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Dieses Demenz-Buch ist wie ein Reiseführer: Es lädt ein nach Anderland, ins Land der Menschen mit Demenz, um die Menschen dort besser zu verstehen. Wer sich auf die Reise dorthin macht, sollte keine Vorurteile im Gepäck haben und willens sein, Neuland zu betreten. So wie ein Forscher, der nicht missionieren will, sondern eine fremde Kultur toleriert und erlebt. Dieser Reiseführer ist ein Muss für alle, die in Anderland Verwandte, Bekannte oder Freunde haben: Reich an überraschend plausiblen Erklärungen, unterhaltsamen Tatsachenberichten und seltsamen Textdokumenten, gibt er viele hilfreiche Verhaltenstipps.
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Seitenzahl: 139
Veröffentlichungsjahr: 2024
Erich Schützendorf • Jürgen Datum
Anderlandentdecken, erleben, begreifen
Ein Reiseführer in
die Welt von Menschen
mit Demenz
Herausgegeben von Glücksmomente stiften e. V.
2., durchgesehene Auflage
Ernst Reinhardt Verlag München
Anderland – ein Land, in dem die Wege oft sehr verworren sind.
Manchmal scheinen sie sogar schier unergründlich zu sein. Doch häufig trügt der Schein und eine Erkundungsreise kann zu erstaunlichen Erkenntnissen und Einsichten führen. Um Ihnen einen ersten Eindruck zu vermitteln, was Sie auf dieser ungewöhnlichen Exkursion erwartet, hier ein Überblick.
Reisen bildet
Stellen Sie sich vor, Sie leben in Normalien und wollen einen Menschen mit Demenz, der in Anderland lebt, besuchen.
In Normalien ist Ihnen alles vertraut. Sie kennen sich mit den Sitten und Gebräuchen aus, kennen die herrschenden Vorstellungen von Anstand und Etikette und wissen, wie man sich zivilisiert verhält, um nicht anzuecken. Sie können sich beherrschen, zumindest in der Öffentlichkeit. Gesellschaftlich weniger akzeptierte Seiten Ihrer Person leben Sie nur im Privaten und im vertrauten Familien- und Bekanntenkreis aus.
Wie betreten Sie das unbekannte Land?
Man kann als Tourist dorthin reisen, sich über die dort lebenden Menschen wundern oder sie bemitleiden und darauf achten, dass sie einem nicht zu nahekommen.
Man kann dort als Vertreter einer überlegenen Zivilisation auftreten, benimmt sich wie ein Rechthaber, Entwicklungshelfer oder Missionar, der den Einwohnern erklärt, wo es lang geht.
Man kann dem Land und den dort lebenden Menschen aber auch als Entdecker begegnen, der fest entschlossen ist, Fremdes zu erleben, Ungewohntes zu entdecken und Seltsames zu tolerieren. Das bedeutet, wie man so sagt, sich auf die andere Kultur einzulassen. Der erste wichtige Schritt bei Reiseantritt ist dabei sicherlich, die andere Kultur auch als eine solche zu begreifen und nicht voreilig als unnormal oder gar abnormal einzustufen. Man reist also nicht mit angstvoller Anspannung, schon gar nicht mit Widerwillen und auch nicht mit festgefahrenen Überzeugungen, sondern in freudig aufgeregter Erwartung auf Neues.
Natürlich bleibt man dabei nach wie vor ein Mensch aus Normalien, der weiß, was für ihn wichtig ist. Man wird nicht zum Anderländer, aber man geht auf Distanz zu eigenen Vorstellungen und Richtlinien, um die Besonderheiten und Eigenarten der anderen Kultur wertschätzen zu können.
Eine gewisse Souveränität oder Selbstsicherheit ist für die Reise, bei der man nicht so genau weiß, wie sie ausgeht, eine gute Voraussetzung.
Wir hoffen, dass Ihnen der vorliegende Reiseführer mit seinen Informationen, Tipps und Geschichten über Land und Leute eine angenehme Hilfe bei der Erkundung von Anderland ist, und wünschen Ihnen: Gute Reise!
Anderland, das Land der Freude und Tränen ....................Seite 12
Emotionen herzlich willkommen.
Mit Gefühlen ist das so eine Sache. Vor allem, weil sie oft ganz und gar nichts mit dem Verstand zu tun haben. Und wenn der Verstand so langsam nachlässt, ist Konfusion quasi vorprogrammiert. Umso wichtiger zu wissen, dass Gefühle nicht dement werden. Im Gegenteil: Mit zunehmender Demenz gewinnen sie an Intensität, Kontrolle tritt in den Hintergrund. Zärtlichkeit, Freude, Lust, aber auch Wut, Verzweiflung, Sorge und Angst werden unmittelbar erlebt und nehmen immer mehr Raum im Verhalten und im Umgang mit anderen Menschen ein. Verhalten und Handlungen werden ehrlich und intensiv. Und deshalb sollte man dem Ganzen auch entsprechend begegnen. Nämlich offen und wertschätzend.
Anderland, das Land sinnvoller Sinnlosigkeiten ............Seite 24
Extrem verwirrend, aber auch ganz schön kreativ.
Etwas Sinnloses kann auf keinen Fall sinnvoll sein. Das eine schließt das andere aus, das ist doch wohl logisch. Legt man jedenfalls normale Maßstäbe an. Etwas komplizierter wird die Sache allerdings, wenn der Eigensinn ins Spiel kommt. Dessen Bedeutung erschließt sich schon aus dem Wort an sich, will sagen, jemand bewertet nach seinem eigenen Sinn.
Der Haken dabei: Dieser eigene Sinn kann erheblich mit der allgemein akzeptierten Sinngebung kollidieren. Und wer, bitteschön, legt am Ende fest, was absolut gesehen Sinn hat und was nicht? Jedenfalls sollte man sich tunlichst davor hüten, pauschal alles zu verurteilen, was gängigen Normen nicht entspricht. Hier gilt es, dem, was leichtsinnig als „geistige Umnachtung“ bezeichnet wird, mit einer erhellenden Erkenntnis zu begegnen: Derjenige Mensch wird schon einen Grund für sein Verhalten haben. Was genau, wird in den meisten Fällen nicht lückenlos zu ergründen sein. Aber es ist immer hochgradig kreativ und verdient Achtung und Verständnis.
Anderland, das Land der wortlosen Sprache ....................Seite 34
Kommunikation mit allen Sinnen.
Viele Menschen reagieren irritiert, sobald die Ratio in den Hintergrund tritt. Denn in unserer zunehmend technisierten, auf Effizienz ausgerichteten Umwelt sind wir es nun mal gewohnt, dass die Dinge reibungslos funktionieren. Logisch. Doch im Umgang mit an Demenz erkrankten Menschen ist das keineswegs der Weisheit letzter Schluss. Hier werden gerade die Sinne zu Mittlern zwischen den Welten. Denn die Sinne verschmelzen mit Gefühlen. Umwelt und Umfeld werden zunehmend gefühlt erfahren. Deshalb gilt es, den Betroffenen auch entsprechend sinnlich zu begegnen. Gestik zählt, ein Blick sagt mehr als tausend Worte und eine zärtliche Berührung ist oft weit mehr wert als jedes noch so vernünftige Argument.
Anderland, das Land des Lächelns ....................Seite 46
Mit einem Schmunzeln Brücken bauen.
Oft ist es so, dass weder den Menschen mit Demenz noch ihren Reisebegleitern zum Lachen zumute ist. Der Mensch mit Demenz spürt, dass ihm der Verstand nicht mehr zur Verfügung steht. Das macht ihm Angst und lässt ihn verzweifeln. Aber seine Lust am Lächeln wird dadurch nicht beeinträchtigt und er kann von einem Augenblick auf den anderen von Niedergeschlagenheit in Lachen umschalten. Was nicht selten durch eine entsprechende Mimik zum Ausdruck kommt. Mit anderen Worten: Befindet sich die Seele im Einklang, ist ein Lächeln nicht fern. Im Zustand der Demenz erfolgen Wahrnehmungen ungefiltert, sie geschehen direkt, im hier und jetzt. Der Vogel, den man zwitschern hört, erfreut genauso unmittelbar wie die Blume, deren Farbe und Duft einem gefällt, oder wie das Kinderlachen, das man gerade hört, das die Seele berührt und schöne Erinnerungen weckt. Wie ein Reisebegleiter darauf reagieren sollte? Am besten so, wie es sich anbietet – mit einem verständnisvollen Lächeln.
Anderland, das Land der Aggressionen ....................Seite 56
Grenzgang zwischen Angriff und Verteidigung.
Dass man sich wehrt, wenn man sich ungerecht, respektlos oder verächtlich behandelt fühlt, ist ziemlich normal. Und normal ist es auch, dass man sich dabei letztendlich doch noch irgendwie in den Griff bekommt. Sind die Gefühle des verletzten Seins allerdings rational nicht mehr zu kontrollieren, brechen sie sich häufig ungebremst ihre Bahn und münden im schlimmsten Fall in totaler Aggression. Umso wichtiger, dass wir es rechtzeitig lernen, Menschen mit Demenz nicht zu provozieren, sondern ihnen mit Respekt, Empathie und Geduld begegnen. Und dass wir auch Angriffslust als Element eines natürlichen Abwehrmechanismus begreifen. Nicht zuletzt um des lieben Friedens willen.
Anderland, das Land der verdrehten Tabus ....................Seite 70
Nichts für Zartbesaitete.
Auch Lustvolles ist in Anderland oft ganz anders, als man gemeinhin annehmen mag. Da kann selbst das Spiel mit den eigenen Exkrementen zur lustvollen Beschäftigung werden. Das ist nicht normal. Stimmt. Das ist ekelhaft. Auch das stimmt. Trotzdem sollte uns das nicht von einem Besuch in Anderland abhalten. Natürlich wird uns dort viel Unangenehmes oder sogar Abschreckendes erwarten. Aber wir sollten diese Herausforderung beherzt annehmen, um wertvolle Erfahrungen zu sammeln und unsere Sicht der Dinge zu relativieren. Das, was anwidert oder abstößt, ist nicht immer und überall gleich. Denn Abneigung ist eine Frage der Sichtweise unterschiedlicher Kulturen. So kann das, wovor wir uns in unserer westlichen Zivilisation ekeln, in anderen Regionen völlig normal sein. Ekel ist also subjektiv, manchmal irrational und in gewisser Weise auch eine Frage der Erziehung. Menschen mit Demenz haben diese und damit auch jede Hemmschwelle hinter sich gelassen.
Anderland, das Land der Peinlichkeiten ....................Seite 80
Nicht immer salonfähig, aber immer authentisch.
Was peinlich erscheint und was nicht, ist abhängig von oft über Jahrhunderte gewachsenen Normen und kulturellen Rahmensetzungen. Nicht selten sind diese auf dem Boden religiöser Vorgaben entstanden. Doch was passiert, wenn das Verständnis schwindet? Es entsteht ein Vakuum und damit auch ein neuer Freiraum. „Das tut man nicht“ gehört fortan der Vergangenheit an. Peinlichkeiten existieren in Anderland nicht mehr, Hemmschwellen fallen, gewagte Handlungen sind kein Tabu mehr. Alles ist ehrlich, unmittelbar und authentisch. Dessen sollte sich jeder, der noch in Normalien beheimatet ist und die dortigen Normen erfüllt, stets bewusst sein und entsprechend besonnen und tolerant auf Absonderlichkeiten reagieren.
Anderland, das Land der Wahrheitsliebe ....................Seite 90
Lügen streng verboten. Außer es tut not.
In Anderland ist vieles anders. Und so unglaublich es klingen mag, vieles ist gerade deshalb auch um einiges wahrhaftiger. Denn in Anderland geht die Fähigkeit, zu täuschen und zu verschleiern, verloren. Verschleiern wäre viel zu kompliziert. Erlebtes wird unmittelbar wiedergegeben und bewertet. Nicht immer ganz angenehm für diejenigen, die es gelernt haben, stets die Form zu wahren und auf Empfindlichkeiten Rücksicht zu nehmen. Nein, Knigge hat hier nichts verloren, geäußert wird, was Sache ist, Peinlichkeiten inklusive. Kurz: Demenz bringt Wahrheit zu Tage. Das sollte man sich stets vor Augen führen. Was Notlügen keineswegs ausschließt, wenn sie ein harmonisches Miteinander fördern und zum allgemeinen Wohlbefinden beitragen.
Anderland, das Land der ver-rückten Selbstbestimmung ....................Seite 104
Tun, was einen glücklich macht.
Menschen mit Demenz wirken auf Außenstehende oft verwirrt und hilflos. Was zu einem gewissen Grad auch zutreffen mag, legt man gängige Maßstäbe an. Doch das ist nur bedingt richtig. Erst recht, wenn man versucht, soweit möglich, die Perspektive der Betroffenen einzunehmen. Die sehen das nämlich überhaupt nicht so. Verständlich, denn jeder Mensch möchte natürlich sein eigenes Leben leben, selbst entscheiden und schon gar nicht ständig bevormundet werden. Das sollte man stets akzeptieren und respektieren. Auch wenn Verhaltensmuster ab und an entgleiten und völlig unvernünftig und ver-rückt erscheinen: Das Recht auf Selbstbestimmung ist keinem Menschen zu nehmen. Egal, in welchem geistigen Zustand er sich befindet.
Anderland, das Land des Genießens ....................Seite 118
Vom schönen Recht, sich verwöhnen zu lassen.
So wie Katzen schnurren, wenn sie gestreichelt werden, oder Kinder glücklich strahlen, wenn sie sich geborgen fühlen, so genießen erwachsene Menschen, deren Verstand ihnen keine Barrieren mehr auferlegt, Nähe und sinnliche Zuwendung in jeglicher Form. Streicheleinheiten werden gewissermaßen zum Balsam für die Seele und nichts spricht mehr dagegen, sich uneingeschränkt verwöhnen zu lassen. Das, was man sich unter Umständen ein Leben lang versagt hat, kann man nun wieder wie ein Kind genießen. Und man darf auch ruhig mit seinem Handeln oder Tun mal aus der Rolle fallen. Ganz ohne Wenn und Aber. Wenn man ehrlich ist, eigentlich ein beneidenswerter Zustand, oder?
Anderland – Selbstpflege ....................Seite 130
In Anderland auf sich Acht geben
Gut zu wissen und nicht zu vergessen: Inseln der Entspannung nutzen. Zwischenmenschliche Beziehungen können etwas Wunderbares sein und sind für ein erfülltes Miteinander unverzichtbar. Leider gestalten sie sich aber oftmals auch hochgradig kompliziert.
Das Wichtigste auf einen Blick ....................Seite 133
Glossar ....................Seite 134
GLÜCKSMOMENTE STIFTEN e.V. ....................Seite 137
Impressum ....................Seite 140
Bildnachweis....................Seite 141
Gefühle übernehmen die Macht.
Gefühle können etwas ganz Tolles sein. Vor allem, wenn es schöne Gefühle wie Freude, Heiterkeit oder Verliebtheit sind. Aber auch Traurigkeit, Angst, Verzweiflung oder Wut gehören zur breiten Palette menschlicher Empfindungen. Empfindungen, die oft durch den Verstand kanalisiert oder ausgebremst werden. Bei Menschen mit Demenz entfällt diese Kontrollinstanz, sie verlieren im wahrsten Sinne des Wortes die Beherrschung, die Gefühle ergreifen die Macht. Bedauernswert? Keineswegs, denn im Endeffekt können sie genau das hemmungslos ausleben, was der Kopf bis dahin blockiert hat: Tief empfundene Gefühle, die durch und durch echt sind.
Die Menschen in Anderland machen keinen Hehl daraus, wen sie mögen und wen nicht. So werfen sie wildfremden Menschen Handküsse zu, weil sie Lust auf Zärtlichkeit verspüren. Oder sie spucken einem Menschen vor die Füße, weil sie ihn ekelhaft finden. Sie verhalten sich also vollkommen authentisch, spielen nicht mehr mit ihren Gefühlen, sondern leben sie aus. Weil sie nicht mehr in die Rolle des perfekt funktionierenden Erwachsenen schlüpfen müssen. Endlich, so könnte man durchaus sagen.
Das Schlosstheater Moers hatte vor Jahren den Mut, Menschen mit Demenz zusammen mit professionellen Schauspielern in bestimmten Situationen auf die Bühne zu stellen. Das Ergebnis war erstaunlich. Denn die Damen und Herren mit Demenz verhielten sich exakt so, wie sie die Situation wahrnahmen.
So wurde zum Beispiel eine Dame mit Demenz an ein Krankenbett geführt, in dem ein Schauspieler lag. Er gab ihr die Hand und versuchte, sie zu sich ins Bett zu ziehen. Die Dame weigerte sich vehement: „Nein, nein. Das hättest du gerne. Du bleibst da liegen und ich bleibe hier stehen.“ Sie nahm die Situation nicht als Krankenbesuch wahr, sondern als Aufforderung zum Beischlaf. Ihre Einschätzung war also falsch, ihre Reaktion aber authentisch, ehrlich und angemessen.
Wenn Gefühle außer Kontrolle geraten, können sie auch ziemlich rasch wechseln. Aus Tränen der Freude können von jetzt auf gleich Tränen der Trauer werden. So kann eine Dame, die bei der Begrüßung noch glücklich lächelt, ihren Besucher plötzlich schwermütig anstarren. Alles Lächeln, alle Freundlichkeit verschwindet aus ihrem Gesicht und sie sagt traurig: „So kann das doch mit mir nicht weitergehen.“ Oder ein Herr schreit wütend, weil man ihn aus seiner Sicht scheinbar bestohlen hat, er wird aber auf der Stelle ruhig und gelassen, als ihn eine junge Frau anlächelt.
Puppenspiel und böser Bube
Barbara liebt ihre Mutter wirklich über alles. Und sie würde bestimmt auch alles für sie tun. Na ja, fast alles. Aber so ein kleiner Ausflug, den ihre Mutter ab und an gerne mit ihr macht, weil er etwas willkommene Abwechslung bringt, der kostet sie, wenn sie ganz ehrlich zu sich selber ist, jedes Mal eine ganz schöne Überwindung. Denn sie weiß genau: Irgendetwas Unvorhersehbares wird mit Sicherheit wieder passieren, etwas Unkalkulierbares, von dem noch nicht feststeht, ob es gut oder schlecht ausgeht.
An jenem Morgen begann es schon damit, dass ihre Mutter felsenfest darauf bestand: „Jutta nehmen wir aber mit!“ Dazu muss man wissen, dass Jutta beinah genauso alt ist wie Barbaras Mutter. Jutta ist aber keine ältere Dame, wie man vermuten könnte, sondern eine Puppe. Eine hübsche Puppe und obendrein die allererste, die Barbaras Mutter als kleines Mädchen zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Jutta bekam im Verlaufe der Jahre immer wieder mal ein neues Kleid und auch in der Puppenklinik war sie schon, was sie insgesamt zu einer sehr gepflegten Erscheinung macht.
„Meinst du nicht, Mutti, wir sollten Jutta besser da lassen?“ Barbaras Vorschlag wurde abrupt im Keim erstickt. „Jutta kommt mit!“ Und auch ein nachgesetztes „Ich meine ja nur, nur damit ihr nichts passiert …“ verlief im Sande. „Jutta kommt mit!“ „Und du weißt, dass du sie dann die ganze Zeit nehmen musst?“ „Jutta kommt mit!“ „… und wenn sie dir zu schwer wird?“ „Dann nimmst du sie!“ Ende der Durchsage.
Kurz darauf ging es los. Fest entschlossen hielt die alte Dame ihre heißgeliebte Puppe im Arm. Und als eine leicht überheblich wirkende Frau mittleren Alters dem etwas seltsamen Gespann einen eher spöttischen Blick zuwarf, kam der Kommentar von Barbaras Mutter postwendend. Und zwar so, dass die Gemeinte dies noch deutlich wahrnehmen konnte: „Doofe Zicke!!“ „Muuuutter!“, zischt Barbara, aber Mutter ließ sich nicht beirren: „Doofe Zicke!!“, wiederholte sie mit Nachdruck, „ist doch so! Zicke, Zicke, Zicke!!“
Gänzlich anders die Reaktion auf zwei vorbeikommende Mädchen. Die waren nämlich ganz angetan von der Puppe und beäugten sie bewundernd. „Booh, guck mal!“ „Die ist ja cool.“ „…und was sie anhat, echt cool!“
Eh man sich versehen konnte, beugte sich Barbaras Mutter zu den Mädchen und gab ihnen spontan Küsschen auf die Wangen. Die hatten ganz und gar nichts dagegen, fanden das wohl auch irgendwie cool und zogen dann kichernd weiter. Kurz darauf hatten Barbara und ihre Mutter das eigentliche Ziel ihres kleinen Ausflugs erreicht: Ein nettes Café in einem nahegelegenen parkähnlichen Gelände.
Natürlich bekam Jutta ihren eigenen Platz. Barbaras Mutter hatte sie bis dahin ohne Murren und Knurren tapfer im Arm gehalten. Es war schon erstaunlich, welche Kräfte die alte Dame entwickelte, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Was im Prinzip schon immer so gewesen war.
Als Barbara den Kellner heranwinkte, bemerkte sie mit einem Seitenblick, wie sich der Gesichtsausdruck ihrer Mutter schlagartig verfinsterte. „Ist was?“ Energisch schüttelte ihre Mutter den Kopf. „Geht´s dir nicht gut?“ Erneutes Kopfschütteln. „Was ist denn los?“ „Der Mann da …“ „Welcher Mann?“ „… der, dem du da winkst.“ „Was ist mit dem?“ „Der Mann“, gab Barbaras Mutter ihre spontane Empfindung weiter, „der Mann, ich mag den Mann nicht!“ „Aber Mutter, das ist doch bloß der Kellner.“ „Er ist böse, ein ganz böser Mann, ich mag den Mann nicht!“ Daran änderte sich auch nichts, als der Kellner sie freundlich, aber bestimmt nach ihren Wünschen fragte. Im Gegenteil. „Von Ihnen nehme ich nichts“, gab sie patzig zurück: „Nichts! Nichts! Nichts!“