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"Seit zwei Jahren geht es mir fast durchgehend schlecht und ich habe niemandem davon erzählt. Ausser dir. Du bist der einzige, der davon wissen könnte. Du bist der einzige Mensch, vor dem ich mich nicht schäme. Es ist echt eine Schande, dass ich es nur schaffe, vor einem fremden Menschen komplett offen zu sein und über meine Probleme zu sprechen. Aber ich kann es einfach nicht. Ich kann das nicht." Kayla ist sechzehn Jahre alt und wird von ihren Mitschülern ausgegrenzt, worunter sie sehr leidet. Doch der einzige, dem sie sich anvertraut, ist ihr Idol. Wird er ihr helfen können?
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Seitenzahl: 204
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Ah, er sieht wieder einmal gut aus. Fast zu gut könnte man sagen. So ist er halt einfach, mein Luke. Naja, eigentlich ist es nicht mein Luke, denn er ist ein Rockstar. Genau genommen ist er der Leadsänger einer Rockband aus Australien. Und er heisst auch nicht einfach nur Luke, denn er hat auch noch einen Nachnamen. Aber ich mag Nachnamen nicht. Sie verbinden dich mit einem Haufen Leute, die sich einen Scheissdreck um dich kümmern, nicht nett sind und gar nicht wirklich etwas mit dir zu tun haben. Sie sind halt einfach da.
Und genau deshalb ist er für mich einfach nur Luke. Mein Luke.
Schon seit geschlagenen drei Stunden sitze ich in meinem Bett, den Laptop auf meinem Schoss und klicke mich durch die neusten Bilder von ihm, während ich innerlich ins Schwärmen gerate. Dabei fällt mir jedes kleine Detail an ihm auf. Zum Beispiel das winzige Loch in seinem weissen Tank Top, welches er auf dem dritten Bild trägt oder seine Haare, die er wohl mit einem anderen Produkt gestylt haben muss. Trotzdem sieht er für mich auf jedem Bild gut aus. Richtig gut.
Als mein Blick ein weiteres Mal auf die Uhr fällt, erinnere ich mich wieder, dass morgen die Schule wieder beginnt. Leider. Ich hasse die Schule. Nicht wegen dem Lernen, den Lehrern und den ganzen Hausaufgaben, sondern wegen den andern. Den Schülern halt. Aber das weiss niemand. Und es soll auch niemand erfahren.
Eigentlich sollte ich mich langsam fertig machen und ins Bett gehen. Aber ich kann nicht. Besser gesagt, ich will nicht! Wenn ich mich jetzt bereit machen würde, wäre der erste Schultag nach den Frühlingsferien näher. Also nicht wirklich, sondern nur gefühlt näher. Und genau das ist es, was ich auf alle Fälle herauszögern will.
Warum konnten die Ferien nicht länger dauern? Von mir aus hätten sie auch nie aufhören müssen. Das einzig Gute am Alltag ist, dass ich endlich wieder einmal aufstehe und etwas anderes tue, als den ganzen Tag mit dem Laptop im Bett zu sitzen und im Internet zu surfen. Denn genau das habe ich die letzten zwei Wochen gemacht. Na gut, zwischendurch habe ich mir auch mal einen Film angesehen. Aber trotzdem war mein Leben ziemlich eintönig.
Diese Gedanken stimmen mich traurig. Deshalb wende ich mich schnell wieder meinem Laptop zu und betrachte ein weiteres Duzend neue Fotos von Luke.
Es ist kurz vor zwölf, als ich endlich meinen Laptop ausschalte und mich ins Bad begebe. Weil es schon so spät ist, entscheide ich mich dazu, erst am Morgen zu duschen. Deshalb wasche ich mich nur und putze mir gründlich die Zähne, bevor ich in meinen hellblauen Pyjama schlüpfe. Anschliessend packe ich meinen Rucksack und lege mich endlich ins Bett. Wie bereits erwartet, kann ich lange nicht einschlafen, bis ich dann von einem Albtraum in den Nächsten rutsche.
Kaum bin ich von der Schule nach Hause gekommen, gehe ich wortlos in mein Zimmer und setze mich auf mein Bett. Eigentlich würde ich jetzt still vor mich hin weinen und hoffen, dass mich niemand hört. Aber heute ist irgendetwas anders.
Denn ich schnappe mir meinen Laptop und starte ihn auf. Anstatt wie sonst mein Twitter-Profil zu öffnen, gehe ich heute gleich auf meinen Email-Account und schreibe seine Email-Adresse ins leere Format.
Woher ich sie weiss? Ich habe schon vor langer Zeit recherchiert und wollte ihm eine Email schicken. Aber ich bin nicht dazu gekommen. Besser gesagt hatte ich ein kleines bisschen Bammel davor. Ausserdem ist es mir bewusst, dass er meine Email sowieso nie lesen würde.
Aber heute traue ich mich. Bevor ich noch lange darüber nachdenken kann, beginne ich schon zu schreiben.
Hi Luke,
Heute Morgen bin ich natürlich wie man es erwartet hat, zu spät aufgestanden und ich musste mich richtig beeilen. Zum Glück hatte ich noch genug Zeit, um mich zu duschen. Wäre ich mit fettigen Haaren in die Schule gegangen, hätte alles noch tausend Mal schlimmer geendet.
Jedenfalls hatte ich keine Zeit mehr, zu frühstücken und ich habe irgendeine Jeans und einen Pulli angezogen. Danach musste ich zum Bus rennen und hatte zum Glück keine Zeit mehr, mir irgendwelche Gedanken zu machen oder mir auszumalen, wie der heutige Tag verlaufen könnte. Während ich also zur Bushaltestelle gerannt bin, habe ich deine Stimme in meinen Ohren gehört. Dass soll jetzt nicht wie ein Psychopath rüberkommen, denn das bin ich nicht. Glaube ich zumindest. Was ich mit der Stimme gemeint habe, sind deine Lieder. Sie geben mir Kraft, wenn ich sie brauche und sie bauen mich auf, wenn es mir schlecht geht. Oder sie lassen mich all die schlimmen Dinge in meinem Leben vergessen. Letzteres trifft auf heute Morgen zu.
Bei der Bushaltestelle hat leider alles schon begonnen. Ich bin total ausser Puste und mit rotem Kopf angelangt. Zum Glück hatte der Bus Verspätung, sodass ich ihn noch erwischt habe. Doch mir war die ganze Busfahrt total unangenehm. Schon bei der Bushaltestelle haben mich zwei Mädchen in meinem Alter total doof gemustert, offensichtlich über mich gelästert und gelacht. Du weisst gar nicht, wie sich das angefühlt hat. Ich wusste überhaupt nicht, wo ich hingucken sollte. Das war ein so demütigender Moment. Am liebsten wäre ich einfach weggerannt. Weit, weit weg. Und am liebsten wäre ich nie wieder zurückgekommen. Der Schmerz, der sich in meiner Brust ganz langsam, Zentimeter um Zentimeter, ausgebreitet hat, war fast unerträglich.
Gerade als ich wieder gehen wollte und den Tag krank machen wollte, fuhr der Bus heran und ich habe mich gezwungen, einzusteigen, ohne mich umzusehen. Denn es war klar, dass ich das eine oder andere bekannte Gesicht sehen würde. Bekannte Gesichter, die ich am liebsten nie wieder sehen will.
Im Bus konnte ich noch einen freien Doppelsitz ergattern. Ich habe mich gleich hingesetzt, die Musik etwas lauter gestellt und tief durchgeatmet, während ich aus dem Fenster geschaut habe. Die Busfahrt dauert eigentlich nur zehn Minuten, trotzdem kam es mir wie eine Ewigkeit vor. Bei jeder Haltestelle stiegen immer mehr Leute ein und ich habe nur darauf gewartet, bis sich endlich jemand auf den leeren Platz setzen würde. Aber der Platz blieb auf der ganzen Fahrt leer. Obwohl viele Schüler dicht aneinander gedrängt im Gang standen, setzte sich niemand auf den einzigen leeren Platz. Neben mir.
Obwohl ich versucht habe, mir einzureden, dass es nicht weiter schlimm ist, spürte ich diesen Schmerz von vorher wieder. Diese Demütigung. Ich musste mich richtig zusammenreissen, um nicht loszuheulen.
Fakt ist: Schon der Weg zur Schule war die reinste Demütigung für mich, obwohl ich mit niemandem gesprochen habe.
Das Aussteigen finde ich aber immer noch am schlimmsten. Ich weiss, normale Menschen sollten kein Problem haben, in den Bus ein- beziehungsweise auszusteigen. Ich schon. Ich hasse es, wenn ich dicht an anderen Menschen vorbeilaufen muss, wenn mich andere Menschen berühren oder auch nur ansehen. Deshalb warte ich immer, bis alle ausgestiegen sind.
Das habe ich auch heute Morgen gemacht. Als alle draussen waren, habe ich tief Luft geholt, meinen Rucksack gepackt und bin endlich ausgestiegen. Hinter all den anderen Schülern habe ich mich dann ins Schulhaus geschleppt.
Luke, ich bin mir sicher, dass du nie das Gefühl hattest, ausgeschlossen zu sein und einfach nicht dazu zu gehören. Und das, obwohl du nichts gemacht hast. Wirklich – nichts! Du warst bestimmt einer der Schüler, die sich nie Gedanken machen mussten, neben wen sie sich am besten hinsetzen sollten – du warst bestimmt bei jedem willkommen.
Ich vermisse dieses Gefühl. Das Gefühl der Zugehörigkeit. Es gibt nichts Schlimmeres, wenn du ein Klassenzimmer betrittst, von niemandem beachtet wirst und nicht weisst, wohin du dich setzen sollst, weil du nur das Gefühl hast, zu stören – egal wohin du dich setzen würdest.
So ging es mir heute, als ich das Mathezimmer betrat. Normalerweise schauen alle Schüler, die bereits auf ihren Plätzen sitzen, kurz auf und begrüssen die Person. Aber es war ja klar, dass niemand aufgeschaut hat, als ich ins Zimmer gekommen bin. In solchen Momenten fühle ich mich ganz klein. Richtig schwach. Weil schon in jeder Reihe jemand sass, musste ich mich entscheiden, wen ich heute belästigen will. Nach langem Überlegen setzte ich mich zu Lilly in die zweite Reihe.
Ich schlich schon fast zum Platz und habe mich vorsichtig hingesetzt und gleich mein Matheheft und das Etui auf das Pult gelegt. Lilly hat dabei kurz aufgesehen und mich mit einem bösen Blick angeschaut. Das ist so ein Moment, in dem ich am liebsten heulen würde. Oder ich würde gerne aufwachen und feststellen, dass es ein Traum ist. Aber das hier ist die Realität. Die knallharte Realität. Und in dieser Realität gehöre ich nicht dazu.
Du musst wissen, eigentlich bin ich eine gute Schülerin, aber seit ein paar Monaten kann ich mich einfach nicht mehr auf den Unterricht konzentrieren. Ständig frage ich mich, was ich falsch gemacht habe. Warum genau ich diejenige sein muss, die nicht dazu gehört. Und manchmal frage ich mich, ob das irgendwann wieder aufhören wird. Aber das tut es nicht. Glaube ich zumindest.
Im Internet liest man doch immer von diesen Aussenseitern, die entweder richtige Streber sind und die Schule ihr ganzer Lebensinhalt ist oder dann sind sie mollig, haben eine Brille oder eine Zahnspange. Auf mich trifft nichts von dem zu.
Da stellt sich mir die Frage, warum ich da durch muss. Was habe ich getan, dass Gott mich so bestrafen will?
Ich weiss, du kannst es mir auch nicht beantworten, aber es tut gut, sich all das von der Seele schreiben zu können. Wenn auch mit dem Wissen, dass du diese Email niemals lesen wirst.
Zurück zur Mathestunde, die ich heute hatte. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie langsam die Zeit vergeht, wenn man weiss, dass man an diesem Ort unerwünscht ist. Die Minuten kamen mir vor wie Stunden. Ich habe bestimmt dreissig Mal auf die Uhr geguckt. Und am Ende der Lektion war mein Blatt noch schneeweiss. Ich hatte Glück, dass mich der Lehrer nicht aufgerufen hat oder sonst irgendeine Bemerkung gemacht hat.
Der restliche Morgen verlief ähnlich wie die Mathestunde. Ich konnte mich nicht konzentrieren, ich musste mich jede Stunde wieder neu entscheiden, welchen Mitschüler ich mit meiner blossen Anwesenheit nerven soll und ich habe jede Minute gewünscht, dass ich wo anders wäre.
Aber jetzt kommt es! Der Morgen war nichts im Gegensatz zum Mittagessen. Wie fast jeden Tag habe ich meine Plastikbox mit meinem Essen genommen und habe mich in den Raum mit den ganzen Mikrowellen begeben. Wie ich das hasse! Es hat so viele Leute. Und ich hatte das Gefühl, dass mich jeder von ihnen abwertend gemustert hat. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie schlimm diese fünf Minuten jeweils sind. Auf jeden Fall ging ich dann mit meinem Essen zu den Tischen, wo sich meine Klasse immer versammelt um zu essen. Da der eine Tisch schon ziemlich voll war, habe ich mich an den nächsten freien Tisch gesetzt und darauf gehofft, dass sich die noch kommenden Mitschüler zu mir setzen würden. Davon bin ich jedenfalls stark ausgegangen. Was dann passiert ist – ich kann es kaum in Worte fassen. Leon, Lilly und Dora kamen mit ihrem Essen zu den Tischen. Ohne mich auch nur anzuschauen, haben sie sich an den bereits vollen Tisch gequetscht, obwohl sie sich auch zu mir setzen konnten. Das bedeutete, dass ich ganz alleine essen musste. Und die ganze Schule konnte mich sehen. Alle sahen, dass ich alleine sass. Ich will mir gar nicht vorstellen, was sie wohl über mich dachten.
Noch vor ein paar Jahren hätte ich eine Person, die ganz alleine ass, verurteilt. Ich hätte gegrinst und vielleicht sogar mit einer Freundin ein bisschen gelästert. Ich hätte mich überlegen gefühlt.
Jetzt hätte ich Mitleid mit dieser Person.
Jedenfalls habe ich ganz schnell gegessen, habe es vermieden, aufzusehen und habe mich wie immer ganz klein gefühlt. Ich wusste ganz genau, dass meine Klasse, die keine zwei Meter von mir entfernt war, über mich gelästert hat. Ich musste es nicht einmal hören, ich konnte es einfach spüren. Was habe ich ihnen getan, dass sie mich so behandeln? Diese Dinge trieben mir die Tränen in die Augen. Deshalb musste ich mich ziemlich zusammenreissen, um nicht auch noch zu weinen. Das wäre dann wirklich zu viel gewesen!
Als ich aufgegessen habe – beziehungsweise nichts mehr runterwürgen konnte – habe ich auf der Stelle meine Dinge gepackt und bin geflüchtet. Ich bin wortwörtlich geflüchtet. Ich wollte weg von meiner Klasse, weg von all den anderen Schülern und einfach nur in meine Welt. An den Ort, wo alles perfekt ist. Ja, das klingt wieder so, als wäre ich verrückt. Aber über die ganze Zeit, in der ich niemanden hatte, um Dinge zu unternehmen oder einfach Dinge zu bereden, habe ich meine eigene Welt erfunden. Einen Ort, an dem ich Freunde habe. Ein Ort, an dem ich akzeptiert werde. Ein Ort, wo ich so sein kann, wie ich bin.
Also bin ich kurz zu meinem Spind gegangen, habe meine Schulbücher geholt und dann ging ich zum Schulzimmer, wo wir danach Englisch hatten. Da habe ich mich hingesetzt, die Kopfhörer aufgesetzt und ganz laut Musik gehört. Wieder einmal deine Musik. So kann ich ganz gut abschalten und in meine Welt abtauchen. Ich habe mir vorgestellt, dass ich mit meiner besten Freundin draussen unter einem Baum sitze, die Mittagspause geniesse und Schokolade esse. Dinge, die man mit seiner besten Freundin eben tut.
Ich sass bestimmt fast dreissig Minuten einfach da, hatte die Augen geschlossen und vor mich hin geträumt.
Der Nachmittag verlief ähnlich wie der Morgen. Ich habe mit niemandem gesprochen, ich musste mich wieder ein paar Mal entscheiden, neben wem ich sitzen sollte und ich konnte mich nach wie vor nicht konzentrieren. Und jetzt sitze ich eben hier und schreibe dir. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie gut es sich anfühlt. Endlich fühle ich mich ein Stück freier. Auch wenn du diese Worte niemals lesen wirst. Du hilfst mir mehr, als du denkst!
Kayla
Puh, es hat mich ziemlich viel Mut gekostet, diese Worte aufzuschreiben. Bis jetzt habe ich mit niemandem darüber gesprochen. Niemand weiss davon. Niemand weiss, wie sehr ich leide. Und jetzt sollte es ausgerechnet Luke als Erster erfahren. Er wird es zwar niemals lesen, aber er könnte es lesen und das zählt auch.
Nach einigen Minuten überwinde ich mich endlich dazu, die Email endgültig abzuschicken. Danach klappe ich meinen Laptop zu und stehe auf. Es macht mich richtig nervös, dass nun endlich jemand wissen könnte, was mit mir los ist. Aber es fühlt sich auf keinen Fall schlecht an. Nur ungewohnt eben.
Um mich ein wenig abzulenken gehe ich ins Bad, um zu duschen. Duschen ist immer eine gute Lösung. Auch Luke hat einmal in einem Interview gesagt, dass man am besten duschen soll, wenn sonst alles schief läuft. Das sollte auf jeden Fall helfen.
Nach einer ausgiebigen Dusche gehe ich zurück ins Zimmer und ziehe eine Jogginghose und einen Pulli an. Ich weiss, dass es bereits Frühling ist, aber ich mag es eben bequem und kuschelig. So begebe ich mich in mein Bett, wo ich meine Hausaufgaben mehr schlecht als recht erledige. Ich habe heute einfach nicht die Geduld, alles genau durchzulesen und viel zu überlegen. Trotzdem – gemacht ist gemacht.
Meiner Mutter sage ich, dass ich keinen Hunger hätte - wieder einmal. In letzter Zeit habe ich öfter einmal das Abendessen ausfallen lassen. Ich hatte einfach keinen Hunger und ausserdem habe ich dadurch bestimmt ein oder zwei Kilos verloren, was nie schaden kann. Denn ich habe mir ernsthaft Gedanken darüber gemacht, ob ich nicht akzeptiert werde, weil ich zu viel wiege. Eigentlich dachte ich immer, dass ich total normal, wenn nicht sogar schlank wäre. Aber vielleicht habe ich mich geirrt. Da kann abnehmen nie schaden.
Obwohl es draussen noch hell ist, lege ich mich in mein Bett und surfe ein bisschen im Internet. Ich bin kurz auf Twitter unterwegs, wo ich die neusten Neuigkeiten von Luke erfahre und auf Instagram kann ich die neusten Fotos von ihm bestaunen.
Es ist erst neun Uhr, als ich in einen unruhigen, durch Albträume geprägten Schlaf falle.
Es ist sechs Uhr morgens, als mein Wecker klingelt und mich aus dem Schlaf reisst. Ich habe kaum geschlafen, ich habe mich mehr von einer Seite auf die andere gewälzt und konnte mich einfach nicht entspannen. Deshalb fühle ich mich, wie jeden Morgen, als wäre ich von einem Güterzug überrollt worden.
Widerwillig mache ich mich bereit, um in die Schule zu gehen. Manchmal frage ich mich, warum ich überhaupt in die Schule gehe. Ich kann mich nicht konzentrieren und dadurch fällt es mir sehr schwer, den ganzen Stoff zu verstehen. In solchen Momenten stelle ich mir vor, wie es wohl wäre, wenn ich einfach in einen Zug steigen würde und weg fahren würde. Jeden Tag wird dieses Bedürfnis stärker. Das einzige, was mir noch ein kleines bisschen Hoffnung gibt, ist meine Zukunft. Wenn ich meinen Abschluss habe, kann ich endlich weg und mein Leben endlich so leben, wie ich es will. Ich kann dann endlich glücklich sein.
Auch dieser Tag in der Schule verläuft kein bisschen besser. Ausserdem habe ich ständig das starke Bedürfnis, Luke eine zweite Email zu schreiben und ihm meine Situation zu erklären. Vielleicht hat er die erste Email ja gelesen und vielleicht hat er auch geantwortet. Ich rede mir zwar ein, dass das nicht der Fall ist, aber eine kleine Stimme in meinem Kopf hat die Hoffnung nicht aufgegeben.
Wie auch am Tag zuvor begebe ich mich nach der Schule gleich in mein Zimmer und starte meinen Laptop auf, wo ich schon wieder seine Email-Adresse eingebe. Dann kann ich mich nicht mehr zurückhalten und ich schreibe einfach darauf los.
Hi Luke,
Nur im Fall, dass du meine Email von gestern gelesen hast, wollte ich mich kurz vorstellen. Das habe ich gestern total vergessen, ich habe einfach darauf los geschrieben. Es tut mir leid, falls ich dich damit komplett überfallen habe. Jetzt kommt also diese klischeehafte Vorstellungsrunde.
Ich heisse Kayla und bin sechzehn Jahre alt. Seit meiner Geburt wohne ich in einer winzigen Stadt in der winzigen Schweiz. Ich nehme an, dir ist dieses Land bekannt vor allem wegen der ganzen Schokolade. Ausserdem hast du mit deiner Band bereits ein Konzert in der Schweiz gegeben. Wahrscheinlich kannst du dich nicht mehr daran erinnern. Ich war jedenfalls da und es war einer der besten Tage meines Lebens. Einer der wenigen guten Tage, die ich in den letzten zwei Jahren erlebt habe.
Seit zwei Jahren geht es mir fast durchgehend schlecht und ich habe niemandem davon erzählt. Ausser dir. Du bist der Einzige, der davon wissen könnte. Du bist der einzige Mensch, vor dem ich mich nicht schäme. Es ist echt eine Schande, dass ich es nur schaffe, vor einem fremden Menschen komplett offen zu sein und über meine Probleme zu sprechen. Aber ich kann es einfach nicht. Ich kann das nicht.
Deshalb trage ich seit fast zwei Jahren dieses Geheimnis mit mir rum. Diese zwei Jahre waren einfach nur schlimm. Auf der Grundschule war alles super. Ich war ein wenig schüchtern, aber normal. Ich hatte Freunde und meine Klassenkameraden haben mich beachtet und mich nicht ignoriert. Alles war super, bis ich vor zwei Jahren auf das Gymnasium gekommen bin. Eigentlich habe ich mich riesig darauf gefreut, denn ich wurde in dieselbe Klasse eingeteilt, wie Natascha und Lilly, zwei gute Freundinnen. Es sah auch so aus, als würden sie sich freuen, mit mir in eine Klasse zu gehen und es war alles toll. Für ein paar Wochen jedenfalls. Doch an einem Tag kam plötzlich Natascha auf mich zu und sagte mir ins Gesicht, dass ich nervig sei und dass sie nichts mit mir zu tun haben will, weil ich angeblich alles meiner Mutter erzählen würde. Keine Ahnung, wie sie darauf gekommen ist, aber es stimmte nicht. Ich hatte zwar ein gutes Verhältnis zu meiner Mutter und habe ihr jeden Tag erzählt, was in der Schule passiert ist, aber lange nicht alles. Das ist doch nicht schlimm, oder? Nur weil es andere Jugendliche gibt, die rebellieren und die Grenzen austesten, heisst das doch nicht, dass ich meiner Mutter nicht von meinem Tag erzählen darf. Das habe ich Natascha auch erklärt und gehofft, sie würde es verstehen. Sie hat nur gemeint, dass ich mir neue Freunde suchen müsse.
Das war so ziemlich der schlimmste Moment in meinem Leben. So hat alles angefangen. Seitdem schrumpft mein Selbstbewusstsein täglich, ich ziehe mich immer mehr zurück und ich lasse mich von der Welt zerstören. Ich weiss, dass es total seltsam klingt, wenn man so etwas schreibt und sich bewusst ist, dass es einem schlecht geht, aber man tut trotzdem nichts dagegen. Ja, es ist seltsam, aber ich kann es nicht. Schon dutzende Male wollte ich mich meiner Mutter anvertrauen. Immer kurz bevor ich es ihr sagen wollte, begann ich schrecklich zu schwitzen und jedes Mal war da ein riesiger Kloss in meinem Hals. Du weisst gar nicht, wie sehr ich mich dafür schäme, dass ich es nicht einmal schaffe, Freunde zu finden. Ich weiss nicht, was ich falsch gemacht habe, aber ich habe es offensichtlich nicht geschafft. Ich bin ein Versager! Jeder Mensch hat Freunde, jeder schafft das! Ausser ich.
Und ich habe Angst. Angst vor der Reaktion meiner Mutter. Würde sie mich überhaupt ernst nehmen? Vielleicht würde sie ja auch sagen, dass ich mich nicht so aufführen sollte, schliesslich gibt es viele Jugendliche, denen es viel schlechter geht als mir. Ich sollte mich ja glücklich schätzen, dass ich in der Schweiz leben darf, dass ich gesund bin und dass ich ein Gymnasium besuchen darf. Dass ich es nicht auf die Reihe kriege, Freunde zu finden ist ein Luxusproblem. Ja, so denke ich über meine Situation.
Vielleicht fragst du dich, wie ich es geschafft habe, meiner Familie alles zu verheimlichen. Ehrlich gesagt kann ich diese Frage selbst nicht genau beantworten. Jedenfalls habe ich das Gefühl, dass ich eine ziemlich gute Schauspielerin bin. Ich habe meine Emotionen total unter Kontrolle wenn ich unter Menschen bin. Ich habe noch nie in der Schule geweint und auch meine Familie hat mich höchstens zwei oder drei Mal weinen sehen in den letzten zwei Jahren. Ich habe so oft gelacht und fröhlich gewirkt, wenn ich innerlich am Zerbrechen war. So oft. Eigentlich fast jeden Tag. Fast jeden Tag, wenn ich von der Schule nach Hause komme, würde ich am liebsten in Tränen ausbrechen, mich auf den Boden schmeissen und erst wieder aufstehen, wenn alles aufgehört hat. Trotzdem lächle ich immer, erzähle meiner Mutter ein paar erfundene witzige Geschichten von der Schule und begebe mich in mein Zimmer. Erst dann werfe ich mich auf mein Bett und weine lautlos. Manchmal nur zehn Minuten, manchmal auch bis zum Abendessen. Beim Essen jedenfalls täusche ich wieder gute Laune vor. Ehrlich gesagt weiss ich nicht, ob ich so überzeugend spiele, oder ob meine Familie meine Trauer und den Schmerz nicht sehen will. Ich weiss es nicht. Aber es tut einfach nur weh, wenn ich darüber nachdenke, dass ich den Menschen, die ich am meisten liebe, etwas vorspielen muss.
Okay, das war vielleicht trotzdem nicht so eine normale Vorstellungsrunde. Vielleicht sollte ich jetzt über normale Dinge schreiben. Über meine Hobbies und diesen Kram.
Ich liebe Musik. Musik bedeutet mir so viel. Musik hilft mir, alles ein kleines bisschen zu verarbeiten und mich ein bisschen besser zu fühlen. Aber ich will jetzt nicht nur über Musik schreiben. Vielleicht ein anderes Mal. Trotzdem muss ich noch erwähnen, dass mir die Musik von dir und deiner Band schon so oft geholfen hat. Ich wüsste nicht, was ich tun würde, wenn du aufhören würdest, Musik zu machen.
Zwei weitere meiner langweiligen Hobbies sind lesen und Filme schauen. Wenn ich lese, kann ich meine Realität für ein paar Stunden vergessen und ganz in eine Fantasiewelt eintauchen, wo alles perfekt ist. Wo es immer ein Happy End gibt. Nicht so, wie im echten Leben. In Büchern finden alle Leute Freunde. Gewisse nicht gleich von Anfang an, aber irgendwann schaffen sie es. Nicht so wie ich.
Ich glaube nicht, dass ich noch am Leben wäre, wenn es keine Musik, Bücher und Filme geben würde. Es ist ein echter Lifesaver, wenn man einfach kurzerhand in eine andere Welt schlüpfen kann und sein eigenes Leben vergessen kann. Auch wenn es nicht für lange Zeit ist, es reicht, um neue Energie zu schöpfen und einen weiteren Tag durchzustehen.
Wo ich auch super abtauchen kann, ist das Internet. Ich kann mir stundenlang sinnlose Videos auf Youtube anschauen. Hauptsache, mein Gehirn ist beschäftigt und muss sich nicht um mein echtes Leben kümmern. Im Internet habe ich auch das erste Mal von deiner Band gelesen und mittlerweile verbringe ich viel Zeit auf Twitter, um die neusten Dinge über dich und deine Band zu erfahren. Naja, nicht nur über dich und deine Band, eigentlich lese ich die News über jeden Promi. Das ist so ein kleines Hobby von mir. Ich weiss immer den neusten Promi Klatsch und Tratsch von Hollywood. Das ist wirklich so typisch mädchenhaft, aber irgendwie mag ich es halt. Aber ich habe es bis jetzt niemandem erzählt, weil ich nicht weiss, wie andere darauf reagieren würden. Naja, vielen Leuten könnte ich es sowieso nicht erzählen, da sich niemand mit mir unterhalten will.
Zurück zu meinen Hobbies: Sportlich bin ich nicht, aber ich nehme mir immer wieder vor, mehr Sport zu machen. Es soll auch helfen, wenn man an Depressionen leidet. Ich weiss nicht, ob ich depressiv bin, aber Sport kann nie schaden. Deshalb versuche ich ein paar Mal pro Woche den Hometrainer zu benutzen. Bis jetzt hat es nicht so regelmässig geklappt. Aber vielleicht schaffe ich es irgendwann.
Mehr fällt mir jetzt nicht zu mir ein und ich muss eingestehen, dass ich ein ziemlich langweiliger Mensch bin. Deshalb hoffe ich – falls du diese Email gelesen hast – dass ich dich nicht zu sehr gelangweilt habe. Mir hat es gut getan, alles von der Seele zu schreiben.
Jetzt werde ich mich wieder wie immer in mein Bett begeben und ein paar Serien schauen. Ich hoffe, dass morgen nicht allzu schlimm wird. Und dir wünsche ich alles, alles Gute. Danke, dass du für mich da warst. Auch wenn du mir wahrscheinlich nicht antworten wirst, du hast mir unglaublich viel geholfen!
Kayla