Anansi Boys - Neil Gaiman - E-Book

Anansi Boys E-Book

Neil Gaiman

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Beschreibung

Fat Charlie Nancy lebt in London, arbeitet als Buchhalter, ist nicht besonders beliebt, nicht besonders gutaussehend, nicht besonders witzig.
Sein überschaubar spannendes Leben nimmt eine rasante Wendung als Charlies Bruder auftaucht. Spider ist das krasse Gegenteil zu Fat Charlie. Gutaussehend, witzig, überheblich, selbstverliebt, und er hat die göttlichen Fähigkeiten ihres gemeinsamen Vaters Anansi geerbt.

Eine Brüdergeschichte, eine Göttergeschichte, eine Geschichte über Träume und Märchen, voller schräger Wendungen und ungeheuerlichen Begebenheiten. Und eine Geschichte über Familienbande, Freundschaft und Liebe.

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Seitenzahl: 566

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Inhalt

CoverÜber den AutorÜber dieses BuchTitelImpressumWidmungKAPITEL EINSKAPITEL ZWEIKAPITEL DREIKAPITEL VIERKAPITEL FÜNFKAPITEL SECHSKAPITEL SIEBENKAPITEL ACHTKAPITEL NEUNKAPITEL ZEHNKAPITEL ELFKAPITEL ZWÖLFKAPITEL DREIZEHNKAPITEL VIERZEHNDANKSAGUNG

ÜBER DEN AUTOR

Neil Gaiman hat über 20 Bücher geschrieben und ist mit jedem namhaften Preis ausgezeichnet worden, der in der englischen und amerikanischen Literatur- und Comicszene existiert. Geboren und aufgewachsen ist er in England. Inzwischen lebt er in Cambridge, Massachusetts, und träumt von einer unendlichen Bibliothek.

ÜBER DIESES BUCH

Fat Charlie Nancy lebt in London, arbeitet als Buchhalter, ist nicht besonders beliebt, nicht besonders gutaussehend, nicht besonders witzig. Sein überschaubar spannendes Leben nimmt eine rasante Wendung als Charlies Bruder auftaucht. Spider ist das krasse Gegenteil zu Fat Charlie. Gutaussehend, witzig, überheblich, selbstverliebt, und er hat die göttlichen Fähigkeiten ihres gemeinsamen Vaters Anansi geerbt. Eine Brüdergeschichte, eine Göttergeschichte, eine Geschichte über Träume und Märchen, voller schräger Wendungen und ungeheuerlichen Begebenheiten. Und eine Geschichte über Familienbande, Freundschaft und Liebe.

NEIL GAIMAN

Übersetzung aus dem Englischen von Karsten Singelmann

BASTEI ENTERTAINMENT

Deutsche Erstausgabe

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Titel der amerikanischen Originalausgabe: »Anansi Boys«

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2005 by Neil Gaiman

Published by arrangement with Neil Gaiman

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover

Für die deutschsprachige Ausgabe:

Copyright © 2018 by Bastei Lübbe AG, Köln

Redaktion: Alexander Wagner

Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de

Einband-/Umschlagmotiv: © KarpenkovDenis/Thinkstock; macrovector/Thinkstock

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-6046-2

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Du weisst ja, wie das ist: du nimmst ein Buch in die Hand, blätterst zur Widmung und stellst fest, dass der Autor wieder einmal das Buch nicht dir, sondern einer anderen Person gewidmet hat.

Diesmal ist es anders.

Weil wir uns noch nicht kennengelernt haben/uns nur flüchtig bekannt sind/uns schon viel zu lange nicht mehr gesehen haben/irgendwie miteinander verwandt sind/uns nie begegnen werden, aber trotzdem, so hoffe ich doch, stets mit Wohlwollen aneinander denken werden …

Ist dieses Buch für dich.

Mit du weißt schon was, und wahrscheinlich weißt du auch, warum.

ANMERKUNG: der Autor möchte die Gelegenheit nutzen, vor den Geistern von Zora Neale Hurston, Thorne Smith, P. G. Wodehouse und Frederick »Tex« Avery respektvoll den Hut zu ziehen.

KAPITEL EINS

in dem es hauptsächlich um Namen und Familienverhältnisse geht

Es beginnt, wie es ja meistens der Fall ist, mit einem Lied. Im Anfang waren schließlich die Worte, und dazu gab es auch gleich eine Melodie. So wurde die Welt geschaffen, so wurde das Nichts geteilt, so kamen sie alle in die Welt: die Landschaften und die Sterne und die Träume und die kleinen Götter und die Tiere.

Sie wurden gesungen.

Die großen Tiere wurden ins Dasein gesungen, nachdem der Sänger mit den Planeten und den Hügeln, den Bäumen, den Meeren und den kleineren Tieren fertig war. Die das Dasein begrenzenden Klippen wurden ersungen, die Jagdgründe und die Dunkelheit.

Lieder sind dauerhaft. Sie währen ewig. Das richtige Lied kann einen großen Herrscher zum Gespött machen, kann ganze Dynastien stürzen. Ein Lied kann noch bestehen, nachdem die Ereignisse und Menschen, von denen es handelt, längst zu Staub zerfallen, nur noch ferne Träume sind. Das ist die Macht der Lieder.

Es gibt noch mehr, was man mit Liedern anfangen kann. Sie bauen nicht nur Welten oder erschaffen neues Leben. Fat Charlie Nancys Vater zum Beispiel benutzte sie einfach nur, um gepflegt einen draufzumachen und einen, wie er hoffte, beziehungsweise mit einiger Sicherheit erwartete, angenehmen und geselligen Abend zu verleben.

Bevor Fat Charlies Vater die Bar betreten hatte, war in dem Barkeeper die Überzeugung gereift, dass der ganze Karaoke-Abend sich zu einer deftigen Pleite entwickeln würde. Aber dann war der kleine alte Mann in den Raum stolziert und an dem Ecktisch gleich neben der improvisierten Bühne vorbeigekommen, an dem mehrere blonde Frauen mit frischen Sonnenbränden und dem typischen Touristinnenlächeln saßen. Er sah sie an und tippte sich an den Hut, denn, fürwahr, er trug einen Hut, einen makellosen grünen Filzhut, und dazu zitronengelbe Handschuhe, und dann trat er an ihren Tisch. Sie kicherten.

»Amüsieren Sie sich auch gut, meine Damen?«, fragte er.

Sie fuhren fort zu kichern und teilten ihm mit, ja, sie hätten viel Spaß, danke sehr, und sie seien hier im Urlaub. Er versicherte ihnen, es würde noch viel besser werden, sie sollten nur abwarten.

Er war älter als sie, viel, viel älter, aber er war charmant, der Charme in Person, wie ein Überbleibsel aus längst vergangenen Zeiten, als Höflichkeit und gute Manieren noch etwas gegolten hatten. Der Barkeeper entspannte sich. Wenn man so jemand in der Bar hatte, dann würde es ein guter Abend werden.

Es gab Karaoke. Es gab Tanz. Der alte Mann stieg auf die improvisierte Bühne, um zu singen, nicht nur einmal, sondern zweimal an diesem Abend. Er hatte eine schöne Stimme und ein prachtvolles Lächeln, und seine Füße funkelten, wenn er tanzte. Das erste Mal, als er hinters Mikrofon trat, sang er »What’s New Pussycat?«. Als er sich anschickte, zum zweiten Mal zu singen, ruinierte er Fat Charlies Leben.

Dick war Fat Charlie eigentlich nur einige wenige Jahre lang, von kurz bevor er zehn wurde – was die Zeit war, als seine Mutter der Welt verkündete, dass, wenn es eins gebe, mit dem sie endgültig fertig sei (und falls der betreffende Herr dagegen irgendwelche Einwände habe, könne er sich diese sonst wohin stecken), dann sei es ihre Ehe mit diesem alternden Bock, den sie fatalerweise einst geheiratet habe und den sie am nächsten Morgen verlassen werde, um irgendwohin weit weg zu gehen, und er solle ja nicht versuchen, ihr zu folgen – bis zum Alter von vierzehn, als Fat Charlie ein wenig in die Höhe schoss und mehr Sport trieb. Er war nicht fett. Um der Wahrheit die Ehre zu geben, war er nicht mal pummelig, sondern einfach nur an den Rändern ein bisschen weich geformt. Aber der Name Fat Charlie blieb an ihm kleben, wie ein Kaugummi an der Sohle eines Tennisschuhs. Vorstellen tat er sich als Charles oder, mit Anfang zwanzig, als Chaz oder schriftlich als C. Nancy, doch es hatte alles keinen Zweck: der Name schlich sich ein, infiltrierte jeden neuen Abschnitt seines Lebens wie Kakerlaken, die sich, auch wenn die Küche noch so neu ist, in den Rissen und der Welt hinter dem Kühlschrank ausbreiten, und ob es ihm gefiel oder nicht – Letzteres war der Fall –, schon hieß er wieder Fat Charlie.

Es lag daran, das wusste er wider alle Vernunft, dass es sein Vater gewesen war, der ihm den Spitznamen gegeben hatte, und wenn sein Vater Dingen Namen verlieh, dann blieben diese haften.

Da war zum Beispiel der Hund von der anderen Straßenseite, in Florida, wo Fat Charlie aufgewachsen war. Ein kastanienbrauner Boxer, mit langen Beinen, spitzen Ohren und einem Gesicht, das aussah, als sei das Tier als Welpe mit dem Kopf voran gegen eine Mauer gerannt. Der Kopf war hoch aufgerichtet, ebenso der Stummelschwanz. Es handelte sich unverkennbar um einen Aristokraten unter den Vierbeinern. Er hatte an Hundeschauen teilgenommen. Er hatte Preise gewonnen, eine Rosette für die beste Zucht, eine Rosette für den Besten seiner Kategorie und sogar einen Hauptpreis für den »Best in Show«. Dieser Hund erfreute sich des Namens Campbell’s Macinrory Arbuthnot der Siebte, und wenn seine Besitzer in jovialer Stimmung waren, nannten sie ihn Kai. Dies dauerte so lange, bis eines Tages Fat Charlies Vater, während er vor der Haustür auf der klapprigen Hollywoodschaukel saß und sein Bier schlürfte, den Hund bemerkte, der im Garten der Nachbarn hin und her stolzierte, an einer Leine, die von einer Palme bis zu einem Zaunpfosten reichte.

»Was für ein trotteliger Hund«, sagte Fat Charlies Vater. »Wie dieser eine Freund von Donald Duck. Hey, Goofy.«

Und was eben noch ein mit Ehren überhäuftes Prachtexemplar gewesen war, sank plötzlich in sich zusammen. Fat Charlie kam es so vor, als würde er den Hund jetzt mit den Augen seines Vaters sehen, und, ja doch, verdammt, es war wirklich ein ziemlich doofer Hund, wenn man es genau bedachte. Ein Volltrottel praktisch.

Es dauerte nicht lange, da hatte sich der Name in der ganzen Nachbarschaft verbreitet. Campbell’s Macinrory Arbuthnot des Siebten Besitzer kämpften dagegen an, aber da hätten sie sich genauso gut auf eine Auseinandersetzung mit einem Wirbelsturm einlassen können. Völlig Fremde kamen vorbei, tätschelten dem einstmals stolzen Boxer den Kopf und sagten: »Hallo, Goofy, alter Knabe, wie geht’s?« Die Besitzer verzichteten anschließend darauf, ihn zu weiteren Hundeschauen anzumelden. Sie brachten es nicht übers Herz. »Sieht ein bisschen trottelig aus, der Hund«, sagten die Juroren.

Die Namen, die Fat Charlies Vater verteilte, hafteten. So war das eben.

Das war aber, was Fat Charlies Vater betraf, bei Weitem noch nicht das Schlimmste.

Es hatte im Verlauf seiner Kindheit so manchen Kandidaten für den Titel »Schlimmste Eigenschaft seines Vaters« gegeben: die lüstern umherschweifenden Augen und die ebenso abenteuerlustigen Finger, dies jedenfalls nach Auskunft der jungen Damen aus der Umgebung, die sich häufig bei Fat Charlies Mutter beklagten, worauf es jedes Mal Ärger gab; die kleinen schwarzen, von ihm als Stumpen bezeichneten Zigarillos, die er rauchte und deren Geruch sich an alles heftete, womit er in Berührung kam; seine Vorliebe für eine seltsam schlurfende Form des Stepptanzes, die, so Fat Charlies Vermutung, allenfalls mal eine halbe Stunde lang im Harlem der zwanziger Jahre angesagt gewesen war; seine vollkommene und unerschütterliche Unkenntnis der aktuellen Weltlage, verbunden mit der tief verwurzelten Überzeugung, dass Sitcoms im Fernsehen einem einen halbstündigen Einblick in das Leben und die Probleme echter Menschen verschafften. Keins dieser Dinge war für sich genommen das Schlimmste an seinem Vater, soweit es Fat Charlie betraf, wenn sie auch alle miteinander zu diesem Schlimmsten durchaus beitrugen.

Das Schlimmste an Fat Charlies Vater war schlicht und einfach dies: Er war peinlich.

Nun sind natürlich alle Eltern peinlich. Das liegt in der Natur der Sache. Eltern sind peinlich einfach dadurch, dass sie existieren, während Kinder ab einem bestimmten Alter von Natur aus nicht anders können, als im Boden zu versinken vor Verlegenheit, Scham und Schmach, sofern sie mit ihren Eltern auch nur zusammen auf der Straße gesehen werden.

Fat Charlies Vater aber hatte all dies zu einer Kunstform erhoben, und er erfreute sich daran, genau wie er sich an Streichen aller Art erfreute, an ganz einfachen – nie würde Fat Charlie vergessen, wie er das erste Mal in ein Bett mit Apfeltorte gestiegen war – ebenso wie an unvorstellbar komplexen.

»Zum Beispiel?«, fragte Rosie, Fat Charlies Verlobte, eines Abends, als Fat Charlie, der normalerweise nicht über seinen Vater sprach, stockend und umständlich versucht hatte zu erläutern, warum es seiner Ansicht nach eine entsetzlich fehlgeleitete Idee sei, seinen Vater zu ihrer bevorstehenden Hochzeit überhaupt einzuladen. Sie saßen gerade in einer kleinen Weinstube in Südlondon. Fat Charlie fand es schon seit Langem gut und beruhigend zu wissen, dass etwa sechs- bis siebentausend Kilometer und der ganze Atlantik zwischen ihm und seinem Vater lagen.

»Tja …« Fat Charlie rief sich eine ganze Palette von Demütigungen in Erinnerung, und bei jeder einzelnen von ihnen rollten sich ihm förmlich die Zehennägel auf. Schließlich wählte er eine davon als Beispiel aus. »Tja, also, als ich einmal als Kind die Schule wechseln musste, hat mein Dad mir begeistert erzählt, wie sehr er sich als Junge immer auf den Präsidententag gefreut habe, denn es gebe ein Gesetz, das bestimme, dass alle Schulkinder, die sich an diesem Tag als ihr Lieblingspräsident verkleiden, eine große Tüte Süßigkeiten bekommen.«

»Ach, das ist ja ein nettes Gesetz«, sagte Rosie. »Ich wünschte, so etwas hätten wir auch in England.« Rosie war noch nie im Ausland gewesen, jedenfalls, wenn man die eine Urlaubsreise mit dem Klub 18–30 nicht mitrechnete, die sie auf eine Insel im – da war sie sich einigermaßen sicher – Mittelmeer geführt hatte. Sie hatte warme braune Augen und ein gutes Herz, wenn auch die Geografie nicht gerade zu ihren Stärken zählte.

»Es ist keineswegs ein nettes Gesetz«, sagte Fat Charlie. »Es gibt überhaupt kein solches Gesetz. Er hat es sich ausgedacht. In den meisten Bundesstaaten ist am Präsidententag sogar schulfrei, und selbst da, wo das nicht so ist, gibt es mitnichten eine Tradition, nach der man an diesem Tag als sein Lieblingspräsident verkleidet zur Schule geht. Es gibt keine großen Tüten mit Süßigkeiten für Kinder, die als Präsidenten verkleidet sind, weil der Kongress es so verfügt hätte, und es ist auch nicht wahr, dass deine Beliebtheit in den ganzen nächsten Jahren, bis zum Ende der Highschool, entscheidend davon abhängt, als welcher Präsident du dich verkleidet hast – die Durchschnittskinder wählen natürlich die nahe liegenden Präsidenten, die Lincolns, Washingtons und Jeffersons, aber die, die dann hinterher richtig populär werden, die kostümieren sich als John Quincy Adams oder Warren Gamaliel Harding oder jemand in der Richtung. Und es bringt Unglück, wenn man vor dem betreffenden Tag darüber spricht. Beziehungsweise, tut es das natürlich nicht, aber er hat es behauptet.«

»Jungen und Mädchen verkleiden sich als Präsidenten?«

»O ja. Jungen und Mädchen. Also habe ich die ganze Woche vor dem Präsidententag damit zugebracht, alles zu lesen, was es in der World Book Encyclopedia über Präsidenten zu lesen gibt, und habe mir alle Mühe gegeben, mich für den richtigen Präsidenten zu entscheiden.«

»Ist dir nie der Verdacht gekommen, dass er dich zum Besten hält?«

Fat Charlie schüttelte den Kopf. »Daran denkt man einfach nicht, wenn mein Dad anfängt, einen zu bearbeiten. Er ist der beste Lügner, der dir je begegnen wird. Er wirkt sehr überzeugend.«

Rosie nahm einen Schluck von ihrem Chardonnay. »Und als welcher Präsident bist du nun gegangen?«

»Taft. Er war der siebenundzwanzigste Präsident. Ich trug einen braunen Anzug, den mein Vater irgendwo aufgestöbert hatte, die Hosenbeine musste ich aufkrempeln, und vorn hab ich mir ein dickes Kissen in die Hose gestopft. Einen aufgemalten Schnauzbart hatte ich auch. Mein Dad hat mich an dem Tag selbst zur Schule gebracht. Ich war so stolz, als ich in das Gebäude marschiert bin. Die anderen Kinder haben nur geschrien und mit Fingern auf mich gezeigt, und irgendwann habe ich mich dann in einer Kabine im Jungensklo eingeschlossen und geheult. Ich durfte nicht nach Hause und mich umziehen. Ich musste den ganzen Tag so rumlaufen. Es war die Hölle.«

»Du hättest etwas erfinden sollen«, sagte Rosie. »Dass du hinterher noch zu einer Kostümparty willst oder so was. Oder ihnen einfach die Wahrheit sagen.«

»Ja«, sagte Fat Charlie bedeutungsschwer und gab sich trübsinnig der Erinnerung hin.

»Was hat dein Vater gesagt, als du nach Hause kamst?«

»Oh, er konnte sich kaum einkriegen vor Lachen. Hat erst laut gejohlt, dann gekichert und gegluckst. Am Ende hat er gesagt, dass man heutzutage diese Sache mit dem Präsidententag vielleicht doch nicht mehr machen würde. Wir könnten aber doch jetzt mal zum Strand gehen und nach Meerjungfrauen Ausschau halten.«

»Nach … Meerjungfrauen Ausschau halten?«

»Wir sind zum Strand gegangen und daran entlanggelaufen, und er war so peinlich, wie ein Mensch auf dieser Erde nur sein kann – er hat angefangen zu singen und dann hat er so eine Art schlurfenden Sandtanz auf dem Strand hingelegt, und dabei hat er andauernd irgendwelche Leute angesprochen – Leute, die er gar nicht kannte, die er noch nie gesehen hatte, und ich hab es so gehasst, aber er hat mir erzählt, dass es draußen im Atlantik Meerjungfrauen gebe, und wenn ich schnell genug und scharf genug hingucken würde, dann könnte ich eine sehen.«

»›Da!‹, hat er gesagt. ›Hast du sie gesehen? Es war ’ne große Rothaarige, mit einem grünen Schwanz.‹ Und ich hab geguckt und geguckt, aber natürlich hab ich nie eine gesehen.«

Er schüttelte den Kopf. Dann nahm er eine Handvoll gemischter Nüsse aus der Schale auf dem Tisch, begann sie sich in den Mund zu werfen und kaute darauf herum, als sei jede einzelne Nuss eine zwanzig Jahre alte Demütigung, die einfach nicht auszumerzen war.

»Na ja«, sagte Rosie heiter. »Ich finde, das klingt reizend, er scheint ja wirklich ein Original zu sein! Er muss unbedingt zur Hochzeit kommen. Er würde der Mittelpunkt der Party sein.«

Und genau das, erklärte Fat Charlie, nachdem er sich kurzzeitig an einer Paranuss verschluckt hatte, sei doch wohl das Letzte, was man sich für seine Hochzeit wünschen würde, nicht wahr, dass der eigene Vater aufkreuze und im Mittelpunkt der Party stehe? Er sagte, sein Vater sei zweifellos nach wie vor die peinlichste Person auf Gottes grünem Erdball. Er fügte hinzu, er sei heilfroh darüber, den alten Bock zuletzt mehrere Jahre nicht gesehen zu haben, und es sei wirklich das Beste gewesen, was seine Mutter je getan habe, seinen Vater zu verlassen und nach England zu kommen, um bei ihrer Tante Alanna zu wohnen. Er untermauerte dies noch, indem er kategorisch feststellte, dass er verflucht, ja doppelt verflucht und womöglich gar dreifach verflucht sein wolle, falls er sich je dazu entschiede, seinen Vater einzuladen. Und überhaupt, sagte Fat Charlie abschließend, sei es doch das Beste am Heiraten, dass man seinen Vater nicht zur Hochzeit einladen müsse.

Und dann sah Fat Charlie Rosies Gesichtsausdruck und das kalte Schimmern in ihren normalerweise stets freundlichen Augen, und er korrigierte sich stehenden Fußes, erklärte, er meine selbstverständlich das Zweitbeste, aber es war schon zu spät.

»Du wirst dich einfach an die Vorstellung gewöhnen müssen«, sagte Rosie. »Schließlich bieten Hochzeiten eine großartige Gelegenheit, Brücken zu bauen und Gräben zuzuschütten. Du bekommst die Möglichkeit zu zeigen, dass du ihm nicht mehr böse bist.«

»Ich bin ihm aber noch böse«, sagte Fat Charlie. »Sehr sogar.«

»Hast du irgendeine Adresse von ihm?«, fragte Rosie. »Oder eine Telefonnummer? Wahrscheinlich solltest du ihn anrufen. Ein Brief ist doch ein bisschen unpersönlich, wenn der einzige Sohn heiratet … du bist doch sein einziger Sohn, oder? Hat er E-Mail?«

»Ja. Ich bin sein einziger Sohn. Ich hab keine Ahnung, ob er E-Mail hat oder nicht. Wahrscheinlich eher nicht«, sagte Fat Charlie. So ein Brief war eine gute Sache, dachte er. Er konnte zum Beispiel ohne Weiteres in der Post verloren gehen.

»Na, du musst doch eine Adresse oder Telefonnummer von ihm haben.«

»Nein«, sagte Fat Charlie, und zwar ganz aufrichtig. Vielleicht war sein Vater umgezogen. Er konnte Florida verlassen haben und irgendwo hingegangen sein, wo es keine Telefone gab. Oder Adressen.

»Okay«, sagte Rosie scharf, »wer hat sie denn dann?«

»Mrs. Higgler«, sagte Fat Charlie, und sein Widerstandsgeist erlosch vollständig.

Rosie lächelte liebenswürdig. »Und wer«, fragte sie, »ist Mrs. Higgler?«

»Freundin der Familie«, sagte Fat Charlie. »Sie hat bei uns nebenan gewohnt, als ich ein Kind war.«

Er hatte zuletzt vor einigen Jahren mit Mrs. Higgler gesprochen, als seine Mutter im Sterben lag. Auf Wunsch seiner Mutter hatte er Mrs. Higgler angerufen und sie gebeten, die Mitteilung an Fat Charlies Vater weiterzuleiten und ihm zu sagen, er möge sich melden. Und einige Tage später hatte Fat Charlie eine Nachricht auf seinem Anrufbeantworter gehabt, hinterlassen, während er auf der Arbeit gewesen war, mit einer Stimme, die unverkennbar die seines Vaters war, wenn sie auch recht gealtert klang und ein bisschen betrunken.

Sein Vater erklärte, es sei kein günstiger Zeitpunkt, und geschäftliche Angelegenheiten hielten ihn in Amerika fest. Und dann fuhr er fort, dass Fat Charlies Mutter, trotz allem, eine verdammt großartige Frau sei. Mehrere Tage später war eine Vase mit einem bunten Blumenstrauß in der Krankenstation abgeliefert worden. Fat Charlies Mutter hatte verächtlich geschnaubt, als sie die Karte las.

»Glaubt er, er kommt mir so leicht davon?«, sagte sie. »Da ist er aber auf dem Holzweg, das kann ich dir sagen.« Aber dann hatte sie die Krankenschwester veranlasst, die Blumen an einen Ehrenplatz neben ihrem Bett zu stellen, und hatte auch Fat Charlie seither mehrmals gefragt, ob er irgendetwas gehört habe darüber, dass sein Vater komme und sie besuche, bevor alles vorbei sei.

Fat Charlie antwortete, er habe nichts gehört. Und nach einiger Zeit begann er die Frage zu hassen, ebenso wie seine Antwort darauf und ihren Gesichtsausdruck, wenn er ihr sagte, nein, seines Wissens würde sein Vater nicht kommen.

Der übelste Tag nach Fat Charlies Ansicht war der, an dem der Arzt, ein schroffer kleiner Mann, Fat Charlie beiseitegenommen und ihm mitgeteilt hatte, dass es jetzt nicht mehr lange dauern werde, seine Mutter verfalle schnell, und es komme jetzt nur noch darauf an, ihr ein möglichst angenehmes Ende zu bereiten.

Fat Charlie hatte genickt und war zu seiner Mutter ins Zimmer gegangen. Sie hatte seine Hand gehalten und ihn gerade gefragt, ob er auch nicht vergessen habe, ihre Gasrechnung zu bezahlen, als der Lärm im Flur begann – ein scheppernder, stampfender, rasselnder Blechbläser-und-Bass-und-Trommeln-Lärm von der Art, wie man ihn auf Krankenhausfluren für gewöhnlich eher nicht hört, wo Schilder im Treppenhaus um Ruhe bitten und die Blicke des Pflegepersonals dieser Bitte im Zweifelsfall Nachdruck verleihen.

Der Lärm wurde lauter.

Einen Moment lang dachte Fat Charlie, es könnten Terroristen sein. Seine Mutter dagegen quittierte die Kakofonie mit einem schwachen Lächeln. »Gelber Vogel«, flüsterte sie.

»Was?« Fat Charlie befürchtete, sie habe mit diesem Augenblick begonnen, irre zu reden.

»›Yellow Bird‹«, wiederholte sie, lauter und kräftiger diesmal. »Das Stück, das sie spielen.«

Fat Charlie ging zur Tür und sah hinaus.

Was da durch den Krankenhausflur kam, ohne den Protesten der Krankenschwestern oder den verständnislosen Blicken der in Pyjamas gekleideten Patienten und ihrer Angehörigen die geringste Beachtung zu schenken, das sah nach einer wenn auch sehr kleinen New-Orleans-Jazzkapelle aus. Es gab ein Saxofon, ein Sousafon und eine Trompete. Außerdem einen gewaltigen Mann, der so etwas wie einen Kontrabass um den Hals hängen hatte. Und einen Mann mit einer Basstrommel, die er wacker betätigte. Und an der Spitze des Zuges, in einem schicken karierten Anzug, mit Filzhut und zitronengelben Handschuhen, kam Fat Charlies Vater einher. Er spielte kein Instrument, sondern tänzelte in einem leichtfüßigen Shuffleschritt über das blank polierte Linoleum des Krankenhausflurs, zog den Hut vor allen Angehörigen des medizinischen Personals, deren er ansichtig wurde, und schüttelte jedem die Hand, der ihn ansprechen oder sich bei ihm beschweren wollte.

Fat Charlie biss sich auf die Lippen und sandte ein Gebet an welche Instanz auch immer, so sie ihn nur anhören mochte, dass die Erde sich auftun und ihn verschlucken, oder, falls das nicht möglich sei, er wenigstens einen kurzen, gnädigen und hundertprozentig tödlichen Herzinfarkt erleiden möge. Doch kein solches Glück war ihm beschieden. Er blieb unter den Lebenden, die Blaskapelle marschierte weiter, sein Vater tänzelte fort, schüttelte Hände und lächelte.

Wenn es irgendeine Gerechtigkeit auf der Welt gibt, dachte Fat Charlie, dann wird mein Vater den ganzen Flur durchqueren, und er wird nicht hier halten, sondern an uns vorbei bis zur Abteilung für die Geschlechtsorgane und Harnwege marschieren; aber ach, es gab keine Gerechtigkeit, sein Vater erreichte die Tür der onkologischen Station und blieb stehen.

»Fat Charlie«, sagte er, laut genug, dass alle Anwesenden auf der Station – in diesem Stockwerk – im ganzen Krankenhaus – zur Kenntnis nehmen konnten, dass diese Person mit Fat Charlie bekannt war. »Fat Charlie, geh aus dem Weg. Dein Vater ist da.«

Fat Charlie ging aus dem Weg.

Die Kapelle, angeführt von Fat Charlies Vater, schlängelte sich durch die Station bis zum Bett von Fat Charlies Mutter. Sie blickte ihnen entgegen, und dabei lächelte sie.

»›Yellow Bird‹«, sagte sie matt. »Das ist mein Lieblingslied.«

»Und was für ein Mann wäre ich, wenn ich das je vergessen würde?«, fragte Fat Charlies Vater.

Sie schüttelte langsam den Kopf, und sie griff nach seiner Hand in ihrem zitronengelben Handschuh und drückte sie.

»Entschuldigen Sie«, sagte eine kleine weiße Frau mit einem Klemmbrett im Arm, »gehören diese Leute zu Ihnen?«

»Nein«, sagte Fat Charlie, und seine Wangen brannten. »Nein, im Grunde nicht.«

»Aber das ist doch Ihre Mutter, oder?« Die Frau richtete einen Basiliskenblick auf ihn. »Ich muss Sie bitten, diese Leute zu bewegen, die Station auf der Stelle zu verlassen, und zwar ohne weitere Störungen zu verursachen.«

Fat Charlie murmelte etwas.

»Was haben Sie gesagt?«

»Ich sagte, ich bin mir sicher, dass ich diese Leute zu gar nichts bewegen kann«, sagte Fat Charlie. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass es schlechterdings nicht mehr schlimmer kommen konnte, aber dann nahm sein Vater dem Trommler eine Plastiktragetasche ab, aus der er alsdann eine Dose Dunkelbier nach der anderen zog und diese an seine Kapelle, das Pflegepersonal und die Patienten verteilte. Zu guter Letzt zündete er sich einen Stumpen an.

»Entschuldigen Sie«, sagte die Frau mit dem Klemmbrett, als sie den Rauch sah, und sie schoss quer durchs Zimmer auf Fat Charlies Vater zu wie eine losgelassene Scud-Rakete.

Fat Charlie nutzte die Gelegenheit, um sich davonzustehlen. Es schien ihm das Klügste, was er machen konnte.

An jenem Abend saß er zu Hause und wartete darauf, dass das Telefon klingelte oder es an der Tür klopfte, mehr oder weniger in der Gemütsverfassung eines Mannes, der unter der Guillotine kniet und darauf wartet, dass die Klinge seinen Nacken küsst. Doch die Klingel blieb stumm.

In der Nacht konnte er kaum schlafen, und als er sich am folgenden Nachmittag in die Klinik schleppte, war er auf das Schlimmste gefasst.

Seine Mutter saß in ihrem Bett und wirkte glücklicher und entspannter, als er sie seit Monaten erlebt hatte. »Er ist wieder abgereist«, sagte sie zu Fat Charlie, als er eintrat. »Er konnte nicht bleiben. Ich muss sagen, Charlie, ich wünschte, du wärest nicht so einfach verschwunden. Wir haben hier am Ende eine Party gefeiert. Wir hatten richtig Spaß.«

Fat Charlie konnte sich nichts Übleres vorstellen, als an einer Party in einer Krebsstation teilnehmen zu müssen, zumal, wenn sie von seinem Vater unter Beteiligung einer Jazzkapelle veranstaltet wurde. Er sagte nichts.

»Er ist kein schlechter Mann«, sagte Fat Charlies Mutter, ein Funkeln in den Augen. Dann runzelte sie die Stirn. »Na ja, das stimmt nicht ganz. Er ist ganz gewiss kein guter Mann. Aber er hat mir wirklich gutgetan gestern Abend.« Und sie lächelte, ein richtig echtes Lächeln, und für einen kleinen Augenblick sah sie wieder jung aus.

Die Frau mit dem Klemmbrett stand in der Tür und winkte ihm mit gekrümmtem Finger. Er schwirrte quer durch den Krankensaal auf sie zu, stieß seine Entschuldigungen schon hervor, bevor sie richtig in Hörweite war. Ihre Erscheinung, erkannte er im Näherkommen, war nicht mehr die eines Basilisken mit Magenkrämpfen. Vielmehr machte sie jetzt einen durchaus koketten Eindruck. »Ihr Vater«, sagte sie.

»Es tut mir leid«, sagte Fat Charlie. Das war das, was er immer gesagt hatte, seit seiner Jugend, wann immer die Rede auf seinen Vater kam.

»Nein, nein, nein«, sagte der ehemalige Basilisk. »Es gibt keinen Grund, sich zu entschuldigen, ich habe mich nur gefragt: Ihr Vater, falls wir Verbindung mit ihm aufnehmen müssen – wir haben keine Telefonnummer oder Adresse in den Akten. Ich hätte ihn gestern Abend fragen sollen, aber irgendwie bin ich einfach nicht dazugekommen.«

»Ich glaube nicht, dass er eine Telefonnummer hat«, sagte Fat Charlie. »Und finden kann man ihn am besten, wenn man nach Florida kommt und dort den Highway A1A nimmt – das ist die Küstenstraße, die sich fast über den ganzen Ostteil des Staates zieht. Nachmittags finden Sie ihn vielleicht irgendwo beim Angeln. Abends sitzt er dann in der Bar.«

»So ein charmanter Mann«, sagte sie wehmütig. »Was macht er?«

»Hab ich doch gerade erzählt. Er sagt, das sei das biblische Wunder von den Booten und den Fischen.«

Sie starrte ihn verständnislos an, und er kam sich bescheuert vor. Wenn sein Vater es sagte, lachten immer alle. »Ähm. Wie in der Bibel, die Speisung der fünftausend. Die wundersame Vermehrung des Brots und der Fische. Er meinte, er sitze den ganzen Tag im Boot und fische, und es sei ein Wunder, wie er zu seinem Brot komme. Es war so eine Art Witz.«

Ein verhangener Blick. »Ja, er hat die komischsten Witze erzählt.« Dann schnalzte sie mit der Zunge und war ab sofort wieder ganz Funktionsträgerin. »Also gut, Sie müssten dann um halb sechs wieder hier sein.«

»Warum?«

»Um Ihre Mutter abzuholen. Und ihre Sachen. Hat Dr. Johnson Ihnen nicht mitgeteilt, dass wir sie entlassen?«

»Sie schicken sie nach Hause?«

»Ja, Mr. Nancy.«

»Aber was ist mit dem, mit dem Krebs?«

»Scheint ein falscher Alarm gewesen zu sein.«

Falscher Alarm? Fat Charlie begriff gar nichts mehr. Letzte Woche war noch die Rede davon gewesen, dass man seine Mutter in ein Hospiz überweisen sollte. Der Arzt hatte Wendungen benutzt wie »eher Wochen als Monate« und »es ihr so angenehm wie möglich machen, während wir dem Unvermeidlichen entgegensehen«.

Trotzdem war Fat Charlie um halb sechs wieder da und holte seine Mutter ab, die sich wenig darüber zu wundern schien, dass sie plötzlich nicht mehr im Sterben lag. Auf dem Heimweg erzählte sie Fat Charlie, dass sie ihre Ersparnisse dazu verwenden wolle, die Welt zu bereisen.

»Die Ärzte hatten mir noch drei Monate gegeben«, sagte sie. »Und ich weiß noch, ich dachte, falls ich je aus diesem Krankenhausbett rauskomme, dann will ich Paris und Rom und all diese Orte sehen. Ich fahre noch mal nach Barbados und nach Saint Andrews. Vielleicht auch nach Afrika. Und nach China. Ich mag das chinesische Essen.«

Fat Charlie wusste nicht recht, was hier vorging, aber was immer es sein mochte, er machte seinen Vater dafür verantwortlich. Er begleitete seine Mutter und einen beachtlichen Koffer zum Flughafen Heathrow und winkte ihr zum Abschied, als sie durch die Schranke zu den Internationalen Flugsteigen ging. Sie strahlte übers ganze Gesicht, drückte ihren Reisepass und die Tickets an sich und sah so jung aus, wie er sie seit vielen Jahren nicht mehr erlebt hatte.

Sie schickte ihm Ansichtskarten aus Paris, aus Rom, aus Athen, aus Lagos und aus Kapstadt. Ihre Karte aus Nanking informierte ihn darüber, dass ihr das, was man in China als chinesisches Essen anbiete, ganz und gar nicht zusage und sie es kaum erwarten könne, nach London zurückzukehren und mal wieder richtig chinesisch zu essen.

Sie starb im Schlaf in einem Hotel in Williamstown, auf der karibischen Insel Saint Andrews.

Bei der Beerdigung in einem Südlondoner Krematorium rechnete Fat Charlie sekündlich mit dem Auftauchen seines Vaters: Vielleicht würde der Alte wieder an der Spitze einer Jazzkapelle auftreten, oder er würde mit einer Clownstruppe im Gefolge oder, warum nicht, mit einem halben Dutzend Zigarre paffenden Schimpansen auf Dreirädern durch den Gang ziehen; sogar noch während des Gottesdienstes blickte Fat Charlie immer wieder über die Schulter zur Tür der Kapelle. Aber Fat Charlies Vater war nicht da, nur Freundinnen und entfernte Verwandte seiner Mutter, überwiegend stattliche Frauen mit schwarzen Hüten, die unentwegt in ihre Taschentücher schnaubten, sich die Augen betupften und die Köpfe schüttelten.

Während der zum Abschluss gesungenen Hymne, nachdem der Knopf gedrückt worden war und Fat Charlies Mutter auf dem Förderband ihrer letzten Bestimmung zugeführt wurde, geschah es dann, dass Fat Charlies Blick auf einen Mann etwa seines Alters fiel, der im rückwärtigen Teil der Kapelle stand. Es war offenkundig nicht sein Vater. Es war jemand, den er nicht kannte, den er vermutlich nicht einmal bemerkt haben würde, dort hinten im Schatten, hätte er nicht nach seinem Vater Ausschau gehalten … und dann stand da plötzlich dieser Fremde, in einem eleganten schwarzen Anzug, die Augen gesenkt, die Hände gefaltet.

Fat Charlie ließ seinen Blick einen Augenblick zu lange auf ihm ruhen, der Fremde sah Fat Charlie an und warf ihm ein freudloses Lächeln zu, das so viel auszudrücken schien wie: Wir sitzen hier im gleichen Boot. Es war nicht die Sorte Gesichtsausdruck, wie man sie von Unbekannten gezeigt bekommt, und doch konnte Fat Charlie diesen Mann nicht unterbringen. Er wandte sich wieder dem vorderen Teil der Kapelle zu. Man sang »Swing Low, Sweet Chariot«, ein Lied, da war Fat Charlie sich ziemlich sicher, das seiner Mutter zeitlebens missfallen hatte, und Pfarrer Wright lud alle Anwesenden ein, noch zu Fat Charlies Großtante Alanna zu kommen und einen kleinen Imbiss zu nehmen.

Bei Großtante Alanna traf er niemanden, den er nicht bereits kannte. In den folgenden Jahren machte er sich manchmal Gedanken über diesen Fremden: Wer war er, warum war er bei der Beerdigung gewesen? Manchmal dachte Fat Charlie, dass alles nur Einbildung gewesen sei und er ihn nur in seiner Fantasie gesehen habe …

»Also«, Rosie trank ihren Chardonnay aus, »du rufst deine Mrs. Higgler an und gibst ihr meine Handynummer. Erzähl ihr von der Hochzeit, gib ihr das Datum … da fällt mir ein: Meinst du, wir sollten sie vielleicht einladen?«

»Können wir, wenn wir wollen«, sagte Fat Charlie. »Ich glaube nicht, dass sie kommen würde. Sie ist eine alte Freundin der Familie. Sie kennt meinen Vater seit ewigen Zeiten, praktisch aus dem Mittelalter.«

»Na ja, klopf mal auf den Busch. Finde heraus, ob wir eine Einladung schicken sollten.«

Rosie war ein guter Mensch. In Rosie steckte ein bisschen vom Wesen eines Franz von Assisi, eines Robin Hood, eines Buddha und einer Glinda, der guten Hexe: das Wissen darum, dass sie im Begriff war, ihre wahre Liebe und seinen ihm entfremdeten Vater wieder zusammenzuführen, verlieh ihrer anstehenden Hochzeit, so befand sie, noch eine zusätzliche Dimension. Es war nicht mehr einfach nur eine Hochzeit: Es war jetzt praktisch eine humanitäre Mission, und Fat Charlie kannte seine Rosie lange genug, um sich ihrem Bedürfnis, Gutes zu tun, niemals und auf keinen Fall in den Weg zu stellen.

»Ich werde Mrs. Higgler morgen anrufen«, sagte er.

»Soll ich dir was sagen«, entgegnete Rosie mit einem entzückenden Naserümpfen, »ruf sie heute Abend noch an. Schließlich ist es in Amerika noch früher am Tag.«

Fat Charlie nickte. Sie traten gemeinsam aus der Weinstube, Rosie mit federnden Schritten, Fat Charlie wie ein Mann, der zum Schafott geführt wird. Er beschwor sich, nicht albern zu sein: Vielleicht war ja Mrs. Higgler inzwischen verzogen oder hatte ihr Telefon abgemeldet. Möglich war es. Alles war möglich.

Sie gingen bis zu Fat Charlies Wohnung, der oberen Etage eines eher kleinen Hauses in Maxwell Gardens, ganz in der Nähe der Brixton Road.

»Wie spät ist es jetzt in Florida?«, fragte Rosie.

»Später Nachmittag«, sagte Fat Charlie.

»Na, dann mal los.«

»Vielleicht sollten wir noch ein bisschen warten. Falls sie grad unterwegs ist.«

»Und vielleicht sollten wir jetzt anrufen, solange sie noch nicht beim Abendessen ist.«

Fat Charlie stöberte sein altes Adressbuch auf, und unter dem Buchstaben H fand sich ein ausgerissenes Stück Briefumschlag, auf dem in der Handschrift seiner Mutter eine Telefonnummer und darunter der Name Callyanne Higgler stand.

Das Telefon klingelte und klingelte.

»Sie ist nicht da«, sagte er zu Rosie, aber im gleichen Moment wurde der Hörer am anderen Ende abgenommen, und eine Frauenstimme sagte: »Ja? Wer ist da?«

»Ähm. Spreche ich mit Mrs. Higgler?«

»Wer ist da?«, sagte Mrs. Higgler. »Wenn Sie einer von diesen verdammten Telefonverkäufern sind, dann streichen Sie mich sofort von Ihrer Liste, sonst verklag ich Sie. Ich kenn meine Rechte.«

»Nein. Ich bin’s. Charles Nancy. Ich habe früher bei Ihnen nebenan gewohnt.«

»Fat Charlie? Na, das ist ja ein Ding. Ich hab den ganzen Morgen nach deiner Nummer gesucht. Die ganze Bude hab ich auf den Kopf gestellt, aber glaubst du, ich hätte sie gefunden? Woran es wahrscheinlich gelegen hat, ist, dass ich sie in mein altes Kassenbuch geschrieben hatte. Dumm und dämlich hab ich mich gesucht. Und ich sag zu mir, Callyann, sag ich, jetzt kannst du nur noch beten und hoffen, dass der Herr dich erhört, und ich fall also auf die Knie, na ja, meine Knie sind nicht mehr so gut wie früher, also falte ich einfach nur die Hände, aber egal, ich kann trotzdem deine Nummer nicht finden, aber dann sieh mal einer an, plötzlich rufst du selber an, und das ist in gewisser Hinsicht ja sogar noch besser, vor allem, weil mir nun mal nicht grad das Geld aus den Ohren rauskommt und ich’s mir eigentlich nicht leisten kann, mal eben ins Ausland zu telefonieren, selbst bei so einem Anlass, obwohl, ich hätte natürlich schon angerufen, keine Sorge, unter diesen Umständen …«

Und dann brach sie plötzlich ab, entweder um Luft zu holen oder um einen Schluck aus dem riesigen Becher mit zu heißem Kaffee zu nehmen, den sie immer in der linken Hand hielt, und während der kurzen Stille sagte Fat Charlie: »Ich möchte meinen Dad bitten, zu meiner Hochzeit zu kommen. Ich heirate.« Schweigen herrschte am anderen Ende der Leitung. »Es ist aber erst Ende des Jahres«, sagte er. Immer noch Schweigen. »Sie heißt Rosie«, fügte er erläuternd hinzu. Er begann sich zu fragen, ob die Verbindung abgebrochen war; Unterhaltungen mit Mrs. Higgler waren nämlich für gewöhnlich eine recht einseitige Angelegenheit, denn meistens übernahm sie den Teil ihres Gesprächspartners gleich mit, aber hier hatte sie ihn jetzt sage und schreibe dreimal reden lassen, ohne ihn zu unterbrechen. Er beschloss, gleich noch einen vierten Angriff zu wagen. »Sie können auch kommen, wenn Sie wollen«, sagte er.

»O Gott o Gott o Gott«, sagte Mrs. Higgler. »Hat es dir niemand gesagt?«

»Was gesagt?«

Also erzählte sie es ihm, ausführlich und in allen Einzelheiten, während er dastand und gar nichts sagte, und als sie zum Schluss gekommen war, sagte er: »Danke, Mrs. Higgler.« Er schrieb etwas auf ein Stück Papier, dann sagte er noch einmal: »Danke. Nein, wirklich, danke«, und legte den Hörer auf.

»Na?«, fragte Rosie. »Hast du seine Nummer bekommen?«

Fat Charlie sagte: »Dad wird nicht zur Hochzeit kommen.« Dann sagte er: »Ich muss nach Florida.« Seine Stimme war ausdruckslos, ohne Emotion. Als hätte er gesagt: »Ich muss mir ein neues Scheckheft bestellen.«

»Wann?«

»Morgen.«

»Warum?«

»Beerdigung. Von meinem Dad. Er ist tot.«

»Oh. Das tut mir leid. Das tut mir ja so leid.« Sie nahm ihn in die Arme und hielt ihn. Er stand in ihren Armen da wie eine Schaufensterpuppe. »Wie ist es, hat er … war er krank?«

Fat Charlie schüttelte den Kopf. »Ich möchte nicht darüber reden«, sagte er.

Und Rosie drückte ihn fest, dann nickte sie mitfühlend und ließ ihn los. Sie dachte, die Trauer habe ihn so überwältigt, dass er nicht sprechen könne.

So war es nicht. Ganz und gar nicht. Es war ihm einfach nur zu peinlich.

Es gibt bestimmt hunderttausend respektable Arten zu sterben. Von einer Brücke in den Fluss springen, um ein Kind vor dem Ertrinken zu retten, zum Beispiel. Oder von einem Kugelhagel zerfetzt werden, während man ganz auf sich gestellt ein Verbrechernest stürmt. Vollkommen ehrbare Arten zu sterben.

Um ehrlich zu sein, auch unter den nicht ganz so ehrbaren Arten zu sterben hätte es noch etliche gegeben, die weniger schlimm gewesen wären. Spontane Selbstentzündung zum Beispiel: eine medizinisch unwägbare und wissenschaftlich kaum greifbare Angelegenheit, aber dennoch gehen immer wieder Leute einfach in Rauch auf und hinterlassen nichts weiter als eine verkokelte Hand, in der noch immer die nicht aufgerauchte Zigarette steckt. Fat Charlie hatte in einer Zeitschrift darüber gelesen: Er hätte nichts dagegen gehabt, wenn sein Vater auf solche Weise abgetreten wäre. Oder selbst wenn ihn ein Herzinfarkt auf der Straße niedergestreckt hätte, während er den Männern nachrannte, die ihm sein Biergeld gestohlen hatten.

Doch Fat Charlies Vater starb folgendermaßen:

Er war zeitig in der Bar eingetroffen und hatte den Karaoke-Abend mit dem Song »What’s New Pussycat« eröffnet, und laut Mrs. Higgler, die freilich nicht anwesend gewesen war, hatte er diesen Song in einer Manier geschmettert, die bei einem Tom Jones für einen Hagel von weiblicher Unterwäsche gesorgt hätte und die Fat Charlies Vater immerhin ein Freibier eintrug, in Auftrag gegeben von den blonden Touristinnen aus Michigan, die ihn so ziemlich für das reizendste Wesen hielten, das sie je zu Gesicht bekommen hatten.

»Es war deren Schuld«, sagte Mrs. Higgler verbittert ins Telefon. »Sie haben ihn angestachelt!« Es seien Frauen gewesen, die sich in enge Oberteile gezwängt hätten, und sie hätten rötliche Haut von zu viel Sonne in zu kurzer Zeit gehabt, und allesamt jung genug, dass sie seine Töchter hätten sein können.

Und so saß er also recht bald an ihrem Tisch, rauchte seine Stumpen und machte Andeutungen der Art, dass er während des Krieges im Nachrichtendienst der Armee tätig gewesen sei, wenn er es auch sorgfältig vermied zu sagen, um welchen Krieg es sich handelte; und dass er einen Feind auf dutzenderlei Weise mit bloßen Händen töten könne, ohne auch nur in Schweiß zu geraten.

Und dann führt er die vollbusigste und blondeste der Touristinnen zu einem flotten Tänzchen aufs Parkett, während eine ihrer Freundinnen auf der Bühne »Strangers in the Night« trällert. Er scheint mächtig Spaß gehabt zu haben, obwohl die Touristin ein gutes Stückchen größer war als er und sein Grinsen sich auf einer Höhe mit ihrem Busen bewegte.

Als dann der Tanz zu Ende war, verkündete er, dass er nun wieder an der Reihe sei, und er sang »I Am What I Am« für das Publikum im Saal, vor allem aber für die blondeste Touristin am Tisch genau unter ihm, denn wenn man eins mit Bestimmtheit über Fat Charlies Vater sagen konnte, dann dies, dass er sich seiner Heterosexualität vollkommen sicher war. Er legte alles hinein, was er hatte. Er stand eben im Begriff zu erklären, dass, soweit es ihn betreffe, sein Leben keinen müden Pfifferling wert wäre, sofern er nicht aller Welt deutlich machen könne, dass er sei, was er sei, da machte er plötzlich ein seltsames Gesicht, presste eine Hand gegen die Brust, streckte die andere Hand von sich und kippte, so langsam und elegant ein Mann nur kippen kann, von der behelfsmäßigen Bühne hinunter auf die blondeste Urlauberin und von ihr weiter auf den Boden.

»Es war ein Abgang, wie er ihn sich immer gewünscht hätte«, seufzte Mrs. Higgler.

Und dann erzählte sie Fat Charlie, dass sein Vater, wie in einer letzten Anstrengung, im Fallen die Hand ausgestreckt und nach etwas gegriffen habe, nach einem Halt womöglich, und dieser erwies sich aber als das enge Oberteil der blonden Touristin, sodass einige der Anwesenden zunächst glaubten, er sei in einem Anfall von Lüsternheit von der Bühne gesprungen, einzig in der Absicht, den betreffenden Busen freizulegen, denn plötzlich saß die Frau da und schrie, und ihre Brüste starrten hinaus in den Saal, während die Musik zu »I Am What I Am« weiterspielte, nur eben jetzt ohne Sänger.

Als die Zuschauer begriffen, was tatsächlich passiert war, schwiegen sie zwei Minuten lang still, und Fat Charlies Vater wurde nach draußen in einen Rettungswagen getragen, während die blonde Touristin in der Damentoilette einen Nervenzusammenbruch erlitt.

Es waren die Brüste, die Fat Charlie nicht aus dem Sinn gehen wollten. In seinen Gedanken folgten sie ihm anklagend überallhin, wie die Augen in einem Gemälde. Er hatte das anhaltende Bedürfnis, sich bei einem Saal voller Menschen zu entschuldigen, denen er nie begegnet war. Und das Wissen, dass sein Vater dies alles ungeheuer amüsant gefunden hätte, trug noch zusätzlich zu Fat Charlies Scham bei. Es ist nämlich besonders schlimm, wenn Sie beschämt über etwas sind, das Sie gar nicht miterlebt haben: Ihre Fantasie schmückt die Ereignisse unwillkürlich aus, kann nicht von ihnen lassen, wendet sie um und um und nimmt sie von allen Seiten unter die Lupe. Na ja, Ihre Fantasie vielleicht nicht, aber bei Fat Charlie war es hundertprozentig so.

Im Regelfall spürte Fat Charlie seine Verlegenheit in den Zähnen und in der oberen Magenregion. Sobald sich in einer Fernsehsendung Entwicklungen auch nur anbahnten, die unter Umständen peinlich werden konnten, sprang Fat Charlie sofort auf und schaltete den Apparat ab. Falls das nicht anging, weil zum Beispiel andere Personen anwesend waren, verließ er das Zimmer unter einem Vorwand und wartete ab, bis er sicher sein konnte, dass die peinlichkeitsträchtige Situation vorbei war.

Fat Charlie wohnte in Südlondon. Im Alter von zehn Jahren war er mit einem amerikanischen Akzent hier angekommen, für den er gnadenlos verspottet wurde, sodass er alles daransetzte, ihn loszuwerden, die weichen Konsonanten und breiten Rs auszumerzen sowie den korrekten und strategisch sinnvollen Gebrauch des Wortes innit zu lernen. Im Alter von sechzehn dann war es ihm endgültig gelungen, seinen amerikanischen Akzent abzulegen, genau zu der Zeit, als seine Schulfreunde entdeckten, dass sie unbedingt so klingen müssten, als kämen sie direkt aus der härtesten Hood. Bald klangen sie alle mit Ausnahme von Fat Charlie wie jemand, der so klingen wollte, wie Fat Charlie geredet hatte, als er nach England gekommen war, abgesehen davon, dass er niemals derartige Ausdrücke in der Öffentlichkeit hätte gebrauchen können, ohne sich eine deftige Ohrfeige von seiner Mama einzufangen.

Es kam alles auf den richtigen Tonfall an.

Sobald die Beschämung über die Umstände des Verscheidens seines Vaters nachließ, blieb Fat Charlie nur noch das Gefühl innerer Leere.

»Ich habe keine Familie mehr«, sagte er, fast verdrossen, zu Rosie.

»Du hast mich«, sagte sie. Darauf begann Fat Charlie zu lächeln. »Und du hast meine Mama«, fügte sie hinzu, worauf das Lächeln abrupt erstarrte. Sie küsste ihn auf die Wange.

»Du könntest über Nacht bleiben«, schlug er vor. »Mich trösten und so.«

»Könnte ich«, bestätigte sie. »Werde ich aber nicht tun.«

Rosie hatte nicht die Absicht, mit Fat Charlie zu schlafen, bevor sie verheiratet waren. Sie sagte, es sei ihre Entscheidung, und sie hatte sie getroffen, als sie fünfzehn war; nicht dass sie Fat Charlie damals schon gekannt hätte, aber sie hatte sich eben so entschieden. Also umarmte sie ihn noch einmal. Ausgiebig. Und sie sagte: »Du musst deinen Frieden machen mit deinem Vater, weißt du.« Und dann ging sie nach Hause.

Er hatte eine ruhelose Nacht, manchmal schlief er, dann wachte er auf und grübelte, dann schlief er wieder ein.

Bei Sonnenaufgang stand er auf. Sobald die Leute in ihren Büros waren, wollte er seine Reiseagentur anrufen und sich nach Trauerfalltarifen für Flüge nach Florida erkundigen, und dann würde er mit der Grahame-Coats-Agentur telefonieren und mitteilen, dass er sich infolge eines Todesfalls in der Familie ein paar Tage freinehmen müsse, und jawohl, er sei sich klar darüber, dass dies von seinen Krankentagen respektive von seinem Urlaub abginge. Vorerst aber war er froh, dass die Welt noch ganz still war.

Er ging durch den Flur zu dem winzigen Gästezimmer im hinteren Teil des Hauses und blickte hinaus in den Garten. Der morgendliche Chorgesang hatte begonnen, und er konnte Amseln erkennen, kleine, in den Hecken hüpfende Spatzen und eine einzelne Drossel mit fleckiger Brust, die sich in den Zweigen eines nahen Baumes zu schaffen machte. Fat Charlie fand, dass eine Welt, in der die Vögel am Morgen singen, eine normale Welt sei, eine vernünftige Welt, und er hatte nichts dagegen, ein Teil dieser Welt zu sein.

Später, als Vögel etwas waren, vor dem man sich fürchten musste, sah Fat Charlie in diesem Morgen, wenn er daran zurückdachte, noch immer etwas Gutes und Schönes, freilich aber auch den Ausgangspunkt von all dem, was folgte. Es war der Moment, bevor der Wahnsinn anfing, und die Angst.

KAPITEL ZWEI

in dem es hauptsächlich darum geht, was nach einer Beerdigung geschieht

Fat Charlie hastete keuchend durch den Ehrengarten der Letzten Ruhe. Er blinzelte in die floridianische Sonne. Schwitzflecken breiteten sich auf seinem Anzug aus, angefangen bei den Achseln und dem Brustkorb. Schweiß begann ihm beim Laufen übers Gesicht zu strömen.

Der Ehrengarten der Letzten Ruhe sah tatsächlich aus wie ein Garten, ein sehr seltsamer Garten allerdings, in dem alle Blumen künstlich waren und aus Metallvasen herauswuchsen, die aus in den Boden eingelassenen Metalltafeln ragten. Fat Charlie rannte an einem Schild vorbei, das die Aufschrift trug: »GRATIS-Grabstätte für alle ehrenhaft entlassenen Veteranen!« Er rannte durch Babyland, wo sich quietschbunte Windmühlen und durchnässte rosablaue Teddybären den Kunstblumen auf dem Floridarasen zugesellten. Ein vermodernder Winnie der Pu starrte matt in den blauen Himmel.

Fat Charlie konnte jetzt die Trauergesellschaft sehen und wechselte die Laufrichtung, um einen geeigneten Weg dorthin zu finden. Etwa dreißig Personen, vielleicht auch mehr, umstanden das Grab. Die Frauen trugen dunkle Kleider und große schwarze, mit ebensolcher Spitze geschmückte Hüte, die wie fantastische Blumen aussahen. Die Männer trugen Anzüge ohne Schwitzflecken. Die Kinder wirkten ernst und feierlich. Fat Charlie verlangsamte sein Tempo zu einem respektvollen Schritt, versuchte sich zu beeilen, ohne durch schnelle Bewegungen erkennen zu lassen, dass er in Eile war, und als er die Trauergruppe erreicht hatte, versuchte er sich in die vorderen Reihen zu schlängeln, ohne allzu viel Aufmerksamkeit zu erregen. Angesichts dessen, dass er mittlerweile schweißgebadet war, keuchte wie ein Walross im Hochgebirge und im Vorbeigehen auf mehrere Füße trat, war dieser Versuch zum Scheitern verurteilt.

Es gab feindselige Blicke, doch Fat Charlie tat so, als würde er sie nicht bemerken. Man sang ein Lied, das Fat Charlie nicht kannte. Er wiegte den Kopf im Takt des Liedes und bewegte auch die Lippen auf eine Art, die für den Beobachter zumindest nicht ausschloss, dass er sich aktiv, wenn auch sotto voce, am Gesang beteiligte. Dabei nutzte er die Gelegenheit, hinunter auf den Sarg zu blicken. Mit Befriedigung nahm er zur Kenntnis, dass dieser verschlossen war.

Der Sarg war eine prachtvolle Angelegenheit, gefertigt allem Anschein nach aus extra strapazierfähigem dunkelgraublauem Armierungsstahl. Im Falle der glorreichen Auferstehung, dachte Fat Charlie, wenn Gabriel in seine mächtige Trompete bliese und die Toten ihren Särgen entstiegen, würde sein Vater in seinem Grab feststecken, würde vergeblich gegen den Sargdeckel schlagen und sich wünschen, er wäre mit einer Brechstange, wenn nicht einem Autogenschweißbrenner als Grabbeigabe beerdigt worden.

Ein letztes, zutiefst melodisches Halleluja verklang. In der anschließenden Stille konnte Fat Charlie jemand am anderen Ende des Ehrengartens rufen hören, nahe der Stelle, wo er diesen betreten hatte.

Der Prediger sagte: »Also, hat irgendjemand etwas auf dem Herzen, das er zum Angedenken an den guten Menschen sagen möchte, den wir hier zur Ruhe betten?«

Mehrere der Personen, die am nächsten zum Grab standen, legten eine Miene auf, die erkennen ließ, dass sie in der Tat die Absicht hatten, etwas zu sagen. Aber Fat Charlie wusste, dass dies ein Moment war, in dem es hieß: Jetzt oder nie. Du musst deinen Frieden machen mit deinem Vater, weißt du. Genau.

Tief Luft holend, trat er einen Schritt vor, sodass er direkt am Rand des Grabes stand, und sagte: »Ähm. Entschuldigung. Ja. Ich glaube, ich hätte etwas zu sagen.«

Das ferne Rufen wurde lauter. Einige der Trauergäste blickten sich um, um festzustellen, wo es herkam. Die anderen starrten Fat Charlie an.

»Ich hatte zu meinem Vater niemals das, was man eine enge Beziehung nennen würde«, sagte Fat Charlie. »Wir wussten vermutlich nicht, wie das geht. Zwanzig Jahre lang habe ich nicht zu seinem Leben gehört und er nicht zu meinem. Es gibt vieles, das zu vergeben schwerfällt, doch dann steht man eines Tages da und hat keine Familie mehr.« Er wischte sich mit der Hand über die Stirn. »Ich glaube nicht, dass ich in meinem ganzen Leben auch nur einmal ›ich liebe dich, Dad‹ gesagt habe. Sie alle, Sie haben ihn wahrscheinlich besser gekannt als ich. Einige von Ihnen haben ihn vielleicht geliebt. Sie waren ein Teil seines Lebens und ich war es nicht. Daher schäme ich mich nicht vor Ihnen, es zu sagen. Es zum ersten Mal seit mindestens zwanzig Jahren zu sagen.« Er blickte auf den unüberwindlichen Metallsargdeckel. »Ich liebe dich«, sagte er. »Und ich werde dich nie vergessen.«

Jetzt wurde das Rufen sogar noch lauter, und inzwischen war es laut genug und auch deutlich genug, dass in der Stille, die auf Fat Charlies Erklärung folgte, jeder verstehen konnte, was da quer durch den Ehrengarten gebrüllt wurde: »Fat Charlie! Hör auf, diese Leute da zu belästigen, und mach, dass du herkommst, aber sofort!«

Fat Charlie starrte auf das Meer unvertrauter Gesichter, auf denen ein brodelnder Eintopf aus Schock, Verwirrung, Wut und Schrecken sich Ausdruck verschaffte; mit brennenden Ohren erkannte er die Wahrheit.

»Äh. Tut mir leid. Falsche Beerdigung«, sagte er.

Ein kleiner Junge mit großen Ohren und einem sehr breiten Lächeln sagte stolz zu ihm: »Das war meine Oma.«

Unter weitgehend unzusammenhängend hervorgepressten Entschuldigungen trat Fat Charlie den Rückzug an, mitten durch die kleine Versammlung hindurch. Er wollte, dass die Welt sofort unterginge. Er wusste, dass es nicht seines Vaters Schuld war, aber er wusste auch, dass sein Vater sich kaputtgelacht hätte.

Auf dem Weg stand, die Hände in die Hüften gestemmt, eine korpulente Frau mit grauen Haaren und zornigem Gesicht. Fat Charlie ging auf sie zu, als müsse er ein Minenfeld durchqueren, plötzlich wieder neun Jahre alt und wieder mal in bösen Schwierigkeiten.

»Hast mich nich’ schreien hören?«, fragte sie. »Bist glatt an mir vorbeigelaufen. Musstest dich unbedingt blamieren!« So wie sie blamieren aussprach, wurde es mit P geschrieben. »Gottesdienst und alles haste verpasst. Aber da ist noch eine Schaufel voll Erde, die auf dich wartet.«

Mrs. Higgler hatte sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten kaum verändert: Sie war ein bisschen dicker geworden, ein bisschen grauer. Die Lippen fest zusammengepresst, führte sie ihn über einen der vielen Wege des Ehrenparks. Fat Charlie argwöhnte, dass er nicht den bestmöglichen ersten Eindruck gemacht hatte. Sie ging voraus, und er folgte beschämt.

Eine Eidechse katapultierte sich auf einer der Streben des Metallzaunes am Rande des Gartens aufwärts, machte es sich dann oben auf einem Dorn bequem und tat sich an der dicken floridianischen Luft gütlich. Die Sonne war hinter einer Wolke verschwunden, dennoch wurde der Nachmittag eher noch heißer. Die Eidechse blies ihren Hals zu einem leuchtend orangen Ballon auf.

Zwei langbeinige Kraniche, die er bislang für Zierobjekte gehalten hatte, blickten auf, als er sie passierte. Einer von ihnen stieß den Kopf nach unten, und als er ihn wieder hob, baumelte ein großer Frosch in seinem Schnabel. In einer Folge von Schluckbewegungen versuchte er sich die wüst zappelnde Beute einzuverleiben.

»Nun komm«, sagte Mrs. Higgler. »Trödel nich’ rum. Schlimm genug, dass du die Beerdigung deines eigenen Vaters verpasst.«

Fat Charlie unterdrückte den Impuls zu erwähnen, dass er an diesem Tag bereits sechstausend Kilometer weit geflogen sei, dass er sich ferner ein Auto gemietet, um von Orlando aus weiterzufahren, und dann auch noch die falsche Abfahrt erwischt habe, und wessen Idee sei es eigentlich gewesen, einen Garten der Letzten Ruhe gleich neben einen Walmart ganz am Rande der Stadt zu zwängen? Sie gingen immer weiter, vorbei an einem großen Betongebäude, das nach Formaldehyd roch, bis sie zu einem offenen Grab gelangten, das sich am äußersten Rand des Parks befand. Dahinter gab es nichts mehr als einen hohen Zaun, und hinter diesem begann ein Gelände mit wild wachsenden Bäumen, Palmen und Grünzeug. Im Grab lag ein bescheidener Holzsarg. Auf ihm häuften sich bereits mehrere kleine Hügel mit Erde. Neben dem Grab befand sich ein größerer Haufen dieser Erde und eine Schaufel.

Mrs. Higgler nahm die Schaufel und drückte sie Fat Charlie in die Hand.

»Es war ein schöner Gottesdienst«, sagte sie. »Ein paar alte Trinkkumpane von deinem Daddy waren da und alle Damen aus unserer Straße. Wir sind immer in Kontakt geblieben, selbst als er umgezogen ist, ein Stück weiter die Straße runter. Es hätte ihm gefallen. Noch mehr gefallen hätt’s ihm natürlich, wenn du hier gewesen wärst.« Sie schüttelte den Kopf. »So, jetzt schaufel«, sagte sie. »Und wenn du was zum Abschied zu sagen hast, dann sag es, während du beim Schaufeln bist.«

»Ich dachte, man müsste nur ein oder zwei Schaufeln voll machen«, sagte Fat Charlie. »Symbolisch, um seinen guten Willen zu zeigen.«

»Ich hab dem Mann dreißig Dollar gegeben, damit er weggeht«, sagte Mrs. Higgler. »Hab ihm gesagt, der Sohn des Verstorbenen kommt extra ganz aus England angeflogen, und er will tun, was seinem Vater gebührt. Also tu, was recht ist. Nicht nur ›guten Willen zeigen‹.«

»Ja«, sagte Fat Charlie. »Natürlich. Verstehe.« Er zog sein Anzugsakko aus und hängte es über den Zaun. Er lockerte seine Krawatte, zog sie sich über den Kopf und steckte sie in die Sakkotasche. Dann schaufelte er die schwarze Erde in das offene Grab, in der floridianischen Luft, die die Konsistenz einer sämigen Suppe aufwies.

Nach einiger Zeit setzte eine Art Regen ein, soll heißen, es war die Sorte Regen, die sich nie recht entscheiden kann, ob sie nun tatsächlich loslegt oder nicht. Beim Autofahren hätte man nicht gewusst, ob man die Scheibenwischer betätigen soll. Beim Erdeschaufeln wurde man davon einfach nur noch nasser, schwitzte noch mehr, fühlte sich noch unwohler. Fat Charlie schaufelte immer weiter, und Mrs. Higgler stand daneben, die Arme über dem gewaltigen Busen verschränkt, und sah ihm zu, wie er das Loch auffüllte, während der Beinaheregen ihr schwarzes Kleid und den Strohhut mit der schwarzen Seidenrose einfeuchtete.

Aus der Erde wurde Schlamm, und der wurde tendenziell immer schwerer.

Eine Ewigkeit, und zumal eine überaus ungemütliche Ewigkeit, schien vergangen zu sein, als Fat Charlie die letzte Schaufel voll Erde festklopfte.

Mrs. Higgler trat zu ihm. Sie nahm sein Sakko vom Zaun und reichte es ihm.

»Du bist bis auf die Haut durchnässt und starrst vor Dreck und Schweiß, aber du bist erwachsen geworden. Willkommen zu Hause, Fat Charlie«, sagte sie, und lächelnd drückte sie ihn an ihre mächtige Brust.

»Ich weine gar nicht«, sagte Fat Charlie.

»Still jetzt«, sagte Mrs. Higgler.

»Das ist der Regen auf meinem Gesicht«, sagte Fat Charlie.

Mrs. Higgler sagte gar nichts. Sie hielt ihn einfach nur fest und wiegte sich dabei hin und her, und nach einer Weile sagte Fat Charlie: »Ist gut. Mir geht’s jetzt besser.«

»Es gibt noch was zu essen bei mir zu Hause«, sagte Mrs. Higgler. »Gehen wir, damit du was in den Magen kriegst.«

Auf dem Parkplatz wischte er sich den Schlamm von den Schuhen, dann stieg er in sein Mietauto und folgte Mrs. Higglers kastanienbraunem Kombi durch Straßen, die vor zwanzig Jahren noch nicht existiert hatten. Mrs. Higgler fuhr wie jemand, der soeben einen riesigen und dringend benötigten Becher Kaffee entdeckt hat und dessen vordringlichste Aufgabe jetzt darin bestand, so viel wie möglich von dem Kaffee zu trinken und gleichzeitig so schnell wie möglich zu fahren. Fat Charlie fuhr immer hinterher, blieb dran, so gut er konnte, von Ampel zu Ampel hetzend, während er versuchte, ansatzweise herauszufinden, wo sie eigentlich waren.

Dann bogen sie in eine Straße, und Stück für Stück dämmerte ihm, dass er sie kannte. Dies war die Straße, in der er als Junge gewohnt hatte. Sogar die Häuser sahen mehr oder weniger noch so aus wie früher, wenn auch die meisten von ihnen sich eindrucksvolle Drahtgeflechtzäune um die Vorgärten zugelegt hatten.

Es parkten bereits mehrere Autos vor Mrs. Higglers Haus. Er hielt hinter einem ältlichen grauen Ford. Mrs. Higgler schritt zur Haustür, öffnete sie mit ihrem Schlüssel.

Fat Charlie blickte an sich hinunter, schlammbespritzt und schweißdurchnässt, wie er war. »So kann ich nicht reingehen«, sagte er.

»Hab schon Schlimmeres gesehen«, sagte Mrs. Higgler. Dann schnüffelte sie kurz. »Pass auf, du gehst da rein, gehst direkt durch ins Badezimmer, da kannst du dir die Hände und das Gesicht waschen, machst dich sauber, und wenn du fertig bist, findest du uns alle in der Küche.«

Er ging ins Bad. Alles roch nach Jasmin. Er zog sein schmutziges Hemd aus, wusch sich in dem winzigen Waschbecken Gesicht und Hände mit nach Jasmin duftender Seife. Er nahm einen Waschlappen, wischte sich damit die Brust ab und rieb an den gröbsten Schlammspritzern auf seiner Hose herum. Er besah sich das Hemd, das heute Morgen, als er es angezogen hatte, strahlend weiß gewesen war, sich nun aber in einem ausgesucht schmuddeligen Braun präsentierte, und er beschloss, es nicht wieder anzuziehen. Er hatte noch andere Hemden in der Reisetasche, auf dem Rücksitz des Mietwagens. Er würde noch mal kurz aus dem Haus schlüpfen, ein sauberes Hemd anziehen und dann den Leuten in der Küche gegenübertreten.

Er entriegelte die Badezimmertür und öffnete sie.

Vier ältere Damen standen im Flur und starrten ihn an. Er kannte sie. Er kannte sie alle.

»Was willste denn jetzt?«, fragte Mrs. Higgler.

»Hemd wechseln«, sagte Fat Charlie. »Hemd im Auto. Ja. Gleich wieder da.«

Er reckte das Kinn nach oben und schritt durch den Flur zur Haustür und nach draußen.

»Was für ’ne Sprache war das, die er gesprochen hat?«, fragte die kleine Mrs. Dunwiddy laut in seinem Rücken.

»So was sieht man auch nicht alle Tage«, sagte Mrs. Bustamonte, obwohl, wenn es hier, an Floridas Treasure Coast, eines gab, was man garantiert jeden Tag zu sehen bekam, dann waren es Männer mit nackten Oberkörpern, wenn auch in der Regel ohne schlammbespritzte Anzughosen.

Fat Charlie wechselte sein Hemd neben dem Auto, dann ging er ins Haus zurück. Die vier Damen waren in der Küche, eifrig damit beschäftigt, Tupperware-Behälter mit Esswaren zu füllen, die offenbar bis eben noch Teil eines festlichen Büffets gewesen waren.

Mrs. Higgler war älter als Mrs. Bustamonte, und beide waren sie älter als Mrs. Noles, und keine war älter als Mrs. Dunwiddy. Mrs. Dunwiddy war alt, und das sah man ihr auch an. Wahrscheinlich gab es geologische Zeitalter, die jünger waren als Mrs. Dunwiddy.