins Schlafzimmer, wo sie bald mit dem unsichtbaren Liebhaber schlief. Jede Nacht kam Amor unsichtbar für Psyche in ihr Gemach. Tagsüber aber langweilte sie sich und bat ihren Liebhaber um die Erlaubnis, sich von ihren Schwestern besuchen zu lassen. Amor willigte mit einem unguten Gefühl ein, warnte Psyche deshalb, sich von den Schwestern nicht überreden zu lassen, einen Blick auf ihn zu erhaschen. Die Schwestern, selber verheiratet, drängten sie, den Blick zu riskieren, denn ihr Liebhaber sei eine Schlange und werde sie, die inzwischen schwanger geworden war, verschlingen. Psyche gab dem Drängen nach und rüstete sich mit Öllampe und Messer aus, um den Blick zu riskieren und notfalls die Schlange zu töten. Als sie die Augen öffnete, war sie von der Schönheit ihres Liebhabers, den sie als Gott Amor erkannte, so ergriffen, dass sie die Öllampe umstieß und mit dem heißen Öl Amor die Schulter verbrannte. Zornig zog sich Amor zurück und ließ Psyche allein. Diese irrt durch die Welt und wurde schließlich von der Wut Aphrodites eingeholt. Da diese sie verfolgen ließ, stellte sich Psyche ihr freiwillig. In Ihrem Zorn stellte Aphrodite ihr die Aufgabe, einen Haufen von Körnern aus Weizen, Gerste, Erbsen Bohnen, Linsen und Mohn bis zum Abend in einzelne Häuflein zu sortieren. Zufällig hörte eine Ameise dies und organisierte ein Heer von Gefährtinnen, die diese Aufgabe im Handumdrehen erledigten. Aphrodite war jedoch nicht versöhnt, sondern noch wütender und verlangte, sie solle eine Locke von der Schafswolle einer weit entfernten Herde zu ihr bringen. Ratlos und müde kam Psyche an einem Fluss vorbei und wollte sich hineinstürzen. Die Schilfrohre hielten sie ab, sie solle das Wasser nicht entweihen und zeigten ihr, wie sie schnell an die Locke aus Wolle von den Schafen kommen könnte. Aphrodite war immer noch nicht beruhigt und stellteihr eine dritte Aufgabe. Sie solle in einem Krug Wasser aus einer unzugänglichen Quelle in den Bergen schöpfen. Zeus schickte daraufhin einen Adler, der diese Aufgabe für sie erledigte.
Schlussendlich verlangt Aphrodite von ihr, in die Unterwelt hinabzusteigen und die göttliche Schönheitssalbe von Persephone zu ihr zu bringen. Psyche wollte sich von einem hohen Turm stürzen, um in die Unterwelt zu gelangen. Der Turm aber neigte sich ihr und zeigte ihr den Weg in die Unterwelt, riet ihr aber, die Dose mit der Salbe nicht zu öffnen, anderenfalls werde großes Unheil geschehen. Als sie nach vielen Abenteuern im Reich des Hades die Schönheitssalbe von Persephone erhalten hatte, trug sie diese empor in die Oberwelt. Jetzt aber konnte sie der Versuchung nicht widerstehen und öffnete die Dose, woraufhin sie in einen todesähnlichen Schlaf fiel. Amor, inzwischen von seiner Verletzung genesen, machte sich auf den Weg und suchte Psyche. Als er sie im Todesschlaf fand, erweckte er sie mit seinem Pfeil zum Leben. Jetzt schickte er Psyche zu seiner Mutter, um die Salbe abzuliefern. Amor suchte zwischenzeitlich Zeus auf, um ihn zu bitten, seine Mutter zu besänftigen und seiner Vermählung mit Psyche zuzustimmen. Zeus verbindet jetzt beide zu einem Paar, und reicht Psyche den Becher der Unsterblichkeit. Nun ist auch Aphrodite versöhnt, denn Psyche hat nunmehr göttlichen Status erreicht und ist damit eine angemessene Frau für ihren Sohn. Das Paar bringt eine Tochter zur Welt mit dem Namen Voluptas, himmlische und irdische Wonne.
Der persönliche Entwicklungsprozess von Amor und Psyche ist in unserem Märchen in eine übergeordnete, archetypische Ebene der menschheitlichen Bewusstseinsgeschichte eingebettet. Dieser überindividuelle Zusammenhang des kollektiven Unbewussten lässt sich beschreiben als ein Prozess der Evolution des menschlichen Selbst-Bewusstseins. Stufenweise vollzieht sich diese Bewusstseinsevolution von der magischen Stufe des Enthalten-Seins im großen Ganzen hin zu Differenzierung, Abgrenzung und Individuation, an dessen Ende das Bewusstsein des individuellen Mann- und Frauseins steht.
Erich Neumann (1971), der bekannte Schüler C. G. Jungs, hat diesen archetypischen Entwicklungsprozess in seiner tiefenpsychologischen Deutung des Märchens nachgezeichnet. Er soll mit ein paar Sätzen referiert werden, weil diese Sicht den bewusstseinshistorischen Hintergrund bildet, der viele Impulse für die beziehungsanalytische Auslegung und tanztherapeutische Vertiefung dieses Märchens bereithält.
Archetypen sind in der Jung‘schen Tiefenpsychologie allgemeine Grundstrukturen seelischen Erlebens, unabhängig von der jeweils umgebenden und prägenden Kultur. Neben den Elternbildern gehört das Selbst als Bündel der Vorstellungen von der eigenen Person zu den Archetypen, die im Märchen eine Rolle spielen. Ausgangspunkt für die Geburt des Selbst ist der Zustand des völligen Enthalten-Seins in der Ureinheit des Seins, die weibliche Züge trägt. Ihr Symbol ist die Ouroborosschlange, die sich selbst in den Schwanz beißt.
Abb. 1: Ouroboros-Schlange.
Sie beschreibt damit einen Kreis, in dem alles enthalten ist, eine Form, die schützt und hält, aus der es aber auch kein Entrinnen gibt. Diese bergende Ureinheit ist also ambivalent: ebenso schützend und haltend wie fressend und verschlingend. In ihr kommt auch die Doppelgesichtigkeit des Elternarchetyps zum Ausdruck. In unserem Märchen bildet Aphrodite als große Muttergöttin den negativen Aspekt des Elternarchetyps. Diese verschlingend-bösartige Seite der großen Fruchtbarkeitsgöttin zeigt sich darin, dass Aphrodite verhindern will, dass Psyche ein eigenes glückliches Leben mit einem Mann führt. Sie soll sich nicht durch ihre Individuation aus dem Kreis des Enthalten-Seins befreien, der für sie zum Gefängnis geworden ist.
Es gibt auf dieser Stufe des verschlingenden Weiblichen noch kein positives Bild vom Männlichen, sowohl Aphrodite als auch die Schwestern der Psyche vermitteln ein männerfeindliches Bild. Auch Amor ist noch kein entwickelter Mann, sondern der abhängige Sohn- Geliebte der großen Mutter, der zu tun hat, was sie will, nämlich Psyche zu beseitigen. Aphrodite verhindert damit, dass es überhaupt so etwas wie Abgrenzung und Selbstwerdung im Leben ihres Sohnes gibt.
Dass es bei Amor und Psyche darum geht, ein abgegrenztes eigenes Selbst zu entwickeln, wird schon im Namen der Psyche sichtbar, bedeutet dieser Namen doch ”Seele“ im Sinne eines individuellen, persönlichen Selbst. Der erste Schritt hin zu einer eigenen Persönlichkeit von Amor als auch Psyche ist der schöpferische Ungehorsam: Amor hält sich nicht an den Befehl der Mutter, Psyche zu schaden und Psyche widersetzt sich später dem Verbot Amors, ihn anzuschauen. Dieser doppelte Tabubruch bildet den Auftakt der Entwicklung beider zu einem je eigenständigen Individuum. Immer wieder wird diese förderliche Tabubruch in der Sprache der Symbole in den großen Erzählungen der Menschheit beschrieben. Besonders eindrucksvoll begegnet uns diese heilsame Grenzüberschreitung in der jüdisch-christlichen Erzählung vom Paradies und dem Verbot, vom Baum der Erkenntnis von Gut und Böse zu essen, dem sich Adam und Eva im Ungehorsam widersetzen. Danach folgt als Strafe die Vertreibung, d. h. die Einheitswirklichkeit des undifferenzierten Enthalten-Seins wird beendet. Die Folge ist, dass Adam und Eva Gott als getrennte Wesen gegenüberstehen, eben als Individuen. Diese Strafe ist aber gleichzeitig ein Glücksfall, weil erst die Tabuverletzung und die Vertreibung aus dem Paradies aus Adam und Eva zwei verschiedene Menschen macht, die nicht mehr nur Teil des Paradieses ohne eigenes Ich sind. Hier begegnet uns, wie in vielen Mythen, das Paradox des Tabus: Es setzt ein Verbot und lädt damit gleichzeitig ein, dieses Tabu zu brechen.
Die hier vorgelegte Interpretation des Märchens spiegelt das zu Grunde liegende paartherapeutische Konzept wieder, das sich einerseits aus dem beziehungsanalytischen Modell von Thea Bauriedl (1980) herleitet, und andererseits aus Erweiterungen und Ergänzungen dieses Modells. Soviel sei hier schon angedeutet: Für Bauriedl bildet die Arbeit an der inneren Getrenntheit der Partner das Ziel der paartherapeutischen Arbeit. Die Erweiterung besteht darin, dass neben dem Modus der Getrenntheit in Paarbeziehungen auch Zustände von Einssein und Verbundenheit Platz haben, die durch eine Durchlässigkeit der Ich-Grenzen gekennzeichnet sind. Diese Grenzoffenheit verstehen wir nicht als Rückschritt in kindliche Erlebnismuster, sondern als die Erweiterung einer reifen, erwachsenen Beziehungsregulation: Einssein und Getrenntsein, Autonomie und Verbundenheit, Nähe und Distanz – sie bilden eine bezogene Polarität, die für Paare neue Begegnungs- und Verständigungsmöglichkeiten bietet. Darüber hinaus ermöglicht dieses Modell, die psychologisch-reflexive und die intuitiv- körperbezogene Dimension in Tanz und Bewegung zu verbinden. Anders gesagt: Die weiter unten entwickelten Konzepte der Gegenpoligkeit und Verschränkung nahmen im Workshop auf Zypern durch die Verbindung von paartherapeutischer Reflexion mit tanztherapeutischer Präsenz Gestalt an. Wir hoffen, dass wir im Folgenden etwas von dieser polaren Bezogenheit und Verschränkung dieser Reflexion und Präsenz vermitteln können.
Nähe und Intimität lassen sich nicht allein durch sprachliches Reflektieren herstellen. Sie bedürfen der körperbezogenen und intuitiven Erfahrung in Beziehungsräumen, die spontane Nähe ermöglicht und – manchmal überraschend – neue Bewegungs- und Begegnungsqualitäten schafft. In den tanztherapeutischen Einheiten geschah dies vor allem durch Bewegungen, in denen der Körper ausdrückt, was die Seele bewegt. In den tanzenden Bewegungen, in denen sich die Paare den Impulsen des eigenen Körpers und denen des Gegenübers überließen, konnte sich die Wahrheit des Körpers zeigen. Dadurch entstanden auf neue Weise Momente von Nähe und Intimität, ohne die verbindende Getrenntheit, also das Selbstsein der Partner, aufzugeben.