Anfang Zwanzig - Eine Odyssee durch deutschsprachige Schauspielschulen - Julia Zimmermann - E-Book

Anfang Zwanzig - Eine Odyssee durch deutschsprachige Schauspielschulen E-Book

Julia Zimmermann

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Beschreibung

Marlene Zimt ist Anfang Zwanzig und hat einen Plan: Schauspielerin werden! Um dieses Ziel zu erreichen, stellt sie sich den Aufnahmeprüfungen deutschsprachiger Schauspielschulen. Marlene steht eine intensive Zeit bevor, die von Zugfahrten, Monologen und Kostümierungen geprägt ist; eine Zeit der Aufbruchstimmung und Kreativität, aber auch der immer wieder auftauchenden Selbstzweifel. Alles unter den kritischen Blicken ihrer Familie, Freunde und Freundinnen.

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Seitenzahl: 131

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Julia Maria Zimmermann

Anfang

Zwanzig

Eine Odyssee durch deutschsprachige Schauspielschulen

Impressum

1. Auflage · 2024

Text: © Julia Zimmermann

Cover: © Julia Dechert

Gestaltung: © Steffen Spranger

Verantwortlich für den Inhalt:

Julia Maria ZimmermannTulipa Theater Schornsteinfegergasse 514467 Potsdam

Herstellung: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin

Inhalt

Leipzig

Frauenmagazine

Klatsch und Tratsch

Salzburg

Aufmunterung gesucht

Eine Schifffahrt

Essen

Mutter

Hilfe

Ein Blick von außen

Berlin

Hannover

Buchladen

Fritz

Ausrasten

Anklam

Rückenstärkung

Rostock

Moni

Bern

Schultheater

… und Tschüss

Berlin-Charlottenburg

Monologauswahl

Leipzig

Frankfurt am Main

Einstecken können

Lingen

Öde

Viel Erfolg

Epilog

Leipzig

Meine Bewerbungsphase begann direkt mit einem Desaster. Ganz ehrlich: Dass ich mich mit einer Bewerbung für ein Musical-Studium so sehr in die Nesseln setzen würde, hätte ich nie gedacht.

Vor wenigen Monaten war noch alles gut. Ich war mit meiner Theatertruppe vom Theaterschiff Potsdam auf Tour. In dieser Gruppe spielte ich nun seit einem Jahr und ich wollte diese Gruppe auch nie wieder verlassen. Wir waren eine Laienspielgruppe mit dem Anspruch professionelles Theater zu machen. Unter uns gab es viele Leute, die einfach schon seit Ewigkeiten neben dem Beruf spielten, aber auch ausgebildete Schauspielerinnen, die einst auf dem Schiff angefangen hatten zu spielen und der Truppe noch immer die Treue hielten. Die Spielstätte war ein alter Lastkahn mit einer kleinen Bühne im hinteren Teil des Schiffs und einer Bar im Eingangsbereich. Nun zog ein Teil von uns mit dem Stück "Männer" von Franz Wittenbrink durchs Land.

Zugegeben, die Tour war etwas außergewöhnlich. Wir wurden weder von international bekannten Theaterfestivals angefragt noch klapperten wir große Open Air Bühnen ab, um eine bunte Theatershow mit Pyrotechnik darzubieten. Nein, unsere Tour mit einer wunderbaren, musikalischen Komödie ging durch verschiedene Justizvollzuganstalten Niedersachsens und Bremen. Aus diesem Grund wurden wir auch immerzu liebevoll "Knastspieltruppe" genannt. Wenn auch unser Publikum speziell und die Bühnen nie sonderlich prunkvoll waren, hatte ich das Gefühl hier etwas komplett Richtiges zu machen.

Im Bus herumfahren, bei irgendeinem Knast ankommen, Bühne aufbauen, Einsingen, Vorstellung geben, Bühne abbauen, Essen und Bier trinken, schlafen, früh aufstehen und dann wiederholte sich alles wieder. Das war für zehn Tage mein Leben. Menschen, welche im Gefängnis saßen, ein kulturelles Angebot zu geben und ihnen die Möglichkeit zu bieten, für neunzig Minuten aus ihrem Alltag rausgeholt zu werden, hatte zudem einen ganz besonderen Reiz. Das Publikum, was hier saß, war weitestgehend noch nie im Theater gewesen. Viele schauten sich unser Stück nur an, weil es nicht schlimmer sein konnte, als in der Zelle zu sitzen und waren dann im Anschluss total überrascht, dass es ihnen sogar gefallen hatte. Das fand ich spitze.

Ich lebte Theater, ich war Theater und das sollte am liebsten ewig so bleiben! Damit ich irgendwann auch mal vom Theatermachen leben konnte, entschloss ich mich eine entsprechende Ausbildung zu machen und meldete mich kurzentschlossen für eine Prüfung zum Musicalstudium an. Singen und Spielen tat ich auf dem Schiff jeden Tag. Tanzen war zugegebenermaßen nicht gerade mein Steckenpferd ebenso wie Klavier spielen. Das sollte nicht so bleiben. Deswegen besuchte ich ein halbes Jahr lang einen Tanzkurs und nahm Klavierstunden. Wenn ich nicht in allen Disziplinen total absahnen würde, wäre es vielleicht gar nicht so schlimm – dachte ich.

Der Tag der Tage war gekommen: Ich fuhr nach Leipzig zur Aufnahmeprüfung. Alle Bewerber und Bewerberinnen wurden mit einer Nummer versehen.

»Name?«, sagte eine streng aussehende Dame, die ihren Blick nicht von der Anmeldeliste löste.

»Marlene Zimt«, antwortete ich, woraufhin sie die Liste von vorne bis hinten mit dem Zeigefinger durchging, bis sie meinen Namen schließlich auf der letzten Seite fand und durchstrich.

»Sie sind jetzt die Zweiundfünfzig!«

»Alles klar!«

Ich gesellte mich zu den anderen Menschen, die ihre Identität abgelegt hatten und bis auf Weiteres nur noch mit einer Zahl angesprochen werden würden. Nach einer kurzen Begrüßung begaben wir uns in einen größeren Saal mit vielen Stühlen und Tischen. Der erste Teil der Prüfung bestand aus dem schriftlichen Musik-Theorie-Test. Intervalle hören so wie ein Rhythmus-Diktat brachten mich nicht aus der Fassung; darauf war ich bestens vorbereitet. Ziemlich souverän erfüllte ich alle Aufgaben.

Dann wurde jedem eine Klavierbegleitung an die Seite gestellt, mit der man die einstudierten Lieder einmal durchgehen konnte. Ich hatte Glück, mein Korrepetitor namens Daniel war ein wahrer Schatz. Er erklärte mir genau wie alles ablaufen würde, und sprach mir Mut zu. Wir gingen alle Lieder durch, er gab mir Komplimente und kleine Tipps.

Mit Begleitung zu singen machte total Spaß und ich konnte es kaum erwarten, vor der Jury zu stehen. Mit Gesang würde ich überzeugen und damit meine nicht so ganz großen Qualitäten im Tanz ausgleichen. Ich kam also in einen schönen Theatersaal, vor mir eine sechsköpfige Jury.

»Guten Tag, mein Name ist Marlene Zimt. Ich bin 20 Jahre alt und ich singe zunächst "Wundascheen" aus "My Fair Lady"«

»Gut«, sagte eine Stimme aus der Jury.

Von wem diese kam, konnte ich so schnell nicht zuordnen. Ich sang sicher das Lied. Etwas irritierend war nur, dass die Jury wirklich gar keine Miene verzog. Nichts konnte man daran ableiten. So sahen wahre Profis aus.

»Dann hätten wir jetzt gerne "Like A Virgin"«

Ich liebte es, dieses Lied zu singen. Kaum hatte ich zum Refrain angesetzt, wurde ich allerdings unterbrochen. Dabei war doch der Refrain das Beste.

»Okay, kannst du das anders singen? Mir fehlt das Belting!«

»Ähm, das Was?«

»Bel-ting!«

Ich verstand kein Wort. Was wollte die Frau von mir? Ich wurde panisch. Ich erinnerte mich an meine Grundschullehrerin Frau Peters, die mir in der ersten Klasse glaubhaft erklärte, dass es keine dummen Fragen gab.

»Was ist das? Belting?«

Die Frau stöhnte. Ich war mir plötzlich nicht mehr sicher, ob Frau Peters damals die Wahrheit gesagt hatte.

»Ja, ich weiß nicht, was das ist!«

»Naja Belting. Wie soll ich das erklären? Mehr Pop! Mehr Brust! Verstehst du?«

»Hm. Ja, ich probiere es!«

Nach ungefähr fünf Takten hieß es:

»Okay! Danke!«

»Bitte. Ähm. War es das schon?«

»Jaja!«

Eigentlich dachte ich, dass mit dem Gesang auch gleich Schauspiel geprüft werden sollte. Aber ein weiteres Mal wollte ich nicht nachfragen. Zügig verließ ich den Raum.

Etwas mitleidig legte mir Klavier-Daniel die Hand auf die Schulter.

»Es ist nicht so, dass sie dich schlecht fanden! Du hast das gut gemacht! Du singst ihnen nur zu klassisch. Verstehst du?«

»Hm. Ja, das heißt doch eigentlich, dass es für mich eh schon gelaufen ist, oder? Dann kann ich doch eigentlich schon gehen und könnt mir den Tanz-Test ersparen, wa?«

»Ja, im Grunde schon!«

Ich bedankte mich und ging zu den anderen Zahlenträgern in der Cafeteria der Hochschule. Diese tauschten sich über den Verlauf ihrer Prüfungen aus.

Einige mussten nach dem Singen direkt Klavier spielen, andere ihren Monolog spielen. Wiederum andere mussten, wie ich, nichts tun außer Singen und bekundeten sich gegenseitig, dass das bestimmt nichts zu heißen hatte. Doch ich wusste es besser. Aus purer Neugier, was als nächstes kommen würde, blieb ich noch zum Tanz- und Bewegungstest. Wer konnte denn wissen, ob nicht doch noch ein klitzekleines Wunder geschehen würde? Und schlimmer konnte es schließlich auch nicht mehr werden. Also raus aus der ordentlichen Jeans und rein in - wie von der Hochschule verordnet - hautenge Sportbekleidung und die Tanzschläppchen. Und los ging es.

»So, Hallo! Willkommen bei der Tanzprüfung! Sucht euch bitte einen Platz an der Ballettstange.«

Ich wollte es nicht wahrhaben, aber es kam tatsächlich, wie ich es sofort befürchtete. Wir sollten Ballett-Übungen machen. Ballett - das kannte ich aus dem Film "Center Stage". Davon abgesehen, hatte ich noch nie in meinem Leben etwas mit Ballett zu tun gehabt. Ich stellte mich an die äußerste Stange ganz nach hinten. Von hier aus hatte ich die Chance abzugucken, was mein Vordermann machen würde.

Allein wie dieser schon dastand, hatte ich den Verdacht, er sei der Richtige, bei dem man abgucken könne. Ich wusste weder, was die dritte Position ist, noch, was mit einem Plié oder einem Arabesque gemeint war. Ich hörte auch gar nicht mehr hin. Ich ahmte nur nach, was der Typ vor mir machte. Das Ganze kam mir völlig surreal vor. Wie konnte ich nur hierher geraten? Ich stand an der Stange, machte ein Fondu und dann: Seite wechseln! Alle sollten sich umdrehen. Das hieß: Mein Verderben! Ich schaute nun direkt in den Spiegel. Mein Abguck-Mann war hinter mir, und ich ärgerte mich, in Französisch so schlecht aufgepasst zu haben.

Sozusagen über Bande versuchte ich im Spiegel abzulesen, was an der rechten Nachbarstange getanzt wurde. Dann die Ansage:

»Und Kopf nach links! Schön nach links!«

Das durfte doch nicht wahr sein. Ich würde nicht mehr abgucken können. Doch die Ballett-Mademoiselle würde erst Ruhe geben, wenn ausnahmslos alle den Kopf gedreht hatten. Das bedeutete höchste Anstrengung für meine Augen, die den Blick so weit nach rechts wandten, wie es eben möglich war, wenn man eigentlich nach links blicken musste.

So wie ich im Spiegel sah, dass Le Madame de Ballett mir den Rücken zuwandte, schnellte mein Kopf in die verbotene Richtung, um die weiteren Bewegungsvorgaben mitzubekommen. Nach einer Stunde war die Ballett-Folter vorbei. Mein Nacken und meine Augen schmerzten von dieser Tortur.

»So! Nun möchte ich euch Stefanie vorstellen. Ein Applaus bitte für Stefanie!«

Alle klatschten, doch mir war nicht im Geringsten klar, wofür Stefanie diesen Applaus verdient hatte. Sie hatte schließlich gar nicht mitgetanzt.

»Stefanie ist im zweiten Tanz-Semester und wird euch gleich eine Jazz-Choreo beibringen. Ihr habt fünf Minuten Pause und könnt euch schon mal eure Jazz-Schuhe anziehen!«

Jazz-Schuhe. Was sind Jazz-Schuhe? Alle flitzten zu ihren Sporttaschen und wechselten ihr Schläppchen mit anderen Schläppchen aus. Bis auf ein Mädchen, das scheinbar ähnlich verdutzt war; sie stand tatenlos an die Wand gelehnt und sah ziemlich mitgenommen aus. Ich beschloss, mich mit ihr zu solidarisieren.

»Hej, du ziehst ja auch gar nicht deine Schuhe um! Weißt du auch nicht, was mit Jazz-Schuhen gemeint ist?«

»Doch! Ich habe meine irgendwie vergessen! Scheiße!«

Ich schien doch die einzige Unwissende zu sein. Dann zeigte Stefanie was sie drauf hatte. Mir blieb die Spucke weg. Das sah ziemlich cool aus. Sprünge, Drehungen, Sprünge mit Drehungen, hin und her rennen, auf den Boden werfen. Ich konnte so schnell überhaupt nicht gucken.

Sie wiederholte alles noch einmal im halben Tempo und beantwortete konkret gestellte Fragen. Dann hatten wir einige Minuten Zeit, um die Choreografie noch einmal allein durchzugehen. Ich würde lügen, würde ich behaupten, dass ich mir die Bewegungsabläufe auch nur im Ansatz merken konnte.

In Kleingruppen von jeweils drei Leuten wurde schließlich vorgetanzt. Vermutlich hatte ich noch niemals etwas so Demütigendes gemacht. Ich konnte es einfach kein bisschen. Der Tanz sah eigentlich hammersexy aus - wenn man ihn beherrschte. Da die Anzahl der Teilnehmenden nicht durch drei teilbar war und die Reihenfolge alphabetisch festgelegt wurde, hatte ich das große Pech, dass ich statt zwei Mittanzenden nur noch einen Partner hatte, mit dem ich vortanzen musste. Natürlich handelte es sich dabei um den Tanz-Gott bei dem ich während des Ballettes noch abgeguckt hatte. Mit Abgucken klappte es bei diesem super schnellen Tanz leider eher schlecht. Ich hoppelte immer um einige Sekunden versetzt meinem Partner hinterher und hoffte nur noch, nicht in Tränen auszubrechen.

Nachdem ich es geschafft hatte, war der Kurs endlich vorbei, und wir sollten in der Cafeteria auf die Ergebnisse warten. Viele Teilnehmende kamen auf mich zu und klopften mir auf die Schulter, dass ich mich aber ganz schön wacker geschlagen hätte. Der Tanz-Gott bangte, dass er nicht weiterkommen würde, worauf ich ihn leicht beruhigen konnte, dass es bei einigen, wie beispielsweise mir, sehr viel eindeutiger war, dass sie nicht weiter seien.

»Ja, das stimmt! Aber du hast ja einen so tollen Körper! Du solltest es als Model probieren!«

»Hm, danke, aber ich bin nur 1,69 m groß«, sagte ich, als würde ich mich bei einer anderen Körpergröße eher als Model sehen.

»Aaach verstehe!«

Eine Frau trat in die Cafeteria.

»Vierundzwanzig!«, sagte sie völlig emotionslos. Irgendwo in der Ecke kreischte jemand vor Freude.

»Zweiunddreißig!«, wieder ein Jubel, dieses Mal aus einer anderen Ecke der Cafeteria.

»Achtundvierzig!«, ein von Glück erfülltes Quietschen. Eine Zweiundfünfzig wurde nicht erwähnt. Ich verließ die Hochschule. Die Musical-Prüfung hatte ich maßlos unterschätzt.

Frauenmagazine

Lange dachte ich darüber nach, wie ich meinem Freund Rico meine neuen Zukunftspläne mitteilen könnte. Vor mir stapelten sich Anmeldebögen für Aufnahmeprüfungen an Schauspielschulen. Nach der verpatzten Musical-Prüfung wollte ich mich nun nur noch aufs Schauspiel konzentrieren. Immerhin waren für Schauspiel Belting und Jazzschuhe nicht von Bedeutung. Auf der Bühne des Theaterschiffes fühlte ich mich pudelwohl, und Leute zahlten Eintritt, um mich spielen zu sehen. Ich konnte nicht gänzlich ungeeignet für diesen Beruf sein. Aber ich wollte mir noch nicht ganz eingestehen, dass ich etwas machen wollte, wovon ungefähr alle träumten. Ich wollte vor Rico nicht wie ein Naivchen dastehen, das vergebens an den großen Ruhm glaubte.

Zudem kam erschwerend hinzu, dass Rico ein zwiespältiges Verhältnis zur Schauspielerei beziehungsweise zu Schauspielstudierenden hatte. Generell hatte er nichts gegen das Theaterspielen. Er war es, der mich damals in die Crew des Theaterschiffes holte und weiterhin gerne dort spielte. Er war auch ziemlich gut, so gut, dass er sich bereits als 17-jähriger in Berlin an einer Schauspielschule bewarb und selbstverständlich direkt genommen wurde. Das schüchterte mich natürlich nur unwesentlich ein. Es könnte einfach Glück gewesen sein. Was mir viel mehr zu Denken gab, ist die Tatsache, dass er sich dazu entschloss, das Studium nicht anzutreten. Die ganzen Schauspielstudis fand er komisch und aufgesetzt. Stattdessen entschloss er sich, Musikwissenschaften zu studieren und sein Geld mit Straßenmusik zu verdienen. Er meinte:

»Das ist wenigstens noch real und nicht so ein "rumgekünstel"! Theaterschiff ist ja cool, aber diese affektierten Profischnösel haben doch alle 'ne Macke und bleiben auf irgendeiner Rolle hängen.«

Ich bewunderte ihn sehr für seinen Lebensstil und seine taffe Meinung. Selbst wenn er nicht reich vom Leben aus dem Hut war, so konnte ich in den drei Jahren unserer Beziehung nicht behaupten, dass uns irgendetwas fehlte, was man mit Geld begleichen könnte.

Zugegeben, wir wohnten ziemlich einfach. Unsere Wohnung befand sich im letzten unsanierten Haus des gesamten Viertels. Um uns herum befanden sich hübsche beigefarbene und weiße Häuser mit silbernen Zaun. Unser Haus hingegen war grau, der Putz bröckelte, und der blaue Zaun hatte Rostflecken. Kurzum, es war wunderschön. Unsere Kachelöfen, die wir täglich mit Kohle heizten, machten den Charme der Wohnung aus. Die Miete war günstig und selbst mit einem Straßenmusiker-Gehalt leicht zu finanzieren. Sogar ich konnte mir mein Zimmer mit meinem 400-Euro-Job im Buchladen locker leisten. Am liebsten hätte ich dieses Leben nie verlassen. Doch nun hatte ich Pläne. Nun wollte ich unbedingt zu diesen komischen und affektierten Studierenden gehören, von denen Rico behauptete, sie würden am Ende nur "rumkünsteln".

Bei einem sonntäglichen Frühstück wollte ich nun von meinem Vorhaben erzählen. Ich nahm all meinen Mut zusammen und versuchte so beiläufig wie nur möglich zu klingen, während ich die angebrannten Stellen meines Toasts abkratzte.

»Rico, ich will mich jetzt an Schauspielschulen bewerben.«

»Aha.«

»Aha? Findest du das dumm?«

»Nö, mach doch!«

Begeisterung sah zwar anders aus, aber zumindest hatte ich das Gefühl, ich müsste mich nicht vor ihm schämen. Das wertete ich bereits als Erfolg.