An der Liebe führt kein Weg vorbei - Amelie Winter - E-Book

An der Liebe führt kein Weg vorbei E-Book

Amelie Winter

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Beschreibung

Mitreißende Lovestory - romantisch und emotional! Leonie hat zwei Leben: eins vor dem Unfall und eins danach. Mit einem steifen Knie und ohne jede Erinnerung an ihre ersten zwanzig Lebensjahre, fällt es ihr schwer, sich zu verlieben. Ein Blind Date jagt das nächste, bis ihr Vater aus heiterem Himmel beschließt, sie soll heiraten. Und zwar nicht irgendjemanden, sondern Alexander Keller, der dafür bekannt ist, von den Frauen schnell die Nase voll zu haben. Unter der Bedingung, dass diese Ehe nur auf dem Papier besteht, lässt sich Leonie auf die Vermählung ein. Doch je mehr Zeit sie mit ihrem neuen Ehemann verbringt, desto stärker beschleicht sie das Gefühl, keinen völlig Fremden geheiratet zu haben ... Bisher erschienen: Selbst Amor schießt mal daneben Projekt Cinderella - Bloß nicht verlieben! Verlobt, verliebt, verpeilt

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Amelie Winter

An der Liebe führt kein Weg vorbei

Liebesroman

BookRix GmbH & Co. KG80331 München

1. 

Leonie schlug die Zeitschrift auf, die sie auf dem Weg ins Büro an einem Kiosk ergattert hatte. Alexander Keller: neu verliebt – stand auf dem Cover. Auf Seite fünfzehn konnte sie diese hochbrisante Titelstory lesen. Seufzend blätterte sie durch Klatsch und Tratsch von D-Promis und solchen, die es noch werden wollten, bis zur gewünschten Seite, wo der baldige Verleger von Wohnen mit Stil mit seiner neuen Freundin abgebildet war.

Hübsch anzusehen war er schon. Leonie mochte die Grübchen, die sich um seinen Mund bildeten, wenn er frech in die Kamera grinste. Dazu die grünen Augen, der rebellische Lockenkopf und der perfekt gestutzte Dreitagebart.

Auf dem Bild schmatzte ihm eine Frau, deren Gesicht mit Make-up zugekleistert war, einen Kuss auf die Wange. Verärgert klappte Leonie die Zeitung zu und stopfte sie in die Schublade ihres Schreibtisches, wo sich noch weitere Ausgabenleichen von Immer aktuell befanden.

Den Artikel musste sie erst gar nicht lesen, die Headline allein hatte ihr genug verraten: Alexander Keller hatte wieder eine neue Freundin. Immer aktuell veröffentlichte jeden Monat ein Bild von ihm und seiner ›Neuen‹. Warum interessierte sie sich überhaupt für diesen dämlichen Kerl, der ständig die Titelseiten von Klatschblättern schmückte?

So genau wusste sie das selbst nicht.

Juliane klopfte an die angelehnte Tür.

»Darf ich reinkommen?«, frage sie vorsichtig. »Oder bist du damit beschäftigt, die Konkurrenz auszuspionieren?«

»Ich spioniere ihn doch nicht aus«, brummte Leonie beleidigt. Sie rollte energisch auf dem Schreibtischsessel ein Stück zurück und drehte dann eine Runde. Die neuen Büroräume waren toll: große Fenster, viel Platz – und ein Aufzug, der hoffentlich nie kaputtgehen würde. Zudem lag das Gebäude gleich neben der Druckerei Neuhold, dem Unternehmen ihres Vaters.

»Und er ist auch nicht die Konkurrenz. Wir ziehen unser eigenes Ding durch«, stellte Leonie klar, als ihr Stuhl wieder zum Stehen kam. Mit beiden Händen hielt sie sich am Schreibtisch fest.

Seit drei Jahren gab sie die Zeitschrift Wohnträume heraus. Mit dem Magazin der Kellers, das zu den Top 20 der auflagenstärksten Zeitschriften Österreichs gehörte, konnte sie ohnehin nicht mithalten. Ihr Magazin steckte noch in den Kinderschuhen.

»Und warum hortest du dann diese schäbigen Klatschblätter?«, hakte Juliane breit grinsend nach. »Interessiert dich etwa sein Liebesleben?«

Juliane hielt nichts von Beziehungen. Sie war mal verheiratet gewesen – und zwar ein Jahr, fünf Monate und drei Tage lang. Seitdem hatte sie genug von den Männern. Ihren Ex-Mann hatte sie etliche Male verflucht. Eine Voodoo-Puppe, auf dessen Brustkorb der Name Michael prangte, verwendete sie zu Hause als Nadelkissen. Trotzdem wusste Leonie, dass ihre Freundin ein Herz aus Gold besaß und keiner Fliege etwas zuleide tun konnte – auch wenn ihr Äußeres andere einzuschüchtern vermochte: pechschwarzes Haar, violetter Lippenstift und dunkel geschminkte Augen waren ihr Markenzeichen.

»Du weißt doch, Alexander ist ein Freund der Familie! Das ist alles«, nuschelte Leonie verlegen. Ihr Vater und Alexanders Mutter kannten sich seit über dreißig Jahren. In der Druckerei Neuhold wurde Wohnen mit Stil seit der ersten Ausgabe gedruckt.

»Ein Freund, mit dem du noch nie ein richtiges Gespräch geführt hast«, merkte Juliane kritisch an.

»Das ist sicher nicht meine Schuld!«

Leonie verschränkte trotzig die Arme und dachte angestrengt nach. Es war nicht so, dass sie wirklich Wert darauf legte, sich mit ihm zu unterhalten. Aber wenn sie es dann doch mal versucht hatte, war er nie darauf eingegangen.

Von Anfang an hatte Alexander sich seltsam verhalten. Er konnte ihr nicht in die Augen schauen, und Leonie hatte immer wissen wollen, warum.

»Er ist ein Idiot«, murmelte sie. Gedankenverloren öffnete sie die Schublade und holte die Zeitschrift erneut hervor.

»Findest du die Frau hübsch?«, fragte Leonie ihre Freundin und deutete auf die Unbekannte, deren Lippen an Alexanders Wange klebten. Die Frau war mit Sicherheit einige Jahre jünger als er, darüber täuschte auch die viele Schminke nicht hinweg.

»Kann ich unter all dem Make-up schwer erkennen.« Juliane trat nah an den Schreibtisch heran. Wie die Frau wohl in echt aussah? Kein Bild schaffte es in eine solche Zeitschrift, ohne nachbearbeitet zu werden. Auch Alexander Keller war mit Sicherheit nicht ganz so attraktiv wie auf dem Foto. Oder vielleicht doch? Sie hatten sich in den letzten drei Jahren kaum gesehen. Auch vorher hatten sie nicht wirklich viel miteinander zu tun gehabt.

»Ihm scheinen solche Frauen zu gefallen«, murmelte Leonie. Wie konnte jemand, der für ein Magazin arbeitete, das über neue Designs informierte und Trends vorgab, bei seiner Partnerwahl so viel Geschmacklosigkeit an den Tag legen? Aber wenn man Immer aktuell vertraute, dann vergnügte er sich lieber mit den Frauen, als sich im Büro aufzuhalten. Seine Mutter hatte den Verlag aufgebaut und wollte die Leitung nun ihrem Sohn übertragen. Ob das gut ging? Alexander Keller galt als verantwortungslos und draufgängerisch. Das waren nicht die Eigenschaften eines erfolgreichen Verlagschefs.

»Bist du etwa eifersüchtig?« Juliane zog neugierig die Augenbrauen hoch.

»Quatsch! Ich doch nicht ...«

»Du solltest nicht ständig im Büro hocken. Geh raus und hab Spaß! Jeder sollte sich zumindest einmal im Leben verlieben. Ich hab’s schon hinter mir.« Sie lächelte breit und offenbarte dabei die Lücke zwischen ihren mittleren Schneidezähnen.

»Jetzt klingst du schon wie meine Eltern.« Leonie guckte grimmig. Sich verlieben? So wie es andere Leute taten? Normale Leute? In ihrem Leben verlief nichts normal. Sie war nicht normal. Vor neun Jahren hatte sie sich bei einem schweren Autounfall am Kopf verletzt und ihr Gedächtnis verloren. Seitdem war sie damit beschäftigt, ihr kaputtes Leben zusammenzuflicken – und ihr kaputtes Knie. Wie viele Operationen hatte sie bereits gehabt? Irgendwann hatte sie aufgehört, zu zählen.

Liebe war ein Luxus. Nach all den Jahren fühlte sie sich immer noch beeinträchtigt, unvollständig, als wäre sie nach wie vor auf der Suche nach ihrem wirklichen Selbst. Schon ihr Vorname fühlte sich falsch an! Leonie ... Das klang doch nach einem kleinen Mädchen, das beschützt werden musste! Ihren Spitznamen Leni fand sie noch viel schlimmer. Der Name passte einfach nicht zu ihr. Wie sollte sich Leonie in jemanden verlieben, wenn sie nicht einmal wusste, wer sie eigentlich war?

»Wie verlief denn dein Blind Date?«, wollte Juliane plötzlich wissen. Leonies Antwort war ein müdes Augenrollen. Ihre Eltern waren ständig auf der Suche nach einem passenden Lebenspartner für die Tochter. Das nervte.

»Hatte der Kerl etwa wieder eine Pollenallergie?« Das gackernde Lachen ihrer Freundin erfüllte den Raum. 

An ihr vorletztes Date erinnerte sich Leonie noch ganz genau: Das Hemd bis oben hin zugeknöpft – wie hatte er überhaupt noch Luft kriegen können? –, den karierten Pulli hatte sicher Mama ausgesucht; alle paar Sekunden hatte er sich laut schnäuzen müssen. Eine ordentliche Unterhaltung zu führen, war unmöglich gewesen. Für Gestaltung und Design hatte er sich zudem gar nicht begeistern können. Wie war ihr Vater nur auf die Idee gekommen, sie würden ein nettes Paar abgeben? Das letztes Blind Date war im Vergleich dazu ganz gut verlaufen.

»Er ist der Sohn einer Freundin meiner Mutter. Oder so ähnlich«, sagte Leonie. Das Date hatte Spaß gemacht.

»Und? Erzähl schon!« Juliane guckte ihr gespannt in die Augen.

»Es war ... nett.«

»Nur nett? Wie langweilig.«

»Er arbeitet für eine Tageszeitung. Wir haben uns nett unterhalten.« Zwar hatte er etwas zu laut und zu häufig gelacht, aber Leonie hatte das irgendwie niedlich gefunden. Schließlich war er nervös gewesen – ihretwegen.

»Du brauchst mehr Leidenschaft im Leben, Leni!«, sagte Juliane bestimmt. »Vielleicht solltest du es mit diesem Alexander Keller versuchen. Er bringt zumindest eine Menge Erfahrung mit.« Juliane grinste dreckig und deutete auf die letzte Ausgabe von Immer Aktuell, die Leonie daraufhin ein weiteres Mal in die Schublade verbannte.

»Erfahrung ...?«, hakte sie nach. »Was meinst du denn damit?«

»Was werde ich damit wohl meinen, hm? Eine heiße Affäre täte dir gut! Und dieser Keller ist genau der Richtige dafür!« Leonie rutschte unruhig auf dem Bürostuhl hin und her. Juliane hatte einen schrägen Humor.

»Das kannst du nicht ernst meinen ... So tief will ich nicht sinken. Ich habe nicht vor, die ›Neue‹ zu sein, die demnächst die Titelseite dieses Klatschblattes ziert. Außerdem steht er auf ganz andere Frauen.« Ob er denen in die Augen sah? Leonie schminkte sich kaum und kleidete sich stilvoller als seine Affären, die bemüht schienen, ihre Röcke möglichst kurz zu tragen.

»Vielleicht schüchterst du ihn ein?«, meinte Juliane ernst.

»Warum denn?« In den letzten Jahren hatte jeder sie eingeschüchtert – und nicht umgekehrt.

Es gruselte ihr allein bei der Vorstellung, Immer aktuell würde in ihrer Vergangenheit wühlen. Nach schwerem Unfall traumatisiert – nun findet sie zum ersten Mal Liebe und Geborgenheit in den Armen von Alexander Keller.

Leonie schüttelte es geradezu. Juliane schien ihre Gedanken lesen zu können, denn sie lachte lauthals, bevor sie ernst wurde.

»Du musst endlich diesen Unfall vergessen«, sagte sie. »Dein Leben leben! Wann denn, wenn nicht jetzt?«

»Vergessen? Du meinst wirklich, ich sollte vergessen?«, erwiderte Leonie zynisch. Juliane zog ein schuldbewusstes Gesicht.

»Tut mir leid. Ich hab’s nicht so gemeint.«

Leonie presste die Lippen zusammen und guckte böse.

»Du hast gut reden. Deine Erinnerung ist schließlich zurückgekehrt«, sagte sie. Juliane hatte sie damals im Krankenhaus kennengelernt. Sie waren im selben Zimmer gelegen. Beide hatten nach einer Kopfverletzung an Amnesie gelitten. Leonie hatte sich Juliane weit näher gefühlt als ihrer eigenen Familie. Sie hatte weder ihre Mutter noch ihren Vater erkannt. Daran hatte sich bis heute nichts geändert. Die Erinnerung an ihre ersten zwanzig Lebensjahre war wie ausgelöscht. Als hätte es diese Jahre nie gegeben.

Zu Hause hortete Leonie Fotoalben. Sie hatte alle Bilder nummeriert und sich die Geschichte dazu erzählen lassen. Die aufgeschriebenen Texte füllten ganze Bücher. Sie gaben ihr die Illusion einer Vergangenheit, die für immer verloren war. Die Ärzte glaubten schon lange nicht mehr daran, dass ihre Erinnerung je zurückkehren würde.

Von einer ersten Liebe hatte ihr niemand erzählt. Wie’s aussah, hatte sie noch nie einen Mann geküsst. Sollte ihr das peinlich sein? Sie wurde bald dreißig …

Eigentlich ließ es sich auch ohne Vergangenheit erstaunlich gut leben. Leonie wollte nicht jammern, das war nicht ihre Art. Sie hatte hart daran gearbeitet, jedem zu beweisen, dass sie alleine zurechtkam und auf eigenen Beinen stehen konnte – selbst wenn ihr eins davon ständig Probleme bereitete.

Ihr Handy klingelte. Es war ihr Vater. Oder viel eher der Mann, der ihr vor neun Jahren erzählt hatte, dass er ihr Vater war.

»Hi, Paps, was gibt’s?«, fragte Leonie. Ihre Eltern schien der Gedächtnisverlust weit weniger zu kümmern als das kaputte Knie. Ihre Mutter weinte sich deswegen regelmäßig die Augen aus. Leonie hatte sich von Anfang an vorgenommen, fröhlich zu sein. Dann waren es ihre Eltern nämlich auch.

»Die neue Ausgabe wird gerade gedruckt. Bernd meint, du solltest rüberkommen und sie dir ansehen.«

»Super, danke! Mach ich sofort!« Leonie wollte auflegen, als er hinzufügte: »Komm auch kurz in mein Büro. Ich muss mit dir sprechen.«

»Okay«, erwiderte sie zögerlich.

Wollte er ihr noch mal eine Standpauke halten? Ihre Eltern löcherten sie nach jedem Blind Date mit Fragen. Als sie ihrem Vater gestern am Telefon verklickert hatte, dass sie nicht beabsichtigte, ihr Date wiederzusehen, war er sehr enttäuscht gewesen – und wütend.

Missmutig stand Leonie auf, umrundete ihren neuen Schreibtisch und machte sich auf den Weg zur Druckerei.

»Bin gleich wieder da!«, rief sie Juliane bemüht enthusiastisch zu und verließ dann das Büro. In dem winzigen Verlag arbeiteten nur sieben Leute. Die alten Büroräume hatten sich in einem dunklen Keller am anderen Ende Wiens befunden. Dem Erfolg ihrer Zeitschrift war es zu verdanken, dass sie sich nun schickere Räume leisten konnten.

Während Leonie zum Kaffeeautomaten ging, stürmte Martin auf sie zu. Er war der Experte für neue Wohntrends und hatte sich frisch von der Uni für den Job beworben.

»Sie haben den Termin für die Einrichtungsmesse verschoben«, teilte er ihr mit. Leonie hatte zur Messe fahren und darüber schreiben wollen. Sie guckte auf die Unterlagen, die er ihr zeigte. Der neue Termin fand Ende September statt, in zwei Monaten. Zur gleichen Zeit wurde Leonie am Knie operiert – schon wieder. Es war auch nicht das erste Mal, dass sie wegen ihres Knies an Veranstaltungen nicht teilnehmen konnte.

»Fahr du bitte hin«, sagte sie zu Martin, der daraufhin eifrig nickte und sich wieder an die Arbeit machte.

Leonie holte einen Becher mit heißer Schokolade aus dem Automaten und fuhr mit dem Aufzug nach unten. Etwas Süßes half ihr beim Denken. Gleich würde sie ihrem Vater gegenüberstehen. Wie sollte sie ihm klarmachen, dass sie von Blind Dates die Nase gehörig voll hatte? Ihr Verlag war ihr ohnehin wichtiger als alles andere. Beruflich erfolgreich zu sein, gab ihr Sicherheit. Nach dem Unfall hatte sie sich wie ein kleines Kind gefühlt, das die Welt nicht verstand und darauf vertrauen musste, dass andere sie ihm erklärten.

Für eine Beziehung hatte sie gar keine Zeit. Was dachten sich ihre Eltern nur?

Leonie nippte gedankenverloren an der heißen Schokolade, als der Aufzug hielt. Seit einigen Tagen schmerzte ihr Knie höllisch. Kurz hob sie ihr rechtes Bein an und versuchte, es abzubiegen. Sie biss sich auf die Unterlippe, als ein bestialischer Schmerz ihr Knie durchfuhr.

Eilig verließ sie das Gebäude, überquerte die Straße und stand alsbald vor der Druckerei. An die Schmerzen in ihrem Knie hatte sie sich gewöhnt, sodass sie gar nicht daran dachte, langsamer zu laufen. An ein Leben ohne Schmerzen konnte sie sich sowieso nicht erinnern. Sie gehörten zu ihr.

Resigniert betrat sie die Halle der Druckerei und ging geradewegs auf ihren Onkel Benny zu, der hier schon seit dreißig Jahren an den Druckmaschinen arbeitete.

»Wenn das nicht meine Lieblingsnichte ist!«, begrüßte er sie fröhlich, während er die Druckplatte über den Zylinder spannte. Es war laut in der Halle.

»Ich bin deine einzige Nichte!«, gab Leonie lächelnd zurück.

Um die Druckplatte zu schonen, wurde die Farbe zuerst auf einen Gummituchzylinder übertragen und dann erst auf den Druckträger. Leonie hatte Benny schon oft bei der Arbeit zugesehen. Als Druckoperator überwachte er den gesamten Prozess. Hier durften keine Fehler passieren. Farben regulieren, Maschinen einstellen – Benny tat seit Jahren nichts anderes.

Er hatte nie geheiratet. Zwar hatte es mal eine Frau gegeben, die ihm gefallen hatte, aber daraus war nichts geworden. Also war Benny ledig geblieben. Diese oder keine – Benny war kein wankelmütiger Charakter. Die Entscheidungen, die er traf, waren immer absolut.

Leonie fand das bewundernswert, ihr Vater fand es dumm. Ihr war bewusst, dass er fürchtete, sie würde unverheiratet bleiben. Seine Vorstellung eines erfolgreichen Lebens beinhaltete die Gründung einer Familie. Außerdem wünschte er sich Enkel. Ihre Eltern hatten ursprünglich viele Kinder haben wollen, aber Leonies Mutter war früh an Gebärmutterhalskrebs erkrankt, was den gemeinsamen Wunsch nach einer großen Familie zunichtegemacht hatte.

Ein Lehrling rollte eine riesige Papierrolle heran, die mindestens eine Tonne wog. Alle zwanzig Minuten wurden neue Rollen zum Rollenwechsler gebracht. Die millionenteuren Druckmaschinen standen niemals still, auch nachts nicht.

»Ich hab gehört, das Blind Date lief nicht so toll?«, sagte Benny. Er zwinkerte ihr zu.

»Beschwert sich mein Vater jetzt sogar bei dir darüber, dass mir kein Mann gefällt?«, erwiderte sie pampig.

»Er macht sich nur Sorgen, Leni. Das ist alles.«

»Weiß ich doch.«

Ob er sich auch solche Sorgen machen würde, hätte sie ihr Gedächtnis nicht verloren und wäre ihr Knie nicht demoliert?

Sie klopfte ihrem Onkel liebevoll auf den Rücken und ging zur Steuerkabine, die sich am Ende der Halle befand, wo die Seitenreihenfolge und die Farbgebung der Druckerzeugnisse kontrolliert wurden. Ständig musste korrigiert und nachgebessert werden.

Sie erreichte den Falzapparat und warf einen raschen Blick auf die vielen Zeitschriften, die auf dem Förderband vorbeifuhren.

Geschickt schnappte sie sich die neue Ausgabe von Wohnträume und blätterte zufrieden durch die Seiten.

Alles sah perfekt aus.

 

2. 

Alexander Keller stand auf der grünen Golfmatte, die er günstig bei Amazon ergattert hatte, und versuchte den Golfball ins Loch zu befördern. Die Beine hatte er leicht gespreizt, Hüften und Schultern hielt er ruhig. Der wichtigste Schlag beim Golf war der Putt: Jener Schlag, bei dem der Ball übers Grün rollte – und nicht durch die Luft flog.

Seine Hände befanden sich auf der Höhe des linken Oberschenkels, vor dem Ball. So sollte es sein. Ein Mann mit streng gescheiteltem Haar und einem Jungengesicht hatte ihm das in einem YouTube-Video erklärt. Alex ließ die Arme entspannt nach unten hängen. Der Schwung sollte aus den Schultern kommen und nicht aus den Handgelenken. Er führte eine Pendelbewegung mit seinen Armen aus – und traf den Ball.

Hatte er zu viel Kraft angewendet? Oder zu wenig?

»So puttet man doch nicht«, kommentierte seine Zwillingsschwester Laura altklug, als der weiße Ball gemächlich Richtung Loch rollte – und daran vorbei. Sie saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem bordeauxfarbenen Sofa und beäugte ihn kritisch. Die bunte Schlupfbluse passte hervorragend zu den Jeans und den Kunstlederstiefeletten. Laura sah stets perfekt aus. Im Gegensatz zu ihm gelang es ihr auch mühelos, das wirre Haar zu bändigen, das ihr im Moment glatt um die Schultern hing.

»Seit wann bist du Expertin für Ballspiele?«, gab Alex grinsend zurück. Laura hasste Sport. Ihr Freund Daniel spielte ab und an Golf, auf echtem Grün und nicht auf einem Kunstrasen wie Alex. Aber auch er war kein Profi.

»Seit wann bist du einer?« Sie runzelte die Stirn und warf einen missbilligenden Blick auf sein Outfit.

»Sehe ich etwa nicht gut aus?«, meinte er frech, da es ein Leichtes für ihn war, ihre Gedanken zu lesen. Zum babyblauen Poloshirt trug er eine beige Golfhose.

»Mutter wird ausrasten, wenn sie sieht, womit du deine Zeit verplemperst«, sagte Laura seufzend.

Alex war gestern ins Chefbüro eingezogen. Hier war genügend Platz, um seine neu erworbene Golfmatte auszuprobieren. Es wäre auch noch Platz für mindestens fünf Flipperautomaten. Leider war er kein Sammler. Das hieß, er sammelte schon. Aber keine Spielautomaten, sondern Zeitschriften. Zu Hause hortete er eine Unmenge davon.

»Willst du Mutter absichtlich provozieren?«

Da der Ball nicht im Loch gelandet war, übte Alex nun den Abschlag, den er ohnehin nur im Freien würde ausführen können. Mit dem Eisen fuchtelte er in der Luft herum, bis ein Stechen im Rücken ihn dazu zwang, damit aufzuhören. Er war wirklich ein miserabler Golfspieler.

»Wie kommst du darauf, dass ich sie provozieren will?«, meinte Alex gelangweilt, während er sich nach unten beugte, den Ball vom Boden auflas und erneut sein Glück versuchte. 

»Wie würdest du dein Verhalten denn sonst beschreiben?«

»Ich brauche ein neues Hobby, das ist alles.«

»Langweilen dich deine Liebesabenteuer endlich? Hat auch lang genug gedauert.« Alex grinste frech als Antwort. »Die Frauen, mit denen du fotografiert wirst, werden immer jünger. Du solltest aufpassen. Ich seh schon die Schlagzeile: Ist Alexander Kellers neue Freundin minderjährig? – einen solchen Skandal können wir nicht brauchen.« Sie klang besorgt. »Mutter wird toben, wenn sie dein Gesicht wieder auf der Titelseite dieses Klatschblattes sieht.«

»Daran müsste sie sich mittlerweile gewöhnt haben«, gab Alex salopp zurück.

»Warum interessiert sich diese Zeitung überhaupt für dich? Bist du ein Star?«

Erneut holte er zum Schlag aus und atmete tief ein, bevor er den Ball nur sanft anstupste. Auch diesmal gelang es ihm nicht, ihn einzulochen. Das war verflixt schwer!

»Ich bin gut aussehend und interessant. Deswegen wird über mich geschrieben«, erklärte er beiläufig.

Laura schüttelte amüsiert den Kopf. Sie war schlecht darin, die strenge Schwester zu spielen. Er wusste, dass sie ihm alles durchgehen ließ und immer auf seiner Seite war, egal wie unmöglich er sich verhielt. Und er verhielt sich häufig unmöglich.

»Warum lerne ich diese ominösen Frauen eigentlich nie kennen? Versteckst du sie vor mir?«

»Vielleicht.« Er zwinkerte ihr schelmisch zu.

»Mach dich lieber auf was gefasst«, sagte sie und stand auf. »Eigentlich bin ich gekommen, um über die Arbeit zu sprechen.« Laura lehnte sich gegen seinen Schreibtisch. Von hier aus hatte sie einen perfekten Blick auf sein Spiel. »Den Artikel kriegst du in zehn Tagen.« Sie plante nach Florenz zu fahren, um eine Designerin zu interviewen, die der Zeitschrift ihre schicke Villa präsentieren wollte.

»Ist gut. Auf dich ist immer Verlass, Schwesterchen«, sagte er grinsend und warf ihr einen Luftkuss zu, woraufhin sie mit den Augen rollte.

Ein weiteres Mal setzte Alex zum Schlag an. Den dritten Ball lochte er erfolgreich ein. Endlich! Er konnte es kaum glauben und führte sogleich einen Freudentanz auf. Laura trat auf ihn zu und gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf, bevor sie das Büro verließ.

»Autsch«, jammerte er.

»Treib’s nicht zu weit«, meinte sie auf dem Weg nach draußen.

»Ich doch nicht!«, rief er ihr zu.

Grinsend peilte er seinen Schreibtisch an. Laura hatte wie immer recht: seine Mutter würde sich ärgern, wenn sie die neue Titelseite von Immer aktuell sah. Sie hatte es nie gut gefunden, dass sein Privatleben in dieser Illustrierten breitgetreten wurde. Aber nun, da sie ihm die Leitung des Verlags übertragen wollte, war die Situation eine ganz andere. Sie würde ihm mit Sicherheit die Hölle heißmachen! Beinahe freute er sich darauf ... Alex lotete nun mal gerne Grenzen aus.

Kaum, dass er den Golfschläger weggelegt und sich an den Schreibtisch gesetzt hatte, rauschte seine Mutter früher als erwartet zur Tür herein. Eigentlich hatte sie heute Vormittag nicht im Büro sein wollen.

Susanne Keller, die seit dreißig Jahren erfolgreich einen Verlag führte, war eine Erscheinung, die jeden auf Anhieb einzuschüchtern vermochte. Mit ihren eins dreiundachtzig war sie für eine Frau groß gewachsen. Die breiten Schultern und Hüften, dann noch die hohen Schuhe, die dazu führten, dass sie – bis auf wenige Ausnahmen – jeden Mitarbeiter des Verlags überragte. Aber nicht nur ihrer Größe wegen schien sie ständig auf andere Leute herabzusehen. Die grau gesträhnten Haare trug sie kurz. Früher waren sie mal dunkelblond gewesen. In den weit geschnittenen Hosenanzügen, die momentan wieder in waren, wirkte sie zudem wie ein Kerl. Ein großer und kräftiger Kerl.

Das gute Aussehen hatte Alex zweifellos von seinem Vater.

»Was soll das?«, donnerte sie und schmiss die letzte Ausgabe von Immer aktuell auf seinen Schreibtisch. Alex runzelte die Stirn. Auf dem Foto war er wirklich gut getroffen.

»Was soll was?«, meinte er unschuldig. Nun ging er wirklich zu weit! Er lehnte sich im Bürostuhl zurück und verschränkte die Hände vor der Brust.

Seine Mutter grinste gehässig – das war kein gutes Zeichen. Wenn er nicht aufpasste, würde sie ihm die Zeitschrift um die Ohren hauen. Er hatte sich schon als kleines Kind etliche Male eine Klatsche eingefangen. Besonders fest hatte sie aber nie zugeschlagen. Diese Frau verfügte über herkulische Kräfte. Hätte sie die Ohrfeigen je ernst gemeint, hätte er sich bis heute nicht davon erholt.

Sie stützte ihre Arme am Schreibtisch ab und beugte sich zu ihm herunter. Alex schluckte schwer. Jetzt war es passiert: Er war eingeschüchtert. Nervös leckte er sich über die trockenen Lippen. War er diesmal wirklich zu weit gegangen?

»Mit diesem Unsinn ist jetzt Schluss. Ein für alle Mal«, sagte sie ruhig. »Jemand, über dessen Liebesaffären in Klatschblättern berichtet wird, hat in diesem Büro nichts zu suchen.« Dabei war er doch erst eingezogen!

»Was meinst du denn damit?« Dass er die Führung des Verlags übernehmen würde, stand schon seit langem fest. Niemand war für diese Position besser geeignet als er. Seine Mutter wusste das. Wer sollte denn sonst diesen Job übernehmen? Dass sie sich auf die Schnelle einen Ersatz für ihn aus dem Hut zauberte, war ihr aber zuzutrauen.

»Du wirst deinen Ruf wiederherstellen«, erklärte sie nüchtern.

»Mit meinem Ruf ist alles in Ordnung.« 

Wie erwartet schnappte sie sich in Windeseile die Zeitschrift und Alex hob gerade noch rechtzeitig die Hände, um sein Gesicht vor der Attacke zu schützen. Warum wollte ihn heute jeder verhauen?

»Mit deinem Ruf ist nichts in Ordnung!«, schimpfte sie. »Mir reicht’s. Endgültig.« Die Zeitung schmiss sie ihm genau vor die Nase. Energisch tippte sie mit dem Finger auf das Bild seines Gesichts – genauer: auf eins seiner Augen. So als wollte sie es durchbohren.

»Übertreib doch nicht ...«, murmelte er und ließ die Hände sinken. Seine Mutter sah entschlossen aus. Was genau erwartete sie von ihm?

»Du wirst heiraten«, sagte sie nüchtern. Ein Lachen platzte aus ihm heraus. Zu spät presste er die Hand auf den Mund, um es zu unterdrücken. Er wollte ihre Geduld nicht herausfordern, aber wenn sie zu solchen Scherzen aufgelegt war, dann konnte das nur bedeuten, dass sie gar nicht verärgert war. Und das machte ihm richtig Sorgen. Seine Mutter war berechnend – nur deswegen kam Alex so gut mit ihr klar. Es war ein Leichtes für ihn, ihre Reaktionen vorherzusehen.

»Was ist so witzig?«, fragte sie scharf.

»Nichts«, erwiderte er sofort, setzte sich gerade hin und zupfte am Kragen des Poloshirts.

»Und wie du wieder aussiehst!«, polterte sie. Im Büro war Anzugtragen Pflicht. »In zwei Monaten bist du verheiratet.«

Er guckte belämmert hoch zu ihr. War dies etwa eine Art Firmentradition, von der er nichts wusste? Bei einer Beförderung veräppelt zu werden – und später würden sie alle darüber lachen, weil er so dämlich gewesen war, darauf hereinzufallen? Aber selbst wenn, er konnte sich nicht vorstellen, dass seine Mutter bei so etwas mitmachen und sogar die Hauptrolle spielen würde.

»Das ist doch ein Scherz?«, fragte er sicherheitshalber.

»Ist es nicht!«, donnerte sie. »Bin ich etwa für meinen Humor bekannt?« 

»Nein ...« Diese Frau war nicht zum Spaßen aufgelegt. Vermutlich hatte sie in ihrem ganzen Leben keinen einzigen Witz erzählt.

»Ich habe mit Jürgen schon gesprochen. Sie ist einverstanden«, fuhr seine Mutter fort. Alex schaute sie fassungslos an. Auf einmal fand er das alles gar nicht mehr lustig.

»Wer ist einverstanden? Womit?«, stammelte er.

»Leonie natürlich! Du wirst sie heiraten. Punkt. Du hast noch acht Wochen. Beeil dich lieber. Am besten, du rufst noch heute beim Standesamt an und vereinbarst einen Termin.«

Sie drehte ihm entschieden den Rücken zu und ging Richtung Tür. Alex sprang wie von der Tarantel gestochen auf und hielt sie am Arm zurück.

»Was?«, meinte sie mit einem süffisanten Lächeln. Seine Panik schien sie zu amüsieren. Mit den hohen Schuhen war sie sogar größer als er!

»Das kannst du doch nicht ernst meinen ...!«, hauchte er entsetzt.

»Oh, doch! Und wie ernst ich das meine! Ich hab genug! Wir haben alle genug!«

»Aber ...! Ich kann doch nicht ...!«

»Was kannst du nicht? Leonie Neuhold heiraten? Das ist dein Problem, nicht meins.«

Seine Mutter wollte sich wieder auf den Weg machen, als Alex sie erneut zurückhielt. Wie ein kleiner Junge krallte er sich am Ärmel ihrer Anzugjacke fest.

»Sie ist wirklich einverstanden?«, fragte er.

»Ja«, versicherte ihm seine Mutter kühl.

Das war unmöglich! Erinnerte sich Leonie etwa wieder an ihn? Nein, denn dann würde sie ihn ganz sicher nicht ehelichen wollen!

»W...warum?«

»Das wirst du sie schon selbst fragen müssen!«

Er ließ sie los. Bedröppelt stand er nun allein im Büro – auf seiner Golfmatte. Plötzlich interessierte ihn dieses dumme Spiel überhaupt nicht mehr.

Leonie Neuhold wollte ihn heiraten?

Das konnte nicht wahr sein! Wahrscheinlich hatte Jürgen ihr ein Ultimatum gestellt, genau wie seine Mutter ihm gerade eins gestellt hatte. Alex wusste, wie bemüht ihre Eltern waren, für die Tochter den richtigen Mann zu finden. Er verstand nicht, warum sie sich das gefallen ließ. Die Leonie, die er früher gekannt hatte, würde sich von niemandem vorschreiben lassen, wie sie ihr Leben zu leben hatte. Aber diese Leonie gab es nicht mehr.

Sie hatten in den letzten neun Jahren kaum miteinander gesprochen. Sie kannte ihn überhaupt nicht. Sie wusste nicht, wer er war. Weil sie sich nicht an ihn erinnerte. Und das war auch gut so.

Erschöpft setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch. Das Gesicht in den Händen vergraben, hockte er minutenlang stocksteif da. Sein Herz wollte nicht aufhören, wie wild in der Brust zu hämmern.

Schließlich holte er sein Portemonnaie aus der Hosentasche. Darin bewahrte er ein Foto von Leonie auf, das er sich immer mal wieder ansah. Mit frechem Pixie-Kurzhaarschnitt und einem oversized Pulli mit U-Boot-Kragen saß sie auf seinem Schoß und lächelte breit in die Kamera, während er ihr einen Kuss auf die Wange schmatzte.

Das war schon so verdammt lange her ...

Er würde mit Leonie reden müssen. Unbedingt.

Und diesmal würde er ihrem Blick nicht ausweichen können.

 

3.

Schweren Herzens ging Leonie zum Büro ihres Vaters. Sie wollte nicht mit ihm streiten, aber es war an der Zeit, dass sie ihm die Meinung sagte. Wie lange würden ihre Eltern noch versuchen, sie zu verkuppeln? Leonie war es leid. Die Verabredung am letzten Samstag war nun das zehnte Blind Date innerhalb von zwei Jahren gewesen. Sie fühlte sich bevormundet und nicht ernst genommen. Seit sie nach dem Unfall ohne Gedächtnis aufgewacht war, hatte sie stets versucht, es allen recht zu machen und niemanden zu enttäuschen.

Es war anstrengend, die perfekte Tochter spielen zu müssen.

Leonie grüßte die Mitarbeiter freundlich, bis sie das großräumige Büro ihres Vaters erreichte, das so unordentlich war wie eh und je. Keiner der Kunden bekam seinen schäbigen Arbeitsplatz zu sehen. An der Wand stand eine alte Druckmaschine, die erste, die er sich damals zugelegt hatte, als er die Druckerei von seinem Vater übernommen hatte: eine Heidelberg GTO. Er überlegte schon lange, eine kleine Ausstellung einzurichten, die die Geschichte der Druckerei Neuhold erzählte. Bislang verstaubten die geschichtsträchtigen Stücke auf alten Tischchen zwischen Regalen, vollgestopft mit Ordnern. Leonie ließ ihren Blick über die antike Schreibmaschine und den Setzkasten schweifen. Sie wusste, dass irgendwo in diesem Gebäude eine Linotype-Setzmaschine stand, die in der Druckerei bis zum Jahre 1975 noch im Einsatz gewesen war. Leonies Großvater hatte das Unternehmen vor über sechzig Jahren gegründet.

Die Aufträge – oder Jobs  –, wie sie in der Druckerbranche genannt wurden, besprachen die Kunden mit den Mitarbeitern in den modernen Büros, die gleich an den Empfangsbereich anschlossen.

»Hi, Paps!«, grüßte Leonie und schenkte ihm ihr schönstes Lächeln. Er sah von seiner Arbeit auf, die Stirn gerunzelt, die buschigen Augenbrauen gehoben – was ihn noch strenger erscheinen ließ. Er war in den letzten drei Jahren stark ergraut. Die einst tiefbraunen Haare schimmerten in feinem Silber. Auch hatte er in den vergangenen Jahren etwas zugelegt. Hinter dem winzigen Schreibtisch war er eine beachtliche Erscheinung.

»Leni ...«, sagte er seufzend und legte die Unterlagen nieder, die er gerade eben noch studiert hatte. Dieses Seufzen kannte sie – genauso wie diesen Blick.

Ihr Lächeln verschwand. Nicht nur ihr Vater war enttäuscht.

»Was willst du mit mir besprechen?«, fragte sie höflich.

»Klaus gefällt dir also auch nicht«, sagte er ohne Umschweife. So hatte ihr Date geheißen: Klaus Wiesbauer. Leonie erinnerte ich an die Namen aller Männer, mit denen sie sich verabredet hatte. »Ich dachte, diesmal hätten wir den Richtigen ausgewählt«, meinte ihr Vater.

Den Richtigen ausgewählt? War ihr Leben eine Kuppelschow?

»Paps, ich denke wirklich, dass ich das alleine hinkriege! Ich werde schon jemanden finden!« Und sonst eben nicht – wollte sie hinzufügen. Aber wenn Leonie ihrem Vater verklickerte, dass sie im Moment andere Ziele verfolgte, als sich nach einem passenden Kandidaten für die Familiengründung umzusehen, würde ihn der Schlag treffen.

»Deine Mutter und ich sehen das anders. Es reicht. Wenn dir niemand gefällt, dann gibt’s nur eine Lösung.« Sein kompromissloser Ton irritierte sie. Leonie seufzte tief und wartete geduldig darauf, dass ihr Vater ihr von dieser grandiosen Lösung erzählte. Eine Lösung war nur dort vonnöten, wo es ein Problem gab. Leonies Liebesleben war in ihren Augen aber kein Problem.

»Genug mit diesen dummen Verabredungen! Du wirst heiraten«, fuhr ihr Vater fort.

Leonie stand mit offenem Mund da. Hatte sie die Pointe dieses Witzes nicht verstanden? Es war sekundenlang totenstill im Büro.

»Heiraten?«, wiederholte sie schließlich. Er konnte doch nicht wirklich heiraten meinen. Aber was meinte er dann?

»Was sagst du dazu?«

»Wozu? Dass ich heiraten soll?« Im Moment erschien es ihr, als würde sie sich mit jemandem in einer fremden Sprache unterhalten. Auf jeden Fall redeten sie aneinander vorbei.

»Ja, genau«, sagte er freudig.

»Wen soll ich denn heiraten?«, meinte sie verwundert. Wollten ihre Eltern, dass sie sich für das nächste Blind Date im weißen Kleid in einer Kirche verabredete?

»Alexander Keller«, sagte er. Leonie blinzelte irritiert. Drehte ihr Vater jetzt völlig durch?

»Den Alexander Keller?« Gab es vielleicht noch einen anderen? Ihr Vater konnte doch unmöglich wollen, dass sie diesen Frauenaufreißer heiratete! Hielt er wirklich so wenig von ihr?

»Ja, du kennst Alex doch schon. Ihr werdet euch verstehen.«

Leonie konnte es nicht fassen, dass ihr Vater so etwas überhaupt in Erwägung zog! Schlimm genug, dass sie sich diese dämlichen Blind Dates hatte aufdrängen lassen müssen, nun sollte sie heiraten?

»Leben wir immer noch in der k.-u.-k-Monarchie oder im einundzwanzigsten Jahrhundert?!«, schimpfte Leonie. Sie hatte ihre Stimme erhoben. »Ihr könnt doch nicht über meinen Kopf hinweg entscheiden, wen ich heiraten soll!« Ihr Vater schien mit diesem plötzlichen Wutausbruch nicht gerechnet zu haben. Wie hätte er auch ahnen können, was in Leonie wirklich vorging? Er wusste nicht, wie es war, ein Leben zu führen ohne Vergangenheit. Wie es war, wenn andere mehr über einen wussten, als sie selbst.

»Du wirst Alex mögen ...«, sagte er verunsichert. Leonie schnappte aufgeregt nach Luft, um etwas Bissiges zu erwidern, doch dann überlegte sie es sich im letzten Moment anders. Sie wollte nicht die Beherrschung verlieren. Das würde ihrem Vater nur beweisen, dass sie doch ein Problem hatte.

»Was sagt denn er dazu?«, brummte sie missmutig. Vorhin hatte Juliane noch Scherze darüber gemacht, dass Leonie sich jemanden wie Alexander Keller zum Spaßhaben aussuchen sollte. Sie konnte sich nicht mal vorstellen, mit ihm eine flüchtige Affäre zu haben. Heiraten war aber noch mal ganz was anderes.

Er würde doch niemals einwilligen!

»Alex ist einverstanden.«

Jetzt hatte es ihr die Sprache verschlagen. Sie blickte ihrem Vater fassungslos in die Augen, ohne ein Wort zu sagen. Er hielt ihrem Blick stand.

»Ich will nicht«, sagte sie kleinlaut. »Ihr könnt mich doch nicht dazu zwingen!«

»Nein, können wir nicht«, sagte ihr Vater ruhig. »Aber glaub mir, Alex wird dir guttun.«

»Mit mir ist alles in Ordnung. Ich brauche niemanden, der mit guttut«, zischte sie.

»Rede wenigstens mal mit ihm«, sagte er und wirkte eingeschüchtert.

»Wie denn? Er kann mir ja nicht mal in die Augen sehen!«

»Das wird sich ändern, spätestens, wenn ihr verheiratet seid. Gib ihm etwas Zeit.«

Leonie schnaubte ungläubig. »Zeit? Wofür denn?« Ihre Stimme hörte sich unnatürlich hoch an. Zum ersten Mal in den letzten neun Jahren hatte sie das Gefühl, ihr Vater wüsste nicht, wie er mit ihr umgehen sollte. Hatte er wirklich geglaubt, sie würde einverstanden sein? Weil sie sich sonst immer alles gefallen ließ? Nun, nicht alles: Ihr Vater war dagegen gewesen, als sie beschlossen hatte, ihren eigenen kleinen Verlag zu gründen. Damals hatte sich Leonie durchsetzen können.

»Sieh’s mal so, Leni«, begann er fürsorglich. Sie zog ein hässliches Gesicht, noch bevor er fortfahren konnte.