Angeln beruhigt - weder Fische noch Würmer - Rolf Friedrich Schuett - E-Book

Angeln beruhigt - weder Fische noch Würmer E-Book

Rolf Friedrich Schuett

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Beschreibung

Zwanzig Erzählungen, die nicht zählen, und Virtuosenspiele, die keine Rolle spielen. INHALT Ein gutes Leben Der Anfall Ausweg aus allen Auswegen Alle gleich : jeder anders Die Traumfrau Wir kommen uns immer näher Der Gelassene Das wahre Leben Der Glückwunsch Eine strahlende Erscheinung Unter einer Decke Dunkle Erleuchtung Kriminell oder kriminalistisch? Der Widerstandskämpfer Im Bekanntenkreis Die französischen Moralisten Die kranke Krankenschwester EHE 2000 Eine weise Einweisung Das Heft in der Hand

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INHALT

Ein gutes Leben

Der Anfall

Ausweg aus allen Auswegen

Alle gleich: jeder anders

Die Traumfrau

Wir kommen uns immer näher

Der Gelassene

Das wahre Leben

Der Glückwunsch

Eine strahlende Erscheinung

Unter einer Decke

Dunkle Erleuchtung

Kriminell oder kriminalistisch?

Der Widerstandskämpfer

Im Bekanntenkreis

Die französischen Moralisten

Die kranke Krankenschwester

EHE 2000

Eine weise Einweisung

Das Heft in der Hand

meinen Eltern

in Dankbarkeit

Ein gutes Leben

Mit lässigem Behagen sieht er die übrigen Familienmitglieder als Satelliten ihn umkreisen, zupft hier an einem Gartenstrauch, staubt dort einen Buchrücken ab. Manchmal möchte er schon, daß etwas passiert, er weiß nicht was. Wenn er aber daran denkt, was so alles passieren könnte, freut er sich, daß doch nichts passiert. Er ist zufrieden, nicht ganz glücklich zu sein und nicht ganz unglücklich, Meister der Halbherzigkeit, der er ist. Obwohl nie so ganz da, ist er die sinnfällige Verkörperung bloßen menschlichen Da-Seins. Er lebt, er ist einfach nur da, noch da und sonst nichts. Er schnuppert, ob nicht von irgendwoher noch ein weiterer Gratisleckerbissen von der Großen Festtafel für ihn abfällt, ohne viel Aufwand und Geschrei.

Dann ist er da.

Kurz: Er ist für das Gute und gegen das Böse. Für den Frieden und gegen den Krieg, für grünen Wald und gegen grauen Beton. Er ist für das Leben und gegen den Tod, besonders, wenn es um die Seinen geht. In der Zeitung liest er mit wohligem Gruseln, daß sie sich hinten in Nicaragua wieder die Köpfe einschlagen statt heißreden. Fern sieht er, damit er besser schläft. Ein oder zwei Mal fällt er hitzig über sein Ehegespons her, pro Woche. Nach diesem vegetativen Anfall ist alles wieder wie vorher. Drängt sich die Sterblichkeit auf, durch Bruststiche oder Schwindelgefühle, kauft er einen Trainingsanzug und joggt solange, bis die Angst vor Überanstrengung wieder größer ist als die Angst vor dem Herztod. Genauer: Wenn schon Infarkt, dann nicht durch die Maßnahmen gegen ihn. Alle paar Monate gewöhnt er sich das Rauchen ab. Am Reisen mag er besonders, daß es eine Veränderung ist, bei der alles beim Alten bleibt und weniger geschieht als zuhause. Früher wollte er auch alles ganz anders, aber eigentlich ist es doch besser so, wie es dann gekommen ist. So ist das Leben nun einmal, was soll man machen, und ihm geht's ja noch Gold oder Silber. Hauptsache, Geld und Verdauung stimmen und über die Nachbarn läßt sich Neues und Schlimmes erzählen. Zuweilen bastelt er und wäscht sein Auto selber, weil das billiger ist. Aber vor allem, weil er sich sonst bis zum TV-Programm zu Tode langweilen würde. Viele auf der Welt haben es besser als er. Aber damit wird er fertig : Noch sehr viel mehr Leute haben es viel schlechter als er. Alles sollte im Grunde anders sein, aber eigentlich könnte es noch schlimmer sein.

Er ist nun weiß Gott nicht unverschämt, was verlangt er denn schon Besonderes vom Leben? Doch nicht mehr, als billig ist und ihm zusteht, eben seinen bescheidenen Teil vom großen Kuchen. Seinen kleinen Anteil an der Beute in einer komfortablen Höhle ungestört verzehren zu dürfen, das ist es, was er will. Fordert das denn schon den Neid falscher Götter heraus? Zuweilen hat er seinen 'Moralischen'. Dann versackt er in einem schwarzen Riesenloch, niemand kann ihn dort herausholen, weder durch die Peitsche des Zuckerbrots noch durch das Zuckerbrot der Peitsche. Dann stiert er in seine inneren Mäuselocher, die nur er sieht, um zu beweisen, daß er kein Flachkopf ist, sondern auch seine Untiefen hat. Es vergeht übrigens, wie es gekommen ist, so grundlos wie folgenlos. Im Übrigen ist er mit allem wohlversorgt und hat alles, was einer heute so zu brauchen glauben muß.

Aber eigentlich weiß er nichts Rechtes damit anzufangen. Es steht herum und versperrt den Weg, auf den er sich gar nicht macht. Aber trennen kann er sich von seinem ganzen Plunder auch nicht; wer weiß, wozu das noch einmal gut ist und was noch eines Tages über ihn kommen mag.

Manchmal glaubt er etwas ganz fest zu wissen und begriffen zu haben, daß etwa die ganze Umwelt in Gefahr ist heute, daß da draußen irgendetwas vor sich geht, und etwas Unheimliches sich zeitlupenlangsam zu uns heranfrißt. Im nächsten Moment weiß er nicht mehr, wovor ihm eben noch so gegraut hat. Alles ist wieder dämmervage wie immer.

Glücklicherweise muß er sich ja nie entscheiden, was er da gespürt haben will. Nichts und niemand verlangt das von ihm, am wenigsten er selbst. So kann alles immer im schwebend Ungefähren bleiben und köstlich unbestimmt. So mag er es am liebsten, so in der grauen Nebelsuppe der Welt immer neu herumrühren.

Niemand kann behaupten, er warte nicht auf etwas Besonderes. Mindestens darauf, daß ihm jemand erklärt, worauf denn eigentlich. Und wenn es ihm mal einer zu sagen versucht, ist es natürlich nie ganz das Richtige. Aber Gottseidank kommt es darauf auch nicht wirklich an, wenn nur Geld und Verdauung weiter stimmen. Er hat Zeit, er blinzelt, kratzt sich mit dem Fingernagel schmerzwollüstig über kleinere Gesichtspickel, die animalischen Grundverrichtungen übernehmen das Leben für ihn, das autonome Vitalsystem samt angeschlossenen Subroutinen.

Von seinem Leuchtturm schaut er weit ins Land.

Seine Ehe? Nicht Fisch noch Fleisch, wie so vieles bei ihm. Weder ruhige Harmonie noch fetzenfliegender Riesenkrach, nur dieses entnervend auszehrende Dauergezänk, all dieses unablässige Nadelstichwundengeplänkel, Tag aus, Tag ein, ohne Sinn und Verstand und Ziel und Ende. Nur damit er sich in den Stunden bis zum Fernsehabend ein bißchen leben fühlt.

Wünsche wie Abneigungen nur halbherzig : Es reicht weder zur Leidenschaft noch zum Verzicht. Extrem wird er nur dort, wo es um die Weigerung geht, sich einmal richtig ins Zeug zu legen und großherzig zu verausgaben und einmal aufrichtig über die eigenen Kräfte zu leben. Nur eines lohnt jede Mühe : Um jeden Preis den Zustand zu wahren, wo nichts die Mühe lohnt und das Opfer. Nichts übers unbedingt notwendige Minimum hinaus, über die Freiheit nach Vorschrift ... Daß er es etwas nett und bequem und sauber haben will, wer will ihm das ernstlich verdenken oder puritanisch mißgönnen?

— Aber nun hat er geschafft, was er sich vorgenommen hat, die Scheuern sind gefüllt, alle Voraussetzungen und günstigen Ausgangsbedingungen sind erfüllt, um nun endlich einmal ... Aber das ist es eben. Was fängt er nun an mit all diesen wunderschönen Dingen, die das erleichtern, was er Leben nennt? Er hat es unterwegs vergessen; es war schwer genug, das alles zusammenzutragen. Da war doch noch etwas? Hat er überhaupt je gewußt, wozu er das alles aufeinandergetürmt hat? Er denkt nach, er wird ganz melancholisch vor lauter Sinnen, er kommt nicht drauf, und da ist er auch schon glücklich eingenickt ...

Der Anfall

Die Aktenmappe unter dem Arm, den dunklen Popeline-Mantel flatternd frühlingsoffen, sah der Mann sich kräftig ausschreiten. Es kam zu wüsten Ausschreitungen gegen nichts als diese einhundert Meter Alltagsheimweh, die ihn noch von der frischweißen Gartenpforte trennten. Das Knusperhäuschen lag da schützend geschützt vor ihm in der spätsatten Nachmittagssonne, eine ganz buschumgrünte Butzenidylle. Durch die Wände hindurch sah er seine Frau das Abendessen herrichten und mit den Augen im Hinterkopf sein leeres Bürozimmer vor sich hin öden bis zum nächsten Morgen.

Der Sandweg senkte sich in sanftem Gefalle auf sein Ziel zu, so daß der Mann am Ende seinen Gang fast abbremsen mußte, um nicht mit der Tür ins Haus auf die Nase zu fallen. Übermütig kickte er einen Stolperstein vom unkrautfreien Kiesstreifen und wiederholte das alte Spielchen, die letzten dreißig Meter mit geschlossenen Augen auf sein Eigenheim zuzusteuern, von Schritt zu Schritt ein wenig unsicherer werdend, ob er vom Weg abkommen und schmerzhaft gegen den Zaun laufen würde. Er suchte die Richtung und die Zahl der immer kleiner werdenden Schritte so vorauszuberechnen, daß er blind den ausgestreckten Zeigefinger auf den Türklingelknopf legen könnte, seiner öffnenden Frau den kußbereiten Mund entgegenhaltend. Das hatte er noch nie ganz geschafft, ohne ein bißchen zu mogeln, und versuchte es doch auch heute wieder.

Nach dem leichten Schwindelgefühl in den Beinen zu urteilen, konnte es nicht mehr allzu weit sein, als ein bedrohlich nahes Dröhnen und Grollen ihn aus seiner Spielversunkenheit riß. Abrupt blieb er stehen und machte die Augen auf, um sie gleich wieder zu schließen und so zu tun, als habe er sie gar nicht erst geöffnet. Zu spät. Er hatte es gesehen. Was denn? Er hatte gesehen, daß er nichts gesehen hatte. Daß da nichts war, vor seinen Füßen, und auch sonst. Mit einem Blick: gar nichts mehr. Zwischen ihm und dem Haus war nichts, stand kein Verbotsschild oder Zaun oder Hund, nichts, was ihm den Zugang streitig machte, nicht mal fester Grund und Boden. Der Weg war weg.

Die Plattform unter seinen Füßen maß kaum größer als die Sohlenfläche seiner Schuhe. Erst war es nur wie um eine Festung ein kleiner Burggraben, der sich erst langsam, dann immer schneller verbreiterte und vertiefte. Die Kluft war nicht einfach nur da, sondern stellte sich unentwegt her aus dem Erdreich, das bröckelte und in gähnenden Spalten nachhallend verschwand. Ein orgeltobendes Sausen stand in der Luft, Risse rannten über den Boden der Tatsachen,

Erdmassen donnerpolterten wie angesaugt in die Schaudertiefe, erst zeitlupenlangsam, dann zeitrafferrasch. Eben war der Abstand, der den Mann von seinem Haus da drüben trennte, noch in Schritten zählbar gewesen, in Sekunden. Nun war das Gebäude von keiner Entfernung mehr umgeben, sondern von einem Kordon an Unerreichbarkeit − aus nichts und wieder nichts.

Auch die Nachbarhäuser waren schon untergegangen. Beide, nur der Mann und sein Haus, standen noch auf den Gipfeln sehr getrennter Berge. Er wagte es nicht einmal, einen Arm auszustrecken, um sein Gleichgewicht nicht zu gefährden, und warum auch? Das einzig Bewegliche an ihm blieb sein Herz, das sich panisch aus seiner Verankerung zu lösen und ihn zu erschlagen drohte. Der Mann verwandelte sich in einen schwarzen Schwindel, das Raubtiergebiß des leeren Raumes schnappte nach ihm, Schweißkälte kitzelte seine Haut. Er drückte die Knie durch, die nachgeben und ihn in tödlich rettende Ohnmacht niederziehen wollten. Dadurch, daß er wie eine Eins stand, in erstarrter Aufrichtigkeit, kämpfte er gegen das einzige Mittel, das sich gegen seine Todesangst verführerisch anbot, gegen die Versuchung, sich einfach gehen und fallen zu lassen und auf Nimmerwiedersehen in den Schoß der gefräßigen Erde zu werfen.

Von dieser Anwandlung einer Fallsucht lenkte ihn ab das Kind, das er gewesen war und am Heiligabend vor dem weißbärtig rotbemäntelten Weihnachtsmann stehen sah, artigfromm erwartungsfiebrig. Seine Mutter rief immer wieder : „Welch eine Überraschung! Sieh doch mal, mein lieber Junge, wer hätte das gedacht?!"

Das Kind sah nichts als den schlaffleeren Sack in den Händen Knecht Ruprechts und weinte. Das ließ seine Mutter immer lauter jubeln über die schöne Bescherung, bis es begriffen hatte, daß das Weihnachtsgeschenk aus dem Weihnachtsmann selber bestand, aus seinem neuen Vater, der das Kind verlegen angrinste.

Das warf den Mann wieder in die .andere Gegenwart zurück, gegen die er vorsichtig in die Innentasche seines Sakkos griff, wo der Flachmann steckte, die kleine Flasche Rum, die er ständig bei sich trug für den Fall, daß seine Herzrhythmusstörungen ihn wieder anfielen, gegen die sein Arzt ihm diese abendlichen Fußheimwege verordnet hatte. Angstgierig trank er das Notfläschchen leer und wartete, bis der hochprozentige Alkohol die Schleimhäute des leeren Magens traf, sich dort einbrannte und panikdämpfend in das Bewußtsein hineinfraß. Einige Sekunden später, seine Einbildungskraft nahm die Wirkung des populären Beruhigungsmittels schon vorweg, stand der Hochseilartist fast ohne Zitterbeine auf seinem winzigen Podest, ein unfreiwilliger Säulenheiliger.

Er wagte es, die krampfhaft nach innen auf das wild durchgehende Herz gerichteten Augen wieder zu öffnen. Aber kein Erwachen aus einem bösen Traum erwartete ihn, wie er erwartet hatte. Sogar sein Haus, das einzige Gegenüber in diesem Chaos, war mit allem Inhalt nun noch im Erdschlund verschwunden; das Sturzpoltern klang immer dunkler aus immer größerer mahlender Untiefe, alles war wie zuvor.

Und doch unmerklich anders. Alle schrecklichen Ereignisse wiederholten sich, zuerst in unverfolgbarer Endgeschwindigkeit, dann sich verzögernd, aber wie in entgegengesetzter Richtung. Ein Vulkan schluckte die Massen wieder herunter, die er soeben ausgespieen hatte, als liefe ein gerade gesehener Film noch einmal ab und diesmal rückwärts. Puzzleteile strömten und schossen von Geisterhand geführt zusammen. Der Mann hatte vergessen zu welchem Bilde, er war neugierig auf das Ergebnis. Erst als die Bruchstellen aller Scherben und Brocken nur noch feine Zickzackrisse waren, die knisternd nahtlos ineinandergriffen, erkannte er alles wieder: Nichts fehlte, wenigstens vermißte er nichts. Noch immer war das linke Nachbarhaus ärgerlich größer, das rechte wohltuend kleiner als das seine. Die Welt hatte sich aufgelöst und wieder zusammengesetzt, das Ganze kaum länger als eine Minute gedauert.

Hatte der Herzschlag der Wirklichkeit nicht für einen Augenblick ausgesetzt? Der alte Zustand war nicht einfach da, wie immer, sondern aus seinem völligen Gegenteil heraus wiederhergestellt. Was hinderte die Welt, diesen Purzelbaum noch einmal zu schlagen, jetzt gleich oder in einem Jahr, so oder anders? Alles war so wie immer. Aber eben nur wie immer. Es war das gleiche, also nicht dasselbe; nun war alles möglich. Nichts würde mehr so sein wie früher, gerade weil alles wieder war wie vorher.

Der Mann hob seinen Blick vom festen Grund und Boden vor seinen Füßen und sah das ruhig lächelnde Gesicht seiner Frau am Küchenfenster. Sie winkte ihm zu, und er ging langsam in die Richtung dieses Gesichtes, vornübergebeugt, als stünde ihm ein steifer Wind ins Gesicht, oder als müßte er sich für jeden Schritt gegen hundert andere Möglichkeiten in jeder Sekunde schweren Herzens neu entscheiden.

Ausweg aus allen Auswegen

Gott, der Herr, erwachte aus seinem Traum und kurzen Jahrtausendnickerchen, in den er sich geflüchtet hatte, um sich für einige Äonen von seiner strengewigen Wachheit und Allgegenwärtigkeit sich selbst gegenüber zu erholen. Ein bißchen graute ihm vor dem neuen Tag, den er Licht werden lassen mußte. Er konnte nicht länger schlafen und seine Augen verschließen vor den Verpflichtungen, die er sich nun einmal auferlegt hatte, bis auf jederzeit möglichen Widerruf. Seine Selbstherrlichkeit hielt auf Selbstdisziplin den eigenen Projekten gegenüber, der jetzt dritten kosmischen Versuchsserie, seinem liebsten Ewigkeitsvertreib. Nun war er wieder der Last der furchtbaren Verantwortung sich selbst gegenüber ausgeliefert und dachte lustlos an den fälligen Rechenschaftsbericht über seine Schöpfung, den er sich schuldete, nach den letzten Spielregeln, denen er sich freiwillig unterworfen hatte, natürlich in aller majestätischen Beliebigkeit und unvorhersehbaren Willkür, die für seine Produkte zur striktesten Zwangsnotwendigkeit wurde. Auf nichts als auf seinen freien Willen konnte er sich berufen bei seinen Kreationen, und wenn er Gründe hatte, etwas so und nicht anders zu tun, dann waren diese Gründe zwingend, weil er es so wollte, nicht weil sie ihn hätten nötigen können.

An seiner jüngsten Erfindung, seinen abgefallensten Engel, den Teufel, verlor er auch langsam aber sicher den Spaß des Katzmaus-Spiels, und er erwog, ihn zu seiner nervenkitzelnden Selbstprovokation mit etwas mehr Macht gegen seinen Schöpfer auszustatten, noch demnächst.

Ein wenig verdrossen also wälzte er sich in seiner seligen Unendlichkeit, die alle Puppen tanzen ließ, in denen er sich nur gegen sich selbst auflehnte, um diese Scheinwiderstände zu durchbrechen und sich nur über den eigenen Kopf zu wachsen. Das alles war nun schließlich keine Kunst, denn der Sieger dieses potemkinschen Schattenboxens mit sich selber stand ja von vornherein immer fest, bei aller Dramatik auf Leben und Tod, alles nur kosmischer Theaterdonner. Gerade hatte er wieder eine irdische Nation gegen eine andere aufgehetzt, die sich auf seinen Namen berief. Er ließ sie unterliegen und überlegte den nächsten Schachzug gegen sich selber.

Leiden wäre zu viel gesagt, aber ihn ödete zuweilen seine Gottverlassenheit im leeren Universum nachgerade doch etwas an. Tat er Gutes, dann nicht deshalb, weil es gut war, sondern es war gut, weil er es tat, die Theologen hatten es ihm erklärt. Und er hatte rein gar nichts außer sich und gegen sich, nicht einmal das Nichts, das nur eine leere Blase in ihm war, wie alles Böse, nur eine schweißtreibende Trimmstrecke oder Geisterbahn zur Selbstbelustigung. Das war es ja eben, er hatte keine Feinde, die er sich nicht selbst geschaffen hatte und die er nicht in jeder Sekunde wieder in die große Spielkiste zurücklegen konnte.

Wenn es überhaupt eine menschliche Regung sein mußte, dann erfüllte ihn so etwas wie leiser Überdruß. Er konnte nur dauernd Kreuzworträtsel lösen, die er selbst entworfen hatte. Ständig war er sich in schauderhafter Weise selbst durchsichtig. Seine Gedanken waren auch schon Taten, seine Wünsche ihre eigene Erfüllung, wenn man so sagen darf und wenn er es gerade mal nicht vorzog, sich das raffinierte Bedürfnis zu befriedigen, sich ein drängendes Bedürfnis nach Rache oder Ruhe oder Güte nicht prompt zu befriedigen. Nichts war ihm vorgeschrieben, was er nicht sich selber vorgab, und nichts verblüffte ihn als die Überraschungen, die er sich selbst bereitete, indem er so tat, als durchschaute er sich nicht.

Und war ihm einmal etwas fremd und unbekannt, dann nur deshalb, weil er vor sich selbst verbarg, daß er es längst kannte, weil höchst selber erzeugt hatte. Und um etwas vor sich zu verbergen, mußte er natürlich wissen, daß und was er da vor sich versteckte, um es überhaupt vor sich verheimlichen zu können; es war eine Farce, er wußte das. So stieß er auf keine anderen Hindernisse als die Beine, die er sich stellte und denen er nur andere Namen gab. Er mußte sich die Steine schon selbst in den Weg legen, über die er stolpern wollte, um doch wenigstens die Illusion zu haben, daß ihm auch einmal etwas von außen begegnen und passieren könnte, ohne hinter Marionetten durch ihn selbst inszeniert zu sein.

Da er vor nichts um sich selbst Angst haben mußte, da nichts ihn treffen konnte, was ihn nicht durch die linke Hand traf, welche wußte, was die rechte tat, kannte er nur eine einzige Angst, und die war umso massiver, nämlich die Angst vor sich selber. Ja, das war eine unablässig juckende, nie verheilende und immer neu aufzureißende Wunde, ein Pfahl in seiner Fleischlosigkeit : Wußte er denn, ob er nicht morgen schon die Lust verspüren würde, ein Wesen zu erschaffen, das stärker wäre als er selbst, stark genug, ihn zu erschlagen? Allmächtig genug war er ja, etwas zu produzieren, was ihn überträfe! Nichts konnte ihn hindern, sich umzubringen, direkt oder durch die Hand eines seiner pseudonymen Geschöpfe, nichts, wenn er sich nicht selbst in den Arm fiele, da für ihn eine Versuchung doch gleichbedeutend wäre damit, ihr stracks zu erliegen.

In solchen Augenblicken der Selbstanfechtung begann er die Krone seiner Schöpfung widerwillig zu beneiden, den Menschen, der zwar von Vergänglichkeit umdroht war, von Gebrechen, Wahnsinn und Tod und Ihm und seinesgleichen, aber dennoch ... Der Erdenwurm, der erste Freigelassene des Alls, mußte gegen wirkliche Widerstände und Widersacher seine Fortschritte machen, war durch seine ganze Kultur vor sich geschützt und erstickte nicht an seiner abgrundtiefen Selbstbestätigung und autistischen Unsterblichkeit, konnte sich in seiner ohnmächtigen Unfreiheit auf vieles herausreden, wenn etwas nicht so lief wie gewünscht, und sich nach Belieben mit seinen Beschränktheiten entschuldigen, da zwischen seinen Begierden und deren Stillung immer die ganze Welt lag, die er sich nicht ausgedacht hatte. Dieses sonderbare Wesen mußte vor allem und jedem Angst haben, außer eben vor seiner eigenen Allmacht und totalen Freiheit.

So geschah es, daß Gott, der Herr, sich aus Angst vor sich selbst in einen seiner Erdensöhne zu verwandeln vorzog. Er nannte sich schlicht Arthur S., stattete sich mit der ganzen Schwäche und Zivilisationsabhängigkeit dieser Spezies aus und mit einigen ihrer durchschnittlichen Attribute, nicht so spektakulär wie zwei Jahrtausende vorher im Falle seines Sohnes Jesus, den er längst wieder in sich zurückgenommen hatte. Aber um ja den Kontrast zu seiner göttlichen Fülle recht spürbar zu machen, ersparte er sich dort unten kein Schicksal, brachte viele Mächte gegen sich auf und sich in viele schlimme Lagen, setzte sich immensen Kränkungen und Dummheiten, Enttäuschungen und Verfolgern aus, bis er fast zerbrach an seinem Inkognito und an seiner eigenen Vorsehung irre wurde.

So vorprogrammiert, nicht programmiert zu sein, beschloß er, den Ausgang seiner Geschichte vor sich zu verbergen und in aller neugierigen Demut sich dem Eigenleben seiner Kreatur zu überlassen. Gottvater seufzte tief auf in der Hoffnung, sich in Arthur S. ein bißchen vor sich selbst in Sicherheit gebracht zu haben, wenigstens ein kurzes Erdenleben lang. Halb beruhigt und mit sich fast zufrieden schlief er wieder ein und träumte sich in seine neue Nebenrolle hinein.

---

Seit Arthur S. begonnen hatte, zu trinken und den hundsgemeinen Haufen seiner Artgenossen misanthropisch zu meiden, durch die er sich beleidigt, hintergangen, gelangweilt und angewidert fühlte, war ihm dieser Hund immer wichtiger und lieber geworden.

Was er sich lange nicht eingestehen mochte, da er sich schmeichelte, nichts und niemanden zu brauchen. Ob er sich pudelwohl oder hundeelend fühlte, er konnte schon lange etwas immer weniger leiden − oder daran leiden − ohne die Anwesenheit dieser Promenadenmischung. Ihn Gassi zu führen, wurde zu einem einzigen Vorwand, einmal die Wohnung zu verlassen und lange Spaziergänge zu machen. Es genügte ihm, das Tier auch außerhalb seines Sichtbereichs irgendwo vor oder hinter sich laufen zu wissen. Es enttäuschte ihn nie. Anders als seine Frau, entlief es ihm nicht einfach. Zum Zeitvertreib gewöhnte er sich an, sich in den Hund immer wieder einmal beiläufig hineinzuversetzen, ohne ihn aber arg zu vermenschlichen. Nicht, daß er menschlichen Umgang durch ein Tier ersetzte, aber er liebte es, seine eigene Gattung mit den Augen seines Hundes zu betrachten:

"Na, Schulp, nun mal ehrlich, was sagt man denn in Hundekreisen dazu?"

Nur über den Hund verkehrte er noch mit seinesgleichen, wie über den Blick eines Marsbewohners, den es auf die Erde verschlagen hat. Eine noch so lange Hundeleine verschmähte er, weil sie ihn an der Beobachtung gehindert hätte, was das Tier von sich aus tat. Ihm entging nicht, daß der Hund ihn weniger liebte als ihm gehorchte, und daß er für seinen vierbeinigen Freund weniger ein Freund als ein Herr war.

Nicht wörtlich nahm er den Führerkult seines Haustiers, das ja wohl nicht anders konnte, als seinem Fleischgeber eben hündisch ergeben zu sein und nur dann und wann seine Automaten-Natur zu überspielen durch verführerisch illusionstreue Hundeaugen. Da wurde er dann offen für alle menschlichen Phantasien, die sich in ihn hineingucken ließen, aber Arthur S. hatte keinen Ehrgeiz, ihn gegen Einbrecher und Überfallrowdies abzurichten. Und die recht naheliegende Vermutung, daß wenigstens ein Wesen auf der Welt ihm gehorchen sollte, der immer anderen aufs Wort zu gehorchen hatte, sagte ihm nichts und war wohl auch eher falsch.

Der Hund säte nicht, er erntete nicht, und sein Herr ernährte ihn doch. Das Tier durfte nichts als bloß da sein, ohne alle weitere Aufgabe und Bestimmung und in aller verantwortungslosen Leistungsentbundenheit, die vor keinen Schlitten gespannt und keinem Blinden beigegeben wurde. Er war nichts als vorhanden, der Hund, und wurde kostenlos verköstigt und gewaschen und gestriegelt, war dadurch schon ausreichend in seiner Existenz gerechtfertigt, wurde gebraucht zur seelischen Stabilisierung eines mit den Menschen zerfallenen Menschen und das alles durch sein springend schlafend fressendes Hundeblickdasein, das nichts als gehorchen wollte und konnte, ohne deshalb ein abstoßender Arschkriecher zu sein, dessen Beherrschung selbst einem Sadisten mißfallen hätte.

Arthur S. bewunderte die struppige Lumpeneleganz, die angeborene Desinvolture, mit der sein Begleiter skrupellos in den Tag hineinvegetierte. Der Hund war von Natur aus komplett ausgerüstet mit allem, was er brauchte, er sah und hörte nicht mehr, als er mußte, um einfach ein Hund zu sein und es ja nicht weiterzubringen als das. Er entwickelte sich nicht, er begriff nichts, war fix und fertig, in seiner Art vollkommen.

Ruhte er nicht in seinem Fell und in seiner übersichtlichen Umgebung, von der er nur kleine Ausschnitte und Gelegenheiten wahrnahm, auf die er zugeschnitten war? Mußte er seine Mitwelt erst so lange verändern, bis sie ihm paßte? Er mußte nicht flexibel sein und konnte nur wenig, das aber traumwandlerisch spezialisiert. War er der bessere Mensch?

Arthur S. sprach häufig mit dem Hund und rechnete ihm gutmütig hämisch zum Spaß vor, in welchen Stücken er als Mensch ihm überlegen war. Bis er eines Tages entdeckte, weniger mit Erschrecken als mit amüsierter Verwunderung, daß er sich dabei ertappte, seine minderwertige Bezugsperson doch schon lange eigentlich eher zu beneiden als zu bemitleiden, seit er sich mit ihr verglich. Erst um weniges zu beneiden wie um das gute bequeme Leben als sein arbeitsloser Kostgänger, dann um immer mehr, also um genau jene Eigenschaften, in denen Tiere nach menschlicher Wertschätzung dem Menschen offenkundig nicht das Wasser reichen können, selbst die klügsten Tiere nicht den dümmsten Menschen.

Zu jener Zeit begann Arthur S., sich zusehends zu vernachlässigen und nun gleichsam auf den Hund zu kommen, den er hatte. Wochenlang trug er dasselbe Unterzeug, schnitt sich weder die schwarzen Fingernägel noch das blonde Haar, ging vom Essen zum Fressen über, hing schlürfend über dem Teller, schob in seiner unaufgeräumten Einzimmerwohnung für Mahlzeiten nur noch eine kleine Tischecke frei und benutzte dafür das immer selbe ungewaschene Besteck und schließlich nur noch die ebenso ungewaschenen Finger. Seine Arbeitskollegen sagten im Büro hinter seinem Rücken:

"So möcht‘ ein Hund nicht leben wie der."

Irgendwo in einer Illustrierten hatte er einmal gelesen, daß es im alten Griechenland eine Schule von Philosophen gegeben haben soll, die sich die "Zyniker" nannten, das hieß wörtlich : die Hündischen. 'Diogenes in der Tonne' war der volkstümlichste von ihnen geworden, Menschen, die es wagten oder dreist genug waren, wie immer man will, die Bürde der menschlichen Würde von sich abzuwerfen. Dem Vernehmen nach arbeiteten sie nicht, gründeten keine Familien, nahmen nicht am öffentlichen Leben teil, befriedigten ihre wenigen Bedürfnisse auf prompt tierische Unart, schamlos auf der Straße bettelnd, und ließen sich ungerührt verhöhnen und beleidigen, aller Rechte und Pflichten ledig. Kurz : Sie lebten wie die Hunde, nach denen sie sich benannten, und hatten Ansichten über die menschliche Gattung und Gesellschaft, die man später zynisch nennen sollte. Dieser Artikel hatte Arthur S. beeindruckt und den Ausschlag für den Kauf eines Hundes gegeben.

Schließlich war der Gestank, der von ihm ausging, nicht mehr zu überriechen. Immer häufiger kam er morgens betrunken ins Büro, pöbelte haltlos herum, tat seine Arbeit nur noch halb und stellte am Ende die Schnapsflasche offen auf seinen Schreibtisch. Gutgemeinte Gespräche unter vier oder mehr Augen lehnte er lästerlich fluchend ab. Einige Wochen später war ihm gekündigt, und er lag auf der Straße wie seine philosophischen Vorfahren.

Arthur S. war nur mäßig erstaunt, als er eines Morgens mit Katerkopf erwachte und seinen vierbeinigen Lebensgefährten neben sich vermißte. Es dauerte einige Zeit, bis er sich in seinen eigenen Hund verwandelt fand, der nun umgekehrt keinen Herrn mehr hatte.

Genauer : Der Hund war sein eigener Herr geworden. Im folgenden konnte Arthur S. nun endlich jenes arme Hundeleben führen, nach dem er sich doch schon so lange verstohlen gesehnt hatte, mit der resignierten Hoffnungslosigkeit des Realisten, der sich eigentlich damit abgefunden hatte, sein Leben als Mensch führen und beschließen zu müssen.

Er sprang aus dem Bett, belustigt über den Griff nach den Kleidern, und streunte tagelang in der Stadt herum, froh, den aufrechten Gang hinter sich gelassen zu haben. Noch war sein Kopf übervoll von dem, was er als Mensch hatte wollen müssen, aber das würde sich sicher geben in dem Maße, in dem es ihm zu nichts mehr nützen konnte. Mit Erleichterung entdeckte er, daß die anderen Hunde, denen er begegnete, ihn für einen der ihren zu halten schienen, ihn prüfend ankläfften, kampflustig an ihren Halsbändern zerrten, seine Ausscheidungsorgane neugierig untersuchten, und auch er fand bald innigsten Gefallen am Pisseschnüffeln und Knochennagen. Er vergaß sofort den Bissen, den er soeben verschlungen hatte, und lebte von Moment zu Moment, ohne Erinnerung und Pläne, ohne solche Ängste, die über unmittelbar gegenwärtige Bedrohungen hinausgingen. Er sorgte sich nicht ums Morgen und bedauerte kein Gestern.

Am Anfang hatte er natürlich einige Schwierigkeiten, sich in seiner neuen Haut zurechtzufinden, die er so lange wohlgefällig studiert hatte, aber er spielte die Traumrolle eines Bastardhundes nach kurzer Zeit besser als ein 'wirklicher' Hund − eben weil er sie nur spielte und darüber sein Spiel vergaß, ein vollendeter Zyniker und Philosoph auf allen Vieren. Wie jeder Hund fühlte er sich bald als Löwe im eigenen Haus.

Kein Hund nahm ein Stück Brot von ihm, niemand lockte ihn mehr hinter dem Ofen hervor. Er war mit allen Hunden gehetzt, und legte sich ein Landstreicher abends mit ihm nieder, wachte er schon morgens mit Flöhen auf.

Als ihm nach Wochen zu Bewußtsein kam, daß es auf den Winter zuging und er ein herrenloser Hund war, der von der Pfote ins Maul lebte, begann er, systematisch einschmeichelnd um die Beine von Parkbankrentnern herumzustreichen und mitleiderregend zu winseln, als würde er in der Pfanne verrückt. Alten einsamen Frauen mit schwarzen Kopftüchern diente er sich als Schoßtier an, als Leibwächter und Ansprechpartner, in den sich alle gestauten Gefühle hineinlegen ließen ohne Gefahr, durch mangelnde Erwiderung zu schmerzen. Da er seine Menschen kannte, vergaß er auch nicht, sich vorher zu baden. Und da er sich als Hund ausgab, der er ja auch wirklich war, mußte er ein bißchen bellen und beißen, um sich als brauchbare Alarmanlage zu empfehlen. Wie geprügelt zuckte er nur zusammen, wenn er einmal hörte, daß irgendwo der Hund begraben liegen sollte, daß zwei Leute wie er und Katze lebten, und wenn er von Hundesöhnen und Schweinehunden hörte. Oder im Vorüberlaufen aufschnappte : "Das hieße doch den Hund nach Bratwürsten schicken!"

Um nicht entlarvt zu werden, dann davor hatte seine Unsicherheit noch immer große Angst, mußte er den Menschen, denen er zwischen die Füße lief, das Gefühl geben, er sei der lebende Beweis für die Richtigkeit der Redewendung, nach der bellende Hunde nicht beißen und beißende Hunde nicht bellen. Mußte er einmal überlebensgetrieben zubeißen, durfte er keineswegs bellen : Das hätte Menschen und Hunde, die sich dieses Vorurteil zueigen gemacht hatten, sicher mißtrauisch gemacht. Er hielt sich vorsichtig, soweit er nur konnte, lieber an das, was Menschen von Hunden gemeinhin so erwarten, als an das, was Hunde, auch vor ihren Mithunden, nun wirklich sind und tun.

Nach endlosen vergeblichen Anbiederungsversuchen begann ein alter alleinstehender Mann (der ihm irgendwie ähnelte, als er noch Arthur S. war), sich für ihn zu interessieren. Nach drei Tagen war er dem zugelaufen, amtlich besteuert und wieder winterfest seßhaft. Viel wurde wirklich nicht von ihm verlangt, nur die Leistung einer Gesellschaft, die so wenig menschlich als möglich sein durfte, nur schwanzwedelnd stumme Zuhörerschaft für Brummelmonologe und rhetorisch hagestolze Fragen ins Blaue. Dafür gab es Ofennähe, Fleischwurst und Markknochen, Streichelklapse und verantwortungslose Muße ohne Nachtwächteraufgaben im Freien. Eigentlich nur psychologische Notdienste wie die Illusion widerwortlosen Einverständnisses durch Hundeblicke nach oben. Im Übrigen durfte er sich nach Herzenslust gehen und laufen lassen und wurde weder zu exzessiver Reinlichkeit erzogen noch scharfgemacht. Hunde, wollt ihr ewig leben? − Auf diese Weise ja, ja!

Zuweilen genoß Arthur S. die animalische Selbstverständlichkeit, auf offener Straße vor aller Passanten- und Kinderaugen eine Artgenossin zu bespringen, mit der Schamlust des Menschen, der er irgendwo immer noch ein wenig war. Wie ja überhaupt alles, was er als Tier jetzt ungestraft tun und lassen konnte, ihm wohl mehr Vergnügen bereitete als seinen Mithunden, die nie Menschen gewesen waren. Oder doch? Anzusehen war denen so wenig wie ihm selbst − wie er hoffte.

Wenigstens sah er seinem Hundetreiben gern mit den Augen der Menschen zu, zu denen er gehört hatte, wie er sich als Mensch damals ja auch gern umgekehrt in seinen Hund hineinversetzt hatte, der er nun selber war. Und er suhlte sich überglücklich dumm in seiner neuen Identität, Wie der Städter sich am Landleben begeistert, − umso mehr, je weniger er dem nachtrauerte, was er vormals hatte tun und lassen dürfen und können und müssen und sollen und wollen. Die Angst vor Katzen, Autos und Polizisten war auch ohne Alkohol erträglich. Nur vor größeren Exemplaren seiner eigenen Gattung behielt er einen Heidenrespekt, und es mußte einmal so kommen:

Eines Nachmittags hatte eine geifernde Riesendogge, ermutigt durch seinen eingekniffenen Schwanz, ihn aus unerfindlichen Gründen gejagt und schließlich in ausweglose Enge und Kurzatmigkeit gehetzt. Das war kein Spielangebot mehr! War ein Revier verletzt oder der alte Adam im armen Hund gewittert worden?

In höchster Not hob der ehemalige Arthur S. nun sein Hinterbein gegen eine dicke Hinterhof-Eiche und pißte so dagegen, wie er sich als Mensch in solcher Lage in die Hosen gemacht hätte. Alles in der Wahnwitzhoffnung, der fürchterliche Gegner würde es so vielleicht vorziehen, seine Duftmarke zu beschnüffeln und ihn zu besteigen, statt ihm an die Kehle zu springen. Aber das Untier wollte sich nicht ganz vergeblich verausgabt haben, war nicht abzulenken und heischte Blutzoll. Mit einem letzten Blick aus blutunterlaufenen Raubaugen versicherte es sich der Wehrlosigkeit seines prospektiven Opfers, sprang los und − biß auf Holz. Ja, grub seine Mörderzähne krachend in solides Eichenholz. Nicht, daß Arthur S. in letzter Sekunde hätte beiseitespringen können, das war unmöglich, aber man ahnt es:

Er fand sich einfach unvermittelt in den Baum verwandelt, gegen den er mit dem fellgesträubten Rücken gestanden und den er panisch angepinkelt hatte, alles wie im Traum. Cave canem!

Eine Eiche zu werden, war zwar eine ungewöhnliche Art, nicht von einem Hund totgebissen zu werden, aber man durfte in solcher Lage nicht wählerisch sein und sich ruhig zu wundern getrauen. So fragte er auch nicht, welchem Geschick er diese letzte Metamorphose verdankte, um die zu beten er selbst nie gedacht hätte. Der gebildete Mensch in ihm erinnerte sich später, als seine zitternden Zweige sich beruhigt hatten und er die völlig ratlose Dogge hatte abziehen sehen, an den griechischen Mythos von Daphne, die sich auf der jungfräulichen Flucht vor dem geilen Apollon mit göttlicher Hilfe in einen Lorbeerstrauch hatte verwandeln dürfen.

Der Verlust des Bewegungsspielraums war schmerzlich, eine Rückkehr in die alte Springlebendigkeit schien verwehrt. Aber Arthur S. machte recht bald und recht menschlich aus der Not eine Tugend, als er seinem neuesten Zustand ein unerwartet köstliches Gefühl abgewann : größere Unverwundbarkeit dem Leben gegenüber. Er paßte sich nicht nur an, sondern plötzlich begriff er das Werk der Vorsehung, ihm zu zeigen, daß sein Wunsch, ein Hund zu sein, halbherzig gewesen war, ein auf halbem Wege stehengebliebener Gedanke, nicht Fisch, nicht Fleisch.

Wenn schon, denn schon!

Es dauerte nur wenige Tage, bis er lernte, den unfreiwilligen Tausch nicht verzweifelt zu verwünschen und sich nicht gottergeben in ein Unabänderliches zu fügen, sondern sich großen Gefahren entronnen zu fühlen, ein für alle Mal. Er empfand sich nicht mehr gelähmt und ins Krüpplige gefesselt. Er verstand, daß er als Baum nicht nur einfach dumm dastand, sondern seine Astarme und Fingerzweige in den Äther reckte, indem er seine Wurzelfüße ins Erdreich bohrte. Seine Blätter waren noch unbeschriebene Blätter. Er merkte auf das zeitlupenlangsame Steigen und Fallen der Säfte in ihm, ließ sich vom Himmel aus der Erde und von der Erde aus dem Himmel ziehen, so daß er nun kapierte, warum er weder in den Himmel wuchs noch in der Erde versank.

Seine Wipfelerhabenheit gefiel ihm von Tag zu Tag besser, und er überrechnete stolz seine enorm gestiegene Lebenserwartung. Er begann, in Jahrhunderten statt in Jahrzehnten zu rechnen, d.h. Minuten und Sekunden zu übersehen. Endlich wußte er mal, wohin er gehörte, er hatte einen festen Standpunkt und Überblick über das fickrige Gewimmel der Menschen und Tiere zu seinen Füßen, von keiner Heimatlosigkeit mehr bedroht.

Manchmal schnitzten Jungen mit Taschenmessern schöne Tätowierungen in seine alte Haut. Niemals war er so seriös bodenständig verwurzelt gewesen, niemals hatte er gleichzeitig eine so statuarisch unbeugsame Würde besessen, als deutsche Eiche, die für manchen Deutschen sogar der paradiesische 'Baum der Erkenntnis' gewesen war.

Diese nutzhölzerne Übermenschengröße unter königlicher Krone! Nun hatte er viel mehr Eicheln denn als Mann und mußte seinen Holzkopf über nichts mehr zerbrechen. Das war endlich eine Standfestigkeit, die ihn instand setzte, allen Stürmen des Lebens mühelos zu widerstehen. Er hatte nichts mehr auszustehen und großen Abstand zu denen da unten, er stand wie eine Eins. Alles ging so viel besser, seit er nicht mehr gehen und sich völlig gehen lassen konnte.

Nur selten, wenn morgens Parkgärtner mit ihren Gerätewagen an ihm vorüberfuhren, beschlich ihn noch so etwas wie Angst, fast nur eine Erinnerung an alte Ängste, die von geschnitzten Herzen in seiner Rinde ausgingen und seine Blätter zittern machten. Etwas beunruhigt zählte er dann doch seine Jahresringe durch, und der alte Adam in ihm erinnerte sich an all die Holzgegenstände, die er und die Seinen immer benutzt hatten, auch an Brennholz und so. Das waren Augenblicke, seltene nur, in denen er unwillkürlich an die Steine dachte, an die er unten mit den Wurzeln immer wieder einmal stieß und an denen sie vorbeiwachsen mußten. Bei diesem Gedanken an Äxte versteinerte etwas in ihm, vor Schmerz, im Voraus.

Er hatte viel Zeit, von Steinen zu träumen, von mineralischer Härte, bachgerieselummurmelten Kieselsteinen, die von Jahrtausenden rundgeschliffen worden waren, höchstens daß Kinder sie einmal aufgriffen und übers Wasser hüpfen ließen, ducks at drakes mit ihnen spielten, und die niemand je aufgebrochen und von innen gesehen hatte, weil sie keine zerfetzbare Haut und splitterbaren Knochen und platzbaren Adern hatten und die Rettung wären vor allen Motorsägen dieser Welt, Steine, keine Edelsteine. Was würde es denen schon ausmachen, einmal von Baggern gefaßt und zusammen mit anderen Steinen in Hauswände eingefügt zu werden, schlimmstenfalls?

Und auf Felsen ließe sich bauen. Ein Stein? Warum nicht, wenn er dabei, tief innen, nur irgendwo noch Arthur S. blieb, der das alles genießen konnte ...

Eines obsschönen Tages erwachte Arthur S. wie leblos im morgendlichen Bett und entdeckte, daß er außerstande war, sich zur neuen Arbeitswoche zu erheben. Er konnte sich nicht rühren, nicht einen einzigen Zentimeter weit. Zu Stein erstarrt, vor Schmerz versteinert bis zur Anästhesie, lag er da und vermochte nicht einmal die Augenlider zu bewegen. Die Ärzte, die ihn später untersuchten, waren ratlos. Auf dem Einweisungsattest für die Anstalt stand zu lesen :

„Katatone Starre und hysterische Lähmung ohne organischen Befund. − Lapidarer Autismus“.

Er wurde künstlich ernährt, von Pflegern gewartet, und wenn er nicht gestorben ist, dann lebt er noch heute, verwöhnt wie ein Kleinstkind, unfähig, sich das Leben zu nehmen, das seine Mutter ihm gegeben hatte, aber dem Existenzkampf für immer entzogen.

Wir wollen hoffen, daß seine Geschichte hiermit nicht zu Ende ist und daß irgendetwas ihn eines Tages doch noch erweichen mag, einmal wieder ein wenig glücklicher sein zu wollen als jemand, der nur unfähig oder unwillig ist zu leiden, glücklicher als Gottvater im Himmel, dieser Stein, der weiß, daß er nur ein Stein ist, ein Stern.

Und auch etwas mehr als ein Stein, dieser Gott, der nicht weiß, daß er einer ist.

Alle gleich : jeder anders

Ein Spiel

Personen :

Ada

Max

Udo

Max: Sag mal ...

Udo: Mmmmh?

Max: Ach nichts.

Udo: Nein, nein, sprich dich ruhig einmal aus. Man muß sein Herz von Zeit zu Zeit jemandem ausschütten. Das erleichtert.

Max: Wer hat dir denn diesen Quatsch erzählt, mein Herz?

Udo: Die zwischenmenschlichen Beziehungen heute, ich meine ... die Entfremdung … Man lebt so bindungslos nebeneinander her ... alles so leer und … Man muß doch lernen, wieder miteinander zu reden. Max: Wir reden den ganzen Tag darüber, daß man wieder miteinander reden muß.

(Pause)

Udo: Sag mal, glaubst du, daß die anti-autoritäre Erziehung einen Originalitätsdruck auf Kinder ausübt?

Max: Was soll denn das nun wieder? Wir haben doch gar keine Kinder.

Udo: Ach, ja.

(Pause) .

Udo: Ich glaube, Rußland braucht Ruhe an der Westfront, seit es Schwierigkeiten mit China hat.

Max: Was faselst du da?

Udo: Na ja, es ist so still. Ich wollte etwas Atmosphäre hineinbringen.

Max: Hast du heute noch nicht onaniert?

Udo: Aber natürlich. Wieso?

Max: Weil du dich schon wieder mit diesem Quatsch beschäftigst. Beschäftigst!

Udo: Du willst nicht hinter die Dinge sehen.

Max: Hinter was?

Udo: Hinter uns z.B.!

Max: Was steckt hinter kleinen Jungen, die sich aufspielen und Schiß haben, man könnte dahinterkommen, dass ihre Schwänze für diese Welt viel zu klein sind.

Udo: Einige wollen das ändern.

Max: Die wollen nur ändern, daß sich heute alles so schnell ändert. Die nennen das alles Schwindel. Aber denen wird nur schwindlig. Die kommen nicht mehr mit. Die wollen einen Halt, also ein Halt! Die wollen zurück, wo es weich ist und warm und ganz leise.

Udo: Du meinst, hinter der revolutionären Vision von der Abschaffung des Existenzkampfes stecke ...

Max: Ich meine verdammt nochmal gar nichts. Du ... du ... Diskutierer du! Fick dich in den Arsch, aber halt endlich Ruhe! (Pause)

Udo: Sag mal ...

Max : Jaaa?

Udo: Sind wir nicht... ich meine ... manchmal etwas steril?

Max: S-t-e-r-i-l?

Udo: Na ja. Wir sitzen hier so unpersönlich herum, so ... so nichtssagend.

Max: Bin ich dir zu lahmarschig?

Udo: Sollten wir nicht etwas lebendiger, ein bißchen dynamischer, ich meine ... nicht wurzellos, aber ...

Max: Fängst du wieder ganz von vorn an? Sind wir uns in diesem Punkt nicht längst menschlich nahegekommen? Soll da denn ewig ...

Udo: Ich weiß, das Leben überlassen wir den Lesern, aber ...

Max: Na also. Basta.

(Pause)

Udo: Sag mal...

Max: Was ist denn jetzt schon wieder?

Udo: Sind wir nicht...

Max: Was sollen wir nicht sein?

Udo: Sind wir nicht manchmal genauso ordinär?

Max: Genauso waaas?

Udo: Woher wissen wir eigentlich, daß wir nicht genauso vulgär sind wie die anderen da draußen, letztlich? Vielleicht ist das der Grund, warum wir uns im Kreise drehen. Vielleicht ist es nur eine Frage des Niveaus.

Max: Oh, dieser Quatsch aus deinen Zeitschriften! All diese Klimmzüge, um doch noch ... der Anschluß an die, die ... und du mit ... mit hängender Zunge hinterher ...

Udo: Wir sind schließlich keine Klasse für uns. Ja, wenn wir ein klassisches Paar wären! Stolz und einsam!

Max: Willst du damit sagen, daß wir noch immer nicht unnatürlich genug sind?

Udo: Will ich.

Max: Kann sich der Mann auf der Straße in uns wiedererkennen?

Udo: Ich fürchte, ja.

Max: Du meinst wirklich, im Ernst...

Udo: Wir sind aus dem Leben gegriffen. Nimm dich z.B.: Man kann sich in dich einfühlen. Wir sind allgemeinmenschliche Probleme. Wir halten Spiegel vor. Wir ...

Max: Hör auf, ich kann nicht mehr. Wir sind anders als die anderen.

Udo: Die anderen sind anders als wir.

Max: Also sind wir anders als wir selbst.

Udo: Also sind wir die anderen.

Max: Rede ich wirklich, wie denen der Schnabel gewachsen ist?

Udo: Wie ihr V-Mann. Ganz ohne V-Effekt.

Max: Wie soll ich denn reden, ohne daß es jemandem gleich, warm ums Herz wird, weil man es ihm so richtig gibt? Ohne daß jeder gleich denkt, da oben liegt endlich mal einer, der unsere Sprache spricht.

Udo: Gehobener! Mehr von oben herauf!

Max: Soll ich schmeicheln? Bestätigen? Verklären?

Udo: Noch viel gehobener.

Max: Nicht mehr sagen, wie es ist?

Udo: Nein. Heb sie höher, als sie wollen!

Max: Schöner, als die es gern hätten?

Udo: Jaja. Ihr Hals

Max: ist mein Elfenbeinturm. Ihr Becken

Udo: ist voll durstigen Wassers. Ihre Augen

Max: sind das Fett auf der Suppe, die wir auslöffeln. Ihre Haare

Udo: haben wir auf den Zähnen. Ihre Brust

Max: ist der Korb, den sie gibt. Ihre Füße

Udo: sind Plancksche Wirkungsquanten. Ihre Schenkel

Max: sind verschenkt. Ihr Rücken

Udo: ist verrückt. Ihr Geschlecht

Max: ist ausgestorben. Ihr Arsch

Udo: ist hinterweltlerisch.