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Otl Aicher

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Beschreibung

Otl Aicher (1922-1991) war einer der herausragenden Vertreter des modernen Designs. Was er seit den 1950er Jahren, seit seiner Zeit an der von ihm mitbegründeten und heute legendären Ulmer Hochschule für Gestaltung, etwa auf dem Gebiet des Corporate Design, geschaffen hat - erinnert sei hier nur an die Erscheinungsbilder für die Firma Braun, die Lufthansa, das Zweite Deutsche Fernsehen und die Firma ERCO, gehört zu den ganz großen Leistungen der visuellen Kultur unserer Zeit. Mit einer aktuellen Einführung von Wilhelm Vossenkuhl: "Ein wesentlicher Aspekt der Arbeiten von Aicher ist deren Verankerung in einer von Denkern wie Ockham, Kant oder Wittgenstein inspirierten "Philosophie des Machens", die die Voraussetzungen und Ziele sowie die Gegenstände und Ansprüche von Gestaltung zum Thema hat. Aichers Schriften zu Fragen des Designs (wobei hier alle Bereiche der visuellen Gestaltung bis hin zur Architektur gemeint sind) liegen in diesem Band in geschlossener Form vor. Wenn Aicher das Analoge und Konkrete dem Digitalen und Abstrakten vorzieht, tut er dies mit philosophischer Absicht. Er relativiert die Rolle der reinen Vernunft. Er kritisiert den Rationalismus der Moderne als Ergebnis der Vorherrschaft des bloß abstrakten Denkens. Wer das Abstrakte dem Konkreten vorzieht, missversteht nicht nur die wechselseitige Abhängigkeit von Begriff und Anschauung. Er schafft nach Aichers Urteil auch eine falsche Hierarchie, eine Rangordnung, die kulturell verhängnisvoll ist. das digitale, Abstrakte ist nicht höher, größer und wichtiger als das Analoge, Konkrete." W. Vossenkuhl

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inhalt

Cover

Title Page

Copyright

einführung

Authentizität und eine fragwürdige Analogie

Wissen und Machen

Denken und Machen

Kritik am Rationalismus

Aicher heute

greifen und begreifen

erweiterungen des ich

das auge, visuelles denken

analog und digital

nachwort

universalien und versalien

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buridan und peirce

lesen von partituren

ehrendes begräbnis für descartes

design und philosophie

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3

4

architektur und erkenntnistheorie

der gebrauch als philosophie

1 wittgenstein als architekt

2 das haus wittgenstein

3 wir in der welt

4 der gebrauch

5 schule des machens

6 schauen

nachtrag

planung und steuerung

entwicklung, ein begriff

ein apfel

das ganz gewöhnliche

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lebensform und ideologie

kulturen des denkens

nachwort

nachweise

eula

Guide

Cover

Table of Contents

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otl aicher analog und digital

mit einer einführung

von wilhelm vossenkuhl

bibliografische information der deutschen nationalbibliothek

die deutsche nationalbibliothek verzeichnet diese publikation in der deutschen nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische daten sind im internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2015 wilhelm ernst & sohn, verlag für architektur und technische wissenschaften gmbH & co. kg, rotherstraße 21, 10245 berlin, germany

© 1991 otl aicher, 1992 inge aicher-scholl, 2014 florian aicher

alle rechte, insbesondere die der übersetzung in andere sprachen, vorbehalten. kein teil dieses buches darf ohne schriftliche genehmigung des verlages in irgendeiner form – durch fotokopie, mikrofilm oder irgendein anderes verfahren – reproduziert oder in eine von maschinen, insbesondere von datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare sprache übertragen oder übersetzt werden.

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2. auflage

print isbn: 978-3-433-03118-6

epdf isbn: 978-3-433-60592-9

epub isbn: 978-3-433-60591-2

emobi isbn: 978-3-433-60595-0

obook isbn: 978-3-433-60581-3

Einführung

von Wilhelm Vossenkuhl

Authentizität und eine fragwürdige Analogie

„Wie kommt es“, fragt Edward Young, „dass wir als Originale geboren werden und als Kopien sterben?" Der englische Poet aus dem 18. Jahrhundert ist darüber besorgt, dass wir als Individuen in der Gesellschaft unsere Unverwechselbarkeit verlieren. Wir passen uns den anderen Menschen, dem Geschmack der Zeit, aber auch dem Recht und der politischen Ordnung an. Am Ende wissen wir nicht, wer wir sind und was uns von allen anderen unterscheidet.

Diese Sorge um unsere Authentizität hat bis heute nicht nachgelassen. Authentizität ist eines der großen Themen der Moderne. Youngs Zeitgenosse Rousseau glaubt, wir könnten nur sinnvoll in der „Einheit des Lebens mit sich selbst“, in der Einheit mit der Natur existieren. Er schlägt zur Rettung der Authentizität ein neues bürgerliches Recht vor, das eine Lebensgemeinschaft an Stelle abstrakter Rechtsverhältnisse schaffen soll.

Wir können heute nicht recht nachvollziehen, wie wir in einer bürgerlichen Lebensgemeinschaft dem Ideal der Einheit mit der Natur gerecht werden sollen. Dennoch wirkt dieses Ideal noch immer faszinierend. Wir haben nicht aufgehört, nach ihm zu streben. Es hat in unserer ökologischen Epoche aber einen anderen Sinn als bei Rousseau.

Wir wollen heute auf dem kürzesten Weg zur Einheit mit uns selbst gelangen und unser authentisches Selbst nicht mehr auf dem Umweg über die Gesellschaft suchen. Wir streben nach dem direkten, konkreten Verhältnis zu unserer eigenen Natur und unserer natürlichen Umwelt. Die Gesellschaft und ihre Ordnung scheinen vom richtigen Verhältnis des Individuums zur Natur abhängig zu sein, nicht umgekehrt. Mit dem Bewusstsein von den ökologischen Gefahren tritt die natürliche vor die soziale Umwelt. Der lange zumindest politisch und rechtlich beachtete Vorrang der Gesellschaft vor den egoistischen Interessen des Individuums wird seit einiger Zeit in Frage gestellt. Zumindest in westlichen Gesellschaften herrscht seit einiger Zeit ein neuer Individualismus mit vielen Licht- und Schattenseiten.

Rousseaus Vorschlag erschien Lionel Trilling vor einem halben Jahrhundert reichlich abstrakt. Trilling meinte, unser Gefühl für Authentizität sei rauher, konkreter, extremer geworden (Das Ende der Aufrichtigkeit, Frankfurt a. M. 1983, S. 92). Als Trilling diese These in seinen Vorlesungen an der Harvard University vortrug, war sie gut nachvollziehbar. Seine damalige Skepsis Rousseau gegenüber ist heute wiederum schwer verständlich. Das Glück, das Rousseau als philosophisches Leben in seinen „Rêveries“ beschrieb, ist dagegen wieder zugänglich (Heinrich Meier, Über das Glück des philosophischen Lebens. Reflexionen zu Rousseaus Rêveries, München 2011).

Das Bemühen um Einheit mit der Natur und nach einem authentischen, gleichzeitig glücklichen Selbst ist angesichts der ökologischen Gefahren unter Zeitdruck geraten. Kein Wunder, dass wir unter diesem Zeitdruck immer ungeduldiger werden. Mit der Ungeduld wächst auch die Unduldsamkeit gegenüber den – tatsächlichen oder vermeintlichen – Verursachern dieser Gefahren. Diese Ungeduld ist jedoch selbst ein Symptom und nicht nur eine Folge der Krise des Verständnisses von uns selbst und unserer Einheit mit der Natur.

Die Krise ist nicht nur älter als die ökologische. Sie war denen, die – wie Rousseau – in der Aufklärung nach unserer Authentizität gefragt haben, bereits bewusst. Der Versuch, diese Krise zu lösen, führt aber in eine falsche Richtung. Im späten 18. Jahrhundert setzt sich nämlich – nach langer Vorbereitung durch Anatomie und frühe biologische Forschung – der Gedanke durch, dass das Organische das Natürliche sei.

Wie irreführend dieser Gedanke im Hinblick auf unser Selbstverständnis und unser Verhältnis zur Natur ist, lässt sich zunächst nicht erkennen. Vielleicht hat er deswegen bis heute kaum etwas von seinem Einfluss eingebüßt. Er begegnet uns in der Kritik an der modernen Technologie ebenso wie in der Literatur. Was macht diesen Gedanken so plausibel?

Ein Organ ist ein Ganzes, auch wenn es Teil eines größeren Zusammenhangs mit anderen Organen ist; es spielt eine unverwechselbare und unersetzliche Rolle. Ein anschaulicheres Bild der Authentizität als das Organische lässt sich schwerlich finden. Es vermittelt den Gedanken, dass das Authentische natürlich gewachsen sein muss, dass es nicht künstlich hergestellt sein darf.

Die ersten Kritiker des Zeitalters der Maschine im frühen 19. Jahrhundert, Carlyle und Ruskin, bedienen sich der Analogie zwischen dem Authentischen und Organischen. Sie sehen im mechanischen Prinzip der Maschine eine Gefahr für die Authentizität des Menschen. Alles, was der Mensch selbst mit technischen Hilfsmitteln schafft, ist in ihren Augen künstlich hergestellt und deswegen nicht authentisch. Auch die Kunst muß sich, wenn sie Authentisches schaffen will, so meinen sie und die Romantiker des 19. und 20. Jahrhunderts, am Organischen orientieren. Wer übrigens meint, dass Carlyles und Ruskins Skepsis der Maschinenwelt gegenüber lange her und längst obsolet ist, irrt. Erst jüngst können wir Zeugen einer nicht weniger vehementen Kritik am Maschinen- und Wissenschaftszeitalter werden, in Michael Oakeshotts Tagebüchern (Michael Oakeshott, Notebooks 1922–1986, ed. by Luke O'Sullivan, Exeter 2014). Auch Oakeshott ging es indirekt um die Analogie zwischen dem Authentischen und dem Organischen in Gestalt dessen, was unsere integre, von nichts und niemandem verbogene Natur als Menschen ausmacht. Er sprach vom „Terrorismus der Wissenschaft“ („terrorism of science“) und wendete sich gegen einen oberflächlichen Fortschrittsglauben, der unsere Natur verändert. Wie Ruskin glaubte er, dass die Kommerzialisierung des Lebens, die Industrialisierung und das Geld der Fluch unserer Tage seien. Dies alles lenke uns von unserem eigentlichen Selbst ab. Die Frage nach der Analogie zwischen dem Authentischen und dem Organischen ist offenbar nicht veraltet. Was ist aber fragwürdig an dieser Analogie?

Fragwürdig an der Analogie ist, dass sie uns aufgrund einer kleinen Metamorphose irreführt. Denn das Organische verändert unversehens seine Bedeutung. Aus der Analogie, aus dem Bild für das Authentische wird plötzlich ein Vorbild, eine Art Ideal. Es erscheint so abstrakt wie Rousseaus Ideal der Einheit mit der Natur in Trillings Augen. Rousseaus Ideal ist aber alles andere als abstrakt, weil es mit der Idee der Freiheit verbunden ist. Der Mensch kann sich selbst bestimmen, das ist Rousseaus Botschaft. Die Freiheit ist ein aktives Prinzip, das die Suche nach der Einheit mit der Natur in der Gesellschaft lenkt. Der Mensch ist Gestalter seiner eigenen Identität.

Das Organische ist kein Vorbild aktiver Selbstbestimmung. Es verurteilt den Menschen eher zu Passivität und Fremdbestimmung. Wir wissen nicht einmal, was wir tun sollen, wenn wir uns an dem orientieren, was organisch ist, abgesehen vom Einkauf in Bioläden natürlich. Die Analogie zwischen Authentischem und Organischem ist fragwürdig, weil sie suggeriert, dass wir in der organischen Struktur der natürlichen Umwelt unsere eigene Natur entdecken können. Unsere Natur und unsere Einheit mit der natürlichen Umwelt bestimmen und gestalten wir aber selbst, wenn überhaupt. Deshalb sind wir auch für unsere eigene Natur und die Umwelt verantwortlich.

Wissen und Machen

Die Selbstbestimmung und die Gestaltung der Natur und der Lebenswelt bleiben abstrakte Ziele, solange wir nicht wissen, wie wir sie verwirklichen können. Welche Art von Wissen benötigen wir, um uns selbst zu bestimmen? Es gibt zwei Arten des Wissens, die in Frage kommen. Das eine ist das Wissen eines Plans, der vorschreibt, wie das Ziel der Selbstbestimmung erreicht werden kann. Das andere ist ein Wissen, das sich im Lauf der konkreten Selbstbestimmung erst entwickelt. Ersteres nennen wir theoretisches, letzteres praktisches Wissen. Im einen Fall liegt das Ziel fest, bevor es erreicht wird, im anderen konkretisiert sich das Ziel erst auf dem Weg zu ihm.

Beide Arten des Wissens kennt bereits Aristoteles. Ihm ist allerdings zweierlei fremd, die Idee der Selbstbestimmung und die Vorstellung, daß der Mensch sich selbst herstellen, sich selbst machen kann. Daher hat es keinen Sinn, seine Auffassungen des theoretischen und praktischen Wissens auf die spezifisch moderne Idee der Selbstbestimmung zu übertragen. Wir müssen sehen, wie in der frühen Moderne, in der die Idee der Selbstbestimmung entstand, theoretisches und praktisches Wissen verstanden wurde.

Das moderne Verständnis des theoretischen Wissens prägte vor allem Descartes, das des praktischen Wissens Vico. Für Descartes bedarf die Bestimmung des eigenen Selbst keiner Erfahrung. Das Ich hat für ihn keine Geschichte. Es ist eine zeitlose und raumlose Substanz, die wir nicht bezweifeln können. Wann immer ich an etwas zweifle, weiß ich, dass ich es bin, der zweifelt. Dieses Ich muss, so argumentiert Descartes, unbezweifelbar sein. Seine theoretischen Bestimmungen müssen, wie mathematische Gesetzmäßigkeiten, lediglich nachvollzogen, nicht neu entdeckt werden. Für Descartes kann es deshalb kein Problem der Selbstbestimmung geben. Das Ich ist immer schon als die unbezweifelbare Basis alles Wissens bestimmt.

Vico, der Gegenspieler Descartes, glaubt, dass das Wissen von uns selbst geschichtlich ist. Er sieht in den „Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes“ die Prinzipien, nach denen wir die Geschichte machen. Das Wissen von der Geschichte, dies ist sein Grundgedanke, bildet sich im und durch das Machen der Geschichte. Wir erwerben praktisches Wissen durch das eigene Machen, das Herstellen der Geschichte.

Descartes' Auffassung des theoretischen Wissens hat die Entwicklung der modernen Naturwissenschaften geprägt. Ihr Wissen setzt Mathematik voraus. Mit Hilfe der Mathematik konnten und können sie erfolgreich die Gesetzmäßigkeiten der Natur auf der Basis von Experiment und Hypothese formulieren. Descartes formulierte die modernen Standards der Wahrheit und der Gewissheit des Wissens.

Vicos Auffassung des praktischen Wissens durch menschliches Machen blieb ein ähnlicher Erfolg versagt. Dies liegt auch daran, dass seine Auffassung des Machens in sich unstimmig ist. Wir machen zwar die Geschichte, folgen dabei aber, als Geschöpfe Gottes, den von ihm festgelegten Gesetzmäßigkeiten. Die Idee der Selbstbestimmung des Menschen ist Vico noch fremd.

Welche Auffassung des Wissens sagt uns nun, wie wir uns selbst bestimmen können? Offenbar weder die eine noch die andere. Descartes sieht in der Selbstbestimmung kein Problem, weil sie, in seinem Verständnis, dem theoretischen Wissen zugrunde liegt. Vico führt zwar den Gedanken des geschichtlichen Machens ein, wendet ihn aber nicht auf die menschliche Selbstbestimmung an, weil sie für ihn noch kein Problem ist.

Es ist nicht verwunderlich, dass diese frühen modernen Konzepte des Wissens und Machens nicht zeigen, welches Wissen wir benötigen, um uns selbst zu bestimmen. Denn die Idee der Selbstbestimmung, die der Suche nach Authentizität und Einheit mit der Natur zugrunde liegt, ist der frühen Moderne unbekannt. Dennoch zeichnen sich mit den beiden Konzepten die alternativen Weisen des Wissens ab, die für die Selbstbestimmung in Frage kommen.

Symptomatisch für die Moderne ist allerdings der Vorrang des theoretischen vor dem praktischen Wissen. Das praktische Wissen, das im geschichtlichen Machen erlernt wird, erfährt wenig Aufmerksamkeit. Marx greift im Kapital zwar Vicos Gedanken auf, wendet ihn aber nicht auf das Verhältnis des Menschen zur Natur an. Er glaubt an die emanzipatorische Kraft der Technologie. Marx sitzt damit, wie Habermas kritisierte, einer Ideologie auf, dem Glauben an die Technik. Diese Ideologie ist nicht besser als ihr Gegenstück, die Technikfeindlichkeit.

Marx entwickelt jedoch in seinen Frühschriften, den Pariser Manuskripten aus dem Jahr 1844, ein neues Konzept praktischen Wissens, die Selbstherstellung durch Arbeit. Sein Grundgedanke ist, dass der Mensch sich mit seiner Arbeit selbst schafft und in den Produkten seiner Arbeit genießt. Er sieht in der Arbeit einen Prozess der Naturalisierung des Menschen und der Humanisierung der Natur. Dieser Prozess scheitert aber, wenn der Mensch seine Arbeit gegen einen abstrakten Geldwert verkauft. Er entfremdet sich damit von seinen Produkten, von der Arbeit und schließlich von sich selbst.

Marx erkennt die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Selbstbestimmung und Machen, zwischen Selbstherstellung und Arbeit. Er vertieft diese Einsicht nicht über eine Skizze der Stufen der Entfremdung hinaus. Sein Begriff der Entfremdung macht aber darauf aufmerksam, dass wir uns nicht selbst bestimmen können, wenn wir jene wechselseitige Abhängigkeit missachten. Wir können uns im Herstellen von Dingen, im Machen, entweder selbst bestimmen oder verfehlen.

Entfremdung ist das Gegenteil von Authentizität. Wir können uns im Machen selbst bestimmen, oder wir verfehlen und gefährden uns selbst. Das Machen ist offenbar zweideutig, ebenso zweideutig wie die Technik. Wir sprechen heute nicht mehr von Entfremdung, sondern von der Gefährdung und Zerstörung von uns selbst, der natürlichen Umwelt und unserer Kultur. Wir erkennen, daß diese Gefährdung eine Selbstgefährdung ist. Mit welchem Machen gefährden wir uns nicht, sondern bestimmen uns selbst?

Denken und Machen

Otl Aicher versucht in den hier versammelten Aufsätzen, auf diese Frage zu antworten. Er entwickelt eine Philosophie des Machens, die von dem Grundgedanken ausgeht, daß Denken und Machen so voneinander abhängen, dass das eine nur aus dem anderen zu verstehen ist. Aicher zeigt, dass wir bisher das Machen missverstanden und deshalb eine einseitige Vorstellung vom Denken haben.

Sein Vorwurf ist, daß wir das Praktische gegenüber dem Theoretischen vernachlässigen. Deshalb überschätzen wir die Bedeutung dessen, was Aicher das „Digitale“ nennt, die abstrakte Begrifflichkeit und logische Exaktheit. Wir unterschätzen aber das Anschauliche, aus praktischer Erfahrung und sinnlicher Wahrnehmung Gelernte, das, was Aicher das „Analoge“ nennt. Das Abstrakte, Digitale lässt sich aber, nach Aichers Überzeugung, ebensowenig vom Konkreten, Analogen trennen wie begriffliches Denken von unserer Sinnlichkeit. Geistiges und körperliches Tun sind aufeinander bezogen und voneinander abhängig. Wenn wir diese wechselseitige Beziehung missachten, gefährden wir uns und unsere Welt.

Ohne Verpflichtungen der philosophischen Tradition gegenüber und ohne sich anzulehnen, nimmt Aicher das Konzept praktischen Wissens auf, das wir in Ansätzen bei Vico und Marx finden. Er gibt diesem Konzept einen neuen Sinn. Es soll dazu dienen, die Spaltung des modernen Bewusstseins, die Trennung zwischen abstraktem und konkretem Denken, zwischen Digitalem und Analogem zu überwinden. Er sucht kein Gegenkonzept zum theoretischen Wissen, sondern kritisiert dessen Einseitigkeit. Er will zeigen, daß die Krise der Rationalität und unseres Selbstverständnisses in der Moderne von dieser Einseitigkeit mitverursacht ist.

Aicher ist überzeugt, daß das Konkrete vor dem Abstrakten, die Anschauung vor der Vernunft, die Wahrnehmung vor dem Wissen stehen. Bei Ockham, Kant und Wittgenstein findet er dafür hinreichend Gründe. Das Gespräch mit diesen Philosophen dient ihm nicht zur vordergründigen Bestätigung eigener Überzeugungen. Aicher nutzt seine Gesprächspartner nicht aus. Er will sie aber auch nicht nur interpretieren. Jedes dieser Gespräche eröffnet einen neuen Blick auf seine Partner.

Aicher ist bei seinen Deutungen von Philosophen wie Ockham, Buridan, Descartes, Kant und Wittgenstein nicht an die Regeln historischer Auslegung gebunden. Er missachtet aber auch keine hermeneutischen Verpflichtungen. Es geht ihm nicht darum, Ockham, Kant oder Wittgenstein Absichten zu unterstellen, die seine eigenen sind. Er nimmt lediglich Gedanken auf, die ihn, unabhängig von ihrem historischen Kontext, überzeugen. Das ist vor allem dann legitim, wenn wir auf diese Weise etwas besser oder neu verstehen lernen.

Mit Wittgenstein verbindet Aicher das gemeinsame Interesse an Architektur. Aicher sieht in der Erfahrung mit dem Haus, das Wittgenstein für seine Schwester Gretl baute, eine „schule des machens“. Wittgenstein habe beim Bau des Hauses, dessen Entwurf er an der digitalen, logischen Strenge des tractatus orientierte, den Mangel dieser frühen Philosophie erfahren. Die Philosophie des Gebrauchs, der Sprachspiele und der Lebensform versteht Aicher aus Wittgensteins Erfahrung als Architekt.

Es gibt kein besseres Beispiel als dieses für Aichers Überzeugung, dass das Wissen die „rückseite des machens“, dass das Machen „arbeit an einem selbst“ ist. Wittgenstein hat in Aichers Augen in seiner Arbeit als Architekt gelernt, dass das analoge Denken Vorrang vor dem digitalen hat.

Aichers philosophische Überlegungen sind eine Propädeutik des Entwerfens, Gestaltens und Entwickelns. Es gibt für ihn nichts, was nicht entworfen, gestaltet und entwickelt werden sollte. Dies gilt für das eigene Selbst, das Leben mit anderen und mit der Natur, die Gegenstände des täglichen Lebens, das Wohnen und Denken. Die Fähigkeit, entwerfen und gestalten zu können, lernen wir, indem wir es tun. Was wir tun und in welchem Beruf, ist zweitrangig. Wir dürfen uns nur nicht an vorgeformten Entwürfen und vorgedachten Plänen orientieren.

Natürlich setzt die Freiheit, sich von Vorlagen frei zu bewegen, bereits ein unabhängiges Urteil voraus. Aicher versteht sein „visuelles denken“ so wie Kant die Einbildungskraft, als Element der Urteilskraft. Wir erwerben uns die Fähigkeit, richtig zu urteilen, indem wir sehen und richtig wahrnehmen lernen. Dies gilt nicht nur für die Designer, sondern für uns alle.

Aicher wendet sich in diesem Zusammenhang kritisch an die Designer und Architekten und empfiehlt ihnen, das, was sie gestalten, nicht nur an der Funktion, sondern auch am Material und seiner Organisation zu orientieren. Die Form sollte sogar erst dem Material und dann der Funktion gerecht werden. Wenn dieser Imperativ missachtet wird, degeneriert das Design zur Verkaufsförderung, und die Architektur wird ornamental. Gestaltung und Entwurf verlieren ihre Autonomie und werden von ökonomischen und politischen Zwecken bestimmt und missbraucht. Aicher sieht in dieser Art von „ästhetischem verschleiß“ keine isolierte Erscheinung. Sie ist Ausdruck der Krise unseres Selbstverständnisses, die in allen Lebensbereichen parallele Erscheinungen hat.

Design, Architektur und Philosophie haben als akademische Disziplinen kaum Beziehungen zueinander. Das entspricht ihren unterschiedlichen Aufgaben. Sie haben aber, wie Aicher zeigt, das Problem gemeinsam, wie Denken und Machen miteinander zusammenhängen. Dies ist das Problem jeder Art von Entwurf und Gestaltung. Aicher belässt es nicht bei dieser Einsicht. Er erkennt, dass Entwerfen und Gestalten einem fundamentalen Anspruch genügen müssen, dem der Selbstbestimmung des Menschen.

Kritik am Rationalismus

Aichers Denken beschränkt sich nicht auf eine Philosophie des Machens. Es setzt sich mit philosophischen Problemen des Erkennens, der sinnlichen Wahrnehmung, der Sprache und des Denkens nicht nur aus einer äußeren Perspektive auseinander. Wenn er das Analoge und Konkrete dem Digitalen und Abstrakten vorzieht, tut er dies mit philosophischer Absicht. Er relativiert die Rolle der reinen Vernunft. Er kritisiert den Rationalismus der Moderne als Ergebnis der Vorherrschaft des bloß abstrakten Denkens.

Diese Kritik hat eine politische Perspektive. Aicher sieht die kulturellen und politischen Folgen des absoluten Anspruchs der abstrakten Vernunft. Sie wirken hinein in die Institutionen unserer Kultur und des Staates. Die Vorherrschaft des abstrakten Denkens hat sich in seinen Augen in den kulturellen und politischen Verhältnissen unseres Zeitalters abgebildet.

Mit dem Rationalismus will Aicher daher die Ansprüche der Institutionen kritisieren, die sich als Sachwalter absoluter Werte und Wahrheiten verstehen. Schon den Anspruch, es gebe solche Werte und Wahrheiten, hält er für absurd. Aichers Kritik am abstrakten Denken hat wie Ockhams Kritik der Universalien eine politische Konsequenz.

Wer das Abstrakte dem Konkreten vorzieht, missversteht nicht nur die wechselseitige Abhängigkeit von Begriff und Anschauung. Er schafft nach Aichers Urteil auch eine falsche Hierarchie, eine Rangordnung, die kulturell verhängnisvoll ist. Das Digitale, Abstrakte ist nicht höher, größer und wichtiger als das Analoge, Konkrete.

Aicher ist gegen falsche Hierarchien. Er denkt republikanisch. Das richtige Verhältnis zwischen Analogem und Digitalem, die richtige Verteilung der Gewichte, der Vorrang an der richtigen Stelle, im richtigen Zusammenhang sind sein Anliegen. Das Gewöhnliche ist für ihn nicht im abwertenden Sinn gewöhnlich.

Das Gewöhnliche ist aber auch nichts Außergewöhnliches. Es ist das, was den Zwecken unseres täglichen Lebens entspricht. Das Gewöhnliche wird von unserem Gebrauch der Dinge und nicht von ästhetischen Idealen bestimmt. Dem Gewöhnlichen, den Zwecken unseres Lebens, soll das Design gerecht werden. Das Design soll der Praxis, den menschlichen Lebensformen dienen und nicht den Gebrauch der Dinge ästhetisch beherrschen.

Die Ästhetisierung des Lebens tritt für Aicher besonders deutlich in dem Design zutage, das sich nicht am Gebrauch, sondern an der bildenden Kunst orientiert. Er vergleicht diese Missachtung des Gebrauchs und der konkreten Praxis mit der Missachtung des Besonderen, Empirischen in bestimmten Traditionen der Metaphysik. Wenn sich das Design die bildende Kunst zum Vorbild nimmt, stellt es sich in den Dienst einer „ästhetischen Metaphysik“. Aicher verwendet diesen Namen wie ein Schimpfwort, ähnlich wie Wittgenstein und die Philosophen des Wiener Kreises von der „Metaphysik“ und ihren Scheinproblemen sprachen.

Der schöne Schein des künstlerischen Designs ist für Aicher nicht nur ein Ärgernis. Dieses Design ignoriert die menschlichen Zwecke und den Gebrauch und damit auch die Erfordernisse des humanen Lebens. Es belastet unser Leben ähnlich wie der von uns verursachte Müll die Natur. Das künstlerische Design vergibt leichtfertig die Chance zur humanen Gestaltung der Lebenswelt.

Aichers Imperativ ist, dass wir die Welt in jeder Art von Gestaltung neu entwerfen sollen. Die Welt als Entwurf ist in seinem Denken das Thema, das Design und Philosophie direkt miteinander verbindet. Der Entwurf fordert konkrete Entwicklungen, keine abstrakten Planungen. Wir sollen nicht nur die Dinge unseres Gebrauchs, nicht nur Häuser und Städte zum Wohnen und Arbeiten entwerfen, sondern uns selbst dabei entwickeln und verändern.

Die Veränderungen im Denken und Machen, die Aicher fordert, haben philosophische Vorbilder. Es sind vor allem Ockham, Kant und Wittgenstein. Einige ihrer Grundeinsichten sind für Aicher zu Leitgedanken geworden. Ockham hat die wahre Erkenntnis im sinnlich konkreten Besonderen und nicht im Allgemeinen verankert. Kant hat die Bedeutung der Einbildungskraft für unser Verständnis der Dinge in der Natur erkannt. Wittgenstein schließlich sah im Gebrauch der Worte und Sätze die Bedeutung dessen, was wir sagen und denken.

Alle drei Philosophen haben auf je ihre Weise die Welt neu entworfen und das Denken verändert. Aicher nimmt immer wieder ihre Grundeinsichten auf, variiert sie und verbindet sie mit seinem eigenen Nachdenken über die Vernunft des Konkreten im Machen.

Aicher heute

Otl Aicher starb nach einem Unfall im Spätsommer 1991, viel zu früh, wie man so sagt. Im Jahr seines Todes erschienen zwei Bände mit vielen seiner Aufsätze (analog und digital, die welt als entwurf). Posthum erschien noch ein weiterer Band mit Aufsätzen zu aktuellen politischen Themen (schreiben und widersprechen, Berlin 1993). Nimmt man die drei erwähnten Bände zusammen und dazu die Bücher, die er schrieb und gestaltete (u. a. zur Typographie, zum Thema „Licht“ und dazu noch die vielen Ausstellungen und Ausstellungskataloge), erkennt man die große Bandbreite und enorme Vielfalt von Aichers Arbeiten, letztlich das, was er mit „Gestalten“ und „Machen“ meinte. Er war auch als Schriftsteller, als Photograph und als Philosoph ein Gestalter. Viele seiner Leistungen sind gut dokumentiert und bestens nachvollziehbar in einer lesenswerten Biographie (Eva Moser: Otl Aicher: Gestalter. Eine Biografie, Ostfildern 2011).

Aichers Machen und Denken hat Spuren hinterlassen und ist in der Arbeit vieler Gestalter und Architekten heute gegenwärtig, in vielen Ländern, nicht nur in Deutschland. Seine Wirkungsgeschichte kann hier nicht im Einzelnen nachgezeichnet werden. Als Beispiel seines Wirkens erinnere ich an seine Zusammenarbeit mit Norman Foster, weil sie in drei großen Bänden dokumentiert und einem bestimmten Sinn mustergültig ist. Die besondere Art der Arbeit und der Gestaltung der drei Bände wird in einem separaten schmalen Band beschrieben (Otl Aicher an der Arbeit für Norman Foster, Ernst und Sohn 1989). Einerseits handelt es sich bei den drei Bänden um eine Monographie über Fosters Architektur (Vol. 1: 1964–1973, Vol. 2: 1971–1978, Vol. 3: 1978–1985), die ursprünglich auf fünf Bände angelegt war, aber durch Aichers frühen Tod unvollendet blieb. Andererseits zeigen diese Bände mustergültig, wie Aicher Bücher gestaltete, und wie das, was die Bücher zeigen sollen, aussieht. Sie zeigen im besten Sinn das, was sie sagen. Natürlich erwartet man dies von jedem gut gestalteten Buch. Im Fall von Architektur geht es dazu noch um etwas scheinbar leicht Darstellbares, weil Architektur gesehen werden muss, auf Bilder angewiesen ist und mit Bildern glänzen kann. Viele Bildbände über Architektur visualisieren das scheinbar leicht Darstellbare aber auf oberflächliche Weise, als wären sie Werbeprospekte. Sie zeigen zwar Bilder von Bauprojekten und Gebäuden, benennen sie auch, sagen aber sonst so gut wie nichts. Sie kommen gar nicht in die Verlegenheit, das was sie sagen auch zu zeigen. Ganz anders die drei Bände über Fosters Architektur. Die Projekte und Bauten werden ausführlich beschrieben, von vielen Autoren, die zumeist an den Projekten mitgearbeitet haben. Von Oberflächlichkeit kann keine Rede sein, stattdessen werden die Genealogien und die Strukturen von Fosters Architekturen gezeigt, beschrieben und erläutert. Man kann sehen und nachlesen, wie aus Skizzen Bauwerke werden, wie sie sich in Landschaften und Ensembles einfügen und diese erst zu etwas Bemerkenswertem machen.

Aicher hat seinen Ansatz für die drei Bände so erläutert: „ich sah nicht zuerst die werke, sondern die art, wie sie entstanden waren. hier konnte man sehen, was eine architektur ist, bei der denken nicht nur erlaubt ist (...), sondern die durch denken entsteht...“ (Otl Aicher an der Arbeit für Norman Foster, 8). Aichers kritischer, auch architekturkritischer Geist steht zwischen den Zeilen. Er wendet sich mit der Monographie über Fosters Architektur gegen Darstellungen, in denen die Architektur „wie auf dem Laufsteg“ daherkommt (a.a.O.). Er kritisiert Architekturen, die Moden und Einfällen folgen. Stattdessen fordert er Bauten, die so begründet sind und sich so begründen lassen wie diejenigen Fosters.

Es gibt noch einen Grund, an die Gestaltung der Foster-Monographie zu erinnern. Sie zeigt, wie Aicher Bücher gestaltete. Er legt ein genaues Umbruchraster fest, ein Ordnungsprinzip der Gestaltung. Typographie und Layout sind präzise organisiert. All das zusammen macht das aus, was Aicher einmal als Syntax der Gestaltung bezeichnete. Wie beim Gebrauch einer Sprache darf die Syntax aber nicht im Mittelpunkt stehen, sie darf nicht auffallen. Und sie fällt auch nicht auf. Auffallend ist nur, wie klar und verständlich die Prozessbeschreibungen der Bauprojekte sind und wie selbstverständlich die Verbindungen zwischen den Bildern und den Texten sind. Die Prinzipien der Gestaltung, die der dreibändigen Monographie zugrunde liegen, sind in der Gestalt, wie Aicher sie gebrauchte, unübertroffen.

 

Wilhelm Vossenkuhl

München 1991/2014

greifen und begreifen

die relationen zwischen denken und körper sind so eng, daß das, was im denken geschieht, oft in der sprache der hände beschrieben wird. geist ist offenbar weniger in der transzendenz als in der hand angesiedelt. weil die hand greifen kann, kann auch das denken begreifen. weil die hand fassen kann, erfassen wir auch etwas in unserem kopf. weil die hand etwas vor uns hinstellen kann, können wir auch etwas durch denken darstellen. weil die hand legen kann, legen wir auch im denken etwas dar. und wir legen nicht nur dar, wir überlegen, wir legen aufeinander, übereinander. wir stellen nicht nur fest, wir stellen auch auf, eine neue these zum beispiel. wir begreifen nicht nur, wir erfassen nicht nur, wir befassen uns mit etwas, wir wenden und drehen etwas und gelangen schließlich zu einer auffassung.

etwas begriffen haben, steht nicht nur in einer bildlichen analogie mit dem tatsächlichen greifen, die kultur des denkens setzt eine kultur der hand als einem subtilen, sensitiven organ voraus. wenn die hand sich entfalten darf, wenn sie nicht nur arbeitet, sondern auch spielt, wenn sie wahrnehmungen macht, wird sich auch der geist freier entfalten. die plastik der hand ist die plastik des denkens. der begriff ist das begriffene.

nur noch mit dem auge, dem sehen, verbinden wir eine ähnliche fülle von worten und begriffen, um denkprozesse zu bezeichnen, wir durchschauen und übersehen, wir entwickeln weltanschauungen, perspektiven und blickpunkte.

unsere natürlichen sprachen lassen sich archäologisch auswerten, unter ihren worten liegen die trümmer früherer verhältnisse, früherer entwicklungen. worte bergen ihre eigenen ruinen.

wenn man so sprache als zeugnis dafür versteht, wie die evolution des denkens sich entwickelt haben kann, wird man den geist nur als eine station des regelkreises ansehen können, der das denken ausmacht, neben der hand und dem auge die station der kontrolle und des vergleichs, das heißt der auswertung. verstand, auge und hand sind in einem zusammenhängenden wirkungskreis zu sehen.

das denken ist hervorgegangen aus der kontrollfunktion im regelkreis des machens. wer mit seiner hand eine nadel einfädelt, führt den faden mit den fingern dem nadelöhr zu. zielt man daneben, signalisiert das auge das resultat an das gehirn weiter, dieses gibt einen kontrollbefehl an die hand weiter, und der regelkreis kann von neuem beginnen. aktion, kontrolle und schlußfolgerung sind ein zusammenhängender prozeß, der alles lebendige so auszeichnet, daß man es durch ihn definiert sehen kann.

das moderne denken hat begonnen, sich mit den gesetzen des denkens, des zählens, des systematisierens und des schlußfolgerns auf eine neue weise zu beschäftigen, nämlich losgelöst von der realen welt, abstrakt. das hat dazu geführt, daß wir das sehen und das handeln als voraussetzungen des denkens so gut wie abgekoppelt haben. die algebraisierung der welt hat formeln, denkgesetze und logische operationen verselbständigt und als denken über das denken etabliert. der geist erwachte als geist. wir begreifen auch mathematische gesetze, wenn wir nichts mehr begreifen. der regelkreis ist größtenteils auf die innenwelt der vernunft reduziert worden.

aber ist die innenwelt der vernunft die ganze welt? heute, wo wir in tausend sackgassen dieser immanenten vernunft stecken, entdecken wir wieder das auge, entdecken wir die hand. wir entdecken aufs neue die domäne des machens als voraussetzung des denkens.

wir entdecken, daß das denken frei wurde, weil auch die hand des menschen einmal frei wurde. als der mensch in einer bestimmten phase seiner entwicklung aus den wäldern heraustrat, waren seine hände als fangorgane überflüssig und frei. er lernte, sie für andere aufgaben zu gebrauchen, sicherlich zunächst spielerisch, dann kontrolliert und pragmatisch angepaßt an seine neuen verhältnisse.

physiologisch drückt sich dieser wandel deutlich aus in der umgestaltung der menschlichen hand von einer fanghand zu einer greifhand. bei der fanghand, die für das springen von geäst zu geäst nützlich ist, steht der daumen parallel zu den anderen fingern. beim hangeln muß die hand die form einer angel haben. ein vorgelagerter daumen wäre ein hindernis. bei der greifhand steht der daumen den übrigen vier fingern gegenüber. die hand kann zufassen, greifen: steine, stöcke aufgreifen und mit ihnen agieren. aus der passiven fanghand wird eine aktive greifhand, ein unspezifisches, variables instrument.

und sie wird eine spielhand. wir können es noch nachempfinden, was geschah, als der mensch in einem bestimmten stadium seiner entwicklung etwas in die hand nahm und mit ihr drehte und wendete, mit einer hand, die keine extremität eines tieres war, sondern frei zum greifen und fassen; wir können es nachempfinden, wie hier so etwas wie eine wertende einsicht entstand. und nun bestimmte nicht mehr nur die situation das handeln des menschen, war er nicht mehr nur über instinkte mit seiner umwelt kurzgeschlossen, vielmehr steuerte er sich selbst durch seine eigene einsicht.

die kontrolle des daumens in seiner neuen rolle setzte eine enorme wachstumssteigerung des gehirns voraus. die funktionen, die der daumen auszuüben hat, sind so mannigfaltig, daß es zur vergrößerung der organisierenden gehirnmasse kam. das leben außerhalb des waldes bedeutete zugleich eine steigerung der kommunikation. die menschen lebten in der fläche in kleinen familienverbänden. sie hatten nicht wie antilopen die möglichkeit der flucht. sie mußten ihre existenz punktuell verteidigen, auch ihr weiterleben im kleinverband regeln und brauchten dazu mehr kooperation.

beides, die entwicklung der hand wie die entwicklung der sprache, brauchte ein organisierendes repertoire im gehirn.

um der neuen situation gerecht zu werden, kam es zu einem neuen methodischen prinzip.

das gehirn des menschen besteht aus zwei hälften, vielleicht bedingt durch die dualität der arme, beine, ohren, augen. je eine gehirnhälfte steuert je eine hälfte der organpaare. das gehirn ist wie der mensch gedoppelt. und beide hälften steuern wie brüder die menschlichen körperhälften. die brüder sind so kollegial, daß einer die aufgaben des anderen übernehmen kann.

im lauf ihrer entwicklung waren die brüder zu einer zeit überfordert. die rolle der hand und die neue rolle der kommunikation waren von ihnen im gleichklang nicht zu bewältigen. die appelle an die natur für eine, sagen wir, betriebsvergrößerung blieben unerhört. es gab keine neuen kernspeicherplätze.

und also blieb als kalkül nur übrig: arbeitsteilung. die brüder einigten sich darauf, daß nun jeder selbständig nicht mehr parallele aufgaben wahrnehme, sondern eigene, neue.

auch das ein durchaus praktikables prinzip der evolution: statt daß zwei teile analog dasselbe tun, nimmt jeder teil eine neue aufgabe wahr. der eine ist der betriebswirt, der andere der volkswirt.

dieser schritt war natürlich nur möglich, weil eine reserve bestand. der duale parallelismus des zentralnervensystems, die verdoppelung im interesse der absicherung des einen teils gegen den anderen, enthielt eine nische der evolution.

hat die natur damit einen fehler gemacht? es gibt theorien, die besagen, daß gar keine andere wahl war. schon das wachstum des gehirns bis zu diesem zeitpunkt hatte eine bedeutsame konsequenz. menschen mit zu großen köpfen können nicht mehr geboren werden, der körperbau läßt dies nicht zu. die folge ist, daß der mensch als eine art frühgeburt, bei noch nicht voll entwickeltem schädel, auf die welt kommt.

fast alle tiere können, sobald sie auf der welt sind, sich voll bewegen, enten schwimmen, vögel fliegen, junge pferde stehen nach einem tag auf den beinen. der mensch müßte bis zu dieser entwicklungsreife zwanzig monate im mutterleib verbringen, wäre dann aber nicht mehr gebärbar.

wenn also schon der schädel nicht auf wachstum zu programmieren war und damit eine ausweitung jeder gehirnhälfte nicht in frage kam, blieb nur das prinzip der differenzierung. seitdem ist der mensch ein lebewesen mit einer inneren spaltung. allerdings im interesse der optimierung seiner leistung.

ab diesem zustand haben wir es mit dem menschen zu tun. hier liegt der unterschied zur vor-natur. das hatte schnell praktische folgen. der neue mensch, der aus den wäldern herausgetreten war, konnte nur noch einen arm, eine hand voll einsetzen. der kampf mit wilden tieren war, wie auch das zubereiten der nahrung, in der regel nur noch mit dem rechten arm möglich.

damit war die andere gehirnhälfte entlastet, ein sprachzentrum aufzubauen und sich ein kalkulierendes denken anzueignen. der verlust der einsatzfähigkeit der linken hand wurde kompensiert durch eine aufgabenverlagerung auf sprache und analytisches denken.