Anderswohin - Ilse Helbich - E-Book

Anderswohin E-Book

Ilse Helbich

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Beschreibung

In ihrem neuen Buch, "Anderswohin", verbindet die 98-jährige Ilse Helbich persönliche Erinnerungen, Selbstreflexionen, philosophische Sequenzen sowie protokollierte Gedankengänge. "Anderswohin" trägt etwas Lustvolles in sich: das Lustvolle im Schreiben, sogar im Streiten, im Sinnieren und Teilhaben an eigenen Gedanken, im Erinnern – selbst fremde Erlebnisse können alte, verborgene Erinnerungen bei der Autorin hervorrufen. Das Buch besticht in all seiner Vielfalt und Intimität. Im Epilog heißt es passend: »Dieses Buch ist, von außen und vor allem auch aus einiger Entfernung betrachtet, gewiss ein sonderbares Werk. Als wären es lauter einzelne Stücke, Bruchstücke, wahllos zusammengeworfen und hervorgewachsen aus verschiedenartigen Gemütszuständen und ohne Ziel. Man muss jedoch eintreten in diesen Text und drinnen stehen und schließlich sich forttragen lassen von einer unterirdischen Strömung, aus dem Hiersein fort in ein Jenseits, das ich nicht kenne.«

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Seitenzahl: 62

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Ilse Helbich

Anderswohin

Vom Träumen, Suchen und Finden

Literaturverlag Droschl

 

Protokoll: Die Fragen, auf die ich jetzt keine Antwort habe – oder mir die alten Antworten weggeschmolzen sind.

Warum bin ich noch da? So ohne Zweck, ohne Aufgaben, so ohne die Helligkeit von hohen Stunden zwischen den Trübseligkeiten der allstündlichen Mühsal.

Die lästigen Alten, die immer von ihrer Vergangenheit sprechen: »Ich war früher Lohnbuchhalter« und »Ich war Fremdenführerin; damals als die ersten japanischen Reisegesellschaften bei uns auftauchten, gab es immer urkomische Missverständnisse …« usw.

So tun, als färbe die Wichtigkeit des Einmal-Gewesenen noch den eintönigen Alltag des Jetzt.

Aber darauf fällt bald keine Kaffeehaus-Bekanntschaft mehr herein, und die Alte, die davon erzählt, am wenigsten.

Als stünde der Alte mitten in einer Sandwüste, ausgesetzt einer unbarmherzigen grellen Sonne. Da die Stimme der Betreuerin:

»Sie sollten unbedingt mehr Flüssigkeit zu sich nehmen. Ich habe Ihnen hier eine Tasse warmen Fencheltee gebracht.«

Protokoll: Der Astronaut

Der Astronaut in seiner Raumkapsel. Von weither dringen Stimmen und Bilder ein. Sie sind da und auch nicht da, in seinem Kokon ist der Astronaut allein.

Protokoll: Die Tätigkeit des Schreibens liegt in einer Sicherheitszone. Dort stehen alle Häuser und haben feste Mauern, und Himmel und Bäume sind bei sich, ohne dass ich sie im Auge behalten muss, damit sie nicht zurückweichen.

Die Ahnung, ja, die Gewissheit, dass diese Sicherheit im Schreiben mir bald genommen werden wird. Und dann?

Protokoll: Immer, wenn ich über das Gehen, oder über das Träumen, oder das Suchen und Finden schreibe, bin ich zuhause in einer Zone durchsichtiger Klarheit, eine Stunde selbstverständliches Tätig-Sein, ohne Beschränkung, ohne Angst, bei mir zuhause.

Vom Gehen

Mir ist die Gnade eines leichtfüßigen, fast schwebenden Ganges bis ins hohe Alter erhalten geblieben.

Ich war es gewohnt, dass mich manche Leute schon von Weitem daran erkannten und mich darauf ansprachen. Es war ein Geschenk, das die Frauen meiner Familie von der Natur erhalten hatten. Ich bemerkte diese fast bestürzende Leichtfüßigkeit als Kind bei meiner Mutter; sie verriet etwas von einer inneren Sicherheit, von einem Mit-sich-im-Reinen-Sein, von dem diese, nach außen bis zur offenen Feindseligkeit neigende Frau in ihrem durch ihre Lebensumstände bedingten Gefangensein sonst nichts preisgab – ihr Gang jedoch verriet sie, sie, die meine Mutter war.

Als meine Tochter ein Kind war und auch später noch, trat diese Art des Gehens bei ihr in einem hochtreibenden, fasthopsenden Rhythmus zu Tage. Unwillkürlich musste ich dabei an ein junges Ziegenböcklein denken, das sich von seiner überschäumenden Kraft, von seinem Übermut immer von Neuem in die Luft heben lässt.

Bei meiner Enkelin hat das Gehen etwas von einem Vorwärtswollen. Wenn man sie gehen sieht, ist es immer, als wäre sie von einem ihr selbst noch unbekannten Ziel magnetisch angezogen.

Diese Enkelin war es, die das Pilgern für sich entdeckte. Es war die Route Alpine nach Santiago, die sie ging. Was sie später über ihre Wanderabenteuer erzählte, weckte in mir, ihrer Großmutter, alte Erinnerungen, war ich doch als Studentin mit einer Kleingruppe von Freunden in den Alpen wochenlang über Berg und Tal gewandert. Am Abend hatten wir bei Bauern im Heu geschlafen und dankbar Suppe und Brot angenommen. Wir waren Tage und Tage in strömendem Regen unterwegs gewesen, in einer Landschaft, die uns als eine kompakte, graue Nebelmasse umgab, deren feuchte Schwere jeden Gedanken, jede Gefühlsregung niederhielt. Ich war, wie wir alle, durchnässt bis auf die Haut, und mein Körper war in all dem Grau nichts als ein fester, eiskalter Kern, verschlossen für jeden anderen Eindruck als für diese stete Bewegung des Gehens.

Dazwischen gestreute Abenteuer. Wie wir einen Felsgipfel erklommen hatten und auf einem winzigen Plateau saßen. Zusammengekauert wagte ich kaum den Blick zu heben, dorthin, wo so nahe schneebedeckte Gipfel in den blauen, so blauen Himmel ragten, wagte auch nicht hinunter zu schauen, denn von dort, wo wir saßen, ging es nach allen Richtungen beinah senkrecht hinab, und ich konnte mir nicht vorstellen, wie wir von hier zwischen all den Felstrümmern ins Tal gelangen sollten.

Es ist schön, wenn die Erlebnisse der Jungen in den Alten eine Erinnerung wachrufen und die dann das einmal Gewesene als Gegenwärtiges geschenkt bekommen.

Die Enkelin berichtet jedoch auch von Neuem, nicht von mir Erlebtem: Wie das junge Mädchen, das allein ging und immer so ging, unterwegs auf andere traf, die als Einzelne für sich oder in kleinen Gruppen auf demselben Pilgerweg gingen. Im Dahinwandern, oder an den Abenden, kam es dann zu langen Gesprächen über das jeweilige Woher und Wohin, und aus gerade noch Fremden, mit ihren so verschiedenen Belastungen und Freudenmomenten, wurden dann plötzlich Vertraute, ja fast Freunde. Es war ein Sich-nahe-Sein, das am nächsten Morgen mit einem Abschied endete. Man traf sich jedoch nach Tagen auf dem gemeinsamen Weg wieder, und schon fast am Ziel beschlossen die, die sich nahe gekommen waren – die Enkelin, der sich inzwischen ein Wiener Student angeschlossen hatte, das Grüppchen der alten Spanier und dann noch der junge Tunesier –, gemeinsam in die Stadt und in die Kathedrale von Santiago einzuziehen und das Angekommensein, dort wo Festgesänge und Lichterglanz auf sie warteten, miteinander zu begehen, und dieses Ereignis dann scheint für alle ein großes Fest gewesen zu sein: Sie waren an ihrem Ziel angekommen.

Angekommensein: das Gehen, das sein Ziel hat, das sich plötzlich als Ziel ausweist, obwohl es als solches nicht wirklich angestrebt wurde, dein Gehen war nichts als ein unsichtbarer, nicht einmal zu fühlender Magnet, etwas, das leise unmerkbar anzog, sodass einer nicht anders konnte als gehen und immer gehen.

Und ich selbst? Damals, als ich noch die Gnade des leichten Gehens hatte, als es war, als würde ich getragen von einer anderen Macht, und dieses Getragenwerden war ganz im Einklang mit meiner eigenen Bewegung, sodass daraus beinahe ein Schweben wurde, aber eben nur beinahe, denn es brauchte ja immer wieder das Sich-Abstoßen vom festen Untergrund und gleich darauf das Zurückkommen zur Erde: wenn ich so vor mich hin ging, unterwegs nach irgendwohin, empfand ich die Freude an meinem so leichten Gang stark; was mich antrieb, dahingleiten ließ, ohne dass ich wusste warum und woher, war etwas Gutes, es war ganz, was ich »ich« nannte, und war doch von anderswo her.

Diese meine eigene Art des Gehens hatte ich immer als Geschenk empfunden. Und wenn ich so dahinging, war da auf einmal der Augenblick, wo ich eins wurde mit meiner Umgebung, wo ich plötzlich jeden der zurückweichenden Apfelbäume zu meiner Linken als einen Teil meiner selbst sah, und doch blieb dabei der eine Apfelbaum ganz bei sich selbst, in sich ruhend, auch er, gerade so wie ich.

Die Gabe des leichten Gehens habe ich schon lange verloren. Es braucht einen Stock, auf den ich mich so fest stütze, dass Hand und Arm nachher schmerzen. Der Stock hilft auch, meinem Schwindelgefühl nicht nachzugeben, und er hilft auch, mich vorwärts zu schieben. Ich gehe jetzt breitbeinig, um das Gleichgewicht besser halten zu können, und ich gehe mit steifen, nicht mehr federnden Knien.

Diese Art des Gehens ist mühselig, es ist eher ein Kriechen, und ich bin so mit der Aufgabe des Vorwärtskommens beschäftigt, dass meine Umgebung draußen bleibt, nichts mehr ist als eine Kulisse; im besten Fall gehört das, was um mich ist, in eine andere Welt, in der ich selber nicht zuhause bin.