Anarchy in the UKR - Serhij Zhadan - E-Book

Anarchy in the UKR E-Book

Serhij Zhadan

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Beschreibung

»Vergiß die Politik, lies keine Zeitung, geh nicht ins Netz, verweigere deine Stimme« – so beginnt der »Linke Marsch«, ein Kapitel aus Serhij Zhadans zweitem Prosaband, dem ein Song der Sex Pistols, Anarchy in the UKR, als Motto dient. Zhadan ist dabei, sich zur stärksten Stimme der jungen ukrainischen Literatur zu entwickeln – und zum Antipoden von Juri Andruchowytsch. Auch Zhadans Ich-Erzähler ist ständig im Zug oder in bizarren Landschaften unterwegs. Doch es zieht ihn nicht zu den Ruinen der habsburgischen Vergangenheit, sondern in die Industriebrachen des Donbass im Südosten des Landes – an die Orte des von den Sowjets zerschlagenen Anarchokommunismus. Niemand scheint sich an Nestor Machno zu erinnern. Anarchismus, das gab es nie. Bis er im November 2004 in Charkiw, zu Füßen des »Fuck-Lenin-Denkmals«, wiederaufersteht.

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Seitenzahl: 282

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Serhij Zhadan

Anarchy in the UKR

Aus dem Ukrainischen von Claudia Dathe

Suhrkamp

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Die Originalausgabe erschien 2005 unter dem Titel Anarchy in the UKR im Verlag Folio, Charkiw.

Die Übersetzung wurde gefördert vom Literarischem Colloquium Berlin mit Mitteln des Auswärtigen Amtes und der Senatsverwaltung für Wissenschaft und Kultur, Berlin.

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022

Der vorliegende Text folgt der 3. Auflage der Ausgabe der edition suhrkamp 2522

Deutsche Erstausgabe

© der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag AG, Berlin 2007

© Serhij Zhadan 2005

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Umschlag gestaltet nach einem Konzept von Willy Fleckhaus: Rolf Staudt

eISBN 978-3-518-77518-9

www.suhrkamp.de

Anarchy in the UKR

I am an antichrist

I am an anarchist

Don’t know what I want

But I know how to get it

I wanna destroy passerby

Cause I

Wanna be anarchy

No dogs body

Sex Pistols: Anarchy In The U.K.

Inhalt

Teil Eins. Wie schwarze Damenunterwäsche

1

.

Eisenbahnunfälle

2

.

Die Strapazen des ukrainischen Trampens

3

.

Der schlechte Dichter Sosjura

4

.

Freimaurer im Alltag

5

.

Alles, was spannend ist

6

.

Die wahre Biographie des Sängers Kobzon

7

.

Ein Hotelzimmer für $ 2,99

8

.

Auch diesmal hättest du sterben können

9

.

Die Geister folgen meinem Haschisch

10

.

Linker Marsch

Teil Zwei. Meine Achtziger

1981

Kino

1982

Agitpunkt

1983

Vergnügungspark

1984

Garage

1985

Krankenhaus

1986

Stadion

1987

Post

1988

Bierbrauerei

1989

Wehrlager

1990

Dächer

Teil Drei. Red Down Town

1

.

Das Hotel »Charkiw«

2

.

Das Scheiß-Lenin-Denkmal

3

.

Die Staatsindustrie und ihr christlicher Kern

4

.

Frühlingswind in den Seminarräumen

5

.

Schewas Fuck off an den Kapitalismus

6

.

Rolling Stones für die Armen

7

.

Der feuchte Körper der Macht

8

.

Während ich den Pionierpalast für immer verlasse

9

.

Metrostation Tod

10

.

Die Südseite des Nordens

Teil Vier. Live fast, die young

(zehn Tracks, die ich auf meiner Beerdigung hören möchte)

1

.

Eric Burdon. Black On Black In Black

2

.

Neil Young. Rockin’ In The Free World

3

.

Rolling Stones. Sister Morphine

4

.

Creedence Clearwater Revival. Up Around The Bend

5

.

Buddy Guy. Done Got Old

6

.

Lou Reed. Berlin

7

.

George Harrison. Hear me Lord

8

.

The Stooges. Real Cool Time

9

.

Jethro Tull. Locomotive Breath

10

.

Sex Pistols. Anarchy In The U.K

.

Teil Eins

Wie schwarze Damenunterwäsche

1. Eisenbahnunfälle. Anfang August holte mich Ljoschka in Charkiw ab, und wir haben dann auf dem Bahnhof gleich zwei Fahrkarten für den Nachtzug genommen. Es fing an zu regnen, der Bahnhof war halb leer, der Asphalt auf den Bahnsteigen erwärmte sich den ganzen Tag nicht. Irgendwie haben wir die Zeit bis zum Abend totgeschlagen, die zwölf Stunden in der Stadt rumgebracht, dann offener Schlafwagen dritter Klasse und die tief hängenden Sterne über den Waggons wie Salz auf den Rücken der Fische. Den Zug kannte ich seit meiner Kindheit, mein erster Zug, die erste Eisenbahnerfahrung sozusagen, ich erinnere mich bis heute an die Pritschen, an die sowjetischen Bettlaken, naß wie eingeweichtes Papier, an die verqualmten Tamburen, schwarze, verschneite Felder zogen vorbei, eine Landschaft wie schwarze Damenunterwäsche, es war Vorfrühling, und ich fuhr dieselbe Strecke. Seither ist viel Zeit vergangen, die Schaffner sind alt geworden, mein guter alter »Sumy-Luhansk« zog Abend für Abend an den östlichen Grenzen entlang, manchmal zog ich mit ihm. Wenn es jemanden interessierte, könnte ich eine Menge erzählen über die Morphiumengel aus den Schlafwagenabteilen, die sich an den Bahnübergängen mit den frisch erbeuteten Geldsäckeln und Klunkern aus rotem Zigeunergold aus dem Staub machten, über die Knastis, die sich auf der Heimfahrt einen Schuß setzten und alle Mitreisenden mit gepanschtem polnischen Fusel abfüllten, über die Hilfsschaffner, die sich schon betrunken hatten, bevor wir überhaupt losfuhren, weshalb ich fürs Öffnen der Türen zuständig war, damit die nervösen Mitternachtspassagiere den Ausstieg in ihren namenlosen Bergarbeiterorten nicht verpaßten, kurz, wenn sich jemand für den Alltag und die heldenhafte Arbeit meiner Landsleute interessierte, würde ich natürlich Auskunft geben, aber lassen wir das.

So vor zehn Jahren bin ich oft schwarzgefahren, ich mußte nur im Blick haben, wann im Nachbarwagen die Kontrolle kam, die Schaffner kontrollierten natürlich nie gleichzeitig, irgend jemand hinkte immer hinterher, und so brauchte man nur in den Nachbarwaggon zu gehen und dann zurückzukommen. Seitdem hat sich kaum etwas verändert, dasselbe Publikum, dieselben frustrierten Gesichter, derselbe Trott, so weit ich weiß, haben die Eisenbahner den höchsten Prozentsatz an Geschlechtskrankheiten, kein Wunder, bei dem, was die saufen.

Zurück zu unserem guten alten »Sumy-Luhansk«, Fahrkarten bis Swatowe, Plätze in einem ätzenden offenen Schlafwagen, uns gegenüber ein Mädchen, das gleich ein Gespräch anfängt. Aber worüber kann man mit uns schon reden? Ich weiß schon lange, daß ich Schwachsinn fasele, und wenn mich jemand anspricht, find ich es dann selbst oberpeinlich, also höre ich lieber zu. Das Mädchen sah sportlich aus, das heißt, nein, Trainingsanzug, Muskeln oder so meine ich nicht, was konnte die schon für Muskeln haben! Hatte sie natürlich nicht, sie sah einfach sportlich aus, war echt sympathisch und absolut nicht auf unsere Gesprächsbeteiligung angewiesen, sie redete ohne Punkt und Komma, wir warfen nur ab und zu etwas ein und boten ihr ansonsten Wodka an. Es stellte sich heraus, daß sie an der Polizeihochschule studiert, um Polizistin zu werden, dort geht es zu wie in der Armee, die werden ordentlich geschliffen, mit Privatleben, das heißt Sex, ist da nicht viel, Schminken ist verboten. Ganz in Ordnung, das mit dem Schminken, fand ich, wenn die Polizisten auch noch anfangen sich zu schminken, ist ihr gesellschaftliches Ansehen, das ohnehin ramponierte, vollends im Arsch. Und das mit dem Sex will auch gut überlegt sein, durch Sex entstehen Kinder, und was sollen wir mit den ganzen Polizisten? Ich hing meinen Gedanken nach, sie war wirklich nett, und ich wollte sie nicht beleidigen, obwohl mir das mit dem Sex keine Ruhe ließ. Na ja, dachte ich, vielleicht mischen sie Brom ins Essen, damit die Polizisten in den Kasernen gut schlafen und die Exerzierübungen nicht stören; macht Brom eigentlich abhängig? Wahrscheinlich schon, sicher setzen sie die meisten dieser netten, unverdorbenen Studentinnen auf Brom, und das werden sie dann ihr Leben lang nicht los, sicher ist das für viele ein persönliches Drama, da kommt so ein Polizist vom Dienst nach Hause, läßt im Korridor seine frisch erbeuteten Skalps fallen, geht in die Küche, verspeist ein üppiges Abendbrot, guckt seine Talk-Show, putzt sich ordentlich die Zähne, und ehe er ins Bett fällt, wo seine treue, kinderlose Frau auf ihn wartet, geht er noch mal in die Küche, kippt sein Glas Wasser mit Brom, macht das Licht aus und klappt ab, ohne einen Gedanken an seine Pflichten vor Gott und den Menschen zu verschwenden, an seine Frau schon gar nicht. Halb so tragisch, sagt das Mädchen, kriegen wir schon hin, so ist das Leben, mmh, sag ich, aber was ist das denn für ein Leben, dieses ewige Generve, nein, antwortet sie, ich find das gut, ich hab Ferien und fahr jetzt heim nach Luhansk, und wo wollt ihr hin?

Vor ungefähr einem Jahr habe ich in einem Interview gesagt, ich würde gern ein Buch über Anarchismus schreiben. Jetzt weiß ich nicht mehr, warum ich das eigentlich gesagt habe, damals hatte ich nicht die geringste Lust, ein Buch über Anarchismus zu schreiben, aber das ist ja noch kein Grund, es nicht zu schreiben. Irgend jemand muß schließlich auch darüber schreiben, warum also nicht ich. Mein Ziel war klar und einfach – ich wollte die Orte aufsuchen, an denen die ukrainischen Anarchokommunisten am aktivsten gewirkt hatten, und dann etwas dazu schreiben. Ich nahm meinen Presseausweis und überredete Ljoschka, mitzukommen und Fotos zu machen. Ljoschka nahm die Sache sehr ernst und stellte einen Haufen Fragen, was er denn lesen solle, um sich einzuarbeiten, keine Ahnung, sagte ich, lies Kropotkin. Oder laß es besser. Der Sommer ging zu Ende, das Wetter wurde schlechter, und irgendwann fuhren wir wirklich los. Ljoschka hatte mich, wie gesagt, in Charkiw abgeholt, und nun waren wir schon seit ein paar Stunden schlaflos in diesem Zugabteil mit der rätselhaften Reisenden unterwegs und versuchten ihr zu erklären, wohin wir wollten, aber wir hatten keine Kraft und wußten auch nicht, wie wir es ihr erklären sollten. Ihr die Theorie der anarchistischen Selbstverwaltung darzulegen, traute ich mich nicht, was sollte sie auch damit, bei dem Brom und der Ausbildung, und von meiner Kindheit und den Dämonen zu erzählen, die hin und wieder zum Vorschein kommen, wäre zumindest merkwürdig gewesen, was würde sie schon von meiner Kindheit begreifen, wo sie nicht mal mit ihrer eigenen klarkam.

Manchmal mußt du einfach deinen Phantasien, zumindest den sympathischen, deiner inneren Stimme nachgeben, mußt ihre Ratschläge befolgen, wenn sie dir zum Beispiel zuflüstern: Na los, fahr hin, du hast doch da mal gelebt, bist dort aufgewachsen, na ja, vielleicht nicht ganz genau dort, macht nichts, versuch wieder rauszukommen aus den Niederungen da, und dann sehen wir mal, ob dein Geist, deine Erinnerung all die Wege wiederbeleben kann, die sich auf merkwürdige und unglaubliche Weise über deine persönliche Widerstandserfahrung gelegt haben, ab und zu mußt du deine Dämonen auf Urlaub schicken, sie entsteigen ohnehin Nacht für Nacht deinen Lungen wie Brieftauben ihren Schlägen und fliegen auf Strecken, die nur sie kennen; was hätte ich also dem Mädchen mit seinen Muskeln antworten sollen, he? Daß wir noch ein paar Stunden die gleiche Richtung fahren, wie ich das schon oft getan habe, und daß ich irgendwann nachts, wenn der Zug nicht entgleist und uns alle unter seinen Trümmern begräbt, umsteige und weiterfahre; daß ich in die Stadt will, in der ich aufgewachsen bin und auf die ich in letzter Zeit keinen Bock mehr habe, daß ich Freunde treffen will, die irgendwo da auf mich warten; daß ich absolut nicht scharf bin auf was Neues, daß ich einfach umsteige, von einem Zug in den nächsten, von einem Bus in den nächsten, immer eine andere Strecke, immer eine andere Fahrkarte, und ab und zu aussteige, um wieder einmal festzustellen, daß sich nichts verändert hat, daß alles so ist wie früher, wie immer, in bester Ordnung; daß sich auch nichts verändern konnte, wenn du dich nicht verändert hast. Und auch davon muß ich mich überzeugen. Ich konnte nicht richtig erklären, wohin ich wollte, sie würde das nicht verstehen, denn dort, wo für sie der Zug stehenblieb, blieb für mich die Zeit stehen, und ich konnte nur darauf warten, daß die Zeit sich wieder in Bewegung setzte, mit angehaltenem Atem warten, um sie nicht zu verschrecken, und da ich den Weg nur zu gut kannte, wußte ich genau, wie lange er dauert und wie er enden wird.

An der nächsten Station stiegen wir aus und holten Bier. Es war ein Uhr nachts. Ich glaube, es regnete. Oder nicht? Keine Ahnung. Egal.

2. Die Strapazen des ukrainischen Trampens. Es gibt mehrere Möglichkeiten, halbwegs unbeschadet die 200 Kilometer von Charkiw in die kleine Stadt zurückzulegen, die dafür bekannt ist, daß dort seinerzeit Wolodymyr Mykolajowytsch Sosjura, später ein gefeierter Dichter, nicht festgenommen und in kleine, unansehnliche Stücke zerteilt wurde, wodurch der sowjetukrainischen Literatur bedeutende Werke erhalten geblieben sind, zum Beispiel Sosjuras unsägliche Memoiren. Es gibt also mehrere Möglichkeiten. Man könnte den Bus nehmen, das ist am einfachsten und bequemsten, kommt also für uns nicht in Frage. Weiter. Man könnte den Bummelzug nehmen und mehrmals umsteigen, zum Beispiel nachts auf dem merkwürdigen Bahnhof Hrakowe, wo sich stundenlang keine Menschenseele zeigt, nur irgendwo links riesige Silos in den Himmel ragen, eine graue Multifunktionsanlage, öde Erinnerung an die abgefuckte sowjetukrainische Landwirtschaft, dir bleibt nichts anderes übrig, als mitten in der Nacht auf die Stahlbrücke zu treten, die Gott weiß warum über den Bahnsteigen entlangführt, in den Himmel zu schauen und zu warten, daß die Sonne oder sonst irgendwas auftaucht, und wenn die Sonne dann – so gegen fünf – wirklich auftaucht, siehst du plötzlich, wie sie ihre Strahlen bewegt, ganz vorsichtig, wie eine Flunder, die über eine ferne, von Kadavern und gebrauchten Kondomen gesäumte Schnellstraße rollt, du schaust lange, sehr lange, so lange, bis ein Bummelzug kommt, drei Stunden vielleicht. Doch zur Schnellstraße. Man könnte auch trampen. Im Sommer ist das ganz praktisch, im Winter gefährlich. Aber auch im Sommer macht es keinen großen Spaß, es fahren kaum Autos, zu Sowjetzeiten, ja, da war hier richtig was los, an den Tankstellen wurde Limonade verkauft, heute ist die Infrastruktur im Arsch, und obwohl man in den Kiosken am Straßenrand alles kaufen kann bis hin zu Waffen und Drogen, ist das Leben abseits der Siedlungen traurig und kümmerlich, das Show Business stirbt aus, die Autofahrer sind nervös, die Bewohner der abgelegenen Dörfer sehen dich an wie einen Downie, hier hält nicht mal eine Nutte, um dich mitzunehmen, bloß weg von den endlosen Sonnenblumenfeldern, den Wartehäuschen am Straßenrand mit Blut- und Spermaspuren an den Wänden, zu den Menschen mit ihren Leben und Lebensmittelläden, aber um die geht es gar nicht, wirklich nicht. Ich kenne diese Schnellstraße gut, unzählige abgespeicherte Erinnerungen an Petting in überhitzten Ikarus-Kabinen, an zerschmetterte Schädel und Blut auf dem Asphalt, direkt an der Geschwindigkeitsbeschränkung, an blondes Frauenhaar auf deinen Schultern, das du sorgfältig abzupfst, als ihr fast schon am Ziel seid und sie gerade eingeschlafen ist; die Pausen unterwegs sind immer hilfreich und willkommen, und wenn du von Charkiw nach Luhansk trampst, sind die Pausen überhaupt das Wichtigste, das Eigentliche, sie sind so lang und wiederkehrend, daß sie alles ausfüllen – dich, deine Hoffnung und deine Hoffnungslosigkeit. Einmal, es war ein heißer Sommer, trampte ich auf dieser Straße, wurde nachts an der merkwürdigen Raststätte Hrakowe abgesetzt und stellte mich am Morgen an die leere Fahrbahn mit Hundekadavern und den Spuren fremder Liebe; ich hatte Glück, irgendein Biker hielt, nahm mich gut hundert Kilometer mit und setzte mich an der Wuslowa-Trasse ab. Und da fing es an. Ich wartete eine Stunde und ging dann los, in meine Richtung. Die Luft war warm und staubig und roch nach Wolfsmilch, so daß ich einfach loslaufen mußte, in so einer Luft kannst du nicht einfach stehenbleiben und warten, bis jemand kommt, der in deine Richtung will und dich mitnimmt, du mußt einfach los, läufst über alle Kieselsteine dieser Welt, kommst an allen Sonnenblumen dieses Erntejahres vorbei, die sich von dir abwenden, der Sonne zu. Ich muß mich loben, ich bin immerhin fünfzehn Kilometer gelaufen, dann fiel ich ins Gras und schlief bis zum Abend. Ich kam gerade noch so an, wo ich hinwollte, aber, wie soll ich sagen, also, es gibt vieles in meinem Leben, woran ich mich überhaupt nicht mehr erinnere, und anderes, woran ich mich nicht erinnern will, aber die Kieselsteine und die versifften Wartehäuschen, in die ich vor der Sonne flüchtete, die Provinzschönheit, die in einem Häuschen auf den Bus aus der Gegenrichtung wartete und mich ansah – daran werde ich mich immer erinnern. An der Schnellstraße gibt es ein paar Stellen, wo mir gleich einer steht, wenn ich nur dran denke. Kurz hinter Swatowe zum Beispiel ist so eine, an einer Kreuzung, wo mich an einem Septembertag zufällige Fernfahrer abgesetzt haben, sie haben mich rausgeschmissen und sind rechts abgebogen, ich stand zwischen den leeren Septemberfeldern, die eine Wärme verströmten – wie das Blut eines aufgeschlitzten Tiers, die Nächte waren schon kalt, aber tagsüber knallte die Sonne, ich war fast einen Tag lang unterwegs gewesen, und als ich an der Kreuzung ausstieg, hatte ich alles Schwarze und Schwere des zurückgelegten Wegs aufgesogen; ich stand auf dem grauen Asphalt und hörte den Vögeln zu, wie sie über meinem Kopf kreischten, sich zu ihrem Flug nach Süden sammelten, und auf einmal wurde mir klar, daß ich, wenn ich lange, sehr lange stehenbliebe, hören könnte, wie die Stimmen der Vögel leiser und leiser werden, bis sie verstummen, ganz und gar, und an ihre Stelle etwas anderes tritt, Stille zum Beispiel.

Aber irgendwie habe ich es nie lange an einem Ort ausgehalten, egal wie viele überraschende Anblicke sich mir in der Abenddämmerung oder im Morgennebel boten, wie viele verfallene Fabriken und überschwemmte Ortschaften, Mohnplantagen und Wehranlagen, Hafenkräne und herbstliche Gebirgsketten vor mir auftauchten, weder auf Berggipfeln noch auf Mohnplantagen hat es mich lange gehalten, obwohl vielleicht gerade dort mein Platz ist, vielleicht müßte ich genau das Stück Raum ausfüllen, das aufgrund meiner Abwesenheit immer mehr fremden Sauerstoff, immer mehr fremdes Licht einsaugt und damit einen Luftzug in der fest gefügten Weltordnung auslöst, aber trotzdem, ich halte nicht inne, der größte Fehler liegt darin, so tief wie möglich in den Raum eindringen, ihn so genau wie möglich auf den Filmstills der Erinnerung festhalten zu wollen, ihn pausenlos mit eigenen Erfahrungen zu mischen, ohne anzuhalten, denn bei jedem Halt könnte sich eine Falltür unter mir öffnen, eine Geheimluke, von deren Existenz ich die ganze Zeit wußte, mich nur gefürchtet habe, hineinzuschauen. Hielte ich inne, könnte ich feststellen, daß die Besiedlung des Raumes, die Inbesitznahme der damit verbundenen Erinnerung viel interessanter und faszinierender ist als die bloße Anhäufung von Räumen und das endlose Abspulen von Erinnerungen. Je öfter du unterwegs anhältst, je länger deine Pausen sind, desto größer ist die Chance, schließlich all die Details zu entdecken, die dir entgehen, wenn du nicht anhältst, das ist nicht einmal eine Frage des Blickwinkels, sondern der Geschwindigkeit deiner Bewegung, wenn ich anhielte, könnte ich entdecken, daß das nicht einfach die Änderung meiner Vorstellung von der Landschaft ist, sondern eine Änderung der Landschaft und damit auch meiner selbst.

Vor Jahren ist mein Bruder auf dieser Schnellstraße verunglückt. Er stieß mit irgendwelchen Yuppies zusammen, die auf seine Spur geraten waren, er hatte keine Chance, kam aber mit einem gebrochenen Bein davon, dafür war das Auto reif für den Schrottplatz; immer wenn ich an der Stelle vorbeikomme, denke ich, es müßte doch noch Spuren geben, schwarze Reifenspuren auf dem Asphalt, den eingedrückten Metallzaun, die zerfetzte Jeans im Straßengraben, Benzingeruch, Blut, da muß doch auch Blut sein, wenn es der Regen nicht weggewaschen hat, wahrscheinlich hat er es weggewaschen, mit Sicherheit.

Mein Bruder hatte schon etliche Unfälle, er fuhr alle seine Motorräder zu Schrott, es waren einige, er stürzte bei voller Fahrt, holte sich Schürfwunden, riß sich die Klamotten kaputt, stand auf und fuhr weiter, als wäre nichts gewesen, er hat so viele Autos gehabt, daß ich mich gar nicht an alle erinnern kann. Als ich klein war, wollte er mir das Autofahren beibringen, aber was er sich da in den Kopf gesetzt hatte, klappte nicht – Geschwindigkeit hat mir immer schon angst gemacht, bis heute, das kam wahrscheinlich daher, daß mein Freund und ich mal als Kinder betrunken eine schwere Ural mit Seitenwagen geklaut haben und damit über besagte einsame und holprige Schnellstraße bretterten, und als wir so richtig aufgedreht hatten, merkte ich, daß mein Freund, der übrigens am Steuer saß, eingeschlafen war. In einer Kurve flog die Ural von der Fahrbahn und landete zwischen zwei Strommasten. Wir überlebten und waren schlagartig nüchtern, aber ich habe Angst vor Geschwindigkeit, ich habe Angst zu reisen, nur anzuhalten, davor habe ich noch mehr Angst.

3. Der schlechte Dichter Sosjura. Der Bahnhof von Swatowe ist morgens um vier still und schlecht beleuchtet. Soweit ich verstanden habe, hat hier irgendwo Sosjura gekämpft, in seinen Memoiren ist auf diesem Bahnhof entweder jemand gefangengenommen worden oder geflohen, man steigt nicht immer durch, besonders in seiner Biographie, du liest den ganzen Band und kapierst nicht mal, auf welcher Seite der Hauptheld gekämpft hat; Sosjura schreibt nur so allgemeines Zeug, muß man sich mal vorstellen, der Typ hat den ganzen Bürgerkrieg mitgemacht, an verschiedenen Fronten gekämpft, ist heil rausgekommen, was ja die Hauptsache ist, und worüber schreibt er dann in seinen Memoiren? andauernd irgendein Fick mit einer Barmherzigen Schwester oder einem zuständigen Agitator (na gut, mit einer Agitatorin, so was wollen wir Sosjura mal nicht unterstellen), das ewige Gejammer, daß drüben, im sonnigen Donbass, seine schöne Jungfrau Lili Marleen auf ihn warte, keine klare politische Richtung und kein geistiges Programm (daß er für die Weltrevolution eintrat, ist keine Entschuldigung, dafür sein kann jeder), mit einem Wort – ein Schwätzer, keine richtigen Kriegsszenen mit Blut und Gedärm, das an den Reifen der roten Panzerwagen klebt, kein facettenreiches Bild von Soldaten und Sergeanten mit Dienstlisten und vernarbten Gewehrkolben, keine Angaben über die zahlenmäßige Stärke des Gegners, schlimmer noch, kein einziger eigenhändig getöteter Feind der Arbeiterklasse! Und da schreibt er, er sei für die Weltrevolution! Lies mal, möchte man dem Autor sagen, die Memoiren anderer Revolutionäre in Südrußland, also in der Ukraine, lies wenigstens Nestor Machno, das ist ein ganz anderer Umgang mit Details und Nuancen, der beschreibt jeden eigenhändig aufgeknüpften Marodeur oder Kommissar mit einer solchen Genauigkeit, als wollte er diese Listen dem heiligen Petrus persönlich überreichen, in der Hoffnung, der Gute möge ihm das anrechnen, wenn er eines Tages selbst an die Paradiespforte klopft. Was aber könnte der heilige Petrus Wolodymyr Mykolajowytsch Sosjura anrechnen? Das Tamtam mit den Barmherzigen Schwestern in den Sanitätszügen? Wohl kaum. Oder ich habe den Sinn des Christentums falsch verstanden. Was hat der heilige Petrus mit den Barmherzigen Schwestern zu schaffen? Der hat auch so genug um die Ohren, nehme ich an. Aber lassen wir mal Pforte und Passierschein da oben beiseite, da ist immerzu was Unausgesprochenes, was ich nicht mag, denn hinter diesen ganzen Sanitätszügen steckt doch etwas viel Interessanteres, etwas, was Wolodymyr Mykolajowytsch entweder tatsächlich vergessen oder aber verdrängt hat. In Wirklichkeit stinken seine Memoiren nach Leichen, stinken nach warmem Blut und Schmutzwäsche, nach Typhus und Ruhr, nur – warum schreibt er nicht darüber? Das Traurige an dieser Literatur ist meiner Meinung nach, daß die Biographien ihrer besten Autoren um vieles interessanter sind als die Werke, aber das gehört nicht hierher.

Wir steigen aus. Der Zug wird von riesigen Lampen angestrahlt, die aussehen wie Scheinwerfer im Stadion, die Wagen setzen sich schwerfällig in Bewegung und beschleunigen bis zum nächsten Haltepunkt, dann nimmt der Zug Kurs auf den Donbass. Hier ist nicht einmal tagsüber was los. Nachts schon gar nicht. Auf dem Bahnhof ist es kalt, trotz Sommer, trotz August, hier ist es kalt, und da liegt schon einer und schläft, los, sage ich, laß uns zum Busbahnhof gehen, dort führt die Schnellstraße vorbei, vielleicht nimmt uns jemand mit, wenn nicht, warten wir auf den ersten Bus, komm schon, ist nicht weit. Das habe ich einfach so gesagt, ist nicht weit, ich bin diese nachtschwarzen Straßen schon öfter gegangen und weiß, daß das nächtliche Herumtappen auf den unbefestigten Straßen der Stadt ohne jede Orientierung ein aussichtsloses Unterfangen ist, aber was soll’s. Wir gingen den Bahnsteig entlang und sprangen auf den Weg, der neben den grasüberwachsenen Gleisen verlief, wir wichen Methanolfässern und einem Betonzaun aus und entfernten uns von den Lampen und dem Bahnhof, neben uns kroch der »Sumy-Luhansk« und hüllte uns in betäubenden Rauch von Abteilkohle und brodelndem Samowarwasser, der Zug war der letzte Lichtpunkt. Dann mußten wir im Dunkeln weiter.

Der Busbahnhof war zu. Als ich zuletzt hier war, vor ein paar Jahren, lag er schon in den letzten Zügen, zwei Drittel der Fahrtziele waren bereits gestrichen, das Dorf von der Zivilisation abgeschnitten, wenn man das alles überhaupt Zivilisation nennen konnte; die Sessel und Bänke halb kaputt, die Sitze zerschlissen, der Lautsprecher schwieg vielsagend. Aber damals gab es wenigstens noch ein Café, man konnte dieses gummiartige Gebäck kaufen und Chupa Chups, die in dem grauen Ambiente grell hervorstachen. Irgendwie hatte ich auf das Café gehofft, auf die Chupa Chups, die Chupa Chups gingen mir eigentlich am Arsch vorbei, aber ich dachte mir: Okay, dann ist das Dorf eben von der Zivilisation abgeschnitten, die Sitze zerschlissen, der Lautsprecher kaputt, juckt mich nicht, juckt mich nicht, wenn der Lautsprecher kaputt ist, echt nicht, aber das Café, das Café muß doch verdammt noch mal auf sein, und wo ein Café ist, gibt es auch so etwas wie kulturelles Leben: Wodka, Bouletten, Nutten, irgendwas, zumindest Strom und Kommunikation.

Aber der Kapitalismus und sein gemästeter Leib haben es nicht bis in die kargen ländlichen Regionen geschafft, Chupa Chups, einfach lächerlich. Der Bahnhof war zu, an der Tür hing ein Schloß, alles vergebens. Wir gingen um das dunkle Gebäude herum und traten auf die Schnellstraße. Neben dem Bahnhofsgebäude stand ein Lieferwagen, da schliefen offenbar Fernfahrer, um sich am Morgen mit neuer Kraft nach Rostow oder in das Kuban aufzumachen, Kohle ranschaffen, das Geschäft aufziehen, ihren Träumen entgegen, ihrem Tod entgegen.

Und so stehen wir nun fast am Ortsausgang, 100 Meter vor uns der Bahnübergang, und die Straße neben uns so schwarz, daß ich, wenn es nicht Schwachsinn wäre, zum Bahnhof zurückkehren würde, zu den Menschen, den Methanolfässern, zum Geist von Wolodymyr Mykolajowytsch, der wohl von Zeit zu Zeit den Bahnhof überfliegt, zu seiner »Dritten Kompanie« abbiegt und da oben in Erinnerung an seine Sanitätszüge und den dritten Bauernaufstand einen tiefen Seufzer tut. Es ist jetzt gegen fünf Uhr morgens, wir haben uns neben einem Zaun auf die Erde fallen lassen, in einem Haus mit geschlossenen Fenstern läuft der Fernseher, komische Typen leben in dem Nest, denke ich so, ohne Café und Lautsprecher, ohne Nutten und Chupa Chups, hocken in ihren Buden, die Arschlöcher, alles verriegelt und verrammelt, und hängen bis in die Puppen vor der Glotze, was die sich wohl reinziehen? Was wollen sie sehen? Die aktuellen Nachrichten? Was wollen sie in den Nachrichten hören? Was erwarten sie von dieser Welt, vor der sie sich hinter verriegelten Türen und verrammelten Fenstern verstecken? Und was kann die Welt ihnen bieten, womit kann die Welt diesen komischen Typen dienen, die morgens um fünf vor der Glotze hängen? Basketball? Na klar, Basketball wahrscheinlich, was sonst. Auf einmal kommt hinter dem Gebäude eine merkwürdige Gestalt hervor, ein fahler, in Gedanken versunkener Typ, ein schnapsgetränkter Nachtfalter, dem der Lieferwagen ebenfalls aufgefallen ist, genau wie uns, er schleicht um ihn herum, traut sich aber nicht näher heran, und auf einmal hat er uns entdeckt. Oh, denke ich, dem ist nicht so nach Basketball, was den wohl interessiert? Hey, Jungs, ruft er uns zu, wo gibt’s denn hier was zu saufen? Wo’s hier was zu saufen gibt? fragen wir zurück, ja, zu saufen, wo gibt’s denn hier morgens um fünf was zu saufen? der kann doch nicht von hier sein bei der schlechten Ortskenntnis und den normalen Bedürfnissen, auf dem Bahnhof, sage ich zu ihm, und hier? Hier nicht. Hier ist tote Hose, siehst du doch, alles dicht, gucken alle Basketball, und wie komm ich zum Bahnhof? Am besten die Gleise lang, sage ich, da vorn ist der Übergang, dann nach links, ungefähr zwanzig Minuten, dann kommt der Bahnhof. Dort gibt’s was zu saufen. Und paß gut auf, nicht nach rechts abkommen, sonst landest du im Donbass.

Als er weg war, fragte ich mich, was dieser Typ um fünf Uhr morgens auf dem Busbahnhof wirklich wollte. Sich was zu saufen besorgen? War es vielleicht ein Wahnsinniger, ein Serientäter, ein Autobahnmörder? Unerforschlich sind deine Wege, o Herr, was für sinnlose Begegnungen bereitest du uns auf unseren nicht weniger sinnlosen Touren. In einer Stunde geht der erste Bus nach Luhansk, wir fallen auf die hintersten Sitze und verschlafen unsere sechzig Kilometer bis in den nächsten Ort, wir verschlafen überhaupt alles, was es zu verschlafen gibt, ohne dabei wirklich etwas zu verpassen.

4. Freimaurer im Alltag. Noch eine Heldenstadt, Zuflucht für Jungsträume und dunkle Leidenschaften, die die Moral und das Gewissen ihrer Bewohner untergraben, rund vierzigtausend Menschen leben hier, vier Mittelschulen, eine davon habe ich besucht, eine mit Blech verkleidete Kirche aus dem 19. Jahrhundert, oder wie beschreibt man das am besten, Teufel noch mal, mit Blech verkleidete Kirche, wie das klingt, ein restauriertes Kloster; als ich Kind war, saß dort eine Armeeeinheit, Ende der Achtziger kam die Familie zweier Klassenkameraden, Zwillinge, aus der DDR zurück, ihr Vater war Offizier und gehörte dieser Einheit an, die Zwillinge gingen in die Musikschule und lernten Akkordeon, sie hatten zu zweit ein Instrument, konnten gut Fußball spielen, rauchten ziemlich viel für ihr Alter, hörten Accept, die sie aus der DDR mitgebracht hatten, und erzählten allen über die Ge-eS-eS-De, die Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte in Deutschland, Armeekinder, die totalen Looser, ihr Vater knöpfte sie sich regelmäßig vor, aber das half nicht viel; und jetzt? Wo sind die Offiziere abgeblieben? Und die Kommandozentrale? Die Reservisten und die GSSD? Was ist mit unseren Streitkräften los? Religiöse Vernebelung, verdammt; außer den vier Schulen gibt es noch ein Stadion, eine Bank, Büros und Silos, die gehören einfach dazu, Gott erschuf all diese Orte und errichtete Silos allerorten, er gebot den Menschen, hier habt ihr die Silos, und nun legt los, das ist alles, was ich euch gebiete; ich erinnere mich noch an einen Reiseführer für das Gebiet Luhansk, das damals noch regulär Gebiet Woroschilowgrad hieß, dort war sogar auf dem Umschlag ein mit Weizen beladener LKW vor einem Silo abgebildet, das hat sich mir eingeprägt, Schwarzerdeboden, Kornkammer, ein Paradies für alle faschistischen Eroberer; außerdem gibt es ein paar Kinos, ein Wohnheim für Berufsschüler, einen Reparaturbetrieb, einen Bahnhof. Auf den Straßen jede Menge Sand und Aprikosen, die Aprikosen fallen in den Sand, und niemand liest sie auf, ganze Straßenzüge voll herabgefallener Aprikosen, du mußt aufpassen, daß du nicht drauftrittst und ausrutschst. Von den berühmten Persönlichkeiten der Stadt, die Partei- und Staatsfunktionäre mal ausgenommen, könnte man den verrückten Schriftsteller Harschyn nennen, womit der sich befaßt hat, weiß keiner, wie er endete, weiß jeder. Für kurze Zeit war Starobilsk sogar die Hauptstadt der Sowjetukraine, 1943, als die Russen nach Westen vorrückten, wurde Starobilsk als eine der ersten ukrainischen Städte befreit, und im Gefolge der Armee fielen natürlich auch gleich die Bürokratenärsche ein, und da sie keine wichtigere Ortschaft in ihre Gewalt gebracht hatten, riefen sie kurzerhand Starobilsk zur Hauptstadt aus. Die Befreiung selbst wurde bis zum Exzeß aufgeblasen und verzerrt – Obelisken, Gedenktafeln und Veteranenmedaillen ohne Ende, obwohl die echten Schlachten im Donbass geschlagen wurden, dort stand wirklich was auf dem Spiel: Steinkohle, schwarzes Gold, Bergwerke, die den unbeugsamen Kumpeln auf den Kopf rieselten, das ist was anderes als Silos; in Starobilsk gab es nur einen rumänischen Posten, ein paar Panzerhelden, die die abgerissenen Rumänen überwältigten, aufdringliche Partisanen und massenhaft Kollaborateure, natürlich mußte man daraus etwas machen, was zum Zeitgeist paßte, denn das wäre ja zu peinlich – die Hauptstadt der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik und ein dahergelaufener rumänischer Posten, da ist es imagefördernder, von harten Kämpfen vor den Toren der Stadt zu berichten und uns Grundschülern die noch lebenden, aber von der Liebe des Volkes bereits in die Bewußtlosigkeit getriebenen Medaillenveteranen vorzuführen, denen man nur das Wort zu erteilen brauchte, damit sie loslegten: vom heimatlichen Starobilsk und seiner Umgebung, vor denen sie die Häupter senkten und auf die Knie fielen, vom Sturm auf Berlin, dessen Verlauf sie natürlich entscheidend beeinflußt hatten, wie sie sagten, während sie sich mit dem Ärmel eine einsame Tschekistenträne aus dem Auge wischten und die intimsten Stellen schamlos auswalzten, die Veteranen mochte ich schon als Kind nicht, sie benahmen sich wie Huren beim ersten Treffen, sie wollten Blumen und eine Blaskapelle, stiegen auf die Bühne, und wenn sie über Koba sprachen, fingen sie an zu sabbern, für einen echten Soldaten das Letzte. Aber keiner dieser Ärsche hat mir als Kind auch nur in Andeutungen von den Lagern mit den polnischen Offizieren erzählt, die hier 1939 erschossen wurden, oder von den jüdischen Massengräbern, auf denen man später einen Vergnügungspark errichtete, natürlich – das war kein rumänischer Schmuddelposten und nicht der Sturm auf Berlin. Ich war überrascht, daß in Polen viele Leute Starobilsk als den Ort mit den erschossenen Offizieren kennen, mit deiner Heimatstadt ist kein Staat zu machen, das wäre so ähnlich, als wollte man sich brüsten, aus der Gegend von Buchenwald zu stammen.

In der Nähe der Stadt wurde zu Anfang der zwanziger Jahre eine Kommune gegründet. Die Kommune »Karl Marx«. Soweit ich weiß, entstand sie erst nach der Niederschlagung der hiesigen anarchistischen Bewegung. Zeitzeugen erzählen, daß die Kommunarden unsichere und ängstliche Typen waren und sich bei der einheimischen Bevölkerung keiner besonderen Beliebtheit erfreuten, sie lebten die Promiskuität unter ländlichen Bedingungen, der Landwirtschaft begegneten sie mit offener Verachtung und schlugen sich so durch, sie soffen wie die Löcher und kompromittierten damit in den Augen der Zeitgenossen die Idee des kommunistischen Zusammenlebens oder zumindest das, was diese dafür hielten.