An der Wand kann man nicht nähen - Susanne Hesse - E-Book

An der Wand kann man nicht nähen E-Book

Susanne Hesse

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Beschreibung

Und auf einmal kann ihr die Mutter keine Auskunft mehr geben. Damals ist die Mutter von Susanne Hesse 82; was auf die beiden zukommt, ist kein Einzelfall. Allein in Deutschland beträgt die Zahl der Demenzkranken etwa 1,5 Millionen und doch gibt es keinen Fall, der dem anderen gleicht. Wer ihre Mutter gewesen ist, dass es auch in der Krankheit heitere Zeiten gab und solche, in denen sich die Tochter auf der Toilette einschloss und hoffte, ihre Tränen blieben unbemerkt, beschreibt Susanne Hesse mit großer Zärtlichkeit und spendet neben praktischen Hilfestellungen und viel Faktenwissen auch Mut.

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An der Wand kann man nicht nähen

Susanne Hesse

 

An der Wand kann man nicht nähen

 

Roman

1. Stille

 

Sarah füllt den Raum mit ihrer Stimme. Wie ein Tuch aus violettem Samt umhüllt der Gesang die Gemeinde und fängt die Trauer ein.

 

Vergissmeinnicht schmücken den Raum, leuchtend blau wie der Himmel an einem strahlenden Sommertag. Trollblumen bedecken die Urne, die „Glatzer Rose“ erweckte Heimat in dir, von allen Blumen waren sie dir die liebsten. Sonnengelb ist auch die Schleife: Immer in unseren Herzen, darunter unsere Namen. In der Mitte eine Schale mit Sand, der Rand ist gespickt mit deinen Memorykarten. Zwanzig Teelichter beleuchten die Motive. Zwanzig Trauernde, die dir im Leben viel bedeutet haben, und doch erinnertest du dich nicht mehr an sie. Ein Herz aus rosa Rosen und ein von Kinderhand gemaltes Bild: Wolken, Blumen und ein Stern – für Uromi, deine Kimi. Etwas erhöht auf einer Stufe liegt dein Kniffelblock, bis zuletzt hast du die Freude am Würfeln nicht verloren. Buntes Nähgarn und etwas Seidenstoff in einem Leinenkörbchen. Dein Schneiderberuf hat dich durch alle Krisenzeiten getragen, stolz hast du davon erzählt.

 

Precious Lord, take my hand

 

Lead me on

 

Let me stand

 

I am tired, I am weak, I am worn Through the storm, through the night Lead me on to the light

 

Take my hand precious Lord, lead me home.

 

Sarah setzt sich neben mich. Berührende Stille im Raum. Gedanken ziehen wie Nebelschwaden an mir vorbei. In den letzten Jahren sind wir uns sehr nahe gekommen. Gewissermaßen hast du dein Leben in meine Hände gelegt, weil du es alleine nicht mehr leben konntest. Manchmal haben wir über den Tod gesprochen und darüber, wie die Zeremonie ablaufen soll. Dich hat das alles sehr belustigt, der Tod bot dir keine Schrecken.

 

Wir haben über die Musik in der Kapelle gesprochen und über den Florentiner Marsch, der deine Kindheit bereicherte.

 

Jahr für Jahr begleitete er dich beim Kirmesfest vor dem Elternhaus. Den Florentiner Marsch als letzten Gruß? Dein Lachen höre ich noch heute, denn die Musik für den Abschied war dir gleichgültig, weil du sie doch nicht mehr hören kannst.

Du hörst sie nicht? Ich spüre dich ganz nah bei mir. „Seid nicht traurig, wenn es einmal still um mich wird.

 

Friedlich einschlafen, das ist mein einziger Wunsch an den Tod.“

 

Wie oft hast du uns das gesagt.

 

Scherzhaft habe ich erwidert: „Warum sollten wir darüber traurig sein? Dann wird gefeiert!“.

 

Darüber haben wir beide schallend gelacht und ich habe deine Hand gedrückt und dir gesagt, dass du mir einmal sehr fehlen wirst. Mit deiner Einstellung zum Sterben hast du mich stark gemacht für diesen Moment, und doch ....

 

Angela erzählt fast heiter aus deinem Leben, wir erkennen dich in jedem Wort. Schlesien, unbeschwerte Kindheit in armen Verhältnissen, traumatische Kriegserlebnisse und Gnade des Schicksals: Du hast die Heimat verloren, aber nicht dein Leben. Niederlagen haben dich stark gemacht, niemals hast du die Hoffnung aufgegeben. Menschen, die in deinen schwersten Zeiten selbstlos für dich da waren, hast du nicht vergessen, aufrecht bist du durchs Leben gegangen. Dann der Neubeginn in Hamburg, als endlich alles leichter wurde.

 

Angelas Rede hätte dir gefallen. Sie endet mit dem Gedanken, mit dem auch du deine Aufzeichnungen beendet hast:

 

„Wenn ich von Rückers erzähle, dann spreche ich von Zuhause. Meine Heimat ist eben dort, wo ich geboren und aufgewachsen bin“.

 

2. Rückers 1920 - 1922

 

Dass ich ein Wunschkind war, kann man nach Lage der damaligen Dinge sicher nicht behaupten. Vier Kinder zählten bereits zur Familie und die Zeit, zwei Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, war gewiss nicht rosig. Nun gehörte ich halt dazu und so sollte es wohl sein, denn im späteren Leben wurde ich doch recht oft gebraucht.

 

Die älteste Schwester Martl war damals sechzehn Jahre alt. Martl wurde im Nachbarort Bad Reinerz im Kaufhaus Sendler zur Verkäuferin in der Textilbranche ausgebildet. Sie wohnte auch dort und bekam vierzehntägig einen Sonntag frei. Dann waren da zwei Jungen, der achtjährige Gerhard und Hubert, sechs Jahre alt. Sein Geburtsdatum fällt genau in die Zeit, als im Sommer 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach und Vater in den Krieg ziehen musste, um das Vaterland zu verteidigen, wie es immer so schön hieß. Einen Monat nach Kriegsende im Dezember 1918 wurde Klärchen geboren und bis zu meinem Erscheinen im November 1920 war sie das Nesthäkchen. Jetzt war Klärchen zwei Jahre alt und musste notgedrungen ihre Vormachtstellung abgeben. Sie hatte es wohl auch akzeptiert, denn unser Leben lang haben wir eng zueinandergehalten.

 

Nun sollte ich bald getauft werden. Vater wollte eine Anna, denn so hieß eine seiner drei Schwestern. Mutter aber wollte eine Annelies und setzte sich auch durch. Leider kannte sie sich mit den Vorschriften der katholischen Kirche nicht so gut aus und wusste deshalb nicht, dass Annelies kein seliger Name war. Der Pfarrer verweigerte die Taufe. Deshalb wurde ich auf den Namen Anna-Louise getauft, aber alle riefen mich fortan „Annelies“. Der Pfarrer und die Eltern waren zufriedengestellt. Vater bekam seine Anna und Mutter hatte einen königlichen Namen angehängt. Ich erfuhr von der komplizierten Namensgebung erst in der Nazizeit, als ich volljährig war und eine Kennkarte erhielt. Jetzt war ich getauft, hatte einen Namen und war mit meinen über neun Pfund Geburtsgewicht ein wahrer Wonneproppen.

Die ersten Wochen verliefen ganz normal, doch in der sechsten Woche bekam ich einen starken Keuchhusten. Für Mutter eine schlimme Zeit, Tag und Nacht musste sie über mich wachen. Ihr blieben nur die Abendstunden für andere Arbeiten, denn Vater musste ja Geld verdienen. Vater arbeitete im Nachbarort Friedrichsgrund als Zimmermann. Täglich bewältigte er eine Stunde Hinweg und eine Stunde Rückweg zu Fuß bei jedem Wetter, ob Wind, Regen oder Schnee.

 

Unser Landarzt, der Sanitätsrat Doktor Jacobsen, behandelte meinen Keuchhusten. An manchen Tagen kam er mehrmals, um nach der kleinen Patientin zu sehen. Doktor Jacobsen hatte mir schon auf die Welt geholfen. Damals gingen die Frauen zur Entbindung nicht in ein Krankenhaus. Der Keuchhusten verschlimmerte sich und bald war auch der Doktor mit seinem Latein am Ende. Er kannte nur noch ein Medikament, dass mich vielleicht retten würde.

 

Rückers mit seinen 2.400 Einwohnern besaß keine Apotheke. Die Medikamente mussten in Bad Reinerz besorgt werden. Dorthin gelangte man zu Fuß schneller als mit der Eisenbahn, denn die Bahnhöfe lagen vom Ortskern zu weit entfernt. Über die Felder und ein Stück Landstraße lief man ungefähr dreieinhalb Kilometer. Vater war auf der Arbeit und Mutter durfte mich nicht alleine lassen. Deshalb rannte mein großer Bruder mit dem Rezept in der Hand los. Anfang Februar lag hoher Schnee und Schneeverwehungen erschwerten das Laufen. Mutter machte sich große Sorgen um Gerhard und betete, dass dem achtjährigen Jungen auf dem einsamen Weg nichts passieren würde. Gerhard aber muss mit Riesenschritten durch den Schnee gestapft sein, viel schneller als erwartet trat er zur Stubentür herein und fragte völlig außer Atem: „Lebt sie noch?“. Mutter fiel ein Stein vom Herzen, der Junge war mit dem hoffnungsvollen Medikament gesund zurückgekehrt.

 

Die Nächte verbrachte ich neben Mutter im Bett. In dieser Nacht war Mutter vor Erschöpfung für kurze Zeit fest eingeschlafen. Erschrocken wachte sie auf, sie hörte kein Röcheln, kein Husten und glaubte an das Schlimmste, auch weil meine Augen weit geöffnet waren. Doch bald merkte sie, dass ich ganz ruhig atmete, und legte mich an ihre Brust. Das Medikament war wahrlich ein Wundermittel. Von nun an ging es mit mir bergauf und langsam normalisierte sich der Tagesablauf.

Mutter hatte alle Hände voll zu tun und war um ihre Freizeit nicht zu beneiden. Dreimal am Tag wurde das Feuer im Herd entfacht, sowohl im Winter als auch im Sommer. Gas gab es im Dorf nicht, aber elektrisches Licht war schon vorhanden. Ein Sägewerk in der Nähe des Bahnhofs erzeugte Elektrizität und versorgte das Dorf mit Strom.

 

Dafür zahlte jeder Haushalt im Monat eine Mark. Technische Geräte wie Waschmaschine, Staubsauger und Mixer waren zur damaligen Zeit Fremdwörter. Bei der geringen Stromkapazität, die vom Sägewerk an das Dorf abgegeben wurde, hätte man solche Geräte nicht einsetzen können.

 

Wasserleitungen gab es in Rückers noch nicht. Direkt vor unserem Haus floss ein kleiner Bach mit klarem Gebirgswasser. Das war der Mühlbach, von den Einwohnern Mühlgraben genannt. Der Mühlgraben belieferte die Anwohner mit Nutzwasser. Badewasser, Wasser für die Hausarbeit, den Garten und das Vieh schöpfte man aus dem Bach. Der Abstieg zum Mühlgraben war stufig angelegt. Vater hatte eine Plattform aus Holz gebaut, damit die Frauen bequem die Wäsche spülen konnten. Die Wäsche wurde auf dem Kohleherd in einem riesigen Topf mit Seifenlauge gewaschen und anschließend in einer großen Holzwanne auf dem Waschbrett geruffelt.

 

Das Wasser zum Trinken und Kochen holten wir von weit her. In zweihundert Metern Entfernung gab es eine Wasserpumpe. Im Winter fror die Pumpe oft ein, obwohl sie mit Stroh und Tüchern dick eingepackt war. Hundert Meter weiter, beim Gasthaus zum Dorfkrug, sprudelte eine kleine Naturquelle und bei starkem Frost holten wir das Trinkwasser von dort. Unser Viehbestand war nicht sehr groß. Im Stall standen zwei Ziegen. Das Melken der Ziegen war Mutters Arbeit. An der Schuppenwand tummelten sich vier Kaninchen in Vaters selbst gezimmertem Kaninchenstall und vor dem Haus gackerten acht bis zehn Hühner. Mutter kaufte jedes Jahr Enten- und Gänseküken, um Federn für die Aussteuer ihrer Töchter zu sammeln. Daraus fertigte sie Federbetten und Kopfkissen für Klärchen, Martl und für mich. Sie fütterte die Küken in einer Kiste im Hausflur mit fein geschnittenen Nesselblättern und zerdrückten hart gekochten Eiern. Als die Tiere heranwuchsen, kamen sie auf die Wiese unter ein großes Drahtgitter. Wenn die Enten eine Größe erreicht hatten, dass ihnen der Habicht nicht mehr gefährlich werden konnte, durften sie frei herumlaufen und im Mühlgraben schwimmen.

 

Für die Gänse hatte Vater im Garten ein Gatter gezimmert. Da wurden sie tagsüber oft eingesperrt, denn Fremden gegenüber benahmen sich die Gänse schlimmer als ein Kettenhund und ließen niemanden auf das Grundstück. Zur Weihnachtszeit mussten die Gänse ihr Leben lassen. Eine Gans behielten wir als Festmahl zu Weihnachten, die anderen verkaufte Mutter je nach Gewicht für sechs bis acht Mark pro Stück.

 

Die meiste Gartenarbeit wurde auch von Mutter erledigt. Mein Elternhaus war in einen Abhang gebaut, der Garten wies ein starkes Gefälle auf. Den Grat am Hang mähte Mutter mit der Sense, als Grünfutter für die Tiere im Sommer und als Heu für den Winter. Oben auf dem Plateau baute Mutter jedes Jahr Kartoffeln an. Auf halber Höhe hatte Vater ein kleines Gärtchen umzäunt für Kräuter und Gemüse. Da wuchsen Stachelbeer- und Johannisbeersträucher und ein Sauerkirschbaum. Auf dem Berghang hinter dem Haus standen Pflaumenbäume und ein Apfelbaum, der im Oktober zuckersüße Äpfel lieferte. Unser Weihnachtsapfelbaum trug im Herbst kleine rote Winteräpfel, die wir blank polierten und Weihnachten in den Christbaum hängten.

 

Vater verstand sein Handwerk, doch vor Gartenbau und Landwirtschaft drückte er sich gern. Er hielt die Ställe sauber, wendete das Heu und harkte es zusammen. Als Zimmermann war Vater gut beschäftigt. Er hatte in Rückers den „Wolkenkratzer“ mitgebaut, das war so um 1910. Für ein kleines Dorf wie Rückers war das viergeschossige Haus ein imposantes Gebäude. Der Wolkenkratzer stand unserem Haus gegenüber und dazwischen befand sich eine von Erlen umsäumte große Freifläche. Das war der Spritzenplatz. Der hieß so, weil die Feuerwehr dort einmal wöchentlich übte. Dann rief man „Wasser Marsch!“ und man ließ den Schlauch mit dem Saugfilter in den Bach. Vier Feuerwehrmänner pumpten im Rhythmus. Während der Brandmeister seine Kommandos erteilte, kletterten Feuerwehrleute auf den für unsere Begriffe recht hohen Turm vom Spritzenhaus und löschten den imaginären Brand. Uns Kindern bot dieses Schauspiel immer eine spannende Abwechslung. Wenn es wirklich einmal brannte, lief der „Melder“ durch das Dorf und blies in die Alarmhupe. Gleichzeitig ertönte der Alarm der Fabriksirene im Dauerton. Die Feuerwehrleute waren schnell zur Stelle. Der Bauer, der am schnellsten mit zwei Pferden anrückte, um die Spritze und die Feuerwehrmänner zur Brandstelle zu bringen, erhielt eine Prämie von zwanzig Mark. Eine Motorspritze gab es erst Jahre später.

 

Gegenüber dem Spritzenplatz floss der Steinbach, wir Kinder kannten ihn nur als das „große Wasser“. Auf dieser Seite des Platzes wuchsen sechs Erlen im Rondell und der Raum dazwischen bildete für uns ein Zimmer, in dem wir mit unseren Puppen spielten. Wegen des Höhenunterschiedes wurde der Steinbach gestaut. Die ganz mutigen Kinder rutschten unter lautem Geschrei die tiefe Abschrägung hinunter. Im Staubecken selbst durfte nicht gebadet werden wegen der Gefahr des Ertrinkens. Schwimmen konnte kaum jemand, es fehlte an Gelegenheit. Wir Kinder vergnügten uns in Hemd und Schlüpfer im „großen Wasser“.

 

Wenn Vater auf der Arbeit und Mutter im Haushalt beschäftigt waren, mussten Hubert und Gerhard auf die kleinen Schwestern achtgeben. Ich lag im Steckkissen im Kinderwagen. Die Kinderwagen damals waren sehr hoch, mit gigantischen Rädern, von einer Federung konnte kaum die Rede sein. Bei den neueren Modellen lagen die Babys in einer Gondel aus Korbgeflecht. Bei unserem Wagen bestand die Gondel aus halbierten Weidenruten. Innen war sie mit einem Wachstuch ausgeschlagen. Für das Verdeck, die Plaue, wurden ebenfalls mit einem Wachstuch überzogene gebogene Weidenruten verwendet. Der Wagen spielte bei der Vertreibung im Oktober 1946 eine wichtige Rolle, aber davon werde ich später erzählen.

 

Mutter schärfte den Jungen ein, den Kinderwagen in der Küche nicht anzufassen. Der sechsjährige Hubert aber konnte der Versuchung nicht widerstehen, kippte den Wagen nach vorn und rief stolz: „Guck mal, Gerhard, ich kann es auch schon so machen wie die Mama!“ Und so flog ich in hohem Bogen aus dem Wagen auf das Steinpflaster. Doch mein Bruder, der mich beinahe ins Jenseits katapultierte, verlor nicht die Nerven. Er rannte in den Stall und schrie „Mama, Mama, komm schnell, sie ist noch nicht ganz tot!“. Bei dieser Hiobsbotschaft ließ Mutter den Melkeimer fallen und eilte ins Haus.

 

Da lag ihr Baby auf dem Steinpflaster, mucksmäuschenstill, die Augen nach hinten verdreht, ein Schock für Mama. Diesmal war das Steckkissen mein Lebensretter. In der Luft habe ich wohl einen Salto gemacht und bin sanft im Steckkissen gelandet. Die verdrehten Augen betrachteten den bunten Vorhang der Ofenbank. Das Missgeschick habe ich ohne Blessuren überstanden.

 

Ein traumatisches Erlebnis ereignete sich auch mit Klärchen. Sie konnte schon sitzen. Mutter setzte Klärchen in den Leiterwagen mit vielen Kissen um sie herum. Die Jungen erhielten strenge Order, auf die kleine Schwester aufzupassen. Aber mit dem Gehorchen war es nicht so weit her. Gerhard und Hubert fuhren mit dem Leiterwagen den Weg entlang.

 

Der Weg war so breit, dass bequem ein Pferdefuhrwerk darauf fahren konnte, und wenn die Jungen den Wagen vernünftig gezogen hätten, dann wäre auch nichts passiert. Sie aber spielten Pferd und Kutscher. Hubert mimte an der Deichsel das Pferd und Gerhard war der Kutscher. Er schob den Wagen kräftig an, um sein Pferd voranzutreiben. Das Pferdchen Hubert konnte mit seinen kürzeren Beinen dem Tempo nicht standhalten, die Deichsel glitt ihm aus den kleinen Händen, der Wagen rollte die Böschung hinunter und stürzte mitsamt Klärchen ins Wasser. Der Bach war damals noch recht tief, nur die Räder ragten aus dem Wasser. Emma, die erwachsene Nachbarstochter, sah zufällig die beiden Jungen ratlos am Ufer stehen und den Leiterwagen aus dem Wasser ragen. Sie rief: „Habt ihr etwa das Klärchen im Wagen?“ Und Emma, so wie sie war, mit Schuhen und allem, was sie anhatte, sprang ins Wasser und zog Klärchen an die Oberfläche. Irgendwie schwebte über unserer Familie immer ein Schutzengel.

 

Uns Kindern bot das Rückerser Dorfleben paradiesische Verhältnisse. Wir konnten auf der Straße spielen, ohne befürchten zu müssen, dass uns ein Auto überfährt. Ob es in dieser Zeit schon ein Auto in unserem Dorf gab, erinnere ich nicht. Alles wurde mit Pferdefuhrwerken und Droschken transportiert. In den Pferdeäpfeln auf der Straße tummelten sich Spatzen, die Gartenbesitzer sammelten den Pferdemist ein, als Dünger für ihre Gemüsegärten.

 

Manchmal flog ein Flugzeug über die Grafschaft Glatz. Das Geräusch lockte nicht nur alle Kinder ins Freie, auch die Erwachsenen liefen hinaus und schauten zum Himmel. Doch wenn der Zeppelin lautlos über unser Dorf schwebte, waren wir von dem Ereignis ganz beseelt.

 

An einem heißen Sommertag nahm Mutter Klärchen und mich mit auf die Schonung am Waldrand. Zwischen den winzigen Bäumchen sichelte Mutter das Gras als Heu für den Winter. Ganz in der Nähe befand sich ein kleiner Teich mit seichten Stellen. Hier packten Klärchen und ich unsere Puppen und die Puppenwäsche aus und beschäftigten uns als Puppenmütter.

 

Die herumfliegenden Libellen mit ihren zarten Flügeln schillerten im Sonnenlicht in vielen bunten Farben, in der Ferne huschten Rehe vorbei. Aus den feuchten Bergwiesen leuchteten goldgelbe Punkte: Die Trollblumen, die ich so sehr liebte. Bei uns als Glatzer Rose bekannt, war die Trollblume das Symbol der Grafschaft Glatz. Die Idylle war perfekt.

Als wir abends nach der Mahd nach Hause kamen, war die Glucke tot. Die erst wenige Tage alten Küken hockten eng zusammen gekuschelt in einer Ecke im Stall. Mama wollte wissen, was passiert war. Gerhard schwieg und Hubert traute sich auch nicht, etwas dazu zu sagen. Mama versprach, ihm würde nichts passieren, wenn er die Wahrheit erzählte. Denn die Henne war noch warm und könnte vielleicht noch verwertet werden. Weinerlich berichtete Hubert von dem Geschehen. Durch die Hitze tropfte vom geteerten Schuppendach Teer auf den Boden. Darin klebte ein Küken mit seinen Krallen fest und Hubert wollte es befreien. Da flog ihm die Henne in den Nacken. In seiner Panik packte Hubert die Henne am Hals und warf sie von sich. Dabei brach sich die Henne ihr Genick. Mama hatte Verständnis für Hubert und konnte die Henne nun richtig schlachten und noch verwerten.

 

3. Der Einsamkeit entgehen

 

„Erziehe deine Frau zur Witwe“ war das Motto meines Vaters. Er überließ meiner Mutter gerne die Arbeiten, die damals noch der Männerwelt vorbehalten waren. Handwerkerarbeiten wie Bohren, Schrauben und Hämmern führte immer meine Mutter aus, sie kümmerte sich sowohl um die Steuererklärung als auch um das Befeuern der Öfen. Mein Vater verbrachte als selbstständiger Handelsvertreter viel Zeit am Schreibtisch und überließ alle Arbeiten im Haus und Garten gerne seiner Ehefrau. Ob die „Erziehung zur Witwe“ aus der Bequemlichkeit heraus entstand oder weil er seinen frühen Tod vorausahnte, vermag ich nicht zu beurteilen. Als mein Vater starb, hinterließ er eine 55-jährige Witwe, die in der Lage war, alle Dinge selbständig zu regeln. Mutter gehörte nicht zu den Frauen, die nach dem Tod ihrer Männer völlig hilflos zurückblieben und sich nur schwer im Leben zurechtfanden. Die Trauer über den plötzlichen Tod meines Vaters schwebte über unserer Familie, aber das Leben ging weiter. Oft war es die Mutter, die meine Schwester und mich über den Verlust tröstete. In schwierigen Situationen war sie immer eine starke Frau gewesen.

 

Vielleicht war das der Grund, weshalb wir erst spät die Veränderungen wahrnahmen. Heute fallen mir Begebenheiten ein, die sehr weit zurückliegen und denen ich zum damaligen Zeitpunkt keine Beachtung schenkte.

 

Mutter wohnte in dem Haus in Hamburg-Tonndorf, das sie und mein Vater Anfang der fünfziger Jahre auf Leibrente kauften. Damals zogen wir aus einer gemieteten achtzehn Quadratmeter großen Einzimmerwohnung in das dreißig Jahre alte Haus, die Eltern, die Oma, meine Schwester Veronika und ich. Wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg war Wohnraum knapp und unser Haus noch von Umsiedlern bewohnt. In den beiden Mansardenstuben lebte eine junge Familie mit drei Kindern. Die unteren Räume teilten wir uns mit einem betagten Hamburger Ehepaar, dessen Wohnung den Bomben zum Opfer gefallen war, und einer aus Ostpreußen vertriebenen jungen Frau. Die Eltern, die Oma, Veronika und ich richteten uns in den verbliebenen zwei Zimmern ein. Die geräumige Wohnküche und der große Garten standen allen zur Verfügung. Für Mutter kam es nicht infrage, den Mitbewohnern zu kündigen. Sie kannte das Leid, heimatlos zu werden und nicht zu wissen, wohin. Ohne die selbstlose Hilfe fremder Leute hätte sie die Vertreibung aus Schlesien vielleicht nicht überlebt. Die Mitbewohner blieben also und wir lebten sieben Jahre in friedlicher Koexistenz.

 

Im Laufe der Jahre entstand in Hamburg neuer Wohnraum und die Mieter zogen nach und nach aus. Unsere Oma bewohnte nun die beiden Mansardenstuben und Veronika und ich teilten uns das Zimmer, in dem zuvor das Hamburger Ehepaar wohnte. Vater konnte sich endlich sein eigenes kleines Büro direkt neben dem Wohnzimmer einrichten. Zur Küche führten fünf Stufen hinunter. Von dort gelangte man in das Elternschlafzimmer. Im ganzen Haus befanden sich Kohleöfen, nur das Elternschlafzimmer ließ sich nicht beheizen. Deshalb bedeckte mein Vater sein haarloses Haupt an Frosttagen nachts mit einer Pudelmütze. Wenn die Glut in den Öfen in den frühen Morgenstunden erlosch, bildeten sich an den Fensterscheiben glitzernde Eiskristalle.

 

Viele Jahre später, die Oma und der Vater waren inzwischen gestorben, bauten wir das Haus in Eigenarbeit um. Wir rissen die zugige Küche und das Schlafzimmer ab und mauerten ebenerdig neue Räume. Eine dicke Dämmung schützte nun das ganze Haus vor Kälte.

 

Veronika wohnte bereits mit ihrem Mann Wolfgang ein paar Straßen weiter. Mein Mann Herbert und ich zogen in den neunziger Jahren in ein eigenes Haus nach Schleswig-Holstein. Fortan lebte Mutter allein in ihrem Haus, das anfangs von dreizehn Leuten bewohnt war.

 

Das Alleinsein machte ihr nichts aus. Der Garten und die Privatschneiderei nahmen viel Zeit in Anspruch. Ein kleiner Freundeskreis und eine gute Nachbarschaft sorgten für Abwechslung. Als die Enkelkinder Julia und Jens in den achtziger Jahren zur Welt kamen, war das Glück vollkommen. Wenn meine Schwester halbtags arbeitete, war „die Oma“ zur Stelle, um mit den Enkeln zu spielen und zu basteln. Mutter war fest in das Familienleben eingebunden. Durch die kurze Entfernung zu Veronikas Haus lagen häufige Besuche auf der Tagesordnung.

 

Ich arbeitete nicht weit entfernt in Hamburg-Rahlstedt in einem ökologischen Baugeschäft. Das Geschäft gründeten mein Mann Herbert und ich im Jahr 1985, als die Nachfrage nach ökologischen Produkten stieg und entsprechende Produkte im Handel kaum erhältlich waren. Als Team ergänzten wir uns optimal. Herbert als Architekt verfügte über das technische Wissen und ich übernahm die kaufmännische Leitung.

 

Hin und wieder besuchte Mutter uns auf der Arbeitsstelle. Die kurze Strecke von drei Kilometern legte sie mit dem Fahrrad zurück. Meistens brachte sie donnerstags vom Ökomarkt Frikadellen und Würstchen mit oder an anderen Wochentagen Streuselkuchen vom Bäcker. Ich setzte im Büro Kaffee auf, wir verzehrten genüsslich die Leckereien und tauschten Neuigkeiten aus. Die Besuche waren mir ein lieb gewordenes Ritual. Nur manchmal, wenn viel zu tun war, stand ich unter Spannung. Waren mehrere Kunden im Laden, musste ich im Verkauf helfen. Dann geschah es mitunter, dass Mutter lange Zeit alleine im Büro saß, ihr Würstchen aß und, ohne dass wir miteinander reden konnten, nach Hause radelte. Das machte mich immer etwas traurig.

Im Sommer 2003, Mutter war 82, besuchte sie uns häufiger als üblich im Geschäft. Nun lud sie Herbert und mich auch öfters abends zum Essen zu sich nach Hause ein. Sie kochte gerne und gut und jedes Mal durften wir etwas aus-wählen, worauf wir Appetit hatten. Doch bald nahmen die Einladungen überhand.

 

Nach einem anstrengenden Arbeitstag freute ich mich auch auf mein Zuhause. An normalen Tagen trafen wir abends um halb acht dort ein. Wenn Staus oder glatte Straßen im Winter auf der Heimfahrt über die A1 an den Nerven zerrten und wir zu später Stunde heimkamen, fühlte ich mich erschöpft und leer. Die Hausarbeit erledigten wir überwiegend an den Wochenenden. Das Unkraut im Garten ertrugen die lieben Nachbarn mit stoischer Ruhe, bei unseren Freunden machten wir uns manchmal sehr rar. Dann war da noch unsere Hündin Thessa, ein Windhund-Boxer-Mix, die sich während einer Griechenlandreise halb verhungert in mein Herz schlich und viel Zeit beanspruchte. Tagsüber verweilte sie brav in einer Ecke im Büro. Kaum klappte die Ladentür hinter ihr zu, war ihr Bewegungsdrang nicht mehr zu bremsen. So sagte ich auch öfters mal „nein“ zu einer Einladung zum Essen und bemerkte nicht Mutters Versuche, der Einsamkeit zu entgehen.

 

Mutter war ihr Leben lang immer sehr beschäftigt gewesen, Langeweile kannte sie nicht. Die Situation änderte sich unbemerkt mit leisen Schritten.

 

Mein Vater starb vor 26 Jahren. Die Arbeit in dem Ein-Personen-Haushalt hielt sich nun in Grenzen, auch der pflegeleicht angeordnete Garten erforderte nicht ständiges Handeln.

Die Enkel Julia und Jens waren der Pubertät entwachsen und gingen ihre eigenen Wege.

 

Besuche von Freundinnen fanden kaum noch statt, denn die meisten lebten nicht mehr oder sie waren nicht mehr mobil.

Die Privatschneiderei kam zum Erliegen, weil die inzwischen betagten Kunden den Weg nach Hamburg-Tonndorf nicht mehr bewältigten.

 

Die Nachbarschaft löste sich durch Tod oder Umzug auf. Die neuen Nachbarn sprachen kaum Deutsch oder waren mit sich selbst beschäftigt. Man grüßte freundlich und wechselte vielleicht ein paar Worte, mehr aber nicht.

 

Die Geschwister Martl und Gerhard lebten seit einigen Jahren nicht mehr, Hubert war im Krieg gestorben. Cläre, früher wurde sie „Klärchen“ gerufen, wohnte in Augsburg. Die weite Entfernung wurde im Alter zum Hindernis für gegenseitige Besuche. Kurzum: Mutter hatte zum ersten Mal in ihrem Leben Zeit, die irgendwie zu füllen war.

 

Fortan widmete sie sich dem Häkeln von Wolldecken. Vom Dachboden zauberte sie haufenweise Wollreste in allen Farben hervor und als sich der Vorrat erschöpfte, kramten Veronika und ich in unseren Wollbeständen nach Brauchbarem. Mutter saß abends zufrieden vor dem Fernseher und häkelte, bis alle Familienmitglieder mehrere Decken besaßen und der letzte Wollknäuel aufgebraucht war.

 

Im folgenden Frühjahr ließen die Besuche in unserem Geschäft nach. Eines Tages vertraute Mutter mir an, sie traue sich nicht mehr so recht, Fahrrad zu fahren. Wie viele Frauen ihrer Generation besaß sie keinen Führerschein. Ihre Schulfreundin Ulli lehrte sie das Fahrradfahren, als sie neun Jahre alt war. Das Rad gehörte Ullis erwachsenen Schwestern, der Sattel war viel zu hoch und so lernte Mutter stehend fahren. Auch im Alter fuhr sie leidenschaftlich gerne Rad und erledigte alle Einkäufe und Ausflüge in die nähere Umgebung mit ihrem blauen Hollandrad. Zu Fuß war sie schon immer ungern unterwegs gewesen. Mitunter beschlich mich der Verdacht, dass Mutter auf dem Treck im Spätherbst 1946 für sich entschieden hatte, nie wieder längere Strecken zu laufen, wenn es sich irgendwie vermeiden ließe. Mir schwante, dass sie ohne Fahrrad nur noch selten oder gar nicht mehr das Haus verlassen würde.

Zufällig beobachtete ich vom Bürofenster aus eine junge Frau mit einem Handicap auf einem Dreirad für Erwachsene. Da kam mir die Idee. Ein solches Fahrrad wäre vielleicht für Senioren ideal zur Erhaltung der Mobilität, kippsicher und hintendrauf ein großer Korb für die Einkäufe! Begeistert berichtete ich Mutter von dem Plan. Ich rechnete mit Widerstand, denn anderen gegenüber zeigte sie sich gerne großzügig, während sie jede Anschaffung für sich sehr genau überlegte. Womöglich wäre ihr ein Dreirad auch peinlich, ließe es die Defizite doch allzu deutlich erkennen. Zu meiner Überraschung willigte Mutter in den Kauf des nicht gerade billigen Gefährts ohne Vorbehalt ein.

 

In der näheren Umgebung gab es drei Fahrradgeschäfte mit Rennrädern, Mountainbikes, Cityrädern, Trekkingbikes und Klapprädern in den Ausstellungen. Keine Dreiräder für Senioren. Somit fand keine Probefahrt statt und wir kauften das Rad sozusagen blind ein.

 

Nach vierzehn Tagen holte ich das neue Dreirad im Fahrradgeschäft ab und radelte damit zum Haus meiner Mutter. Obwohl ich eine routinierte Radfahrerin bin, erwies sich die erste Fahrt auf dem Seniorenrad als äußerst gewöhnungsbedürftig. Das Rad zog mal nach links, mal nach rechts. Beim Kurvenfahren neigte ich den Oberkörper nach innen, so wie ich es vom Zweirad her gewohnt war. Dann zog das Rad in die entgegengesetzte Richtung. Seitdem ich mich als Kind auf dem Rad sicher fühlte, hat mein Unterbewusstsein die Führung übernommen. Das funktionierte hier nicht mehr. Ich musste mir bewusst machen, wie dieses Rad zu lenken ist. Wenn ich den Oberkörper gerade hielt, mich auf die Arme konzentrierte und das Rad wie ein Auto lenkte, klappte es ganz gut und ich hielt einigermaßen die Spur.

Auf meinem Zweirad schlängelte ich mich galant an Bäumen, Pfosten und Fußgängern vorbei. Bei dem Dreirad, hinten viel breiter als vorne, lauerte überall die Gefahr, entlang des Weges irgendwo hängen zu bleiben. Die Bordsteinabsenkungen erforderten höhere Kraftanstrengungen. Hinunter auf die Straße fuhr das Rad fast von alleine, aber beim Hinauffahren zurück auf den Fahrrad- oder Fußweg galt es, fest in die Pedale zu treten. Ich fragte mich, ob eine 83-Jährige diese Umstellung bewältigen kann.

 

Als ich Mutter das neue Drei-Gänge-Dreirad präsentierte, war sie sofort von dem riesigen Korb begeistert. Endlich wieder im Supermarkt einkaufen, ohne die schweren Taschen nach Hause zu schleppen! Die erste Übungsstunde absolvierten wir im Park auf dem Wanderweg entlang der Wandse. Der Park liegt etwa dreihundert Meter vom Haus entfernt. Der schmale Bach mündet hier in einen kleinen Teich, um auf der anderen Seite seinen Weg in die Alster fortzusetzen. Die leichte Neigung des Weges hin zum Bach erwies sich als die erste Hürde, der Lenker zog in Richtung Wandse. Meinen Tipp „stelle dir vor, du sitzt am Steuer eines Autos“, quittierte Mutter mit heiterem Gelächter, denn beim Autofahren mangelte es ihr genauso an Erfahrung wie bei dem Dreirad. Doch hielt sie sich tapfer und gab nicht gleich auf.

 

Wir übten vielleicht zwei-, dreimal im Park und trauten uns dann auf asphaltierte Radwege entlang wenig befahrener Straßen. Ich fuhr auf dem blauen Hollandrad nebenher und achtete auf schmale Stellen und sonstige Hindernisse. Einmal galt es, eine Straße mit hohem Bordstein zu überqueren. Wir stiegen ab und tauschten die Räder, damit ich das unhandliche Dreirad über die Straße schieben konnte. Auf der anderen Straßenseite angekommen, schwang Mutter sich in alter Gewohnheit auf ihr Hollandrad, radelte etwa fünf Meter weit und – stürzte. Ihre Motorik war inzwischen auf das Dreirad eingestellt und der Gleichgewichtssinn offenbar ausgeschaltet. Glücklicherweise blieb ein buntmarmorierter Bluterguss am Knie die einzige Folge.

Ich machte mir Vorwürfe, weil ich nicht besser auf Mutter aufgepasst hatte. Aufgepasst auf meine Mutter? Offensichtlich hatte sich das Blatt gewendet.

 

Unsere Übungsstunden hielten nicht lange an. Der Herbst kam und mit ihm die kalten und regnerischen Tage. Den Winter 2004/2005 verbrachte Mutter meistens im Haus. Sie kochte sich ihr Essen noch selbst, machte Handarbeiten, las die Tageszeitung und sah viel fern. Gelegentlich holte sie Lebensmittel vom Discounter um die Ecke, andere Läden waren für sie zu Fuß nicht mehr erreichbar. So kaufte ich hin und wieder für Mutter ein, vor allem frische Wurstwaren beim Bioschlachter und Gemüse vom Markt. Als Schnee und Glätte das Einkaufen beim Discounter verhinderten, übernahm ich komplett ihre Lebensmittelversorgung. In diesem Winter ahnten wir nicht, dass das Dreirad nie mehr zum Einsatz kommen sollte. 

 

4. Rückers 1923 - 1926

 

1923 beherrschte die Inflation das Land. Anfang November entsprach der Kurs für einen US-Dollar über vier Billionen Mark. Für hundert Millionen Mark konnte man einen Brief versenden. Vater brachte seinen Lohn täglich in einer großen Tasche nach Hause. Der Wert des Papiergeldes verfiel so rasant, dass Mutter für den Tageslohn am Abend kaum noch etwas zu kaufen bekam. Mitte November wurde die Rentenmark eingeführt und somit die Inflation währungstechnisch beendet. Die im August 1924 parallel zur Rentenmark eingeführte Reichsmark sollte ursprünglich die Rentenmark ersetzen, aber bis zur Währungsreform 1948 behielten beide Währungen ihre Gültigkeit.

 

In der Zeit nach der Inflation fielen die Weihnachtsgeschenke recht dürftig aus. Mutter nähte Kleidung für uns Kinder, auch Schuhe befanden sich auf dem Gabentisch. Auf den bunten Tellern fanden wir Äpfel, Nüsse und eine Rippe Schokolade, selbst gebackene Butterkekse und Pfefferkuchenplätzchen. Besonders groß war die Freude immer über eine Apfelsine, das hatte so etwas Exotisches, aber Apfelsinen gab es in diesem Jahr nicht. Für die bunten Teller verwendete Mutter Suppenteller. Weil die jedoch bald wieder im Haushalt benötigt wurden, leerten wir den Inhalt in die Schuhkartons.

 

Meine erste Erinnerung an Weihnachten war 1924, als ich vier Jahre alt war. Ich bekam einen Puppenwagen. Dass der Wagen zuvor schon einige Mädchen in der Verwandtschaft glücklich gemacht hatte, spielte für mich keine Rolle. Den ganzen Abend schob ich meinen Puppenwagen um den Tannenbaum herum und war selig. Klärchen war schon sechs Jahre alt, endlich brachte das Christkind auch ihr einen Puppenwagen. Vater ergatterte ein ausgedientes Untergestell von einer alten Kinderkarre und zimmerte darauf einen rechteckigen Kasten aus Brettern. Den Kasten versah er mit einem dunkelgrünen Anstrich. Mit Kissen und einer Puppe darin sah das Gefährt einem Puppenwagen sehr ähnlich. Stolz fuhren Klärchen und ich trotz Schnee und Eis unsere Puppen aus. In der Nachbarschaft begegneten wir Franzl, dem Spielkameraden unserer Brüder. Klärchen erhoffte sich Beifall für ihren Puppenwagen, doch stattdessen platzte es aus Franzl heraus: „Mensch, Klärchen, was hast du denn da für einen Sargdeckel?“ Das ging Klärchen an ihr Selbstwertgefühl und ab sofort ignorierte sie ihren Puppenwagen und auch den Franzl. Später im Winter montierte Hubert den Kasten ab und benutzte ihn als Rutsche über die verschneiten Berge. Nun muss man wissen, dass Klärchen im Gegensatz zu mir keine gute Puppenmutter war. Sie tollte lieber mit den Jungen herum und prügelte sich auch gerne mal mit ihnen.

 

Unsere Schwester Martl arbeitete bereits seit zwei Jahren als gelernte Verkäuferin in der Kleinstadt Nimptsch. Damals waren die Geschäfte am Heiligen Abend bis halb sieben geöffnet. Wegen der Entfernung konnte Martl erst am ersten Weihnachtstag nach Hause kommen. Martl bedachte die Familie immer mit ausgefallenen Geschenken. An diesem Weihnachten schenkte sie Klärchen und mir niedliche Celluloidbabys in selbst genähten Steckkissen. Die Puppen trugen selbst gestrickte Jäckchen und Mützchen aus weißem Häkelgarn. Mein Baby war eindeutig ein Mädchen, denn die Kleidung war rosafarben eingefasst.

 

Vater erhielt von Martl eine Dose Bismarckheringe und Mutter freute sich über ein Päckchen Bohnenkaffee. Für beides musste Martl viele Stunden arbeiten, denn Bismarckheringe und Bohnenkaffee gehörten zu den Luxusartikeln, die man sich nicht oft leisten konnte. Am zweiten Weihnachtstag fuhr Martl zurück nach Nimptsch, weil sie bis Neujahr wieder im Geschäft gebraucht wurde. Als ich klein war, sah ich in Martl eher eine Tante als eine große Schwester. Ich konnte nicht verstehen, eine so erwachsene Schwester zu haben. Auch sahen wir uns zu selten, das Fahrgeld war teuer und die Arbeitszeit lang.

 

Als der Tannenbaum abgeschmückt wurde, bastelte ich aus dem obersten Stück einen kleinen Christbaum für die Puppenstube. Aus dem nächstfolgenden Stück fertigte Mutter einen Quirl für die Küche. Dazu weichte sie das Stück Stamm mit den gestutzten Ästen in Wasser ein. Die aufgeweichte Rinde ließ sich leicht entfernen, und mit Sandpapier erhielt der Quirl einen glatten Schliff.

 

Im Frühsommer suchten wir Kinder an Wegesrändern und Hängen nach roten Beeren. Am Uferrand des Mühlgrabens wuchsen Sauerampfer und Brunnenkresse. Die Brunnenkresse hackten wir klein und strichen sie mit etwas Salz aufs Butterbrot. Im Juli pflückten wir im Wald die Blaubeeren und im Frühherbst sammelten wir Pilze. Mutter kochte leckere Pilzgerichte und in einem guten Pilzjahr trocknete sie die geschnittenen Pilze als Vorrat für den Winter. Das Obst im Garten konservierte sie in Gläsern oder dörrte es zu Backobst. Auch auf die geliebte Brause mussten wir nicht verzichten. Unser Wasser war frisch, sehr eisenhaltig und kalkfrei. Aus Essig, Zucker und Wasser bereiteten wir Limonade und mit Natron wurde daraus Brause.

Jedes Jahr im September fand auf unserem Spritzenplatz die große Kirmes statt. Da war immer sehr viel los in unserem Dorf. Vor dem Fest rollten die Wohn- und Arbeitswagen der Schausteller an. Sie wurden mit dem Güterzug transportiert und am Ankunftsort von der Spedition mit Pferden auf den Rummelplatz gezogen. Später übernahmen Trecker diese Aufgabe.

 

Neugierig verfolgten wir den Aufbau der Karusselle, Schaukeln und Buden. Wir hatten ja auch einen Logenplatz, brauchten nur vor die Haustür zu treten und konnten den ganzen Platz überblicken. Neben dem Pferdekarussell und dem Kettenkarussell gab es sogar eine Überschlagschaukel. Manchmal fand sich ein Kasperletheater auf dem Platz ein und einmal wurde sogar ein Riesenrad aufgestellt. Dafür war der Spritzenplatz allerdings nicht groß genug. Das Riesenrad, mit den heutigen an Größe und Umfang keineswegs zu messen, stand gegenüber auf der Wiese neben dem Wolkenkratzer.

 

Die Schausteller Röber besaßen zwei Buden, eine mit dem Glücksrad und eine Losbude. Was Röbers fehlte, war ein Wohnwagen. Das Ehepaar Röber und der Vater der Frau wohnten immer bei uns. Von Frau Röber bekam ich meinen ersten und einzigen Teddybären geschenkt. Den braunen Bären habe ich heiß und innig geliebt, leider ist er später bei der Vertreibung zurückgeblieben. Später schafften sich die Röbers auch einen Wohnwagen an. Bei jeder Gelegenheit suchte ich dort ihre Gesellschaft und fühlte mich wie in einer Puppenstube.

 

Auf dem Rummelplatz stand ein Handwagen mit zwei Rädern und einem Standbein: der Eiswagen. Die Gefäße mit dem Speiseeis lagen eingebettet zwischen den Roheisstücken auf dem Wagen. Zwei Sorten Speiseeis standen zur Auswahl: Vanille und Schokolade. Die kleine Waffeltüte kostete fünf Pfennige und die große zehn. Die Fleischerei Loske verkaufte heiße Würstchen. Für eine Abgedrehte, so hießen die Knackwürste, bezahlten wir dreißig Pfennige. Wir Kinder sparten monatelang auf die Kirmes. Einmal konnte ich 3,75 Reichs-Mark verjubeln, da fühlte ich mich wie eine Königin.

Während der Kirmeswoche wurden wir reichlich mit Musik beschallt. Jedes Fahrzeug spielte seine eigene Musik auf der Drehorgel. Die Orgel des Kettenkarussells dudelte bis Mitternacht unentwegt den Florentiner Marsch, am Abend schlief ich mit dem Florentiner Marsch im Ohr glücklich ein. Die schallende Geräuschkulisse fand ich wundervoll und wenn die Schausteller weiter gezogen waren, musste ich mich an die Stille erst wieder gewöhnen. Nun gingen wir Kinder auf die Suche. Wo die Karusselle, Schaukeln und Tribünen standen und das Gras nicht zertreten war, fanden wir manchmal ein durch die Ritze im Fußboden gerolltes Geldstück.

 

Nach der Kirmes fand sich regelmäßig ein alter Bekannter in Rückers ein. Der Mischa war im besten Mannesalter und ein Unikum. Geistig stand er auf der Stufe eines kleinen Kindes. In den Sommermonaten fuhr Mischa mit einem betagten unmodernen Kinderwagen durch die Lande und sammelte leere Flaschen ein. Diese hängte er mit Bändchen ringsherum um den Kinderwagen. Mit einer Ziehharmonika, der er nur Misstöne entlockte, verdiente er sich sein Essen. Die Leute empfanden Mitleid und steckten ihm gerne ein paar Pfennige in die Tasche. Mal erzählte Mischa, seine Schwester hätte ein Kind bekommen und es wäre besser gewesen, sie hätte ein Kalb gekriegt, das könnte man verkaufen und ein paar Taler dafür bekommen. Das Auftauchen Mischas sprach sich wie ein Lauffeuer im Dorf herum, die Kinder rannten scharenweise hinter ihm her wie dem Rattenfänger von Hameln.

 

Der Nigrin-Mann kam auf Stelzen daher. Die schwarzen weiten Hosenbeine reichten bis zur Erde, auf dem Kopf trug er einen Zylinder und so marschierte er geschickt auf seinen Stelzen durch das Dorf. Dabei verteilte er kleine Blechschachteln mit Schuhcreme von der Firma Nigrin. Wie beim Mischa waren wir Kinder auch hier zur Stelle, in der Hoffnung, eine kleine Schachtel Schuhcreme zu erhaschen.

 

In den Schulferien hüteten Gerhard und Hubert die Kühe des Nachbarbauern, denn die Weiden waren nicht eingezäunt. Dafür bekamen sie etwas Geld. Im Herbst halfen die Brüder bei der Kartoffelernte. Mit einem Schleuderrad, von einem Pferd gezogen, wurden die Kartoffeln aus der Erde befördert. Die Erntehelfer sammelten die Kartoffeln in Körbe. Das Beste an der Kartoffelernte war die Vesper am Nachmittag. Es gab Bauernbrotschnitten, reichlich mit Landbutter bestrichen, und heißen Kaffee. Danach wurde bis zur Dämmerung weitergearbeitet. Zum Feierabend erhielt jeder eine Mark Lohn und ungefähr sechs Kilo Kartoffeln.

Die Bauernhöfe waren durchweg „Biohöfe“. Das Kleinvieh lief frei herum, im geräumigen Schweinestall grunzten zufriedene Schweine und die Kühe zeugten ihren Nachwuchs noch auf natürliche Weise. Die kleineren Höfe hielten sich einen Zugochsen, aber manche Bauern besaßen auch schon ein oder zwei Pferde. Im Winter war bei den Bauern Schlachtfest. Am Tag davor kochten die Bäuerinnen einen großen Topf Graupen, und am Schlachttag entstand daraus mit dem Schweineblut, der Fleischbrühe und Gewürzen eine Wurstgraupe. Je nach Geberlaune des Bauern war die Wurstgraupe mal mehr mal weniger mit Fleischstückchen vom Wellfleisch angereichert. Die Wurstgraupe verteilten die Bauern an die Nachbarn und an gute Bekannte. Meiner Familie ging es da immer besonders gut. Um uns herum gab es fünf Bauernhöfe und von den Bauern, deren Töchter bei Mutter Nähkenntnisse erwarben, wurden wir natürlich auch bedacht. Manchmal legten sie sogar ein paar Blut- und Leberwürstchen dazu. Mutter briet die Wurstgraupe im Backofen und servierte sie mit Kartoffeln und Sauerkraut – wahrlich eine Delikatesse!

 

Nach der Kartoffelernte machten die Brüder mit dem vertrockneten Kartoffelkraut ein Feuer. Auf den Feldern fand man hier und da noch ein paar Kartoffeln. Dann kamen die Kinder aus der Nachbarschaft, wir legten die Kartoffeln ins Feuer und aßen sie mit Genuss. Zum Abschluss sprangen die Jungen über das Feuer. Ängstlich und bewundernd schauten wir Mädchen zu. Die Jungen waren einige Jahre älter und in unseren Augen sehr mutig.