Anführerinnen, Agentinnen, Aktivistinnen - Maria Pettersson - E-Book

Anführerinnen, Agentinnen, Aktivistinnen E-Book

Maria Pettersson

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Beschreibung

Rebellinnen verändern die Welt Sie waren Künstlerinnen, Herrscherinnen, Wissenschaftlerinnen – oder auch Piratinnen, Räuberinnen und Betrügerinnen. Die Weltgeschichte ist voll von außergewöhnlichen Frauen. Doch warum haben wir bisher so wenig von ihnen gehört? Diese unterhaltsamen Kurzbiografien erzählen von 49 spannenden Frauen aus aller Welt, die Erstaunliches bewirkten und dabei die Regeln ihrer jeweiligen Zeit brachen: - Bà Triệu, die vietnamesische Widerstandskämpferin, die zur Verteidigung der Freiheit ein eigenes Heer anführte. - Soraya Tarzi, die erste Königin Afghanistans, welche die Modernisierung des Landes maßgeblich mit vorantrieb. - Edith Margaret Garrud, die britische Jiu-Jitsu-Lehrerin, die Suffragetten in Selbstverteidigung trainierte. - Maria Skobzowa, die russische Nonne, die sich im Zweiten Weltkrieg dem französischen Widerstand anschloss. Wofür haben diese Frauen gelebt, wovon haben sie geträumt, wofür haben sie sich starkgemacht?  Die preisgekrönte Journalistin Maria Pettersson erzählt vom Leben dieser starken Frauen. Eine wunderbare Schmökerlektüre mit modernen Illustrationen: Für alle, die sich gerne von außergewöhnlichen Frauenbiografien inspirieren lassen.

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Seitenzahl: 301

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Maria Pettersson

Anführerinnen, Agentinnen, Aktivistinnen

Außergewöhnliche Frauen, die Regeln brachen

Aus dem Finnischen von Maximilian Murmann

Mit Illustrationen von Ti Fong

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Noch immer präsentiert uns die Geschichtsschreibung vor allem männliche Akteure. Und doch ist die Weltgeschichte voll von außergewöhnlichen Frauen. Sie waren Künstlerinnen, Herrscherinnen, Wissenschaftlerinnen – oder auch Piratinnen, Räuberinnen und Betrügerinnen. Aber warum haben wir bisher so wenig von ihnen gehört? Die preisgekrönte Journalistin Maria Pettersson erzählt von 49 Frauen, die Erstaunliches bewirkten und dabei die Regeln ihrer Zeit brachen. Eine einzigartige Sammlung unterhaltsamer wie inspirierender Kurzporträts.

Inhaltsübersicht

Widmung

Vorwort

Wissenschaftlerinnen & Gelehrte

Lise Meitner

Ban Zhao

Mary Anning

Hypatia von Alexandria

María Orosa

Émilie du Châtelet

Sabina Spielrein

Anführerinnen & Herrscherinnen

Töregene Hatun

Yaa Asantewaa

Dora Salter

Tadsch os-Saltaneh

Militza und Anastasia von Montenegro

Soraya Tarzi

Künstlerinnen & Athletinnen

Maria Anna Mozart

Philaenis

Dolly Sisters

Mathurine

Phillis Wheatley

Lily Parr

Aktivistinnen & Dissidentinnen

Harriet Tubman

Anne-Josèphe Théroigne de Méricourt

Zura Karuhimbi

Helen Keller

Maria Skobzowa alias Mutter Maria

Manuela Sáenz

Edith Margaret Garrud

Ermittlerinnen & Kriminelle

Zheng Yisao

Sonja die Goldene Hand

Stephanie St. Clair

Isabella Goodwin

Kate Leigh, Tilly Devine & Lillian Armfield

Soldatinnen & Spioninnen

Milunka Savić

Seh-Dong-Hong-Beh

Noor Inayat Khan

Bà Triệu

Roberta Cowell

Tomoe Gozen

Naziq al-Abid

Abenteurerinnen & Entdeckerinnen

Bessie Coleman

Martha Gellhorn

Aimée Crocker

La Maupin

Sanmao

Lee Miller

Caresse Crosby

Für Juhana

Vorwort

 

 

 

Als Kind liebte ich es, mich mit Geschichte zu beschäftigen, aber ich wurde von ihr immer wieder enttäuscht. Es war, als hätten die Welt vor den 1970er Jahren nur Männer bevölkert. Ich arbeitete mich mit großer Begeisterung durch Bücher, Filme, Zeitschriften und Radiosendungen. Jedes seltene Mal, wenn darin unerwartet irgendeine Königin oder Kaiserin aufblitzte, war ich hin und weg. Nichtsdestotrotz konnte ich in der Schule bestimmt Hunderte von geschichtsträchtigen Männern benennen, aber nur eine Handvoll Frauen. Es waren so wenige, dass ich mich noch heute an sie erinnere: Kleopatra, Jeanne d’Arc, Katharina die Große, Marie Antoinette, Marie Curie und einige englische Königinnen.

Als Erwachsene begann ich schließlich, mir Notizen über historische Frauenfiguren und ihr Leben zu machen. Ich suchte nicht nach den einflussreichsten Frauen, sondern nach interessanten, verwegenen, außergewöhnlichen und aufregenden Frauen. Frauen, die Wissenschaft mit großen Schritten voranbrachten, gleichzeitig dem Glücksspiel verfallen waren und unzählige Liebschaften hatten. Frauen, die ein großes Vermögen angehäuft hatten, indem sie bei Geisterbeschwörungen Anlagetipps einholten und dann für die US-Präsidentschaft kandidierten. Frauen, die die mächtigste Piratenflotte der Welt anführten. Frauen, über die man Filme drehen sollte, die aber nicht einmal im Geschichtsunterricht Erwähnung fanden.

In meinen Sommerferien fing ich an, in sozialen Medien Kurzbiografien der von mir gesammelten Frauen zu veröffentlichen. Wie sich herausstellte, war ich nicht die Einzige, die es von klein auf nach Geschichten von Frauen dürstete. Dutzende und schließlich Hunderte von Menschen wünschten sich ein Buch. Die damit verbundene Crowdfunding-Kampagne war bis dato die zweitgrößte in Finnland – mein Dank gilt allen Unterstützerinnen und Unterstützern.

Die hier versammelten Frauen wählte ich nach folgenden Kriterien aus: Erstens mussten sie aufregend sein. Zweitens mussten sie tot sein. Drittens geht es in diesem Buch nicht um finnische Frauen – vielleicht sind die aufregenden finnischen Frauen später an der Reihe, aber es war unmöglich, aus ihnen nur eine oder zwei auszuwählen.

Dies ist kein Buch über Heldinnen. Natürlich würde ein Teil der Frauen wunderbar zum Vorbild taugen, aber ein anderer Teil von ihnen hat eher etwas Ungeheuerliches. Der Großteil befindet sich, wie wir alle, irgendwo dazwischen. Die Welt ist reif, die Frauen der Historie in all ihren Facetten kennenzulernen, und nicht als Vorbilder, die auf einem Podest stehen. Die Auseinandersetzung mit ihnen hat sich im Laufe der Geschichte auch verändert. Manche Dinge, die man früher für empörend gehalten hat, sind heute normal, und andere Dinge, die damals recht üblich waren, gelten hingegen heute als empörend.

Die Erforschung historischer Frauenfiguren ist oft nicht einmal für Historikerinnen und Historiker leicht, ganz zu schweigen von einem Geschichtsnerd bzw. einer Journalistin wie mir, die ein populäres Sachbuch schreibt. Quellen sind oft spärlich gesät und in den exotischsten Sprachen verfasst. Ein Teil davon ist veraltet und nicht vertrauenswürdig. Ich danke allen Forscherinnen und Forschern sowie anderen Expertinnen und Experten, die mir bei meiner Suche und dem Schreiben geholfen haben. Jede der Frauen aus diesem Buch würde eine umfassende Biografie verdienen (und ein Teil hat zum Glück auch schon eine bekommen). Und weil jede Geschichte jeweils zu einem einzigen Kapitel verdichtet wurde, ermutige ich alle Leserinnen und Leser, sich über das Buch hinaus mit den darin versammelten Frauen zu beschäftigen.

Die Geschichte von Frauen niederzuschreiben ist bisweilen ein bedrückendes Unterfangen. Wenn eine hochintelligente Frau etwa ihr mathematisches Talent nutzen wollte, konnte es ihr zum Beispiel passieren, dass sie eine Scheinehe eingehen, ihre Heimat verlassen und Professoren für Privatunterricht gewinnen musste, weil sie aufgrund ihres Geschlechts nicht an die Universität durfte, und sich am Ende dauerhaft in einem fremden Land niederlassen musste, weil es ihr nur dort möglich war zu arbeiten.

Wie viele Menschen würden sich auf so etwas einlassen können, selbst wenn sie die Begabung hätten? Nicht besonders viele. Aber wie viel weiter wäre die Gesellschaft, wenn alle Geschlechter sich und ihre Talente hätten verwirklichen können? Wo stünde die Menschheit jetzt, wenn die Hälfte der Welt nicht über Tausende Jahre hinweg daran gehindert worden wäre, ihr Gehirn zu benutzen?

In der Geschichte wurden Frauen also davon abgehalten, ihre Begabungen zu nutzen, aber die Situation ist in vielen Ecken der Welt heute noch die gleiche. Mädchen dürfen nicht zur Schule gehen, und Frauen dürfen zum Teil nicht einmal ihr Zuhause verlassen. Wir büßen die Genialität vieler armer Menschen ein. Was, wenn eine furchtbar intelligente und begabte Person, die herausgefunden hätte, wie man den Klimawandel bewältigt, mit fünf Jahren an Malaria gestorben ist?

Viele Frauen aus diesem Buch sind außergewöhnlich, zum Beispiel außergewöhnlich talentiert, wohlhabend oder einflussreich. Darüber hinaus waren viele von ihnen außergewöhnlich hartnäckig und mutig, während sie gegen den Strom schwammen und sich gegen die Rollen wehrten, die für sie vorgesehen waren. Sie haben folgenden Frauengenerationen neue Möglichkeiten eröffnet und das Verständnis erweitert, was Frauen machen und sein können. Oft haben sie dafür einen hohen Preis bezahlt. Es ist deprimierend zu sehen, wie tief manche Formen der Unterdrückung von Frauen verwurzelt sind. Politisch aktive Frauen begegnen heute der gleichen Art von Hassreden wie im 18. Jahrhundert oder 200 Jahre vor unserer Zeitrechnung. Der erste Fall von #metoo wurde vor mehr als viertausend Jahren dokumentiert.

Es wird deutlich, dass die Gleichberechtigung in der Geschichte nicht geradlinig vorangeschritten ist. Im Lauf der Jahrhunderte haben Frauen sich bisweilen wichtige Rechte erkämpft. Während mancher Jahrzehnte oder Jahrhunderte hat sich der Wind gedreht, und Rechte wurden abermals eingeschränkt, bis die Zeiten wieder freier waren und Gleichberechtigung Fuß fassen konnte. Die Frauen in diesem Buch waren an verschiedenen Punkten der Geschichte aktiv. Es ist interessant zu überlegen, in welche Richtung die Entwicklung an verschiedenen Ecken der Welt gerade geht: Wird die Situation der Gleichberechtigung besser oder schlechter?

Warum wird die Geschichte von Frauen oft nicht festgehalten, auch nicht dann, wenn sie bemerkenswerte Dinge vollbracht haben? Dafür gibt es mehrere Gründe: Die Geschichtsforschung hat sich lange auf Feldherren und Machthaber konzentriert, und in beiden Gruppen gibt es nun mal wenige Frauen. Frauen und ihre Errungenschaften waren aus Sicht von (männlichen) Historikern möglicherweise nicht der Rede wert. In Wissenschaft und Kunst wurden die Errungenschaften von Frauen mitunter eiskalt Männern zugeschrieben. Wir wissen bis heute nicht, welche Errungenschaften von bedeutenden Forschern und Musikern in Wirklichkeit die Handschrift ihrer Frauen oder Schwestern tragen. Viele aufregende Frauen haben sich nicht so verhalten, wie es sich zu ihrer Zeit gehörte, und deshalb gehörte es sich auch nicht, ihre Geschichten aufzuschreiben. Welcher unbescholtene Bürger würde etwas über ein »skandalöses Frauenzimmer« lesen wollen? Es wäre undenkbar, wenn sich Frauen etwas von ihren Vorgängerinnen abschauen und selbst aufbegehren würden!

Heute wird mehr über die Frauen der Geschichte geschrieben, aber bei Weitem nicht genug. Die Sache wird dadurch verkompliziert, dass das Geschlecht einer Person in der Geschichte nicht so aufgefasst wurde, wie wir es heute tun. Die einschlägige Forschung wird von den gleichen Problemen geplagt wie der Rest der Geschichtsschreibung: Menschen aus dem Westen werden eher erforscht als Menschen aus Afrika, Mehrheiten eher als Minderheiten, reiche und einflussreiche Frauen eher als gewöhnliche.

Sich mit den Frauen der Geschichte zu beschäftigen ist natürlich nicht nur mit Trübsal verbunden. Im Gegenteil, es macht große Freude, über aufregende Frauen zu schreiben, allein schon deshalb, weil ihre Geschichten zum Teil schlichtweg unglaublich sind. Es ist wundervoll zu sehen, wie Frauen die Geschichte hindurch zu Mäzeninnen anderer Frauen wurden, wie sie andere Frauen in Machtpositionen hoben und einander das Leben retteten. Auch wenn Frauen oft von Männern unterdrückt wurden, gab es in jeder Epoche auch Männer, die begabte Frauen unterstützten und ihnen dabei halfen, voranzukommen, die an Gleichberechtigung glaubten und sich für die Rechte von Frauen einsetzten. Während jeder Epoche hatten Vertreterinnen und Vertreter ihres Geschlechts die Wahl, ob sie für die Gleichberechtigung sind oder dagegen. Dasselbe gilt auch heute.

 

Maria Pettersson

Juli 2020

Wissenschaftlerinnen & Gelehrte

 

 

 

Lise Meitner

 

Lise Meitner (geboren 1878) war eine österreichische Kernphysikerin,die die Radioaktivität untersuchte, vor den Nazis floh und mit ihrem Kollegen die Kernspaltung entdeckte. Diese Entdeckung führte unter anderem zu Kernreaktoren und Atombomben. Der Nobelpreis dafür ging an ihren Kollegen.

 

 

Forschungsgruppen in ganz Europa liefern sich ein hitziges Wettrennen. Jede Physikerin und jeder Physiker auf der Welt weiß, dass der Gewinnerin bzw. dem Gewinner die begehrteste aller Auszeichnungen winken wird: der Nobelpreis. Man muss es nur als Erste(r) ins Ziel schaffen. Ernest Rutherford ackert mit seiner Forschungsgruppe in Großbritannien. Die Gruppe von Irène Joliot-Curie schuftet in Frankreich. Enrico Fermi peitscht sein Team in Italien an. In Deutschland werkeln Otto Hahn und die Physikerin Lise Meitner rund um die Uhr.

Anfang der 1930er, als man die Struktur des Atoms besser verstanden hatte, befand sich die Physik in einem Umbruch. Bis dato herrschte die Auffassung, dass ein Atom aus positiv geladenen Protonen und negativ geladenen Elektronen besteht. Das Modell war genial. Das Problem war nur, dass es nicht funktionierte. Die Atome verhielten sich falsch, was in der Regel heißt, dass der Fehler beim Modell liegt, nicht bei den Atomen. Nun war jedoch ein neues Teilchen gefunden worden, welches das scheinbar seltsame Verhalten der Atome erklärte. Es hatte dieselbe Masse wie ein Proton und war neutral geladen. Das Teilchen bekam die Bezeichnung »Neutron«. Durch die Entdeckung des Neutrons verstand man, dass es möglich sein könnte, im Labor ein Element zu schaffen, das schwerer war als Uran. Und genau darum wetteiferten die Giganten der Physik nun. Damals konnte man nicht ahnen, dass die Entdeckung, die zum Nobelpreis führen würde, auch zur Erfindung der Kernfusion und der Atombombe führen würde.

Elise Meitner wurde in eine jüdische Familie der oberen Mittelschicht Wiens geboren. Die Familie legte auf Bildung großen Wert und der Vater, Philipp Meitner, war einer der ersten jüdischen Juristen Wiens. In der Stadt herrschte eine antisemitische Atmosphäre, doch Philipp Meitner nahm nichtsdestotrotz am gesellschaftlichen Diskurs teil.

Elise, die ihren Vornamen später zu Lise kürzte, begann im Alter von acht Jahren, selbstständig physikalische Phänomene zu studieren. Das Mädchen ging mit ihren Notizen ins Bett und verdeckte den Spalt unter ihrer Tür, damit der Schein des Kerzenlichts nicht verraten würde, dass sie sich nachts mit Mathematik beschäftigte. In ihrem Zuhause verkehrten viele Gäste, und die Kinder durften lange wach bleiben und den Gesprächen der Erwachsenen lauschen. Die Mutter, Hedwig Meitner, war eine ausgezeichnete Pianistin und brachte den Kindern Musik bei sowie den Grundsatz: Hör auf deine Eltern, aber denk selbst. Dies befolgte Lise auch später, etwa als sie im Erwachsenenalter zum Christentum übertrat. Doch zunächst konzentrierte sich das Mädchen auf spannende Experimente. Als ihre Großmutter verkündete, dass Lise am Sabbat nicht sticken dürfe, weil sonst der Himmel auf sie herabfallen würde, stellte sie die Theorie auf die Probe. Am Sabbat machte sie sich auf das Schlimmste gefasst, nahm sich ihre Stickerei und schob langsam die Nadel hindurch. Der Himmel fiel auch beim zweiten Versuch nicht herab. Lise machte sich eine Notiz: Die Theorie stellte sich als falsch heraus.

Lise musste mit vierzehn Jahren die Schule verlassen, weil ältere Mädchen in Wien nicht unterrichtet wurden. Sie nannte die folgenden acht Jahre »verlorene Jahre«, denn obwohl sie in gewissem Umfang zu Hause unterrichtet wurde, schien sie nicht voranzukommen. Als 1901 die Schulen für Mädchen geöffnet wurden, hatte Meitner es eilig. Sie wollte die Oberschule und das Gymnasium schnellstens abschließen und büffelte rund um die Uhr Mathematik, Literatur, Griechisch, Latein, Physik, Biologie und Philosophie. Sie schloss das achtjährige Curriculum in zwanzig Monaten ab, bewarb sich an der Universität und wurde als erste Studentin am Physikalischen Institut aufgenommen.

Sie war besonders begeistert vom Unterricht des berühmten Physikers Ludwig Boltzmann. Physik wurde noch lange Zeit für eine praxisnahe Wissenschaft gehalten, deren Aufgabe beispielsweise darin lag, der Rüstungsindustrie und Ingenieuren zu dienen. Doch Ludwig Boltzmann, Albert Einstein, Max Planck und bald auch Lise Meitner warfen die praktischen Anwendungen über Bord und machten sich Gedanken über Bereiche der Physik, die sich nicht mit den Sinnen erfassen ließen.

1907 promovierte Meitner in Physik und begann, sich für Radioaktivität zu interessieren. Für die jüdische Forscherin gab es jedoch keine Arbeit, weshalb sie tagsüber lehrte, um über die Runden zu kommen, und nachts forschte, bisweilen heimlich und ohne Gehalt. Damals erkannte sie, dass für sie nur eine Laufbahn als Forscherin infrage kam. Sie wollte nach Deutschland, in die Hochburg der Physik, und brachte den Mut auf, dem in Berlin arbeitenden Max Planck zu schreiben.

Planck war einer der wichtigsten Physiker des 20. Jahrhunderts, aber er weigerte sich strikt, Studentinnen aufzunehmen. Er war jedoch so beeindruckt von Lise Meitner, dass er sie als seine erste Studentin akzeptierte und sie später zu seiner Assistentin machte. In Berlin lernte Meitner auch den Chemiker Otto Hahn kennen, der sich auf radioaktive Elemente spezialisiert hatte.

Lise Meitner tat sich mit Hahn zusammen. Gemeinsam entdeckten sie zahlreiche neue Isotope, und Meitner führte zwei Studien zur Betastrahlung durch. Die Umsetzung der Studien an Emil Fischers Chemischem Institut gestaltete sich als herausfordernd, da Frauen die Arbeit im Labor verboten war. Der Laborleiter war der Meinung, dass die langen Haare von Frauen dort bei der Arbeit Feuer fangen könnten. Die Forscherin Meitner bekam einen Raum im Keller zur Verfügung gestellt, doch sie durfte das Obergeschoss nicht einmal betreten, um mit Hahn zu sprechen oder auf die Toilette zu gehen. Wenn sie im Laufe des Tages auf die Toilette wollte, musste Meitner zu einem Hotel gehen, das ein paar Häuserblocks entfernt lag.

Im Jahr 1912 wechselte die Forschungsgruppe von Hahn und Meitner ins neu gegründete Kaiser-Wilhelm-Institut im Nordwesten Berlins. Meitner bekam kein Gehalt, sondern musste als »Hahns Gast« in der von ihm geleiteten radiochemischen Abteilung arbeiten. Sie hatte weder Lust noch Zeit zum Heiraten, weshalb ihr Vater für die bescheidenen Lebenshaltungskosten aufkam. Erst als Meitner 34 Jahre alt war und ein attraktives Jobangebot aus Prag erhielt, wurde sie vom Institut bezahlt.

Während des Ersten Weltkriegs arbeitete Meitner als Röntgenschwester, und als Physikerin verstand sie auch die Funktionsweise des Röntgenapparats. Sie schuftete 20-Stunden-Schichten in einem Lazarett an der Front und schickte ihren Freunden schreckliche Berichte von verstümmelten Patienten, vor Schmerzen winselnden menschlichen Wracks und furchtbar jungen Männern, denen Gliedmaßen amputiert werden mussten. Nach dem Krieg kehrte sie in die Forschung zurück, aber die Erinnerungen verfolgten sie bis ans Ende ihres Lebens.

Lise Meitner verstand als Erste ein Phänomen, das mit der Verschiebung von Elektronen und dem Freisetzen von Energie verbunden ist. Fällt ein Elektron auf ein niedrigeres Energieniveau, wird dabei Energie freigesetzt. Manchmal geht die Energie auf ein anderes Elektron über, das aus dem Atom ausgestoßen wird. Dieser Effekt wurde nach Victor Auger benannt, der das Phänomen ein Jahr nach Meitner beobachtete.

Im Jahr 1917 gelang es Meitner und Hahn, ein Element namens Protactinium herzustellen. Sie veröffentlichten ihre Entdeckung im darauffolgenden Jahr und gaben dem Element den Namen »Proto-actinium«. Unter anderem deshalb wurde Lise Meitner Deutschlands erste Professorin für Physik und Leiterin der radiophysikalischen Abteilung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie.

Die nachfolgenden Jahre waren für Meitner die glücklichsten und produktivsten. Sie spezialisierte sich auf die Erforschung der Radioaktivität und leistete Pionierarbeit auf diesem Gebiet. Zwischen 1921 und 1938 veröffentlichte sie allein 56 wissenschaftliche Publikationen. Neben ihrer eigenen Arbeit führte sie die Kooperation mit Hahn fort.

Die Nationalsozialisten kamen unter der Führung Adolf Hitlers 1933 an die Macht. Lise Meitner leitete weiterhin die Physikabteilung des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Chemie, weil sie durch ihre österreichische Staatsbürgerschaft geschützt war. Viele andere erfolgreiche jüdische Forscherinnen und Forscher wurden ihrer Ämter enthoben und flohen ins Exil. Das Institut war keine unparteiische Trutzburg, denn auch dort wurde eifrig nationalsozialistische »Rassenlehre« und Eugenik betrieben. So untersuchte und sterilisierte man dort zum Beispiel französisch-afrikanische Kinder. Nachdem Meitner gegangen war, stand das Institut in enger Kooperation mit dem Mediziner Josef Mengele, der dem Institut Ergebnisse und Proben seiner Experimente aus dem Konzentrationslager Auschwitz schickte.

Später bereute Lise Meitner, in dem Staat geblieben zu sein, in dem Jüdinnen und Juden sowie viele andere Minderheiten ermordet und misshandelt wurden. Ihr zufolge war es ein großer Fehler, nicht nur aus praktischer, sondern auch aus moralischer Sicht. Leider habe sie das nicht verstanden, bevor sie Deutschland verlassen hatte. Sie übte auch heftige Kritik an Kolleginnen und Kollegen, die in oder für Deutschland gearbeitet haben.

Als Österreich 1938 an das Dritte Reich angegliedert wurde, verlor Meitner schließlich ihre Immunität. Hahn, der 30 Jahre lang ihr engster Kollege war, empfahl der jüdischen Forscherin, zu gehen. »Im Prinzip warf er mich raus«, schrieb Meitner in ihr Tagebuch. Ihrer Meinung nach wollte Hahn sich und sein Institut retten.

Der Aufbruch war trotzdem nicht einfach. Man wollte die Juden vernichten, ließ sie nicht gehen, und der österreichische Pass hatte seine Bedeutung verloren. Schließlich bekam Meitner bei der Flucht Unterstützung von einem Kollegen namens Dirk Coster, der auch anderen jüdischen Forscherinnen und Forschern in die Niederlande verhalf. Um kein Misstrauen zu erwecken, arbeitete Meitner bis abends um acht am Institut, eilte nach Hause, packte eine kleine Reisetasche und ging rasch zum Bahnhof. In ihrer Tasche hatte sie lediglich zehn Reichsmark und einen Diamantring, den Hahn ihr gegeben hatte, für den Fall, dass sie die Grenzwächter bestechen musste. Meitner überquerte die Grenze ohne Erlaubnis, erreichte aber schließlich die Niederlande. Und zwar im letzten Moment. Der am Institut angestellte Chemiker und Nazi Kurt Hess hatte den Behörden bereits mitgeteilt, dass seine Kollegin vermutlich plane zu fliehen.

Arbeit war in den Niederlanden nicht möglich, aber die schwedische Physikerin Eva von Bahr und der Physiker Carl Wilhelm Oseen halfen der inzwischen fast sechzig Jahre alten Lise Meitner, nach Stockholm zu gelangen. Dort wurde für sie ein Platz im Labor des Physik-Nobelpreisträgers Manne Siegbahn organisiert. Siegbahn machte kein Geheimnis aus seinem Chauvinismus und erinnerte gerne daran, dass es für Frauen keinen Platz in der Wissenschaft gäbe. Meitner bekam für ihre Arbeit nicht einmal eine ordentliche Ausrüstung.

Sie stand weiterhin in Briefkontakt mit ihren deutschen Kolleginnen und Kollegen und arbeitete heimlich mit Hahn zusammen. Die beiden durften offiziell keinen Kontakt zueinander haben, da Meitner Jüdin war, aber sie forschten weiter zu Elementen, die schwerer waren als Uran. Meitner fand heraus, dass Atomkerne zerfallen können, und erklärte Hahn das Phänomen: Der Kern eines schweren Atoms kann in zwei oder mehr kleinere Tochterkerne zerfallen. Hahn glaubte nicht, dass die Kernspaltung möglich war, bis seine Kollegin ihm verdeutlichte, wie dies geschah. Daraufhin veröffentlichte Hahn unter seinem Namen eine herausragende Studie, die auf der gemeinsamen Arbeit beruhte. Meitner war am Boden zerstört. Nun würde niemand erfahren, welchen Anteil sie an der Studie hatte. Sie lebte in einer kleinen Bude, musste sich Tag für Tag mit ihren chauvinistischen Kollegen herumschlagen und war gleichzeitig außer sich vor Sorge um ihre Kolleginnen und Kollegen, die in Deutschland und Österreich zurückgeblieben waren. Sie verkümmerte zusehends und wog nur noch 40 Kilo.

Im Jahr 1944 erhielt der Chemiker Otto Hahn den Nobelpreis für die Entdeckung der Kernspaltung, und nicht die Physikerin Lise Meitner, die das Phänomen ihrem Kollegen erklärt hatte. Gründe dafür gab es viele, und sie hängen sowohl mit der politischen Situation wie auch mit der Inkompetenz des Komitees zusammen. Die Nichtauszeichnung Lise Meitners wird für einen der größten Fehler des Nobelpreiskomitees gehalten.

Im Jahr 1942 wurde Meitner zum Manhattan-Projekt eingeladen, in dem die Vereinigten Staaten die Atombombe entwickelten und herstellten. Sie lehnte ab, denn sie hielt die Nutzung der Kernspaltung zu militärischen Zwecken für eine äußerst schlechte Idee. Drei Jahre später warfen die Vereinigen Staaten Atombomben auf Japan, und Meitner war derart entsetzt, dass sie dazu weder Interviews geben noch überhaupt Zeitung lesen wollte. Der Gedanke, dass ihre Entdeckung zu diesen Bomben geführt hatte, widerte sie an.

Meitner setzte ihr Werk in Schweden fort. Sie beendete die Arbeit in dem nach Siegbahn benannten Labor und wechselte in ein eigens für sie gegründetes Labor an der Königlichen Technischen Hochschule. 1949 wurde sie schwedische Staatsbürgerin. In hohem Alter erhielt sie mehrere Preise, allerdings nicht den Nobelpreis. Nachdem sie in Rente gegangen war, zog sie nach Großbritannien, wo viele ihrer Verwandten lebten, und hielt nebenbei Vorlesungen, soweit es ihre Arteriosklerose zuließ.

Lise Meitner starb im Alter von 89 Jahren. Auf ihrem Grabstein steht die Inschrift: »Eine Physikerin, die nie ihre Menschlichkeit verlor.« Nach Meitner wurde das Element mit der Ordnungszahl 109 benannt, Meitnerium.

Ban Zhao

 

 

Ban Zhao (geboren um 49) war eine Historikerin, die erste und berühmteste Gelehrte Chinas, kaiserliche Beraterin, Buchhalterin, Schriftstellerin, Verfasserin einer Morallehre und Sexualberaterin des kaiserlichen Hofs.

 

Eine Frau hat gebildet, anständig und zurückhaltend zu sein. Sie hat ihrem Mann zu gehorchen, der naturgemäß über der Frau steht. Trotzdem haben die Partner sich zu respektieren und einander treu zu sein, weshalb die Frau auch nach dem Tod ihres Mannes keinen anderen Mann nehmen darf. Töchter sollen unbedingt unterrichtet werden. Gegenüber den Verwandten des Mannes muss man respektvoll und hörig sein.

Die chinesische Gelehrte Ban Zhao wägt genau ab, welche Ratschläge sie anderen Chinesinnen gibt. Die am meisten geschätzte Forscherin der chinesischen Geschichte weiß, wie einflussreich sie ist, und hofft, dass ihre Landsfrauen die Ratschläge noch Jahrhunderte später befolgen werden.

Ban Zhao wurde um das Jahr 49 in der Provinz Shaanxi im Herzen Chinas geboren. Ihr Vater war der berühmte Historiker Ban Biao, ihr Bruder der Historiker Ban Gu, und in der Familie gab es noch weitere Berühmtheiten, Akademiker und Krieger. Über Zhaos Kindheit ist nur wenig bekannt. Sie heiratete als Vierzehnjährige, aber ihr Mann starb nur wenige Jahre später. Zhao hatte bereits Kinder, aber sie beschloss, nicht erneut zu heiraten und sich stattdessen auf ihre Studien zu konzentrieren.

Zhaos Vater hatte angefangen, das Han Shu, das Buch der Han, zu verfassen. Der berühmte, vom Herrscher bestellte Historiker beschreibt darin die Phasen der Han-Dynastie zwischen den Jahren 206 v.u.Z. bis 23 n.u.Z. Neben reichlich Informationen über Herrscher, Beamte und andere, die Rang und Namen hatten, beinhaltet es auch Schriften über Gesetze, Wissenschaft und Literatur.

Ban Biao starb, bevor er das Werk fertigstellen konnte. Nach dem Tod des Vaters rief man Zhaos Bruder Gu an den Hof, um die Arbeit fortzusetzen und als Historiker zu wirken. Dieser war jedoch nicht zufrieden mit der Arbeit seines Vaters und beschloss, große Änderungen an dem Text vorzunehmen bzw. zum Teil von vorne zu beginnen. Die junge Witwe Zhao zog zu ihrem Bruder und ihrer Mutter in die Hauptstadt. Ban Zhao las, studierte und forschte. Sie begann, ihrem Bruder bei der Anfertigung des Werks zu helfen, und sie arbeiteten wahrscheinlich mindestens ein Jahrzehnt miteinander.

Im Jahr 89 wurde der Thron von einem neuen, jungen Kinderkaiser bestiegen, als dessen Regentin seine Mutter fungierte, die Kaiserin Dou. Zu beiden hatte Ban Zhaos Bruder Gu enge Beziehungen. Im Jahr 92 wurde die Familie der Regentin des Landesverrats beschuldigt. Die Männer der Familie begingen Selbstmord, die Kaiserin wurde abgesetzt und ihre Vertrauten hingerichtet oder gefangen genommen. Auch Gu sollte hingerichtet werden, doch er kam zuvor in Gefangenschaft ums Leben.

Erschüttert und verbittert verließ Ban Zhao mit ihrer Familie die Hauptstadt, doch nach zwei Jahren wurde sie zurückgeholt, um das Geschichtswerk zu Ende zu bringen. Sie sammelte sich, kehrte zurück und machte sich an die Arbeit. Zhao war gebildet und effizient, und bald wurde sie zur Bibliotheksleiterin ernannt, unter der andere Forscher arbeiteten.

Am Hof unterrichtete Ban Zhao die Kaiserin, die Konkubinen und die Hofdamen in Astronomie, Mathematik, Geschichte und Literatur. Zu ihren Schülerinnen gehörte ein besonders scharfsinniges Mädchen, Deng Sui, auf das auch der Kaiser ein Auge geworfen hatte. Bald setzte der Kaiser seine Frau ab und hob stattdessen Deng als Kaiserin auf den Thron. Deng machte Ban Zhao zu ihrer Hofdame und Beraterin und gab ihr den Beinamen »Die Begabte«. Die etwa 25-jährige Deng wandte sich wiederholt an ihre Hofdame und bat sie um Ratschläge in Regierungsfragen. Ban Zhao wurde eine sehr einflussreiche Figur am Hof.

Das Buch der Han, welches eine Zeitspanne von rund 200 Jahren umfasst, wurde eines der bekanntesten Geschichtswerke der Welt und zum Vorbild aller zukünftigen kaiserlichen Geschichtswerke. Ban Zhao schrieb schätzungsweise ein Viertel davon.

Zhao verfasste auch zahlreiche andere Texte für Kunst- und Bildungszwecke. Nach ihrem Tod sammelte ihre Schwiegertochter die Schriften. Daraus entstanden 16 Bücher mit unterschiedlichen Texten, von Elegien über Abhandlungen, Essays und Gedichten bis hin zu leidenschaftlichen Diskussionsbeiträgen. Ihr bekanntestes Werk »Gebote für Frauen« bestimmte über Jahrhunderte das Verhalten der tugendhaften Chinesin. Zhao zählt darin auf, welche Tugenden, Verhaltensweisen, Gebärden, Gesten und Betonungen für eine Frau angemessen seien. Es handelt sich insgesamt um eine Mischung aus konservativen und radikalen Gedanken. Das Buch wurde damals zu einem enorm einflussreichen Werk in China und blieb es noch lange Zeit. Es ist unklar, ob Ban Zhao wirklich davon überzeugt war, dass eine Frau sich stets unterwerfen, ihrem Mann unermüdlich dienen und hingebungsvoll nähen muss, oder ob sie einfach Ratschläge gab, wie eine Frau durch eine von Männern beherrschte Welt hindurchnavigieren und Skandale vermeiden konnte. Sie selbst hielt sich jedenfalls nicht an ihre eigenen Ratschläge.

Ban Zhao beriet die Kaiserfamilie auch in daoistischen Sexualpraktiken. Nach dem Prinzip von Yin und Yang werden beim Sex die individuellen Energien des Paares gestärkt, was mit einer höheren Lebenserwartung einhergeht, die Gesundheit fördert und in Verbindung mit anderen Übungen unsterblich macht.

Zum Dank für Ban Zhaos Dienste wurde ihr Sohn in der Stadt Chenliu zum Beamten ernannt. Ban begleitete ihn und beschrieb diese Erfahrung in einem bis heute erhaltenen Buch mit dem Titel Dong Zheng Fu (»Prosagedicht über eine Reise nach Osten«). Nach ihrem Tod wurde Ban Zhao offiziell von der Kaiserin betrauert – eine große Ehre für eine »gewöhnliche Frau«.

Mary Anning

 

Mary Anning (geboren 1799) war eine britische Fossilienjägerin, Paläontologin und autodidaktische Wissenschaftlerin, deren Funde das Verständnis der Vorgeschichte verändert haben. Sie lebte in Armut, während reiche Kollegen ihre Arbeit stahlen.

 

 

Verwandte und Bekannte waren sich sicher, dass Mary Anning durch einen Blitzschlag und eine Wunderheilung gesund und intelligent geworden war. Zumindest war es eine sonderbare Abfolge von Ereignissen. Mary Anning kam 1799 zur Welt als Tochter eines Zimmermanns, Richard Anning, und dessen Frau, die ebenfalls Mary hieß. Von den zehn Kindern des Paars blieben nur Mary und ihr Bruder Joseph am Leben. Die Kleine war schwer krank und ihr Allgemeinzustand schlecht. Als Mary 15 Monate alt war, überlebte sie nur knapp. Sie war in der Obhut einer Dame aus der Nachbarschaft und schaute sich mit drei Erwachsenen eine Reitvorstellung an. Plötzlich zog am Himmel ein Gewitter auf, und bevor die Gruppe Schutz finden konnte, schlug ein Blitz in dem Baum ein, unter dem sie saßen. Die drei Erwachsenen starben, lediglich Mary überlebte. Die Familie war sich sicher, dass ihre Krankheit an genau diesem Punkt ein Ende nahm und der Vorfall die geistigen Talente des Mädchens zum Strahlen brachte.

Die Familie lebte unter einfachsten Bedingungen in der Grafschaft Dorset am Ufer des Ärmelkanals, wo es große Mengen Fossilien gab. Der Strand war zu einem beliebten Ziel für Touristen geworden, und um sich etwas dazuzuverdienen, sammelte die Familie Fossilien, die sie an wohlhabende Reisende verkaufte. Mary ging nicht zur Schule, weil neben der Arbeit keine Zeit dafür blieb, aber sie lernte in der Sonntagsschule lesen und schreiben.

Als Mary elf Jahre alt war, starb ihr Vater. Dies stürzte sie, ihre Mutter und ihren Bruder in noch ärmlichere Verhältnisse. Die Familie war auf Armenfürsorge angewiesen, und die Kinder mussten noch eifriger schuften, damit sie genug zu essen hatten. Bald machte die zwölfjährige Mary gemeinsam mit ihrem Bruder ihren ersten bemerkenswerten Fund. Es handelte sich um einen Ichthyosaurus, ein delphinartiges Reptil, das vor 210 Millionen Jahren gelebt hat. Joseph entdeckte den Schädel, und Mary legte den Rest frei.

Soeben war im 18. Jahrhundert eine neue Wissenschaft entstanden: die Paläontologie, also die Wissenschaft, die sich mit Fossilien beschäftigt. Fossilien waren natürlich schon immer gefunden worden, aber man hatte sie bisweilen für Überreste neuerer Tiere gehalten, bisweilen für Relikte mythischer Wesen wie beispielsweise Drachen. Im 18. Jahrhundert begannen Forscher, die Steinformationen zu definieren und zu kartieren, und Fossilien zu kategorisieren. Die Fossilienfunde und der Gedanke, dass diese Millionen von Jahren alt sein könnten, sorgten für Aufsehen und sogar für Ärger. Der Großteil der Menschen glaubte, Gott hätte die Welt vor mehreren Tausend Jahren erschaffen und alle Arten hätten damals bereits in ihrer jetzigen Form existiert. Charles Darwin hatte seine Evolutionstheorie noch nicht vorgelegt. Die Menschen wussten nicht, was sie von den Fossilien halten sollten. Manche beschuldigten die Fossiliensammler der Gotteslästerung.

Die Untersuchungen und Funde wurden in erster Linie von reichen, vornehmen Männern gemacht. Man konnte sich nicht zum Paläontologen ausbilden lassen, stattdessen wurde Paläontologie von enthusiastischen Amateuren betrieben. Die Sammler verkehrten oft in Orten wie Dorset. Sie bezahlten Mittellose, um nach Fossilien zu suchen, oder kauften ihnen bereits gefundene ab und gaben sie als ihre eigenen Funde aus. Beispielsweise verfasste ein Chirurg und Paläontologe namens Everard Home eine Studie über den Ichthyosaurier, den Mary und Joseph gefunden hatten, erklärte aber nirgends, dass es sich um eine Entdeckung der Geschwister handelte.

Nicht alle Sammler versuchten die Annings nur auszunutzen. Die Familie bekam auch Unterstützung. Im Jahr 1820 war die Not groß. Die Annings hatten bereits ein Jahr lang keinen nennenswerten Fund gemacht, und sie verkauften ihre Möbel, um an Essen zu kommen. Der wohlhabende Sammler Thomas James Birch, der von den Annings zahlreiche Funde erworben hatte, verkaufte seine Sammlung und schenkte der Familie den Erlös daraus.

Beim Großteil der von Mary Anning gefundenen Fossilien handelte es sich um Weichtiere wie Ammoniten und Belemniten, aber sie machte auch einige große, bemerkenswerte Entdeckungen, die die gesamte Paläontologie revolutionierten. Im Jahr 1823 fand sie als erste das vollständige Skelett eines Plesiosaurus, auch bekannt als Schwanenechse. Dieser Fund war so unfassbar, dass Forscher nicht an dessen Echtheit glaubten. Viele nahmen an, es handele sich um eine überzeugende Fälschung. Im Jahr 1828 fand Anning den ersten Flugsaurier Britanniens und 1829 einen zu den Holocephali gehörenden Knorpelfisch.

Die Suche nach Fossilien lohnte sich besonders im Winter. Dann brachten Erdrutsche neue Fossilien zum Vorschein, die rasch aufgelesen werden mussten, bevor sie im Meer versanken. Die Arbeit war schwer und gefährlich. Im Jahr 1833 starb Anning fast bei einem Erdrutsch, der ihren geliebten Hund Tray tötete. (Der Hund ist auf dem einzigen von Anning erhaltenen Gemälde abgebildet.)

Neben den Ausgrabungen reinigte, katalogisierte, studierte und verkaufte Anning Fossilien. Sie bildete sich weiter, las Forschungsliteratur, machte eigene Untersuchungen und lernte Französisch, um über die Entwicklung des Fachs auf dem Laufenden zu bleiben. Sie stand in Korrespondenz mit anderen Paläontologen, verließ ihren Heimatort aber nur ein einziges Mal, um nach London zu reisen.

Später wurde Mary Anning auch die Anerkennung anderer Paläontologen zuteil. Als Frau konnte sie jedoch keine Studien veröffentlichen. Männer kooperierten natürlich gerne mit ihr, wenn es um die Bestimmung von Arten und andere Untersuchungen ging, aber Annings Name blieb weiterhin unerwähnt. Die Geological Society of London diskutierte über die Funde und Arbeiten der Fossilienjägerin, aber aufgrund ihres Geschlechts durfte sie nicht an den Treffen teilnehmen.

Mary Anning starb 1847 im Alter von 47 Jahren an Brustkrebs. Ihre Bedeutung für die Wissenschaft findet langsam Anerkennung. Reptilien- und Weichtierarten sind nach ihr benannt, ebenso ein Flügel des Naturhistorischen Museums in London. In dem Film Ammonite (2020) wird sie von Kate Winslet gespielt.

Hypatia von Alexandria

 

 

Hypatia von Alexandria (geboren um 355) war die bemerkenswerteste Philosophin ihrer Zeit, die erste namentlich bekannte Mathematikerin, Astronomin und Lehrerin, die liebestolle Männer mit blutigen Menstruationstüchern verscheuchte und brutal von Christen ermordet wurde.

 

Hypatia wurde als einzige Tochter des Mathematikers und Philosophen Theon von Alexandria geboren. Ihr Vater leitete das Museion, eine Wissenschafts- und Kultureinrichtung, zu der unter anderem die Bibliothek von Alexandria gehörte. Alexandria gehörte wiederum zum Römischen Reich, als Hypatia zur Welt kam. Anfangs wurde Hypatia von ihrem ehrgeizigen und für seine Gelehrtheit bekannten Vater unterrichtet, doch bald hatte das Mädchen alles gelernt, was der Vater ihr beizubringen hatte. Um sich weiterzubilden, ging sie nach Athen, wo sie sich das neoplatonische Denken aneignete.

Nachdem Hypatia wieder nach Alexandria zurückgekehrt war, begann sie zu forschen und zu lehren. Sie hielt bei sich zu Hause und in der Öffentlichkeit Vorlesungen, was für eine Frau sehr unüblich war. Sie erhielt einen Lehrstuhl am Museion und wurde mit dreißig Jahren Leiterin der platonischen Schule Alexandrias. Hypatia war die erste Frau, die öffentliche Vorlesungen über Platon, Aristoteles und andere Philosophen hielt. Die Vorträge waren ausgesprochen beliebt. Als Zuhörer und Schüler kamen wohlhabende und einflussreiche Personen und der Nachwuchs mächtiger Familien aus verschiedenen Teilen der bekannten Welt: Ägypten, Syrien, Konstantinopel und Kyrene. Hypatias Schüler waren für die höchsten Positionen der Gesellschaft vorgesehen, und sie sollten eine angemessene Ausbildung erhalten.

Hypatia war auch Astronomin und Mathematikerin. Sie verfasste einen 13-teiligen Kommentar zu Diophantos’ Arithmetica, Kommentare zur Konika des Apollonios von Perge sowie zum Astronomischen Kanon, einer Edition des Almagest, bei dem es sich um eines der bemerkenswertesten Bücher der Astronomie handelt. Hypatia entwickelte die Konzepte von Hyperbeln, Parabeln und Ellipsen weiter. Sie konstruierte Astrolabien, Geräte, die für astronomische Beobachtungen verwendet werden, und Aräometer, die genutzt werden, um das spezifische Gewicht von Flüssigkeiten zu ermitteln.

Hypatia war bekanntermaßen nicht gläubig, und als Neoplatonikerin stand sie den Lehren des Christentums (und allen anderen Lehrsystemen) kritisch gegenüber. Sie protestierte jedoch nicht gegen den christlichen Glauben, und so gehörten auch Bischöfe zu ihren Schülern. Zeitgenossen zufolge war Hypatia intelligent, wortgewandt und besonnen. Sie beteiligte sich auch an der Politik und fungierte als Beraterin vieler hochrangiger Beamter.

Die außergewöhnliche Frau hatte viele Gegner wie auch Bewunderer. Dem Philosophen Damaskios zufolge wusste sich die schöne Philosophin bei Bedarf jedoch abzugrenzen. Als sich ein Schüler in sie verliebte, »sammelte sie die Lappen, die sie während ihrer Periode verwendet hatte, und zeigte sie dem Schüler mit den Worten: ›In das hier hast du dich verliebt, junger Mann!‹ Der Schüler war derart beschämt und irritiert, dass er eine Veränderung in seinem Herzen spürte und als besserer Mensch davonging.«

Alexandria war Anfang des 5. Jahrhunderts ein unruhiger Ort. Die Beziehungen zwischen Juden, Christen und Heiden verschärften sich mit jedem Monat. Die Christen hatten begonnen, die Verehrer der römischen Götter so zu verfolgen, wie sie selbst einst verfolgt worden waren. Viele christliche Anführer verstanden nichts von Mathematik und hielten sie für Blasphemie und Hexerei, ebenso wie Astrologie und Horoskope. Hypatia war als Frau und öffentliche Lehrerin ohnehin schon verdächtig, und Mathematik wie Philosophie verstärkten lediglich ihre Bedrohlickeit.

Die Situation spitzte sich im Jahr 414 zu, als der neue Präfekt Orestes, Hypatias Freund, seine Macht nicht stabilisieren konnte. Die Wahl des Patriarchen gewann Kyrillos, der Orestes missfiel. Im März 415 versammelten sich die Unterstützer von Kyrillos vor dem Museion, angeführt von einem Agitator, der als Lektor Petros bekannt war. Nach dem Ende von Hypatias Vorlesung stürzte sich die Gruppe auf sie und schleifte sie in die Kirche Kaisarion, offenbar mit dem Ziel, sie dazu zu zwingen, zum christlichen Glauben zu konvertieren.