An den Regen - Fariba Vafi - E-Book

An den Regen E-Book

Fariba Vafi

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Beschreibung

Wer sich mit zeitgenössischer iranischer Literatur befasst, sollte das Genre Kurzgeschichte nicht unbeachtet lassen. Denn in Kurzgeschichten wie auch in der Lyrik lassen sich, anders als in Romanen, kritische Entwicklungen oder Begebenheiten in der Gesellschaft darstellen, ohne viel erklären zu müssen und dadurch die Aufmerksamkeit der Zensurbehörde zu wecken. Wie auch in ihren Romanen sind die zentralen Themen der Kurzgeschichten Faribā Vafis die intimen Alltagserfahrungen von Frauen, die versuchen, unabhängig von gesellschaftlichen Beschränkungen ihren eigenen Weg zu gehen. Dank ihrer fließenden Sprache gelingt es Vafi, eine große Nähe zu den Charakteren zu erzeugen, die sich auch in der kongenialen Übersetzung uneingeschränkt vermittelt. Immer wieder behandeln ihre Geschichten Spannungen zwischen Tradition und Progressivität, zwischen Einsamkeit und dem Wunsch nach Unabhängigkeit. So zeichnet Vafi in ihren Werken die Komplexität menschlicher Beziehungen nach, die universell ist und jenseits sprachlicher und gesellschaftlicher Grenzen bei der Leserschaft Resonanz findet.

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Inhaltsverzeichnis
An den Regen
Betonsilos
Einen Fingerhut voll oder ganz doll?
Ohne Wind, ohne Ruder
Unterwegs zur Villa
Aufstieg
Tausende Bräute
Wandervogelfrei
Wölfe
Der weite Horizont
Hütte mit Meerblick

Fariba Vafi

An den Regen

Kurzgeschichten

Aus dem Persischen von  

Jutta Himmelreich

Originalausgaben entnommen:

Bi bad, bi paru, Hameh-ye ofogh, 

Dar rah-e villa

Sorousch Publications, Teheran

Diese Übersetzung aus dem Persischen wurde gefördert 

durch Litprom e.V.

CIP - Titelaufnahme in die Deutsche Nationalbibliothek

©  2021 by Sujet Verlag

An den Regen

FaribaVafi

Aus dem Persischen von Jutta Himmelreich

ISBN: 978-3-96202-620-2

Umschlaggestaltung: Ina Dautier

Layout: Michelle Ster

Druckvorstufe: Sujet Verlag, Bremen

Printed in Europe

1. Auflage 2021

www.sujet-verlag.de

An den Regen

Sie hatte sie in einem Hotel in Ankara gesehen. Rauchend hatte sie auf der Hotelterrasse gesessen. Ihr ungefärbtes Haar, ihre Art zu sitzen, mit übereinandergeschlagenen Beinen, und ihre große Einsamkeit waren ihr aufgefallen. Sie trug immer dieselbe kurzärmelige Bluse, dieselbe Jeans, und der lange Trageriemen ihrer kleinen schwarzen Handtasche schlängelte sich über den Glastisch, an dem sie saß. Sie ging jedes Mal an ihr Handy, wenn es klingelte. Hinter den Rauchschwaden ihrer Zigarette schien sie die Straße im Blick zu behalten und auf ein Zeichen zum Aufbruch zu warten.

„Ich bin Parinusch“, hatte sie gesagt und dabei gelacht. Die leichten Muskelbewegungen um ihren Mund hatten sie jung gemacht und vertraut. Negar hatte sich unaufgefordert zu ihr an den Tisch gesetzt und ihn damit für die nächsten Tage zum Stammtisch für sie beide gemacht. Bei frühlingshaftem Wetter hatten sie Tee bestellt und waren miteinander ins Gespräch gekommen. Parinusch hatte gelacht. 

„Ein schwedisches Sprichwort sagt, man muss einen kleinen Mund haben und große Ohren.“ Das war ihr eingefallen, weil sie, wie sie selbst fand, zu viel geredet hatte und über sich lachen musste. Negar war gleich aufgefallen, dass Parinusch so sprach, als würde sie kurze Geschichten erzählen. ,Ein ganzer Geschichtenvorrat für Hamid!’, hatte Negar gedacht. Hamid hatte sich zwar an ihre Geschichten gewöhnt, war aber kein guter Zuhörer. Was sie ihm erzählte, hörte er mit halbem Ohr, fast so wie die englischen Kurzgeschichten auf seinem Handy. Manchmal nahm er Negars Stimme gar nicht wahr. Seiner Ansicht nach unterschieden Parinuschs Geschichten sich kaum von denen, die Negar über Dutzende andere ihm mehr oder minder bekannte Frauen auf Lager hatte. Negar störte sich nicht mehr daran, dass Hamid die Neugier auf die Welt der Frauen abhanden gekommen war und dass er, nach Jahren, zu nichts, was sie betraf, mehr eine ernsthafte Meinung hatte. Hamids Desinteresse an Frauenfragen hatte Negar gegen alle Partnerschaften sonst noch befallende Plagen immun gemacht. Genau genommen blieben ihr die Probleme, mit denen viele andere Frauen sich herumschlagen mussten, erspart.

Parinusch zum Beispiel: Um eine Telefonnummer, einen Fetzen Papier, irgendwas aufzustöbern, langte ihr Mann bis zum Ellenbogen tief in den Sack Reis. „Wie einer von der Rauschgiftfahndung. Er wollte mich kontrollieren, hat sich aber denkbar ungeschickt angestellt. Er wusste nie, was ich vorhabe oder was ich denke. Er hätte mich fragen können, ich hätte es ihm gesagt, ganz einfach. Aber er hatte nur meine Hände und meine Füße im Blick, wollte sehen, wohin ich gehe, was ich mache.“

Wieder in Iran, erzählte Negar Hamid, was Parinusch ihr erzählt hatte, nicht in einem Stück, zwischen zwei Sätzen bisweilen, in einer Diskussion, beim Kochen oder bei einem gemeinsamen Spaziergang. Manchmal ging ihr eine Geschichte beim Erzählen kaputt. Dann zerfiel sie in zusammenhanglose Wörter, bei denen Negar sich fragte, wie Parinusch sie überhaupt zu einem sinnvollen Ganzen zusammengefügt hatte. Andere Geschichten ließen sich eins zu eins wiedergeben, direkt so, wie Negar sie gehört hatte. Wieder andere wandelte sie ab, zensierte sie. So wie die vielen Liebesgeschichten ihrer anderen Freundinnen, die vielen persönlichen Erlebnisse, die sie Hamid vorenthielt.

Parinusch hatte ihr vertraut.

„Dein Herz ist groß wie ein Giraffenherz, ich kenn dich noch gar nicht, aber du hast Elefantenohren.“

Negar hatte gelacht und sich so in Position gesetzt, dass sie Parinusch gut hören und zugleich die Straße beobachten konnte. Über den Grünstreifen hinweg, der die Hotelterrasse von der Straße trennte. Es war angenehm warm. Am frühen Abend fiel der eine oder andere Schauer. Später zwinkerten die Blinklichter der Disko auf der anderen Straßenseite Negar und Parinusch zu, und der schöne Damensalon gegenüber, durch dessen Fenster man tagsüber blonde Frauen hatte sehen können, schloss seine Pforten. Parinuschs Schwester würde später in die Türkei kommen als geplant.

„Magst du ein Stück spazierengehen?“

Negar mochte, wollte aber auch möglichst bald wieder im Hotel sein, um die Sache mit ihrer Tochter zu regeln.

Statt nach Negars Tochter zu fragen, erzählte Parinusch von ihrer eigenen, vierundzwanzig Jahre jung, mit vierundzwanzig Fragen. Ihre erste hatte sie mit vierzehn gestellt. In der Küche, im Nachthemd, in dem sie schmaler gewirkt hatte als sonst. Sie hatte den Kühlschrank aufgemacht, noch nichts herausgenommen. „Ein Kind als Flüchtling hierherzubringen ist so, als würde man’s nackt in den Schnee setzen“, hatte sie gesagt. „Man muss es schön warmhalten können.“

Sprachlos hatte Parinusch in der Küche gestanden, hatte Zeit gebraucht, die Kälte von Schnee, Kühlschrank und Leben voneinander zu trennen und dann zueinander in Beziehung zu setzen.

„Warum hast du mich hierher gebracht?“

Diese Unverblümtheit hatte Parinusch an ihre eigene Jugend erinnert. Als sie selbst so alt war wie ihre Tochter, oder kaum älter, war auch sie unverhofft mitten in einem Raum aufgetaucht und hatte hinausposaunt, was sie zu tun gedachte. Einmal hatte sie beteuert, sie hasse das Leben zu Hause, werde alles hinter sich lassen und nach Teheran ziehen, zu ihrem großen Bruder. Zu dem Bruder, der sie dazu bewog, Romain RollandsVerzauberte Seele zu lesen. Was sie dann nicht nur einmal, sondern gleich dreimal getan hatte.

Ihre Tochter war damals wieder in ihr Zimmer gegangen. Was Parinusch ihr geantwortet hatte, wusste sie nicht mehr, aber Monate später hatte die Tochter ihre nächste Frage gestellt. Diesmal ohne ihren leblosen Blick und nicht so blass wie Monate zuvor. Angeschrien hatte sie Parinusch, die pickligen Wangen rot vor Wut.

„Warum warst du so blöd, einen Mann, den du nicht geliebt hast, erst zu heiraten und dich dann von ihm zu trennen?!“

Wenige Jahre später war die Tochter eigene Wege gegangen, hatte ihre Fragen aber nicht mitgenommen.

Parinusch hatte sich an einen Psychologen gewandt. Seit ihre Tochter aus dem Haus war, fühlte sie sich wie zum zweiten Mal ins Exil verbannt. So fremd, dass ihr sogar entfallen war, woher es sie in diese kalte Stadt und in eine Wohnung verschlagen hatte, in der ihre Tochter sie am Ende hasste. Parinusch hatte Urlaub genommen, war tagelang nicht aus dem Haus gegangen und bald so schlapp und antriebslos geworden, dass sie keinen Fuß mehr vor die Tür hatte setzen wollen. Sie, die einst Jahre ihres Lebens dafür gegeben hätte, wenigstens kurz auf die Straße zu dürfen, raus ins Freie, frische Luft schnappen, fand diesen Gedanken jetzt unerträglich. Sie saß meist in ihrer düsteren Küche, schaute durchs Fenster, auf die rasch dahinziehenden Wolken.

Eines Abends bekam sie Angst vor ihrer Einsamkeit. Die sich durch nichts vertreiben ließ. Also hatte sie Schal und Mütze angezogen, war in die Metro gestiegen und in den berühmten Stadtpark gefahren.

„Ich hab mir den ältesten Baum gesucht, mit vielen Ästen. Zwischen denen hab ich meine Schachtel Zigaretten versteckt und bin schnell zurück nach Hause. Am nächsten Tag, vor lauter Lust auf die paar Kippen, bin ich wieder in den Park. Und weil ich zu Hause nichts zu essen hatte, hab ich unterwegs Brot und Joghurt gekauft. Für jede gerauchte Zigarette hab ich eine neue im Baum versteckt. So oft, bis ich wusste, ich will weiterleben.“

Ihr Schwedisch war inzwischen so gut, dass sie dem Psychologen Einzelheiten aus ihrem Leben schildern konnte. Im Wartezimmer hatte sie ein paar Zeitschriften durchgeblättert. „Mir war einfach langweilig. Ich bin aufgestanden, zu der Topfpflanze hin, die im Wartezimmer stand, hab vorsichtig die vertrockneten Blätter abgezupft und sie weggeworfen. Dann hab ich mich wieder hingesetzt und mich in die Zeitschriften vertieft.“

Der Arzt hatte ihr sehr aufmerksam zugehört und ihr dann erklärt, sie würde mehrere Sitzungen bei ihm absolvieren müssen, weil die Flucht nicht die einzige Ursache ihrer Probleme sei. Man müsse etwas weiter zurückgehen und auch ihr Leben in Iran mit einbeziehen. Dann hatte er freundlich gelächelt.

„Parinusch, die Topfpflanze im Wartezimmer gehört uns. Niemand erwartet von dir, dass du die trockenen Blätter abzupfst.“

Parinusch hatte zwar wortlos genickt, den Arzt aber wohl nicht genau verstanden, denn ein paar Monate später war sie beim Spazierengehen einem Mann begegnet.

„Er kam mir entgegen, bergab. Er war ungefähr sechzig, trug in jeder Hand eine Einkaufstüte. Ich musste lachen. Er sah lustig aus, eine Tüte links, eine rechts, und sein Mantel war falsch geknöpft. Er hat mich angelächelt. Ich hab das so ausgelegt: ,Bitte knöpfen Sie mir den Mantel richtig zu. Sehen Sie nicht, dass ich beide Hände voll habe?’ Ich bin ihm entgegengegangen, bin vor ihm stehengeblieben und hab den Mantel aufgeknöpft, von oben bis unten. Sechs oder sieben Knöpfe, genau weiß ich’s nicht mehr. Als ich sie richtig knöpfen wollte, hat der Mann plötzlich losgebrüllt. Ich bin erschrocken, kann ich dir sagen, aber ich hab ihm den Mantel trotzdem schnell korrekt geknöpft, hab die Schulterstücke zurechtgezogen und mich entschuldigt. Leider zu spät, es standen schon ein paar Leute um uns rum. Denen musste ich erklären, was passiert war. Der Schwede hat sich zum Glück beruhigt und hat ,Tut mir leid.’ gesagt.“

Hamid hatte den Kopf geschüttelt. 

„Wie kann jemandem, der schon seit Jahren dort lebt, solch ein Fehler unterlaufen?“

Alle anderen Abenteuer von Parinusch behielt Negar für sich. Sie ließ Hamid weiter über das Gespür für kulturelle Befindlichkeiten dozieren und spielte die Fortsetzung der Geschichte im Stillen ohne ihn durch.

„Irgendwann war ich bei Leuten eingeladen, und plötzlich fiel mir mein Therapeut ein, der mir ja in jeder Sitzung rät, nicht allein zu bleiben, mir einen Freund zu suchen. Also hab ich mich neben einen Schweden gesetzt und hab ihn angesprochen. Aber als unser Gespräch in Gang kam, hat’s mich auf einmal gejuckt, im Nacken, an den Händen, an Armen und Beinen, überall dieser Juckreiz, am ganzen Körper. Erst hab ich mir nichts anmerken lassen. Der Schwede hatte sich warm geredet, mochte gar nicht mehr aufhören. Irgendwann hab ich’s nicht mehr ausgehalten und hab mir fest an die Kehle gefasst. Sein Gesicht hättest du sehen sollen.“

Wie sollte sie Hamid beschreiben, was für ein Mensch Parinusch war? Ganz anders als alle anderen Frauen aus Negars Bekanntenkreis. Schon als sie sie zum ersten Mal gesehen hatte, war Parinusch ihr wie ein Vogel vorgekommen. Sie flatterte auf einen Ast, zwitscherte ein paar Takte, hüpfte dann auf den nächsten Ast und visierte den übernächsten schon an. Mit ihren fünfzig Jahren war sie rastlos, ständig aktiv. Während der zwei, drei Tage im Hotel hatte sie sich mehrfach an den Geschäftsführer gewandt. Einmal war sie in der Metro mit einem Schnauzbartträger aneinandergeraten. Die enge Beziehung einer Ehe hatte ihr keine Ruhe verschafft. Sie war zu einer gefährlichen Verabredung gegangen. Anstelle einer Freundin, die an dem Tag verhindert war. Nie hätte sie gedacht, dass diese Verabredung auffliegen und man sie für Jahre in noch engere vier Wände pferchen würde, deren Tür sich nicht öffnen oder schließen ließ, wie es ihr gefiel.

Hamid horchte auf. Er saß am Steuer, Negar erzählte von Parinuschs Disput mit einem türkischen Taxifahrer. Sie hatten einander angeschrien, der Fahrer hatte schließlich eingelenkt.

„Und immer ging’s um Nebensächliches.“

„Das sind keine Nebensächlichkeiten“, fand Hamid.

Negar lachte: „Das hat Parinusch auch gesagt.“

„Ich versteh gar nicht, wie du solche Sachen unwichtig finden kannst. Ich lass mich auch nicht gern für dumm verkaufen.“

Dann fragte er: „Hast du rausgefunden, warum sie sie von den anderen getrennt haben?“

Negar wusste es nicht. Zu gefesselt von Parinuschs Geschichten, hatte sie nicht danach gefragt. Parinusch erzählte so, als seien ihr Dinge erst gestern passiert, nicht schon vor vierundzwanzig Jahren.

„Die Einzelzelle war furchtbar eng und dunkel. Ich hab mich so allein gefühlt, dass ich fast wahnsinnig geworden bin. Irgendwann hab ich angefangen zu lesen. Die verzauberte Seele. Auswendig. An viele Textstellen konnte ich mich noch erinnern. Danach hab ich mich auf andere Bücher konzentriert, Bücher, die mein Mann zu Hause hatte, und die ich gelesen habe, ohne dass es ihm auffiel. Damals war ich sechsundzwanzig, ganz klar im Kopf, und ich konnte mir Sachen gut merken. Ich dachte, wenn ich Revue passieren lasse, was ich erlebt habe, und mir jedes gelesene Buch in Erinnerung rufe, eins nach dem andern, dann ertrag ich die Einzelhaft.“

Hamid seufzte: „Klug gedacht.“

Und weil die Einsamkeit so lange anhielt, merkte sie eines Tages: Sie kann nicht mehr lesen. Weder Die verzauberte Seele noch andere Bücher. Und sie hatte auch andere Sachen vergessen. Das Gesicht ihrer Mutter, das ihres Vaters, und wie ihre Brüder aussahen, wusste sie auch nicht mehr.

„In meinem Kopf war ein weißes Blatt, nein, sogar noch weniger, er war leer, leergefegt. Kein Gedanke mehr drin. Alles war weg. Ich war so gut wie tot und sollte das auf diese Weise feststellen. In dieser stockfinsteren Stille hatte ich plötzlich das Gefühl, ein Wurm frisst sich durch mein Hirn, ganz langsam, Schicht für Schicht, wie durch einen Apfel. Ich konnte ihn sogar kauen hören. Ich wollte schreien, um ihn zu übertönen. Und dann dachte ich, ich sei taub geworden. Ich hab mit der Faust gegen die Wand geschlagen, hab das leise Geräusch gedämpft gehört, wie in einem Vakuum. Ich hab meinen Kopf in beide Hände genommen, hab mich in mich verkrochen und mich am Boden gekrümmt. Jetzt war ich ganz sicher: Ich hatte durchgedreht. Ich würde nie wieder normal werden. Noch nie in meinem Leben hatte ich so riesige Angst. Und plötzlich sind meine Ohren aufgegangen. Ich hab einen Lautsprecher gehört. Jemand hat von Hasrat Zeynab erzählt, davon, wie heldenhaft Imam Hosseins Schwester seinen Sohn aus der Schlacht bei Kerbala rettet, in der er selbst fällt. So traurig, dass es mir das Herz zerrissen hat. Ich hab Tränen vergossen, für sie und für mich.“

Negar ließ Hamid auch wissen, dass Parinuschs Tochter nach fünf Jahren plötzlich wieder vor der Tür stand.

„Nach all den Jahren wusste ich nicht mal mehr, ob ich mich freue, sie wiederzusehen.“

Die Tochter hatte gesagt, ihr Freund wartet unten und sie muss gleich wieder gehen. Aber vorher wollte sie ihre Mutter noch was fragen.

Parinusch hatte gelacht.

„Nichts hat mir mehr Angst gemacht als die Fragen meiner Tochter. Das Herz ist mir fast aus der Brust gesprungen. Ich bekam schweißnasse Hände. Meine Tochter hat sich ein Blatt Salat aus der Schüssel gezupft und mich dabei ganz gelassen gefragt: „Warum hast du mich im Gefängnis zur Welt gebracht, Mama?“

Hamid nickte, grüblerisch.

„Ist doch normal, dass ein Kind sowas wissen will.“

Parinusch hat ihre Tochter gebeten, noch zu bleiben, weil sie ihr erklären wollte, warum. Und hat ihr zum ersten Mal alles erzählt. Als sie festgenommen wurde, hatte sie noch gedacht: ,Vielleicht gar nicht so schlecht, dann bin ich meine Sorgen und Probleme für eine Weile los.’

„Ich war kaum in der Zelle, da kam’s mir hoch. Ich dachte, es liegt vielleicht am Knastgeruch. Der war mir sofort in die Nase gestiegen und hat mir auch schlaflose Nächte beschert. Irgendwann hab ich jemanden sagen hören: ,Du bist schwanger.’ Ich bin auf der Stelle umgekippt, wollte das anfangs nicht wahrhaben. Aber dann bin ich dank dir am Leben geblieben.“

Ihre Tochter hatte noch mehr hören wollen. Parinusch hatte ihr von allen Menschen erzählt, denen sie begegnet war, vor allem von Rasieh, einem jungen Mädchen, klein, burschikos, ernst. Rasieh konnte aus Brotteig leckere Sachen backen. Sie kannte erstaunlich viele Gedichte auswendig und dichtete selbst. Und sie hatte eine schlechte Angewohnheit. Sie ließ ihre Fingergelenke knacksen.

Hamid bat Negar, ihm die Fotos ihrer Türkeireise zu zeigen. Den Wunsch erfüllte sie ihm gern. Für ihren Privatkram interessierte er sich sonst nie. Unter den vielen Bildern in ihrer Kamera suchten sie nach Fotos von Parinusch und schauten sich vor allem Portraits von ihr an. Auf den meisten Bildern lächelte sie, aber ihr Blick verriet ihre Angst. Fotos von Negar hatte Hamid nie so eindringlich betrachtet, wie er Parinusch studierte. Grund zu Eifersucht gab ihr das nicht, es regte ihre Fantasie an. Sie malte sich aus, wie sie Parinusch zu sich nach Hause einladen und mit Hamid bekanntmachen würde und dachte: ,Ihre Geschichten bringt sie sicher auch mit. Die begleiteten sie ja auf Schritt und Tritt.’ Negars einzige Sorge war, dass sie in Vergessenheit geraten würden, wenn Parinusch eines Tages starb. 

„Es wäre schön, wenn ich sie aufschreiben könnte.“

„Viele sind gegangen und haben ihre Geschichten mitgenommen“, hatte Parinusch gesagt. „Die geblieben sind, haben sich verändert. Die Welt hat sich verändert.“ Und dass sie nicht mehr davon träumte, sie zu ändern. Hamid hatte laut gelacht.

„Woran hast du das denn erkannt?“

Negar sagte, in der Hotellobby hatte Parinusch die Arme gereckt, gegähnt und festgestellt:

„Gut, dass die Welt nicht auf uns gehört hat, sonst hätten wir sie kaputt gemacht. Noch kaputter, als sie eh schon ist.“

Wochen später waren Parinusch und die Erinnerung an sie verblasst. Trotzdem fielen Negar bisweilen Dinge ein, die Hamid über Parinusch noch nicht wusste. Es hatte sich keine Gelegenheit ergeben, sie ihm zu erzählen. Parinuschs Schwester hatte ihre Ankunft für den späten Abend angekündigt. Auch Negar musste ja zurück ins Hotel. Sie waren durch Ankara spaziert. In den letzten Minuten ihrer kurzen Freundschaft.

Es hatte aufgehört zu regnen. Der Boden war nass. Die Sonne schien von allen Seiten, bunt ringsum. Aus Cafés war Musik zu hören. Negar fühlte sich wohl. Erst jetzt erkannte sie, in welch schwerer Atmosphäre sie in letzter Zeit geatmet hatte. In einem von Buchsbäumen gesäumten Restaurant mit zitronengelben Tischdecken machten sie Station. Frauen und Männer, die sich hier trafen, fielen einander um die Hälse. Negar und Parinusch lächelten über solch ausgelassene Freude. Parinusch erzählte, am Tag ihrer Haftentlassung war ihr Bruder gekommen, sie abzuholen und war erschrocken als er sie sah. Er hatte die Stirn gerunzelt. 

„Ich hab gelacht und gefragt: ,Hab ich mich wirklich so sehr verändert?’“      

Ihr Bruder hatte sie in den Arm genommen, hatte sie aufs Haar geküsst und gesagt, sie müsse sich jetzt um nichts mehr Gedanken machen. „Du hast alles richtig gemacht.“ Sie hatte sich geschämt vor ihrem Bruder.

„Schade, dass mein älterer Bruder damals schon tot war und mich nicht abholen konnte. Ich wünschte, er hätte mich in den Arm genommen und hätte, die Stirn in Falten, ,Lass gut sein!’ gesagt. ,Hör auf zu grübeln. Du hast alles richtig gemacht.’“