Anders wird gut - Verena Carl - E-Book

Anders wird gut E-Book

Verena Carl

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Beschreibung

Als Gesellschaft stehen wir vor vielen Jahrhundertaufgaben zugleich: den demographischen und technologischen Wandel gestalten, den Klimawandel abschwächen, resilient werden gegenüber den Krisen der Gegenwart. Doch wie kann das gelingen, wenn einzelne Gruppen immer stärker auseinanderdriften – politisch, wirtschaftlich, in ihren Einstellungen? Es gibt Beispiele, die Hoffnung machen. Wir haben sie zusammengetragen und eine Deutschlandreise unternommen: durch Ost und West, in Millionenstädte und kleine Dörfer. Zu Menschen und Projekten, die Themen wie politische Beteiligung, Ehrenamt und Institutionenvertrauen neu denken und damit den sozialen Zusammenhalt stärken. Die Reportagen in diesem Band sind kombiniert mit dem neuesten Stand der Sozialforschung sowie vielen praktischen Anregungen und Denkanstößen: Auf welche Werte können wir uns als pluralistische Gesellschaft einigen? Was verbindet uns? Und: Wie wird unsere veränderte Lebenswelt zukunftsfähig?

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Seitenzahl: 319

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Verena Carl, Kai Unzicker

Anders wird gut

Berichte aus der Zukunft des gesellschaftlichen Zusammenhalts

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar

© 2023 Verlag Bertelsmann Stiftung

Verantwortlich: Kai Unzicker

Lektorat: Heike Herrberg

Herstellung: Sabine Reimann

Umschlaggestaltung: Elisabeth Menke

Bildnachweise: Cover: AdobeStock_394754043/Radfahrer GELB:

© lorenzophotoprojects – stock.adobe.com; AdobeStock_356152776/Radfahrerin – rotes Fahrrad © torwaiphoto – stock.adobe.com; AdobeStock_394753843/ Skater © lorenzophotoprojects – stock.adobe.com; Gebäude mit Fahrrad, Mann und Kind/iStock-1491018960 © Getty Images/iStockphoto/miniseries

Inhalt Karten: AdobeStock_177637234 »Germany Map – Detailed Info Graphic Vector Illustration« © Porcupen – stock.adobe.com

Autorenfotos: © Isadora Tast (Verena Carl); © Steffen Krinke (Kai Unzicker)

Layout: Büro für Grafische Gestaltung – Kerstin Schröder, Frank Rothe, Bielefeld/Berlin

Druck: Hans Gieselmann Druck und Medienhaus GmbH & Co. KG, Bielefeld

ISBN 978-3-86793-983-6 (Print)

ISBN 978-3-86793-984-3 (E-Book PDF)

ISBN 978-3-86793-985-0 (E-Book EPUB)

www.bertelsmann-stiftung.de/verlag

Inhalt

VORWORT

Stephan Vopel

TEIL 1 WANDEL ALS WORST CASE, WANDEL ALS WACHSTUM – WAS UNS BEWEGT

Warum wir dieses Buch schreiben // Unsere Themen, unser Forschungsansatz, unsere persönliche Perspektive // Zur Methodik der folgenden Kapitel

TEIL 2 SOZIALER ZUSAMMENHALT – EIN PUZZLE MIT VIELEN TEILCHEN

KAPITEL 1: Wie machen wir soziale Netze stabiler?

Besuch in Sohland am Rotstein, Sachsen: Ein Dorfcafé sorgt für Austausch // Wie stabile soziale Netze Engagement fördern // Ein Überblick: soziale Netze früher und heute // Ost-West-Konflikte: Was die deutsche Vereinigung mit dem Sozialleben macht // Vereint und doch getrennt: soziale Netze und politische Gräben // Fazit: Warum gemeinsame Ziele trotz Differenzen zusammenschmieden

KAPITEL 2: Identifikation hat viele Gesichter

Der Schützenkönig und der Öko-Pionier – unterschiedliche Formen von Ortsverbundenheit im niedersächsischen Wendland // Familie, Kontostand, Bildung – was Identifikation fördert, was sie hemmt // Mehr als ein Ort: Identifikation als Patchworkmodell // Exklusiv oder inklusiv? Wo positive Verbundenheit in Ausgrenzung kippt // Fazit: Wie eine moderne Form von Identifikation gelingen kann

KAPITEL 3: Solidarität braucht keine Satzung

Für immer oder für eine Weile: Formen von Solidarität und Nächstenliebe in München und Eichenau/Oberbayern // Besser als ihr Ruf: Warum Menschen hilfsbereiter sind, als viele denken // Moderne Lebensläufe als Herausforderung für das Ehrenamt: Das sagt eine Expertin // Ehrenamt als sozialer Kitt: Was sich ändern muss // Interview: Ein Dorf voller Engagierter – warum ist die Solidarität im hessischen Michelbach so groß? // Fazit: Wie man das Ehrenamt heute attraktiver machen kann

KAPITEL 4: Rücksicht anders regeln

Soziale Regeln – ein Zeichen des Respekts für Schwächere // Bremen: Wie eine Großstadt das Zusammenleben organisiert // Fallbeispiel 1: Der »Kunsttunnel« als Projekt gegen urbane Angsträume // Fallbeispiel 2: »Clean Up Your City e.V.« – ein Umweltprojekt vor der eigenen Haustür // Fallbeispiel 3: Die »Nachtwanderer« – eine Initiative für Zivilcourage // Fallbeispiel 4: Die Waldschule in Hatten, Niedersachsen: Regel für die digitale Zukunft // Fazit: Was es braucht, um Schwächere wirksam zu schützen

KAPITEL 5: Vertrauen – eine aktive Tätigkeit

Immer die Tür im Blick: Vertrauen in Mitmenschen wiederfinden nach dem Terroranschlag von Hanau // Wir und sie: Warum die Vertrauensfrage die Stadt mal vereint, mal spaltet // »Vertrauen heißt, sich verletzlich zu zeigen«: Die psychologischen Wurzeln eines komplexen Gefühls // Hanau: ein besonderer Ort für das Miteinander // »Der größte Schlag für meine Heimatstadt« – wie gemeinsame Trauer Identifikation schafft // Fazit: Was wir aus Hanau lernen können

KAPITEL 6: Volkes Stimme? – Vertrauen stärken durch Zuhören und Mitreden

Eine lernende Institution: Wie die Hamburger Polizei bei migrantischen Menschen Vertrauen schaffen will // Die große Krise: gesellschaftlicher Vertrauensverlust gegenüber verschiedenen Vertretern staatlicher Gewalt // Girls‘ Day: ein Tag für mehr Vertrauen in die Politik // Bildung, Bildung, Bildung: Was Vertreter:innen Hamburger Parteien sagen // Vertrauen braucht Identifikation: Interview mit Max Oehl von der Initiative Brand New Bundestag // Fazit: Diversität als Mittel gegen die Aushöhlung der Demokratie

KAPITEL 7: Vielfalt fördern, Diskriminierung bekämpfen

Gedenkstein am Rande, Dialog in der Mitte: Wie die Stadt Ulm queeres Leben sichtbarer machen will // Corona und die Folgen: neue Vorurteile, alter Hass // Jenseits von rechts und links: wie Minderheitenhass die Gesellschaft bedroht // »Wie viele müssen denn noch sterben«: eine Diskussionsrunde mit Aktivist:innen, Verwaltung und Politik // Fazit: Damit alle dazugehören – Initiativen für mehr Vielfalt diskriminierter Gruppen in Gesellschaft, Politik, Arbeitswelt, Medien etc.

KAPITEL 8: Wohlstand und Chancen gerechter verteilen

Kinderleicht, oder? Verschiedene Konzepte von Gerechtigkeit // Gefühlte Schieflage oder reales Problem: das sagt die Wissenschaft // Bedingungsloses Grundeinkommen: ein radikaler Ansatz zur Umverteilung // »Ich passe nicht in die Normbiografie« – Interview mit einer Berliner Mutter über ihre Erfahrung im Modellversuch // »Enterbt uns!« – Gerechtigkeit über Steuerumverteilung und ihre Grenzen // Fazit: Zeit ist Geld, Geld ist Zeit – über den Zusammenhang zwischen Zeitwohlstand und Gemeinwohlorientierung

KAPITEL 9: Teilhabe gestalten, Politik erklären

Eine kleine Welt: das Projekt »Bürgerrat« in Ludwigsfelde, Brandenburg // Vom Gender Politics Gap und Medienmisstrauen: Gründe für Politikverdrossenheit // Kurze Wege, direkte Absprachen: der Bürgerrat in Leupoldsgrün, Franken // Alle an einen Tisch: »Bürgergespräche« in Reutlingen, Baden-Württemberg // Fazit: Niedrigschwellig, projektorientiert – Bürger:innen in politische Prozesse einbinden

TEIL 3 UND NUN? EIN REISEFÜHRER FÜR DIE ZUKUNFT

Aus der Vogelperspektive: ein Soziologe, eine Historikerin und ein Bildungsexperte zur Frage, wie Transformation gelingen kann //ERSTENS: Raum für Begegnung//ZWEITENS: Ein neuer Stil politischer Kommunikation: transparent, auf Augenhöhe//DRITTENS: Andere Perspektiven in der Medienlandschaft//VIERTENS: Bildung, umfassend gedacht//FÜNFTENS: Wertschätzung für Lebensentwürfe und Tätigkeiten//SECHSTENS: Repräsentanz und Responsivität//SIEBTENS: Selbstwirksamkeit stärken//ACHTENS: Andere finanzielle Prioritäten setzen//NEUNTENS: Atmende Gesetzgebung und Organisation//ZEHNTENS: Gemeinsame Ziele definieren// Fazit und Ausblick

Danksagungen

Anmerkungen // Literaturhinweise

Die Autor:innen

Abstract

VORWORT

Wir befinden uns an einem kritischen Punkt unserer gesellschaftlichen Entwicklung. Rasche und grundlegende Veränderungsprozesse wie die Digitalisierung und der demografische Wandel bedeuten enorme Herausforderungen. Hinzu kommen der Krieg in der Ukraine, die eskalierenden Spannungen zwischen China und den USA sowie die Klimakrise. Sie stellen die globale Ordnung in Frage. Angesichts dieser Krisen und rasanten Veränderungen suchen viele Menschen nach Orientierung.

Traditionelle Institutionen wie Parteien, Gewerkschaften und Kirchen verlieren jedoch an Einfluss. Der Wandel hin zu sozialen Medien verändert die Rolle der traditionellen Medien bei der Berichterstattung und sachlichen Einordnung. Viele Umfragen zeigen ein hohes Maß an Unsicherheit in der Bevölkerung. Diese Unsicherheit wirkt sich auch auf den sozialen Zusammenhalt aus. Die Daten der Bertelsmann Stiftung zeigen, dass ein Viertel der Bevölkerung den Eindruck hat, dass man sich heute auf niemanden mehr verlassen kann. Und mehr als die Hälfte sagt, dass es den Menschen egal ist, was mit ihren Mitmenschen geschieht.

So führen ein steigendes Maß an Unsicherheit und ein sinkendes Maß an Vertrauen zu einer Schwächung des sozialen Zusammenhalts und einer sich vertiefenden Krise der liberalen Demokratie.

Wie kann es uns gelingen, in Zeiten von Krisen und raschen gesellschaftlichen Veränderungen das notwendige Maß an gesellschaftlichem Zusammenhalt sicherzustellen? Die Herausforderung, die vor uns liegt, ist beträchtlich, doch es gibt Potenzial für positive Veränderungen. Viele Untersuchungen weisen auf eine starke Basis für soziales Engagement und die Bereitschaft zur Zusammenarbeit hin, die für die Bewältigung dieser schwierigen Zeiten entscheidend sind.

Die Bertelsmann Stiftung hat vor gut zehn Jahren damit begonnen, sich intensiv mit dem Konzept des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu befassen. Unser Ziel war es, mögliche Veränderungen des Zusammenhalts zu identifizieren und die Ursachen sowie Auswirkungen zu verstehen, um es Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft zu ermöglichen, gute, den Zusammenhalt fördernde gesellschaftspolitische Entscheidungen treffen zu können. Um diese und weitere Fragen zu beantworten hat die Bertelsmann Stiftung das »Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt« als Messinstrument entwickelt.

Zielvorstellung des zugrunde liegenden Konzepts gesellschaftlichen Zusammenhalts ist ein Gemeinwesen, das stabile und vertrauensvolle Beziehungen ermöglicht, dem die Menschen sich verbunden fühlen und in dem sie dazu bereit sind, sich für andere und das Gemeinwohl einzusetzen. Dabei engagieren wir uns für einen inklusiven gesellschaftlichen Zusammenhalt, der Vielfalt nicht nur ermöglicht, sondern als Chance begreift.

Einwanderung ist in fast allen Ländern ein bewegendes Thema, nicht zuletzt in Deutschland. Betrachtet man die Bevölkerungszusammensetzung verschiedener Länder, so zeigt sich deutlich, wie vielfältig und facettenreich die Gesellschaften geworden sind – beispielsweise was ethnische Herkunft, kulturelle Bräuche oder religiöse Überzeugungen angeht. Umso mehr interessiert uns die Frage, wie es unterschiedlichen Menschen mit unterschiedlichen Werten und Lebensentwürfen gelingt, gut zusammenzuleben.

Mit dem »Radar gesellschaftlicher Zusammenhalt« lässt sich zeigen, wie es gelingt, auch in schweren Zeiten Zusammenhalt herzustellen und gemeinsam die anstehenden großen Herausforderungen zu bewältigen. Und noch etwas ist aus den Untersuchungen deutlich geworden: Wenn Menschen in einem Gemeinwesen leben, dem sie sich verbunden fühlen und in dem sie Gemeinschaft erleben und sich für das Gemeinwohl einsetzen, dann haben sie auch eher die Chance, ein zufriedenes und erfülltes Leben zu führen.

STEPHAN VOPEL

Director

Bertelsmann Stiftung Berlin

TEIL 1

WANDEL ALS WORST CASE, WANDEL ALS WACHSTUM – WAS UNS BEWEGT

Um dieses Buch zu schreiben, haben wir einen langen Weg zurückgelegt. Das gilt zuallererst für die Themen, um die es auf den nächsten 200 Seiten gehen wird. Denn obwohl sie einen gemeinsamen Nenner haben – die Umbrüche einer krisenhaften Gegenwart –, könnten sie nicht unterschiedlicher sein.

Wir haben uns mit einer Gesellschaft beschäftigt, in der vieles gleichzeitig wächst: sowohl die soziale und wirtschaftliche Ungleichheit als auch das Selbstbewusstsein marginalisierter Gruppen. Wir erzählen von einem Land, das in einer globalisierten Welt zunehmend auch Schauplatz globaler Krisen ist. Ob ganz unmittelbar durch den Klimawandel, in Form von Dürren und Flutkatastrophen, durch die Folgen der Corona-Pandemie – oder auf Umwegen, etwa durch gestiegenen Migrationsdruck, die Rückkehr des Krieges nach Europa und das Erstarken rechtsextremer Kräfte fast überall in der westlichen Welt.

Wir haben die Herausforderungen für Demokratie und Zivilgesellschaft in den Blick genommen: die wachsende Entfremdung von der Politik und die Veränderungen im Parteiensystem, den demografischen Wandel, die strukturellen Umbrüche auf dem Arbeitsmarkt, eine neue Art des Medienkonsums und der Informationsweitergabe. Und wir haben dabei immer wieder gefragt: Sind wir zwangsläufig in einer Negativspirale gefangen – oder haben wir im Gegenteil eine Menge Stellschrauben zur Verfügung, mit denen wir den Wandel zum Guten wenden, Transformation kreativ gestalten können?

Betrachtet man den Diskurs, ob medial, politisch oder privat, dominiert die Farbe Dunkelgrau: Endzeitstimmung und Niedergangsängste machen sich breit. Oft scheint es, wenn überhaupt, nur die Wahl zwischen unterschiedlich katastrophalen Szenarien zu geben. Zum Beispiel: Entweder wir hinterlassen kommenden Generationen verwüstete Landschaften, weil es uns nicht gelingt, den Klimawandel zu bremsen – oder wir geben den Wirtschaftsstandort Deutschland auf und begeben uns zurück in eine steinzeitliche Selbstversorgergesellschaft.

Die Sorgen sind nachvollziehbar. Aber sind sie auch realistisch? Läuft wirklich alles auseinander oder erleben wir nur eine – zugegeben radikale – Veränderung? Und haben wir nicht wirksame Instrumente in der Hand, sie zu steuern? Jenseits von blindem Zweckoptimismus wollen wir uns die Fragen stellen: Wie kann eine andere Gesellschaft, ein anderes Land auf neue Weise gelingen, was kann uns alle miteinander resilient machen für eine ungewisse, herausfordernde Zukunft?

Als Stiftung haben wir diese Fragen schon lange im Fokus. Seit 2012 beschäftigt sich die Bertelsmann Stiftung intensiv mit dem Thema »sozialer Zusammenhalt«. Im Jahr 2013 wurde unsere erste Studie dazu veröffentlicht, der zahlreiche weitere folgten.1 Seitdem haben wir verschiedene Einzelaspekte genauer untersucht, mal thematisch, mal bezogen auf eine Region oder ein Bundesland. Insbesondere drei Studien sind es, die mit seismografischer Genauigkeit die Stimmung in Deutschland zusammenfassen und konkrete Handlungsempfehlungen daraus ableiten. Da diese eine wichtige Grundlage für die kommenden Kapitel bilden, seien sie hier kurz skizziert:

Kürzlich haben wir das Thema »Gesellschaftlicher Zusammenhalt und seine Veränderungen im Zuge der Pandemie« am Beispiel des Bundeslandes Baden-Württemberg herausgearbeitet, doch die Ergebnisse lassen sich auf die Gesamtbevölkerung übertragen. In dieser Studie haben wir für das Bundesland die Werte von 2017, 2019 und 2022 untersucht und verglichen, wobei die Zahlen von 2022 den aktuellen Forschungsstand natürlich am besten wiedergeben. Der Einfachheit halber bezeichnen wir diese Studie im Weiteren als »Pandemiestudie«.2

2020 führten wir eine bundesweite Studie zum Thema »Gesellschaftlicher Zusammenhalt in Deutschland« durch. Ursprünglich als Längsschnittvergleich geplant, fiel die Erhebung ebenfalls in die erste Pandemiewelle, sodass wir die aktuellen Veränderungen mitaufnehmen konnten. Grundlegend ging es dabei um die Fragen, wie sich das Empfinden für Zusammenhalt bei verschiedenen Bevölkerungsgruppen im Dreijahresvergleich verändert hat und welchen Einfluss Infrastruktur – also etwa die Besiedlungsdichte – und andere Faktoren auf das eigene Empfinden haben. Wenn wir uns auf diese Erhebung beziehen, sprechen wir im Weiteren von der »Zusammenhaltsstudie«.3

Die dritte Studie, auf die wir öfter zurückkommen werden, ist von 2021 und beschäftigt sich mit dem individuellen Gerechtigkeitsempfinden, quotiert nach Alter, Geschlecht, Bildung und Wohnort. Wie wir noch sehen werden, ist dieser Aspekt eine wichtige Stellschraube etwa für die Einstellung gegenüber Politik und die Bereitschaft, sich zivilgesellschaftlich zu engagieren. Referenzen darauf sind unter dem Label »Gerechtigkeitsstudie« zu finden.4

So weit die Themen und die Forschungsansätze. Dass wir für dieses Buch einen langen Weg zurückgelegt haben, stimmt auch ganz konkret, das heißt geografisch. Denn wir – das gilt in erster Linie für die Autorin der Reportagen, Verena Carl – wollten den akademischen Erhebungen Geschichten gegenüberstellen, im Sinne einer Probebohrung: Wer sind die Menschen hinter den Zahlen und wie gehen sie in ihrem Alltagsleben mit den Herausforderungen um, vor die unsere krisenhafte Gegenwart sie stellt?

Auf insgesamt 4.892 Bahn- und Pkw-Kilometern hat uns diese Reise an ganz unterschiedliche Orte geführt: vom Dorf in der Lausitz bis in die Hauptstadt Berlin, von einer bayerischen Kleinstadt bis in einen niedersächsischen Landkreis, insgesamt in neun von sechzehn Bundesländer.

Wir haben Aktivist:innen und Ehrenamtler:innen getroffen, engagierte Privatpersonen ebenso wie Politiker:innen, Polizist:innen und eine Schulleiterin. Wir sind Menschen und Initiativen begegnet, die sich auf ihre Weise dem sozialen Wandel stellen, Altes neu denken, auf ungewöhnlichen Wegen die vielfachen Herausforderungen unserer modernen Gesellschaft angehen. Etwa den Kampf gegen Demokratiemüdigkeit, für bürgerschaftliches Engagement, Generationengerechtigkeit und mehr Diversität, die Frage nach Chancengerechtigkeit. Oder danach, was in einer mobilen Welt als sozialer Kitt taugt.

Die Antworten sind so unterschiedlich wie die Menschen, die sie geben. Zum Beispiel eine Frau, die in Bremen mit Nachbar:innen freiwillig den Müll einsammelt, den andere achtlos fallen lassen. Ein Mann, der in Ludwigsfelde/Brandenburg in einem informellen »Bürgerrat« Ideen für die Lokalpolitik zusammenträgt. Zwei Freundinnen, die mit einem nicht kommerziellen Dorfcafé in Sachsen einen Begegnungsort in einer Gemeinde schaffen, in der Enttäuschungen groß sind und politische Meinungen weit auseinandergehen. Last, but not least eine Gruppe junger migrantischer Erwachsener, die nach dem Terroranschlag von Hanau in einer antirassistischen Bildungseinrichtung mitarbeiten und dabei selbst neues Vertrauen zu ihren Mitmenschen fassen.

Und so unterschiedlich die Menschen und ihre Geschichten sind, so unterschiedlich sind auch die Formen, die wir für unsere Texte gewählt haben: mal klassische Reportage, mal Interview, mal Tagebuch, mal eine Reihe von Statements von Personen, die gemeinsam um einen Konsens zu einem Thema ringen.

Immer wieder haben wir Gespräche geführt und Situationen erlebt, die mehrere Deutungen zulassen. Fangen wir mit den negativen an. Ja, die sich mal abwechselnden, mal überlagernden und gegenseitig verstärkenden Krisen unserer Gegenwart können lähmend wirken. Etwa die Herausforderung durch den russischen Überfall auf die Ukraine und die daraus folgende Inflation. Der Umgang mit Geflüchteten, die sich verschärfende soziale Frage, der Hass gegen marginalisierte Gruppen, der Vertrauensverlust in politische Akteur:innen. Und schließlich, als Megakrise des 21. Jahrhunderts, der menschengemachte Klimawandel.

Die Fülle dieser Herausforderungen kann zu Entsolidarisierung führen, zu verstärkten Verteilungskämpfen, zu politischer Apathie oder einer Neigung zu den radikalen Rändern. Steffen Mau, Professor für Makrosoziologie an der Berliner Humboldt-Universität, spricht treffend von »Veränderungserschöpfung«,5 im Osten Deutschlands aus historischen Gründen stärker verbreitet als im Westen.

Aber an vielen Stellen ist dennoch eine positive, eine hoffnungsfrohere Deutung möglich, die am Ende dazu geführt hat, dass wir mit großer Gewissheit auch sagen können: »Anders wird gut!« – wenn wir es richtig machen. Denn vieles bewegt sich in eine wünschenswerte Richtung, hin zu mehr Zusammenhalt, besserer Kommunikation, innovativem Denken. In mancher Hinsicht ist das, was wir gefunden haben, eine Art deutsches Hoffnungspuzzle: Initiativen, die Bürgerbeteiligung neu denken, die Dialog zwischen verhärteten Fronten wieder möglich machen; Einzelpersonen, die sich engagiert um ihre Mitmenschen, ihr Lebensumfeld bemühen oder gemeinsam Gruppen eine Stimme geben, die im gesellschaftlichen Dialog noch zu wenig gehört werden; kluge Köpfe, die atmende, flexible Neuordnungen anstelle starrer Strukturen stellen, die nicht mehr zu unserer von Veränderung und lebenslangem Lernen geprägten Existenz passen. Das braucht es, um uns neu zu sortieren und zukunftsfähig zu machen, auch im Hinblick auf kommende Generationen.

Wir zitieren dazu einen Zwölfjährigen aus der Ukraine, von dem in unserem dritten Kapitel die Rede sein wird. »This is an adventure«, »Das ist ein Abenteuer« – mit diesen Worten begrüßte er eine unserer Gesprächspartnerinnen, die ihn und seine Familie nach deren Flucht aus Kiew in München bei sich aufnahm.

Diese kindliche Bereitschaft, selbst noch in einer lebensgefährlichen Situation eine Chance für eigenes Wachstum und Lernen zu sehen, hat sie – und uns! – tief beeindruckt. Denn bei aller Krisenstimmung: Hierzulande muss niemand um sein Leben fürchten. Wir leben nicht im Kriegsgebiet. Aber vielleicht ist trotzdem eine Analogie möglich, die uns von einer düsteren Perspektive zu der hoffnungsvollen Annahme bringt: Was, wenn alles anders wird – aber auf andere Weise gut, wenn nicht sogar besser? Und was können wir als Gesamtgesellschaft dazu beitragen? Wie können die verschiedenen Aspekte des sozialen Zusammenhalts sich gegenseitig positiv verstärken, ineinandergreifen wie Zahnräder, die Transformationsprozesse anschieben?

Und schließlich haben wir noch in einem dritten Sinne eine weite Strecke zurückgelegt: persönlich. Auch die Lebensgeschichten von uns beiden, die wir über mehrere Monate im Frühjahr und Sommer 2023 an diesem Buch gearbeitet haben, lassen sich als eine Reise erzählen. Frei von allzu gefühliger Nostalgie kann ein individueller Rückblick nachzeichnen, wie weit wir uns als Gesellschaft in den vergangenen gut fünfzig Jahren bewegt haben.

Denn unsere Lebensläufe, so individuell sie sind, zeigen etwas Allgemeingültiges: das Tempo des gesellschaftlichen Wandels. Früher haben Transformationsprozesse mehrere Generationen gebraucht. Ein Zeichen unserer Zeit ist, dass immer mehr Veränderungen in die Spanne eines einzelnen Lebens passen. Vieles, an dem wir heute die Veränderungen des gesellschaftlichen Zusammenhalts festmachen können, lässt sich daher biografisch verorten. Dass wir mit drei TV-Kanälen und Telefonzellen statt Handys aufgewachsen sind, in einem geteilten Land und einer Zeit, in der weder kulturelle noch sexuelle Vielfalt zum Thema gemacht wurden, empfinden schon unsere eigenen Kinder heute oft wie eine Erzählung aus ferner Vergangenheit.

Uns – einem Sozialforscher und einer Journalistin – ist bewusst, dass es kein objektives Beobachten gibt. Ob wir es wollen oder nicht, immer bringen wir unsere eigene Betrachtungsperspektive mit ein. Die ist an vielen Stellen gefärbt von unserer gesellschaftlichen Stellung, unserer Lebenserfahrung, unserem Geschlecht, Beruf und anderen Faktoren. In persönlichen Gesprächen rund um das gemeinsame Buchprojekt haben wir immer wieder festgestellt: Schon in unserer Kindheit in den Siebziger- und Achtzigerjahren gab es Unterschiede zwischen dem Lebensgefühl in der Stadt (Verena Carl) und auf dem Land (Kai Unzicker), zwischen dem Aufwachsen in mehr oder weniger traditionellen Familien sowie in unterschiedlichen Bildungsherkünften, die uns bis heute prägen.

Gleichzeitig bringen ein paar Jahrzehnte gemeinsame Lebenserfahrung vom Kalten Krieg bis zur globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts neben aller Sorge auch einen gemeinsamen Grundoptimismus mit sich. Allein in unserer Lebensspanne hat es neben krisenhaften Entwicklungen auch so viele positive Wendungen gegeben, oft überraschend, dass wir in das allgemeine Klagelied nicht einstimmen möchten. Erwähnt seien hier das Ende der deutschen Teilung, aber auch gesellschaftspolitische Fortschritte, etwa im Bereich Familienpolitik. Beispielhaft genannt seien die Einführung des Elterngeldes und der Rechtsanspruch auf einen Krippenplatz, also Maßnahmen, die Care- und Erwerbsarbeit vor allem in Paarfamilien gerechter verteilen helfen, sowie die »Ehe für alle«, die homosexuelle Paare weitgehend rechtlich gleichstellt. Das zeigt: Wir sind nicht so hilflos dem Wandel ausgeliefert, wie es scheinen mag – wir können ihn gestalten. Und viele unserer Beispiele geben uns recht.

Damit schließt sich der Kreis. Vieles wird anders. Aber damit es auf gute Weise anders wird, braucht es Menschen, Ideen und Initiativen, die dafür sorgen, dass wir nicht blindlings den Veränderungen entgegenstolpern, die da noch kommen, sondern ihnen Richtung und Ziel geben. Der soziale Zusammenhalt ist immer wieder auf neue Weise herausgefordert – doch gleichzeitig finden sich auch überraschende Allianzen und neue Formen von Verständnis, wo man sie nicht vermutet hätte.

Der Persönlichkeitspsychologe und Forscher Ernst-Dieter Lantermann6 beschreibt den entscheidenden Unterschied zwischen Resignation und Abwehr und der Bereitschaft zur aktiven Gestaltung von Veränderung mit den Begriffen »Unsicherheit« und »Ungewissheit«. Das ist keine semantische Finesse, sondern hat Folgen: Denn wo Unsicherheit zu Minderwertigkeitsgefühlen, Ohnmacht und Panik führt, die auch in Abwertung anderer umschlagen können, kann aus dem Bewusstsein von Ungewissheit mehr Offenheit und Kreativität bei der Konfliktlösung erwachsen. Und wir können vorwegnehmen: Die Menschen, die uns auf unserer Reise begegnet sind, bringen eine Menge davon mit. ⦿

Die Studien der Bertelsmann Stiftung zum Thema »sozialer Zusammenhalt« folgen einem festgelegten Raster: Untersucht werden stets dieselben drei Teilbereiche, die jeweils in drei Unterbereiche gegliedert sind.

Diese sind:

⦿

Soziale Beziehungen mit den Teilaspekten »soziale Netze«, »Vertrauen in Mitmenschen« und »Akzeptanz von Diversität«

⦿

Verbundenheit mit den Teilaspekten »Identifikation mit dem Gemeinwesen«, »Vertrauen in Institutionen« und »Gerechtigkeitsempfinden«

⦿

Gemeinwohlorientierung mit den Teilaspekten »Solidarität und Hilfsbereitschaft«, »Anerkennung sozialer Regeln« und »gesellschaftliche/politische Teilhabe«

Dieses Raster eignet sich als wissenschaftliche Grundlage und Studiendesign optimal, doch für das vorliegende Buch haben wir uns von dieser Reihenfolge verabschiedet. Das ist zum einen der Dramaturgie und besseren Lesbarkeit geschuldet; zum anderen lassen sich bei unseren konkreten Beispielen die einzelnen Aspekte nicht immer trennscharf auseinanderhalten, weil sie in der Praxis so stark miteinander verwoben sind – etwa die Identifikation mit der Bereitschaft zum Engagement, aber auch das subjektive Gerechtigkeitsempfinden und die Bereitschaft zu politischer Teilhabe. Und vielfach zahlen einzelne Aspekte aufeinander ein. Deshalb sind die neun Kapitel zwar alle über einen gemeinsamen Schwerpunkt definiert, umfassen aber oft in geringerer Intensität auch andere Aspekte. Zahlreiche Verweise innerhalb der Kapitel und zwischen den Teilen machen deutlich, wo es stärkere und schwächere Korrelationen gibt.

Die genannten Orte und die Interviewpartner:innen sind fast immer authentisch; in einem einzigen Fall haben wir sie auf Wunsch der Betroffenen geändert und das entsprechend gekennzeichnet, in anderen nennen wir ebenfalls auf Wunsch der Gesprächspartner:innen nur die Vornamen.

Aus Gründen der Geschlechtergerechtigkeit verwenden wir im Plural häufig gegenderte Formen mit Doppelpunkt (:), einzelne Stellen können aus Gründen besserer Lesbarkeit abweichen. Die Wortlaut-Interviews geben wir so wieder, wie unsere Gesprächspartner:innen sie gegeben haben, also mal gegendert, mal nicht.

Unsere Reisen und auch die weiteren geführten Interviews fanden zwischen März und Juni 2023 statt.

VERENA CARL

KAI UNZICKER

TEIL 2

SOZIALER ZUSAMMENHALT – EIN PUZZLE MIT VIELEN TEILCHEN

KAPITEL 1

Wie machen wir soziale Netze stabiler?

Zum Auftakt unserer Expedition quer durch Bundesländer und Befindlichkeiten, zu den Herausforderungen des gesellschaftlichen Wandels und Beispielen dafür, wie man ihn erfolgreich gestalten kann, fahren wir nach Sohland am Rotstein, Sachsen, fast an die deutsch-polnische Grenze in der Lausitz. Uns interessiert ganz konkret: Wenn gesellschaftlicher Zusammenhalt im Kern davon geprägt ist, wie soziale Netze funktionieren – was kann dann ein Ort tun, der wie die ganze Region von Strukturwandel, Abwanderung und politischen Richtungskämpfen geprägt ist? Das Protokoll eines Tages mit einer Gruppe von Menschen, die sich mit der Vereinzelung nicht abfinden wollen.

FREITAG24. MÄRZ11 UHR

Sohland am Rotstein

Es braucht nicht viel, damit Menschen sich willkommen fühlen. Einen Raum mit knarzenden Dielen und eine gute Espressomaschine. Einen Pelletofen, der in der Ecke vor sich hin bollert. Narzissen in kleinen dicken Gläsern auf Holztischen, die sich mit einem Griff ausziehen lassen – das ist wichtig, falls es mehr Gäste werden als gedacht. Und Menschen, die schon morgens anfangen, Gemüse zu schnippeln, Karotten, Kartoffeln, Knollensellerie, damit es ab mittags für alle etwas zu essen gibt. Nicht jeden Tag, aber wenn sie die Zeit dafür finden oder wenn sich besonderer Besuch angekündigt hat.

Was Lotte Benesch-Jenkner und Ellinor von Recklinghausen an diesem frösteligen Morgen hier tun, im Café des sächsischen 1.400-Seelen-Dorfes Sohland am Rotstein, ist kein Job, jedenfalls nicht in erster Linie. Aber auch kein reines Privatvergnügen. Es ist Teil eines Traums: dieses Dorf, in das sie als Zugezogene gekommen sind, zu einer Heimat zu machen. Ein Dorf buchstäblich an einen Tisch zu holen, dessen Bewohner:innen so verschieden sind wie die Holzstühle, die um die ausziehbaren Tische stehen. Auch wenn die Unterschiede erst zu sehen sind, wenn man die einheitlichen roten Kissen anhebt.

Das Dorfcafé, geöffnet mittwochs, freitags und sonntags, ist ein Ort für Begegnungen. Zum Kaffeetrinken, für Workshops, Filmabende, Lesungen, Konzerte, zum Einkaufen im integrierten Lädchen mit regionalen Produkten. Um das möglich zu machen, haben Lotte und Ellinor (»gerne per Du!«) mit einer Gruppe Engagierter einen Verein gegründet und vor vier Jahren ein leer stehendes Wohnhaus in der Ortsmitte zunächst von der Gemeinde gepachtet und ihr dann abgekauft, zu einem Spottpreis. Im Gegenzug verpflichteten sie sich, es zu sanieren, mithilfe verschiedener Fördertöpfe.7 Erst den Raum für das Café, aber bald sollen auch die Wohnungen darüber wieder beziehbar sein. Kein Alleingang, sondern Ergebnis eines langwierigen Beteiligungsprozesses, mit Einladungen, Treffen, Gesprächen.

Kein Platz für Selbstdarsteller

Ursprünglich waren sie zu viert, jetzt sind die beiden als harter Kern übrig geblieben, unterstützt von einer Gruppe engagierter Ehrenamtler:innen. 2022 wurde Eröffnung gefeiert, mit einem internationalen Streichquartett (sorbisch, tschechisch, ungarisch), einer Puppenspielerin, einem Stand der freiwilligen Feuerwehr vor der Tür und Kuchenspenden von Privatleuten. Ein Programm, so bunt wie die Gäste. »Wir haben einfach alle eingeladen«, sagt Mittvierzigerin Lotte, »vom Geflügelzüchterverein bis zu Kirchenvertretern und der Bürgermeisterin.«

Am Ende kamen fast dreihundert Leute, auch wenn einige erst mal lieber draußen vor der Tür blieben. Die Sohländer:innen gelten als vorsichtig, stur, zurückhaltend gegenüber Neuem. Aber das würden wohl viele Bewohner:innen kleiner Orte von sich sagen, überall in Deutschland. Dafür, findet Ellinor, sind sie hier authentisch. Das Gegenteil der Selbstdarstellerei, die sie aus ihrem früheren Wohnort Berlin so gut kannte und so wenig mochte.

Die beiden Frauen sind auf unterschiedlichen Wegen hier gelandet: Die Österreicherin Lotte kam 2008 mit ihrem Mann, der ursprünglich aus Görlitz stammt, um hier eine Familie zu gründen; Ellinor, einige Jahre jünger, fand ein paar Jahre später als alleinerziehende Mutter mit Kind Anschluss auf einem Ökohof und lebt heute mit neuem Partner und zwei weiteren, gemeinsamen Kindern im Dorf. Auf einer privaten Party kamen die beiden ins Gespräch und merkten: Schön hier, aber uns fehlt dennoch etwas.

Denn trotz Dorf lebten die Menschen vielfach eher nebeneinanderher. Pflegten Kontakte vor allem in ihrer direkten Nachbarschaft und schon zwischen Ober- und Niederdorf gab es wenig Austausch. »Die jungen Eltern trafen sich bei der Kita, die Alten auf dem Friedhof – sonst gab es kaum Berührungspunkte«, erinnert sich Ellinor. Lokale, Cafés? Fehlanzeige. »Es gab eine Art Kneipe, in der man Gasflaschen und Bier kaufen konnte, aber da war ich nur ein einziges Mal. Ich merkte, wie die Leute zu tuscheln anfingen: Ah, das ist die Neue, die studiert, die wohnt auf dem Heckenhof. Ich fühlte mich aber nicht willkommen, sondern eher misstrauisch beäugt und fremd. Und nicht eingeladen, mich dazuzusetzen.«

Die eigene Sehnsucht hielt beide Frauen auch später bei der Stange, in den schwierigen Phasen, in denen es darum ging, etwas auszuhandeln, Kompromisse zu finden, Streit zu schlichten, die ewige Frage, ob die Finanzierung gesichert ist, die Rückmeldung und die Dankbarkeit, die Mitarbeitende erwarten, wenn sie für eine geringe Aufwandsentschädigung Schichten übernehmen.

»Wir stecken oft sehr viel Zeit und Energie hinein, unbezahlt, neben Beruf und Familie«, sagt Lotte. »Doch am Ende motiviert uns immer wieder der Gedanke: Wir tun das nicht nur für die anderen, wir tun es auch für uns.« Denn da war dieses Ziel: Kultur am Wohnort zu haben, Räume, in denen Menschen zusammenkommen, beim Spinnkurs, beim Wildbienenworkshop, bei der Krabbelgruppe für die Jüngsten, und einen Ort außerhalb der eigenen vier Wände, an dem man einen ordentlichen Kaffee bekommt.

»DIE ELTERN TRAFEN SICH BEI DER KITA, DIE ALTEN AUF DEM FRIEDHOF«

Es gibt eine Menge Besonderheiten, die Sohland von anderen Orten unterscheiden: die Lage in der Grenzregion, historische Entwicklungen während und nach dem Ende der DDR, auch die besondere Geografie. Über acht Kilometer schlängelt sich das Dorf durch ein Mittelgebirgstal, entlang des Flüsschens Schwarzer Schöps, schon das macht das Miteinander zu einer Herausforderung. Denn es gibt kein erkennbares Zentrum, keinen Kirchplatz mit Raum für Cafés und Parkbänke und rechts und links der Hauptstraße geht es nach ein paar Häuserreihen steil den Hang hoch.

Sohland: Ein Dorf wie Deutschland?

Sicher kann man das sächsische Dorf nicht zum Sozialmodell für ganz Deutschland erklären – das wäre eine grobe Verallgemeinerung. Dennoch kann es etwas erzählen über eine der wichtigsten Ressourcen für den sozialen Zusammenhalt: das private Miteinander, die Haltbarkeit von Netzen, die gerade in Krisenzeiten einen entscheidenden Unterschied bieten. Weil sie resilient machen, Gefühle wie Angst, Wut, Ohnmacht kanalisieren, über die engste Familie hinaus.

Immerhin 90 Prozent aller Deutschen sagen: Ich habe Freunde, auf die ich mich felsenfest verlassen kann. 75 Prozent geben an, dass diese ihnen auch in einer finanziellen Notlage helfen würden. Aber es gibt eben auch einen nicht unerheblichen Bevölkerungsanteil, der nur wenige soziale Anknüpfungspunkte hat und sich kaum auf Unterstützung verlassen kann.8

Die Pandemie ab 2020 war dafür nur ein besonders einschneidendes Beispiel. Damals stieg das Gefühl der Einsamkeit über alle Bevölkerungsgruppen hinweg, wie eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) mit dem Sozioökonomischen Panel (SOEP) nachgewiesen hat.9 In unserer Pandemiestudie konnten wir zeigen: Wenn unmittelbare soziale Netze brüchig werden, sorgt das für Verunsicherung. Erstmals haben die Befragten auch den Zusammenhalt in ihrer eigenen Wohngegend, also im persönlichen Nahbereich, als gestört wahrgenommen: Fast die Hälfte, 48 Prozent, stimmen der Aussage zu, er sei gefährdet – sechs Prozent mehr als 2019. Dagegen empfindet nur noch eine Minderheit von 47 Prozent den Zusammenhalt als gut oder sehr gut; 2019 lag der Wert noch bei 80 Prozent.10

»MEINE KINDER SIND GEWOHNT, DASS ICH IM DORF ALLE GRÜSSE«

Ob und wie sich durch die Erfahrung der Pandemie langfristig private soziale Beziehungen ändern, kann heute noch nicht zuverlässig vorausgesagt werden; was sich allerdings benennen lässt, sind bestimmte Risikofaktoren, die dazu führen, dass Menschen weniger gut angebunden sind, und die auch schon für die Zeit vor dem ersten Auftreten von Covid-19 galten.11

So ist Einsamkeit im Osten Deutschlands stärker verbreitet als im Westen, in ländlichen Gebieten höher als in städtischen, und wird verstärkt durch Abwanderungsbewegungen, durch regionale Abgeschiedenheit und die Abwesenheit öffentlicher Orte wie Parks, Sport- und Freizeiteinrichtungen. Auch die Zugehörigkeit zu gesellschaftlich marginalisierten Gruppen, etwa der LSBTI+-Community,12 oder ein Flucht- bzw. Migrationshintergrund steigern das Risiko, an Einsamkeit zu leiden.

Zu diesen äußeren Faktoren kommen individuelle Merkmale, die einer sozialen Einbindung entgegenstehen: Alter, ökonomischer Status, aber auch häufige Umzüge sowie Scheidungen und Trennungen. Das belegen unsere Zusammenhaltsstudie und weitere Quellen, etwa eine ältere Erhebung des Allensbach-Instituts.13 Allerdings heben sich einige Effekte auch gegenseitig auf. Tendenziell macht zum Beispiel ein höherer sozioökonomischer Status häufigere Umzüge wahrscheinlich. Das heißt, besser situierte Menschen haben nicht unbedingt weniger Freund:innen, sondern ihre sozialen Beziehungen sind oft großräumiger verteilt.

Diese statistische Einordnung passt auch zu den beiden Dorfcafé-Betreiberinnen aus Sohland: zwei akademisch gebildete Mittelschichtsfrauen, die nach Umzug (Lotte) und Trennung (Ellinor) eine Weile brauchten, um neuen Anschluss zu finden.

Nun muss man sich um Macherinnen wie die beiden keine Sorgen machen und das Ankommen im Dorf scheint gelungen. »Meine drei Kinder sind es so gewohnt, dass ich jeden Menschen kenne und grüße, der mir entgegenkommt, dass sie immer ganz irritiert sind, dass das nicht überall so ist«, erzählt Ellinor lachend. Durch ein Projekt wie das Dorfcafé sind aber auch Menschen miteingebunden, die sonst weniger Chancen auf soziale Kontakte haben als eine Familie mit mehreren Kindern.

Ellinor erzählt von einer Frau mit Behinderung, die immer mittwochs ins Café kommt, wenn die mobilen Verkaufsstände mit Back-, Fleisch- und Wurstwaren direkt daneben auf dem Vorplatz aufgebaut werden. Die Frau sei auf den Rollator angewiesen, noch nicht alt, und mit spürbarem Gesprächsbedarf: »Das ist ihr Ausgehtag, da kommt sie bei uns rein, gibt zweifünfzig für einen Kaffee aus und erzählt, was sie als Letztes im Fernsehen gesehen hat. Ich denke oft: Menschen wie sie sind einer der Gründe, warum wir uns hier engagieren.«

Auch darin ist Sohland repräsentativ: Unsere Zusammenhaltsstudie belegt, dass Behinderung, Krankheit und damit oft einhergehende finanzielle Einschränkungen ebenfalls einsam machen.

FREITAG24. MÄRZ14 UHR

»Ich bin mit meinem Dienstwagen da, steigen Sie ein!« Frank Stübner macht eine einladende Bewegung in Richtung seines Transporters. Auf der Schiebetür stehen der Name und das Logo seiner Firma für Brandschutz, aber in dieser Funktion ist er nicht hier, sondern als ehrenamtlicher Ortsvorsteher von Sohland. »Dummerweise hatte ich bei der letzten Kommunalwahl die meisten Stimmen«, scherzt er. Bevor das Programm im Café richtig losgeht, sorgt er spontan dafür, dass wir uns einen Überblick verschaffen.

Ganz konkret heißt das: Wir fahren zu einem Aussichtsturm, von dessen Plattform aus man einen guten Blick hat auf den lang gezogenen Ort, die Hügelketten ringsum, die Windräder, die die Landschaft durchschneiden, ganz in der Ferne ein Braunkohlekraftwerk mit mächtigen Schloten. Aber das mit dem Überblick ist auch historisch gemeint. Während wir zwischen trockenen Nadelbäumen (»der Borkenkäfer!«) den Berg hochkurven, beginnt Stübner zu erzählen.

Auf die Welt gekommen ist er im geburtenstarken Jahr 1964, ein Kind der DDR, im nächstgrößeren Ort Reichenbach, der damals noch eine Geburtsstation hatte. Und wenn man ihm zuhört, war auch sonst einiges mehr hier los. Mehr Leben, vielleicht auch mehr Zusammenhalt. »Jeder kümmert sich heutzutage um seins«, sagt Stübner bedauernd. »Das war mal anders.« Damals, als es am Ort die großen LPGs gab, die das Sozialleben organisierten. Die deutsche Vereinigung bedeutete das Ende der volkseigenen Agrarfirmen; heute hat Sohland eher kleinere Arbeitgeber mit bis zu zehn Mitarbeitenden, viele Bewohner:innen pendeln, nach Reichenbach, nach Görlitz.

Soziale Orte überlebten länger: der Dorfchor, die Vereine, die im Sommer Feste organisierten, bei denen sich Ober- und Niederdörfler über zwei Tage hinweg vergnügten, ein ganzes Wochenende lang. Vor gut zehn Jahren, vielleicht auch schon früher, begann dann aber ein Prozess an Fahrt aufzunehmen, der für viele Gemeinden in ländlichen Regionen ein Problem darstellt: Verstädterung. Jüngere zogen weg, den Schulen und Vereinen blieben die Kinder fort. Heute fahren alle Dorfkinder mit dem Bus in die nächstgrößere Stadt zur Schule, haben dort ihre Freundschaften, gehen dort zum Mannschaftssport und selbst die Jugendfeuerwehr in Sohland muss sich etwas einfallen lassen, um Nachwuchs zu gewinnen. Und von den vier Lokalen, die es bis in die Neunzigerjahre im Ort gab, hat sich keines gehalten. Obwohl die Gegend ein beliebtes Ausflugsziel ist, schön zum Wandern, grün, idyllisch.

»JEDER KÜMMERT SICH UM SEINS — DAS WAR MAL ANDERS«

Ellinor bestätigt: »Die Stimmung war – und ist noch – durchwachsen. Bei den ersten Zusammenkünften unserer Planungsgruppe habe ich gemerkt: Es gibt bei manchen am Ort eine große Enttäuschung, dass der Zusammenhalt nicht mehr so ist wie früher. Den Eindruck: Wir sind eine vergessene, vernachlässigte Region. Häufig aber auch gepaart mit einer Anspruchshaltung an den Staat. Ich kann die Verletzungen nachvollziehen. Aber wenn man sich in dieser Haltung einigelt, passiert eben auch nichts.« Dass es ausgerechnet zwei Zugezogene waren, die so viel angeleiert haben, hat ihnen nicht nur Applaus gebracht: Na, passt es euch nicht, wie wir hier leben? »Dabei wollten wir zu keinem Zeitpunkt besserwisserisch rüberkommen. Uns unterscheidet ja nichts von den Leuten hier, außer vielleicht, dass wir von außen dazukamen und deshalb eine höhere Motivation hatten, etwas zu verändern.«

Ortsvorsteher Stübner ist keiner, der sich beklagt. Die Nachbarschaft am Ort, die sei gut, man helfe sich gegenseitig, Aber es gebe eben auch die, die hier bauen oder kaufen, weil es grün ist und günstig, die aber keinerlei Interesse haben, sich einzubringen. Die sich weder im Café blicken ließen noch bei einer Vereinssitzung. Klar, das ist eine private Entscheidung. Aber: »Es sind dann halt doch immer dieselben Leute, die sich engagieren.« Daher ist Stübner froh über den frischen Wind, den die »Sohland lebt«-Initiative mitbringt, freut sich über das Veranstaltungsangebot und macht Werbung, auch bei denen, die bisher zögern. Oder denen das Projekt zu bio ist, zu alternativ, irgendwie zu grün und zu links. Sorgen macht ihm nur die langfristige Finanzierung. Denn die verschiedenen Töpfe – die EU, der Freistaat Sachsen, das Sozialministerium – sind nicht beliebig nachfüllbar. Irgendwann muss es sich alleine tragen.

»WENN MAN SICH ENTTÄUSCHT EINIGELT, PASSIERT AUCH NICHTS«

Sozial eingebunden, politisch aktiv

Wenn solche Orte Bestand hätten, wäre es ein Segen. Nicht nur in Sohland, sondern überall. Nicht, weil man sich nicht auch in die eigene Küche eine gute Espressomaschine stellen könnte. Die Sozialforschung sagt: Überall da, wo soziale Netze dünn werden, Menschen sich ins Private zurückziehen und am Ende vereinsamen, droht eine düstere Prognose. Denn je weniger soziale Kontakte Menschen haben, je stärker sie sich allein fühlen, desto weniger gehen sie zur Wahl und desto mehr sinkt ihre Bereitschaft zu politischer Partizipation.14 Umso wichtiger ist es, dass Gemeinden soziale Orte fördern.

Das muss nicht unbedingt das Dorfcafé sein – auch digitale Formate unterstützen den Austausch. Was unter anderem ein Beispiel aus Michelbach zeigt, einem dörflichen Stadtteil der hessischen Unistadt Marburg. Dort nutzt der Verein »Unser Michelbach e. V.« eine nicht kommerzielle, datenschutzsichere App, über die Hilfsanfragen und Angebote genauso geteilt werden können wie Termine oder aktuelle Fotos. Und schult auch die ältere Bevölkerung, damit sie an dieser Form der Kommunikation teilhaben kann. Mehr über das besondere Michelbacher Miteinander wird im dritten Kapitel noch zu lesen sein.

FREITAG24. MÄRZ15 UHR

Als wir zurückkommen ins Café, ist der Raum gut gefüllt und laut ist es auch geworden. Denn an einem der großen Tische sitzt jetzt eine Kindergruppe und bohrt unter Anleitung der Biologin Lisa aus Ostritz – Norwegerpulli, Zöpfe, frischer Teint – mit Handbohrern kleine Löcher in Aststücke, als Nisthilfe für Wildbienen. Seit Jahren gibt es wieder mehr Kinder in Sohland, über 30 allein in der Kita, und genügend, um mit jedem Erstklässler:innen-Jahrgang eine eigene Klasse in der Grundschule in Reichenbach zu füllen. Das ist eine gute Nachricht, es waren schon mal weniger.