Angst beim Hund - Ute Heberer - E-Book

Angst beim Hund E-Book

Ute Heberer

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Beschreibung

Angst beim Hund ist eines der dringlichsten Probleme bei Hundehaltern. Der Leidendruck bei Hund und Mensch ist groß. Das Autorinnenteam geht in diesem Buch dem Thema auf den Grund. Was passiert im Körper, wie erkennt man Angst und reagiert richtig. Trainingsansätze für Angsthunde zeigen Wege aus der Angst.

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Dieses E-Book ist die digitale Umsetzung der Printausgabe, die unter demselben Titel bei KOSMOS erschienen ist. Da es bei E-Books aufgrund der variablen Leseeinstellungen keine Seitenzahlen gibt, können Seitenverweise der Printausgabe hier nicht verwendet werden. Stattdessen können Sie über die integrierte Volltextsuche alle Querverweise und inhaltlichen Bezüge schnell komfortabel herstellen.

Vorwort

Angst! Angst ist ein Wesen, nennen wir es einen Zwergriesen. Zwergriesen haben eine unangenehme Eigenschaft: Sie können machen, dass aus einer winzigen Sorge, einem flüchtigen Gefühl der Anspannung, eine existenzielle, schier unüberwindbare Qual mit immensem Leid wird, allein durch die Macht der Gedanken.

Stellen wir uns vor es ist Sonntagmorgen. Die Kaffeemaschine kündigt durch wohliges Gluckern und angestrengtes Keuchen an, dass der Kaffee durchgelaufen und trinkbereit ist. Wir greifen zu unserer heißgeliebten Tasse. „Hoffentlich fällt sie nicht herunter!“, fährt es durch den noch verschlafenen Geist. Wir lieben diese Tasse – es wäre so schade, wenn sie kaputt ginge. Während wir etwas aufmerksamer nach der Tasse greifen, erwacht der Zwergriese und eskaliert in unserem Kopf: Wenn diese Tasse jetzt herunterfällt, dann trifft vielleicht ein Splitter das Auge des Hundes. Dann müssen wir ganz schnell in die Tierarztpraxis. Nein! Oje! Es ist Sonntag! Wir müssen in eine Tierklinik. Aber die schwinden und das Personal dort ist massiv überlastet. Während unser Hund schreiend mit einem Splitter im Auge tobt, müssen wir verschiedene Kliniken anfahren – denn telefonisch erreicht man seit Monaten keine Anmeldung mehr. Herrje, die Klimaanlage im Auto ist defekt. Und wir haben Hochsommer und befinden uns mitten in einer Hitzewelle. Es soll über 35 °C heiß werden. Wegen der Globalen Erwärmung bleiben Wetterlagen länger und zeigen sich extremer. Die Welt, unsere Welt, verändert sich viel schneller als wir dachten. Überall sehen wir die Zeichen und lesen davon in den Nachrichten. Im Auto wird es noch heißer sein, während wir mit unserem vor Schmerzen wimmernden Hund durch die Gegend irren und Hilfe suchen. Sein Kreislauf wird das möglicherweise nicht mitmachen, weil er schon älter ist und doch sowieso herzkrank. Hat er überhaupt schon sein Medikament bekommen heute Morgen?! Vielleicht stirbt unser geliebter Hund!

Wir stellen die Tasse auf der Küchenzeile ab und gießen uns duftenden Kaffee ein – der Zwergriese ist nur etwa eine Sekunde durch unsere Gedankenwelt getrampelt. Unangenehm wach mit einem verkrampften Magen und einem Puls, den wir an unserem Hals zucken fühlen, schauen wir uns nach unserem Hund um. Er sitzt neben uns in der Küche und wartet auf sein Futter. Erwartungsvoll schaut er uns an und wedelt motivierend mit seiner Rute. Nichts ist passiert – nur die ersten Schlucke Kaffee, die wollen nicht so recht schmecken. Der Zwergriese „Angst“ war zu Besuch und hat Spuren hinterlassen. Wer mit Ängsten zu kämpfen hat, der kennt dieses monströse Gefühl, das aus dem Nichts auftauchen kann, um uns kräftig zu erschrecken. Wir wünschen niemandem die Bekanntschaft mit Zwergriesen, weil sie anstrengend sind und nie erfreulich.

Angst als Gefühl ist vor allem deswegen ein so schwieriges Thema, weil es winzig und unvorstellbar groß sein kann, komplett erdacht oder ganz konkret und real. Unangenehm ist Angst so oder so. Dabei können wir durch sie, die Angst, drohenden Gefahren geschickt ausweichen, können mit Erfahrung und Selbstbewusstsein Herausforderungen annehmen und uns sicher fühlen – oder wir können an latenten oder abstrakten Ängsten krankhaft zugrunde gehen. Wir alle haben unsere Erfahrungen mit Angst gemacht, mit Befürchtungen und Schrecken. Und die allermeisten von uns haben irgendeine mehr oder weniger beeinträchtigende Phobie, seien es Spinnen, weiße Kaninchen mit roten Augen, Clowns oder Krankheitserreger. Vielleicht belastet auch ein Trauma spezifische Situationen oder das gesamte Erleben.

Reden hilft, aber nicht bei Hunden!

Wir Menschen haben einen entscheidenden Vorteil gegenüber den Hunden, die wir halten und so sehr mögen und lieben: Wir können über unsere Sorgen und unsere Ängste reden. Wir können uns austauschen, informieren und uns Rat holen. Wir können uns in schlimmen Fällen ärztliche Hilfe beschaffen, weil wir miteinander kommunizieren können. Für das Wohlempfinden unserer Hunde sind aber ebenfalls wir verantwortlich. Sehen wir bei unseren Hunden, dass sie zittern, mit aufgerissenen Augen und eingeklemmter Rute zeigen, dass etwas nicht in Ordnung ist, dann können wir nur vermuten, was das Tier umtreibt – denn darüber reden kann es nicht. Einem Tier nicht angemessen helfen zu können, lässt viele von uns im ersten Impuls den Weg des kleineren Übels einschlagen: wir versuchen, den Hund vor den angstauslösenden Situationen zu bewahren. Der Riesenzwerg „Angst“ betritt die Bühne und lässt uns empathisch mit unserem Hund leiden. Zu gern würden wir ihm helfen, ihm erklären, dass alles in Ordnung ist, aber so wenig, wie er reden kann, versteht er unsere Sprache. „Du musst doch vor dem Staubsauger keine Angst haben!“ Diese Worte sind im wahrsten Sinne Schall und Rauch, wenn sie der Hund hört. Da gibt es kein Verständnis für das Konzept des Staubsaugers, der Wohnungsreinigung oder den Begriff des Nicht-Müssens. Es ist laut, es wird abrupt bewegt, nicht selten schnaufen und fluchen die Bezugspersonen, die mit dem vermeintlichen Untier ringen. Für einen Hund mag es durchaus sinnvoll erscheinen, vor diesem Biest Angst zu haben. Besser eine fälschliche Angst als ein verlorenes Leben, nicht wahr?

Meine Malinois-Hündin Ixy entschied – um ein reales Beispiel anzuführen – ganz folgerichtig, dass die einzig brauchbare Lösung die Flucht aus dem Schlafzimmerfenster im ersten Stock des Hauses war. Ja, sie ist einfach aus dem Fenster gesprungen. Nach ihrem Verständnis war das die bessere Wahl, als eine halbe Stunde vor Stress speichelnd mit aufgerissenen Augen und angelegten Ohren im Kreis zu rotieren. Sie blieb unverletzt und saß vor der Haustür, zu der ich panisch gerannt war, nachdem ich den Hund im ganzen Haus nicht finden konnte.

Also meiden wir als Menschen das Angst auslösende Staubsaugen, wechseln vielleicht auf Besen und Wischer, verlieren Stunden und Sauberkeit, weil wir für unseren Hund versuchen, seinen Angstauslöser zu vermeiden? Aber wem tun wir damit eigentlich einen Gefallen? Hier, in meinem Haushalt, war das keine Lösung – spätestens als Ixy anfing, auch auf die Staubsaugergeräusche von Nachbarn zu reagieren, mussten wir aktiv werden. Unsere Lösung war ein Staubsaugerroboter, und warum das so ist, lässt sich auf den kommenden Seiten nachlesen.

„Hab keine Angst vor der Angst.“

Dieser Satz findet sich in einem späteren Kapitel dieses Buches und für mich ist er die beste Zusammenfassung der vielen wertvollen Inhalte, die die Autorinnen mit ihrer unglaublichen Expertise zum Angstverhalten bei Hunden hier gesammelt haben. Alle drei, Ute Heberer, Katja Schumacher und Anna Pietschmann, sind nicht nur Hundetrainerinnen, sondern vor allem aktiv im Tierschutz, seit Jahren und Jahrzehnten.

Ute Heberer gründete den Tierschutzverein „Tiere in Not Odenwald“ und engagiert sich wie kaum eine andere Person nicht nur lokal, sondern auch landes- und bundesweit, über die Grenzen Deutschlands hinaus, nicht nur mit ganz konkreter, praktischer Hilfe für Tiere und insbesondere Hunde, sondern auch in der Politik und der Aufklärung und Bildung von Kolleginnen und Kollegen und heranwachsender Generationen. Tausende von Hunden hat sie gerettet, vermittelt, trainiert, erzogen und hin und wieder einmal verzogen – Ute hat sie alle auf neue Lebenswege geschickt und dabei mit ihrer furios-herzlichen Art viele Menschen inspiriert.

Ute und ich arbeiten seit Jahren zusammen – kennengelernt haben wir uns über die Zusammenarbeit an dem Buch „Aggressionsverhalten beim Hund“. Die Geschichten und Ressourcen, die Ute begleiten, sind immer eine Inspiration und ihre Energie eine Triebfeder auch bei langwierigen Projekten. Dass sie nun all ihr Wissen und ihre Erfahrungen zum Angstverhalten bei Hunden ebenfalls bündelt und ihrer Leserschaft zur Verfügung stellt, ist wichtig und eine Bereicherung für uns alle. Wiederum tut sie sich mit Menschen zusammen, um mehr als nur ihre eigenen Blickwinkel anzubieten, sondern ein umfängliches Werk zu erschaffen.

Katja Schumacher begleitet Ute seit vielen Jahren und hat sich in den letzten Jahren auf das Thema Angstverhalten bei Hunden spezialisiert. Davor und parallel trainiert sie Triathletinnen und Triathleten, stärkt Menschen, motiviert sie, ihre Ziele zu erreichen, und hat, so zielorientiert wie man es von einer Leistungssportlerin erwarten würde, ihre Arbeit durch Bildung solide fundiert und durch praktisches Handeln mit Erfahrung vertieft – bei „Tiere in Not Odenwald“ arbeitet sie mit jenen Hunden, die durch Angstverhalten auffällig werden.

Anna Pietschmann kommt aus den Wissenschaften. Als Hilfswissenschaftlerin am Max-Planck-Institut in Leipzig, heute – neben anderem – in gleicher Funktion tätig am Fraunhofer-Institut, mag Annas Laufbahn untypisch wirken, aber ihr Wissensschatz und ihr Willen, Themen in ihrer Gänze so umfassend wie möglich durch Fakten und Forschungsergebnisse zu erarbeiten, machen sie zu einem Leuchtturm in den Weltmeeren aus Mythen, Meinungen und Missverständnissen. Im engen Kreis trägt sie den Spitznamen Annapedia, also ihr Vorname verknüpft mit der größten Online-Wissensdatenbank Wikipedia, wegen ihrer einmaligen Fähigkeit, Forschungsveröffentlichung zu lesen, zu verstehen und im Kopf zu behalten. Annas Motivation ist die Maxime, dass das Bewerten und Handeln immer im Bewusstsein von Fakten und auch im Fehlen ebenjener geschehen muss.

Die drei Autorinnen vereinen hier in diesem Buch ihre Perspektiven, die von der Liebe zu Hunden und Menschen und der Wissenschaftlichkeit ihrer jahrelangen praktischen Arbeit mit unzähligen Hunden im Tierschutz und in Privathand geformt wurden und werden. Ihr Handeln basiert auf Fachkenntnis, Wohlwollen und Pragmatismus, Sachlichkeit und berührenden, aber auch belastenden Erfahrungen. Wenn sich drei solche Persönlichkeiten zusammentun, dann entsteht ein Werk, das für die Leserschaft immer eine Erkenntnis bereithält:

Warum …

Verständnis bei Ängsten wichtig, aber mitleiden der falsche Weg ist.

Angst nicht immer falsch ist, aber manchmal unbedingt überwunden werden muss.

wir, als Menschen, unseren Hunden dabei helfen können, Angst zu überwinden, auch wenn sie nicht darüber reden können.

es sich lohnt, sich durch Profis im Berufsfeld Hundetraining unterstützen zu lassen.

Ute, Katja und Anna bereiten für die Leserschaft die Grundlagen der Biologie des Hundes verständlich auf, um dann in die Erlebniswelt der Ängste einzutauchen. Die großen Angstquellen vieler Hunde werden umsichtig erläutert und mit Forschungsergebnissen unterstützt. Danach liefern sie Fallbeispiele echter Hunde, erzählen ihre Geschichten und erklären beispielhaft Lösungsansätze. Im Anschluss folgen praktische Tipps rund um das Bearbeiten von Angstverhalten. Das vorliegende Buch wird durch eine Perspektive vervollständigt, die ungleich wertvoller ist: die auf den Menschen. Die Menschen, die mit Angsthunden leben, ihnen helfen und mit ihnen trainieren möchten. Mit viel Einfühlungsvermögen geben die Autorinnen Ratschläge, die dabei helfen, sich zu orientieren und einen Plan zu fassen, um Hunde richtig einzuschätzen und die passenden Lösungen zu finden.

In einer Zeit, in der – mal sinnvoll, mal dogmatisch – die Grenzen zwischen angestrebtem Tierwohl und extremem Aktivismus verschwimmen, wo Menschen in voller Überzeugung auf öffentlichen Veranstaltungen darlegen, dass sie eher ihren Hund als das fremde Baby aus einem brennenden Haus retten würden und dafür zustimmendes Nicken im Publikum erhalten. Wo versucht wird, die natürlich schlechte Arbeit von Hundetrainern bzw. Hundetrainerinnen als Ursache für jedes unerwünschte Verhalten bei Hunden, mal Aggression, mal Angst, mit imposanten Worten und schlecht konzipierten Studien zu belegen. Und wo lerntheoretische Grundlagen und schützende Hilfsmittel mit irrationalen Unterstellungen und polemischen Schuldzuweisungen verteufelt werden … freue ich mich über dieses Werk und die Botschaft, die es vermittelt:

Gemeinsam – Mensch mit Hund – kann man es schaffen, Ängste zu überwinden und das Zusammenleben zu genießen.

Ganz ohne überdramatische Zwergriesen, Staubsaugermonster und Polemik, mit der Hilfe von erfahrenen Menschen, die das Angstverhalten des Hundes und das Leid der Menschen fest im Blick behalten und von aus Erfahrung gespeistem Optimismus bestärkt ihr Wissen als Hilfe anbieten. Viel Freude und neue Erkenntnisse mit diesem Buch!

Dr. Nora Brede

Evolutionsbiologin

Geschäftsführerin KynoLogisch GbR

Teil I – Einleitung

Kapitel 1Hunde als enge Sozialpartner

Unsere Hunde haben oft einen wichtigen Stellenwert als Sozialpartner und Familienmitglied. Sie sind nicht einfach nur Haustiere, die zweimal am Tag Futter erhalten und versorgt werden. Im Gegenteil, Hunde binden sich oft eng an ihre Bezugsperson und wir profitieren von ihren einzigartigen Fähigkeiten, sich kommunikativ und sozial an uns anzupassen. Mittlerweile ist bekannt, dass Hunde teilweise unsere Emotionen entschlüsseln können und ähnliche Bindungsmuster aufweisen wie die von Kleinkindern zu ihren Eltern. Die Hundehaltung geht mit zahlreichen positiven Effekten einher. Neben mehr gesundheitsfördernder Bewegung kann das Zusammensein mit Hunden einen stresslindernden Effekt haben. Für Menschen, die sich isoliert fühlen und Schwierigkeiten bei der Interaktion mit anderen Personen empfinden, ist der vierbeinige Partner oft eine große Unterstützung. Kinder, die mit Hunden aufwachsen, entwickeln nützliche soziale Kompetenzen. Insgesamt bringt der beste Freund des Menschen in vielen Fällen mehr Lebensqualität in das Leben ihrer Halter, was nicht zuletzt die Erfolgsstory als ältestes und zweithäufigstes Haustier erklären dürfte.

Verstärktes Bewusstsein über Gefühlslagen

Das enge Zusammenrücken von Mensch und Hund und die enge Bindung führen auch zum verstärkten Beachten der hündischen Gefühlslage. Das betrifft insbesondere das Gefühl der Angst. Ein verstärktes Bewusstsein über die Angst beim Hund hat Vor- und Nachteile. Gut ist, dass Halter von Hunden mit Angstproblemen ein feineres Gespür für ihre Vierbeiner entwickeln. Andererseits berichten jene Hundehalter aber auch von Schuldgefühlen und belasteter mentaler Gesundheit. Diese resultieren vor allen Dingen aus der permanenten Sorge um den Hund und dem starken Wunsch, dass er seine Angst ablegen kann.

Dauerhaft bestehende Ängste, ohne Erholungsphasen, sind auf vielen Ebenen eine Belastung für den Hund. Betroffene Hunde zeigen Anzeichen von verringerter Lebensqualität.

Unerwünschtes Verhalten wie exzessives Bellen, Zerstören von Gegenständen, Aggressionsverhalten sind in diesem Zusammenhang häufige Folgen. Andere Hunde wiederum ziehen sich vollkommen zurück und zeigen kein Erkundungsverhalten mehr (Dreschel, 2005). Die physische Gesundheit wird ebenfalls durch problematisches Angstverhalten beeinflusst. Das Immunsystem betroffener Hunde ist oft geschwächt und das Risiko für verschiedenste Erkrankungen erhöht. Als Konsequenz gibt es Hinweise auf eine verkürzte Lebensdauer von dauerhaft unter starken Ängsten leidenden Hunden (Dreschel, 2010). Darüber hinaus sind Auswirkungen auf das Lernverhalten zu beobachten. Stark geängstigte Hunde haben oft verringerte Kapazitäten, um Alltagsfertigkeiten für das Zusammenleben zu lernen. Das Sozialverhalten unter Artgenossen leidet zusätzlich bei Hunden, die in ihrer Angst gefangen bleiben. Immer wieder gibt es Fälle von Angsthunden, die tragischerweise über Jahre hinweg ohne Kontakt zu Artgenossen verbleiben. Der Mangel an hündischen Sozialkontakten kann sich mitunter deutlich negativ auf die Lebensqualität auswirken.

Ist Angst grundsätzlich negativ zu bewerten?

Nein. Die Fähigkeit, Angst zu empfinden, ist ein überlebensnotwendiger Teil des hündischen und menschlichen Alltags. Angst hilft uns dabei, potenzielle Gefahren zu erkennen und den Körper darauf vorzubereiten, einer Bedrohung effizient zu entgehen. Wir lernen durch Angst, uns gefährdende Situationen, Lebewesen und Handlungen zu vermeiden. Angst motiviert außerdem, Risiken zu evaluieren und unsere Entscheidungen zu überdenken.

Urbach-Wiethe-Syndrom

In dieser Hinsicht ist der Fall einer unter dem Urbach-Wiethe-Syndrom leidenden Patientin interessant, die in der Forschung unter den Initialen S. M. bekannt wurde. Die Krankheit geht mit der Verkalkung und somit dem Ausfall einzelner Hirnregionen einher. In ihrem Fall betraf die Verkalkung die Amygdala, eine für Angstempfindungen wesentliche Gehirnstruktur. Durch die fehlende Angst und damit fehlenden Anpassungsreaktionen begab sich die Patientin wiederholt in gefährliche Situationen. Überdurchschnittlich oft wurde sie deswegen Opfer von schwerer häuslicher Gewalt, Mordversuchen und Raubüberfällen (Feinstein et al., 2011).

Angst und Furcht können tatsächlich auch gesund sein. Sie motivieren uns, Gesundheitsrisiken zu vermeiden und Vorsorgemaßnahmen wie einen gesunden Lebensstil, Impfungen oder Risikountersuchungen zu treffen. Angst ist also kein lästiges Übel, sondern essenziell wichtig. Auch Hunde profitieren in vielen Aspekten von ihren Angstgefühlen. Es wäre beispielsweise dem Überleben nicht zuträglich, keine Hemmungen an steilen Hängen zu haben. Furcht hat auch einen kommunikativen Wert. Hunde, die akut Angst empfinden, zeigen in vielen Fällen deutliche körpersprachliche Signale wie das Zurückverlagern des Körperschwerpunkts oder zurückgelegte Ohren. Artgenossen und Menschen können je nach Verständnis angepasst auf das jeweilige Verhalten reagieren und Konflikte vermeiden.

Während also ein gewisses Maß an Angst überlebensnotwendig und absolut normal ist, muss Hunden mit übersteigerter Angst geholfen werden. Je länger das problematische Angstverhalten unberücksichtigt bleibt, desto hartnäckiger bleibt es mitunter bestehen. Ein Überbehüten des Hundes ist jedoch zu vermeiden. Untersuchungen weisen darauf hin, dass überbehütendes Verhalten vom Menschen zu verstärkter Angst beim Hund führt (Pereira et al., 2016). Wer zu jeder Zeit den Hund vor jeglichem Stress schützen und ihm keinerlei Bewältigungsstrategien im Falle von negativen Gefühlslagen vermitteln möchte, verstärkt mitunter seine Ängstlichkeit (Dodman et al., 2018).

Angstzustände erkennen

Wie häufig der Hund im Alltag mit Angst konfrontiert ist, lässt sich nur beantworten, wenn die Anzeichen für eine ängstliche Gefühlslage bekannt sind. Kenntnisse über die Körpersprache erlauben es, Angst und Furcht zu erkennen. Je mehr Kompetenzen diesbezüglich vorhanden sind, desto besser kann der Mensch problematische Situationen erkennen und sie bearbeiten. Konkrete Furchtauslöser und ängstigende Situationen sind dann auch ermittelbar und erlauben einen achtsamen Umgang. Wer früh kritische Situationen ausfindig macht, kann an diesen arbeiten, bevor ein gravierendes Angstproblem entsteht.

In zahlreichen Fällen haben Hunde, bedingt durch eine unzureichende Konfrontation mit Umweltreizen, Defizite im stabilen Umgang mit ihrer Außenwelt. Überwiegend besteht die Möglichkeit, durch gezielte Methoden diesen Hunden zu deutlich mehr Sicherheit zu verhelfen. Auch das ist nur möglich, wenn die entsprechenden Probleme der Hunde frühzeitig erkannt werden. Im Buch sind daher Informationen zu finden, wie genau ein Hundehalter erfassen kann, wann ein Hund Angst empfindet. Bei sämtlichen Interpretationen der Körpersprache ist die Tatsache zu beachten, dass sie eben nur Interpretationen sind. Auf welche Merkmale wir uns fokussieren und welche Schlussfolgerungen wir daraus ziehen, hängt von vielen variierenden Faktoren ab:

Wie ist meine aktuelle Gefühlslage?

Welche Beziehung habe ich zu dem Hund?

Worauf genau lag die Aufmerksamkeit?

Rekonstruiere ich die Situation aus meinem Gedächtnis oder liegt konkretes Bildmaterial vor?

Ein nüchternes Erfassen des Hundeverhaltens kann helfen, einen objektiveren Blick auf das Angstverhalten zu bekommen. Hierbei hilft die Erstellung eines sogenannten Ethogramms, eine Methode, die später im Buch vorgestellt wird (siehe hier). Das sichtbare Verhalten vom Hund kann dadurch zunächst wertungsfrei beobachtet und anschließend sinnvoll interpretiert werden.

Je objektiver es uns gelingt, die Körpersprache zu lesen, und je mehr wir uns im Beschreiben üben, desto effizienter können wir den Hund unterstützen. Sich ein Stück weit von der „vermenschlichenden Brille“ zu entfernen, ist dabei von zentraler Bedeutung. Vermenschlichung, im Fachbegriff „Anthropomorphismus“, beeinflusst auf mannigfaltigen Wegen die Interpretation von Hundeverhalten. Das birgt die Gefahr, bei für uns ängstigenden Situationen davon auszugehen, dass sie auch den Hund stressen würden. Oder aber zu meinen, dass Reize, denen wir keinerlei Bedeutung beimessen, auch für den Hund unwichtig sind. Beides Fehlannahmen, die fatale Folgen haben können.

Schwierig ist auch der Gedanke, Hund und Mensch müssten sich zu jeder Zeit in einer positiven Gefühlslage befinden. Negative Emotionen sind ein normaler, notwendiger Bestandteil im Leben. Selbst bei uns ist die Idee, dauerhaft glücklich zu sein, mit Nebenwirkungen verbunden. Der Druck, sich dauerhaft in einer positiven Gefühlslage befinden zu müssen, kann ein enormer Stressor sein. Notwendige Verhaltensänderungen und Anpassungen werden möglicherweise nicht ergriffen (Lomas et al., 2014). Im Zusammenleben mit einem Hund besteht die Gefahr, in mehrdeutigen Situationen schwere Angst im Hundeverhalten zu sehen, obwohl die objektiven Zeichen eher in Richtung leichte Unsicherheit weisen. Die bereits erwähnte Überbehütung ist eine weitere mögliche Folge. Oft genug tritt durch Vermenschlichung aber auch das Gegenteil ein. So tendieren viele Personen dazu, durch Stress zurückgezogene Lefzen des Hundes als Freude zu interpretieren. Hat der Hund große Trennungsangst und zerstört während der Abwesenheit seiner Halter Gegenstände, wird ihm gemäß einer „menschlichen Logik“ Vorsatz unterstellt, unter Umständen auch noch verbunden mit einer für den Hund unverständlichen Strafe.

Wege zu einem angstfreieren Leben

Allein zu erkennen, wann ein Hund übermäßig viel Angst hat, ist natürlich nicht ausreichend. Genauso wichtig ist zu wissen, wie ihm am besten geholfen werden kann. Das Buch vermittelt sinnvolle Möglichkeiten, um dem Hund ein angstfreieres Leben zu ermöglichen. Die konkrete Arbeit an der Angst ist so viel mehr als nur „Hundetraining“. Sie hat das Potenzial, die Lebensqualität von Mensch und Hund deutlich zu erhöhen. Der Hund gewinnt durch das Erlernen neuer Bewältigungsstrategien Selbstvertrauen und wird mental widerstandsfähiger. Das Vertrauen zwischen Hund und Halter kann durch eine verbesserte Kommunikation gefördert werden und so dem Vierbeiner mehr Sicherheit geben. Wird der Mensch zunehmend als verlässlicher, stabiler Bindungspartner erlebt, sind neue Herausforderungen einfacher zu bewältigen. Tierschutzhunde, mit problematischem Angstverhalten, haben bessere Vermittlungschancen, wenn aktiv und zielführend trainiert wird. In den Fallbeispielen finden sich zahlreiche Beispiele von Tierschutzhunden, deren Lebenswege durch einen kompetenten Umgang mit ihrer Angstproblematik eine dramatisch positive Wendung erfahren haben.

Die gezielte Arbeit an Angstproblemen ist oft steinig und gelegentlich frustrierend. Evolutionär hat sich das Prinzip bewährt, lieber einmal zu vorsichtig zu sein, als zu sterben. Das gilt auch für den Hund. Dementsprechend hartnäckig halten sich Ängste, und Rückfälle sind häufig unvermeidbar. Manchmal müssen verschiedene Wege ausprobiert werden, um die sinnvollsten Maßnahmen für den individuellen Hund zu ermitteln. Hin und wieder lassen Erfolge zunächst auf sich warten. Wir möchten mit dem Buch Mut machen, dennoch motiviert daran festzuhalten, den Angsthunden zu helfen. Es gibt immer einen Weg, dem Hund zu einem angstfreieren Leben zu verhelfen.

Auch wenn der Vierbeiner noch keine gravierenden Angstprobleme aufweist, ist es sinnvoll, sich mit der hündischen Angst auseinanderzusetzen. Spezifischere Kenntnisse sind äußerst hilfreich bei der Vorbeugung. Bereits bei der Hundewahl und der Aufzucht werden wesentliche Entscheidungen getroffen, die sich auf die Ängstlichkeit auswirken. Hier sind besonders neuere Erkenntnisse zur Erblichkeit von ängstlichem Verhalten spannend. In den ersten Wochen des gemeinsamen Zusammenlebens von Welpe und Halter erweisen sich bereits kleine Stellschrauben als maßgeblich für die spätere Umweltsicherheit. Immer wiederkehrenden Problemen wie der Angst vor Feuerwerken und Trennungsangst kann durch gezieltes Training vorgebeugt werden.

Umfangreiche Kenntnisse über das Angstverhalten von Hunden sind also immer gewinnbringend. Die Inhalte der folgenden Kapitel vermitteln Wissen zu den biologischen Grundlagen der Angst, der Körpersprache und möglichen Trainingswegen. Auch die Möglichkeiten und Grenzen von Nahrungsergänzungsmitteln sowie Medikamenten gehören dazu.

Die aktive Arbeit an der Angst mit Wissen, Durchhaltevermögen und Motivation kann unzähligen Hunden und Menschen dabei helfen, ein glücklicheres Leben zu führen.

TEIL II – Grundlagen

Kapitel 2Biologie des Hundes

Um Hunden mit Angstproblemen effektiv helfen zu können, ist es notwendig, die biologischen Hintergründe von Angstverhalten zu kennen. Nur wer Kenntnisse über das Ausdrucksverhalten hat, kann anhand bestimmter Verhaltensmerkmale Schlussfolgerung über den Gefühlszustand des Hundes treffen. Allein die Erfahrung und das langjährige Zusammenleben mit Hunden sind dabei unzureichend, wie die Ergebnisse einer Studie von Tami und Gallagher (2009) zeigen. Besonders ängstliches Verhalten wird oft übersehen, überinterpretiert oder verkannt (Wan et al., 2012). Mit Wissen über die mit Angst einhergehenden körperlichen Prozesse gelingt die Einschätzung besser, ob ein individueller Hund dringend Hilfe benötigt. Außerdem können so Entscheidungen über die gezielte Therapie und sinnvolle Trainingsmaßnahmen getroffen werden. Einblicke in die Entstehung und die Lernprozesse von Angst ermöglichen vorbeugende Maßnahmen gegen Ängste. Einblicke in mögliche, Angst fördernde Krankheitsbilder sind zudem mitunter der Schlüssel zu Erfolgen bei therapieresistent erscheinenden Angsthunden.

Definition und Funktion von Angstbegriffen

Um zu kommunizieren, benutzen wir Menschen zu großen Anteilen unsere Sprache. Wir verständigen uns also über ein System aus bedeutungstragenden Worten. Schätzungen zufolge umfasst die deutsche Sprache mehr als 23 Millionen Wörter, die auch die differenzierte Beschreibung von Empfindungen und Gefühlen ermöglichen. Zu diesen gefühlsbeschreibenden Begriffen zählt die „Angst“. Wir haben Angst vor bestimmten Situationen, vor Angst rutscht uns das Herz in die Hose und wir ermutigen andere mit der Aufforderung, keine Angst haben zu müssen. Aber was genau macht die Angst nun aus?

Zunächst fällt auf, dass zum Wort „Angst“ sehr viele Synonyme existieren, also Wörter mit gleicher oder ähnlicher Bedeutung: Enge, Sorge, Furcht, Bedenken, Unsicherheit, Grauen, Unruhe, Panik, Kummer, Befürchtung, Entsetzen, Unrast, Besorgnis, Schreck, Unbehagen, Feigheit und Bange.

Da ist es nicht verwunderlich, dass auch in Bezug auf den Hund unterschiedlichste Definitionen des Angstbegriffs im Alltag existieren. Grund genug, sich der näheren Klärung verschiedener Begriffe rund um die Angst des Hundes zu widmen.

Angst und Furcht

Angst kann allgemein als emotional negativer Zustand bezeichnet werden, der in Folge einer als bedrohlich wahrgenommenen Situation auftritt. Der Körper wird dabei durch verschiedene Hormone und Botenstoffe in Alarmbereitschaft versetzt. Das äußerst sich beispielsweise in einer beschleunigten Atmung, in Herzrasen und erhöhter Aufregung.

Oft ist zudem eine zusätzliche Unterscheidung zwischen Angst und Furcht zu finden:

Furcht wird dabei als eine emotionale Reaktion auf eine akut gegenwärtige Gefahr definiert. Sie äußert sich in Verhaltensänderungen wie Flucht, Vermeidungs- oder Verteidigungsverhalten. Körperliche Symptome wie eine erhöhte Herzfrequenz und Hecheln sind damit verbunden.

Angst hingegen wird als emotionale Reaktion auf eine bevorstehende oder potenzielle Gefahr definiert, die tatsächlich gar nicht vorhanden ist. Im Gegensatz zur Furcht fehlt ein konkreter Auslöser für die Angst und der Hund kann in diesem Fall keine sinnvolle Anpassungsreaktion wie die Flucht zeigen.

Sowohl in der wissenschaftlichen Literatur als auch in der Alltagssprache überwiegt die austauschbare Verwendung von Angst und Furcht als Synonym. Schließlich beziehen sich beide Begriffe auf eine emotionale Reaktion in Folge von bedrohlichen Reizen (Blackwell et al., 2013).

Furcht und Angst sind lebensnotwendig!

Sie lassen uns und alle Lebewesen bei Gefahr angemessen reagieren und so überleben. Helden sterben häufig jung und können sich entsprechend kaum reproduzieren. Furcht macht also handlungsfähig. Sie setzt den Körper unter enormen Stress, der wiederum viele chemische Prozesse in Gang setzt, die dem Überleben dienen. So werden z. B. Verdauungs- und Sexualorgane stillgelegt, die Bronchien erweitern sich, die Muskelspannung erhöht sich, Reflexe werden verfeinert und verbessert, das Herz rast, der Blutdruck steigt. Dabei werden Blutzucker und Fette bereitgestellt, um Kraft zu haben für das, was kommen kann, und die Gerinnungsfähigkeit des Blutes wird erhöht, um schneller Wunden zu schließen, ebenso die Schmerztoleranz. Unfallopfer sprechen davon, dass die Schmerzen erst zu spüren sind, wenn der Körper sich langsam entspannt.

Das klingt erst einmal gruselig und keiner würde das doch freiwillig sich oder seinem Tier zumuten, oder? Warum also schauen oder lesen wir so gern Thriller, fahren Achter- oder Geisterbahn? Es ist das Gefühl dabei: diese momentane Unverwundbarkeit im Stress und dieses Hochgefühl danach. Klar könnte man dem Hund jeglichen Stress vermeiden, man würde ihm aber dann auch das gute Gefühl verwehren, etwas geschafft zu haben.

Man fordert z. B. kleine Kinder auf, waghalsige Dinge zu tun, wie – abgesichert durch die Eltern – von einer Mauer zu springen (sie fürchten sich, trauen sich erst nicht und werden doch genötigt, mit Unterstützung ihrer Eltern, zu springen). Oder wer kennt nicht „Engelchen flieg“, wo die Kinder an den Händen genommen und in die Luft gewirbelt werden. Dies alles sind Übungen zum Umgang mit Furcht und Resilienz. Es wäre doch fatal, unseren Hunden diesen Lernprozess zu verwehren, um sie vor dem angenommenen Gefühl von Angst zu schützen. Ein Hund, der sich fürchtet, beispielsweise eine Treppe zu laufen oder über einen Graben zu springen, freut sich mit wilden Sprüngen, wenn er es dann doch geschafft hat.

Unsicherheit

Unsicherheit ist die abgeschwächte Form der Furcht. Ein Zögern oder Meiden vielleicht beim auslösenden Reiz. Man traut sich nicht. Da braucht es möglicherweise nur eine Aufforderung: Doch, das schaffst du! Also eine Hilfestellung, den nächsten Schritt zu gehen. Hier mit einem breiteren Trainingsangebot zu reagieren, würde den unangenehmen Reiz erst wichtig machen. Mehrere Wiederholungen mit entspanntem Umgang reichen, um den Reiz als ungefährlich einzuordnen. Mit einem bei Autos Unsicherheit zeigenden Hund könnte man, abhängig von seiner Reaktion, mit etwas mehr oder weniger Abstand entspannt an einer Straße entlang laufen. Der Hund wird nach einer Weile feststellen, dass die Autos nur vorbeifahren und ihm nichts passiert.

Misstrauen

Anders ist es beim Misstrauen. Das bedeutet, man hat kein Vertrauen in jemanden, vermutet oder unterstellt etwas Unangenehmes und glaubt schlichtweg nicht. Habe ich einen Hund in einer solchen Situation, kann ich davon ausgehen, dass schlechte Erfahrungen vorausgingen. Die Hunde sind hierbei oft sehr wehrhaft und verweigern die Kooperation. Gut zureden hilft in solchen Fällen nicht. Man kann angenehme Situationen schaffen, in denen gegenseitiges Vertrauen entsteht. Auch kleinere, gemeinsam durchgestandene Konflikte lassen Beziehungen wachsen. Vertrauen entwickelt sich durch Erfahrungen, gemeinsame Erlebnisse, ein Ab- und Einschätzen des Gegenübers in verschiedenen Situationen. Erlebt der Hund uns in stressigen Situationen als ruhig und überlegt, also als überlegen, wird er das Misstrauen uns gegenüber verlieren. Man darf allerdings NIEMALS seine Befürchtungen bestätigen. Wenn der Hund Menschen als Bedrohung sieht und möglicherweise sogar angreift, sollte man sich keinesfalls auf einen Kampf einlassen, sondern die Situation verpuffen lassen. Heftige Gegenwehr würde das Misstrauen verstärken.

Für all diese Empfindungen sind grundsätzlich verschiedene Reaktionen des Menschen erforderlich. Man muss genau hinschauen, welches Verhalten der Hund zeigt.

Phobie und Panik

Eine extreme Art der Furcht wird als Phobie bezeichnet. Eine Phobie bezieht sich auf eine plötzliche, übermäßige und starke Furcht vor einem bestimmten Auslöser. Sie ist in ihrer Intensität stärker, als es in der entsprechenden Situation angemessen wäre. Die oft extremen Verhaltensreaktionen stehen in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Bedrohung. Im Gegensatz zur normalen Furcht bleiben die Symptome einer Phobie auch dann noch bestehen, wenn der auslösende Stimulus gar nicht mehr vorhanden ist. Phobien entwickeln sich in vielen Fällen relativ plötzlich und sind von Anfang an sehr intensiv. Furcht und Angst entwickeln sich hingegen eher allmählich. Es scheint, dass oft eine einzige Schlüsselsituation ausreicht, um eine Phobie gegenüber einem bestimmten Auslöser zu entwickeln. Die betroffenen Situationen werden nach Möglichkeit vermieden und sind immer mit einem hohen Maß an Angst und Stress verbunden.

Der Begriff der Panik definiert eine besonders intensive Form der Angst, die wie aus heiterem Himmel auftritt und eine extrem starke Angstreaktion auslöst. Bewusstes Verhalten ist dann fast nicht mehr möglich. Befindet sich der Hund in einer Panikattacke, sind häufig kopflose Fluchtversuche und extrem starkes Hecheln zu beobachten.

Ängstlichkeit

Ängstlichkeit beschreibt ein Persönlichkeitsmerkmal. Die genaue Definition von Persönlichkeit variiert zwischen den verschiedenen psychologischen Disziplinen. Es besteht jedoch der gemeinsame Konsens, dass Persönlichkeit eine individuelle Zusammenstellung verschiedener Denkmuster und Einstellungen ist. Diese bleiben über längere Zeiträume hinweg stabil und beeinflussen das charakteristische Denken, Fühlen und Handeln. Die Persönlichkeitsmerkmale erklären daher zumindest teilweise, warum sich ein Hund auf eine bestimmte Art und Weise verhält. Hunde, die eher ängstlich sind, verhalten sich eher vorsichtig. Je stärker die Ängstlichkeit ausgeprägt ist, desto stärker ist die grundsätzliche Furcht vor allem Fremden, Neuen und Ungewohnten. Habe ich einen ängstlichen Hund, so braucht der viele Mutmach-Erlebnisse, viele kleine positive Erfahrungen und harmlose Begegnungen, die Freude machen und eine positive Grundstimmung bringen. Diese Hunde brauchen Rituale, viele Wiederholungen und kleinschrittige Veränderungen. Da können neu gelernte Alltagssituationen überschwänglich gelobt werden, damit der Hund etwas mutiger durch die Welt geht. Dazu braucht es aber einen sehr stabilen Sozialpartner, an dem er sich orientieren und anlehnen kann. Dies ist im Idealfall der Mensch, oft ist aber auch ein weiterer Hund die notwendige Stütze. Solche Hunde brauchen enge Regeln, klare Grenzen, in denen sie sich orientieren können. Ein großer Fehler wäre es, diesen Hunden Freiraum für eigene (Fehl)-Entscheidungen zu geben. Keine Flexi- oder Schleppleine, sondern eine normale Leine, an der man den Hund anleiten kann, wie er in furchteinflößenden Situationen reagieren soll.

Schreckhaftigkeit

Eine Schreckreaktion ist zunächst normal. Hunde reagieren auf einen plötzlichen Reiz (z. B. lautes Geräusch) wie wir Menschen auch. Es gibt aber auch Hunde, die eine erhöhte Schreckhaftigkeit aufweisen, das heißt, sie reagieren schneller und öfter auf Reize und erholen sich auch schlechter von dem Schreck. Oft sind das unsichere oder ängstliche Hunde. Schreckhaftigkeit kann erblich oder krankheitsbedingt sein, die Ursache kann ebenso eine Überlastung, eine belastende Lebenssituation oder eine traumatische Erfahrung sein.

Verhalten und Ausdruck

Hunde verhalten sich angepasst an ihre Umwelt. Verhalten kann bewusst oder unbewusst stattfinden, offen oder versteckt, freiwillig oder unfreiwillig (Abrantes, 1997).

Grundsätzlich setzt sich ein Verhalten durch, das für die biologische Fitness von Vorteil ist. Das heißt, es verlängert das Leben oder erhöht die Chance, sich zu reproduzieren. Wenn Hunde aus Furcht fliehen, sich verstecken oder auch zubeißen, dann hat das im Normalfall biologisch nützliche Hintergründe: Wenn etwas wirklich Gefährliches auftaucht, ist dies sinnvoll und überlebenswichtig. Ein Tier ohne Furcht würde gefressen, ein Straßenhund ohne Furcht von Autos überfahren werden. Auch Menschen wissen um Gefahren und empfinden Furcht. Wie schon beschrieben, verschwindet Furcht im Unterschied zur Angst, sobald der Auslöser weg ist oder das Objekt oder Lebewesen als ungefährlich identifiziert wurde. Angst bleibt bestehen, solange sich nichts verändert. Angst kann sich nicht von allein auflösen.

Ein Hund in permanenter Angst wird sich nicht vermehren, auch das hat biologische Gründe, denn ein sich in Gefahr befindendes Lebewesen kann keine Nachkommen großziehen, es muss zunächst selbst überleben. Das ist auch der Grund, dass Hündinnen manchmal erst läufig werden, wenn die Angst überwunden ist und sie sich in ihrem Umfeld sicher fühlen.

Ethogramme

Die Ethologie untersucht das Verhalten einer Tierart mit wissenschaftlichen Methoden. Dank zahlreicher Studien und diversen Forschern, die sich intensiv mit dem Verhalten von Hunden und Wölfen befasst haben, wissen wir heute relativ viel über Hundeverhalten und deren Ausdruck. Wir haben dadurch die Möglichkeit, es differenziert zu beobachten und zu erklären.

Bei dieser objektiven Beurteilung von Hundeverhalten und Ausdruck geht es erst einmal nur darum, es zu beobachten, undnicht darum, es zu interpretieren.

Roger Abrantes, Biologe und Ethologe, hat an der Universität Cambridge ein Ethogramm entwickelt, mithilfe dessen er das Ausdrucksverhalten der Hunde erfasst hat. Es handelt sich um eine Tabelle, in der z. B. Mimik, Gestik und Lautäußerungen der Hunde eingeordnet werden. Hier wird unterschieden zwischen einem neutralen Ausdruck, sozialem Verhalten und agonistischem Verhalten.

Der neutrale Ausdruck des Hundes wäre eine neutrale Körperhaltung, entspannte Mimik, je nach Rasse eine entspannt herunterhängende oder auch stehende Rute. Ein Hund, der sich in einer sozialen Kommunikation befindet, zeigt eine eher nach vorn gerichtete Körperhaltung und Mimik oder eine nach hinten gerichtete Körperhaltung und Mimik. Je nach Kommunikation (Spiel oder Streitgespräch) ist die Anspannung gering bis sehr angespannt, die Anspannung lässt sich gut anhand der Haltung beurteilen.

Ein Hund in Angst macht sich klein, er möchte verschwinden; die Augen sind so weit aufgerissen, dass man das Weiße sieht, die Pupillen sind geweitet. Die Ohren sind angelegt, die Stirn meist in Falten, die Maulspalte lang, der Schwanz ist eingezogen, der Rücken rund und der ganze Hund ist nach hinten gerichtet und sehr angespannt. Bei extremer Angst kann es vorkommen, dass Hunde koten und urinieren.

Grundsätzlich ist auch die Muskulatur ein guter Anhaltspunkt, um über den inneren Zustand des Hundes anhand der Körpersprache Informationen zu gewinnen. Sind die Bewegungen kurvig und die Muskulatur locker, befindet sich der Hund in der Regel noch nicht in starker emotionaler Anspannung. Je größer die innere Anspannung wird, desto steifer werden die Bewegungen des Hundes. Die Muskulatur ist dann deutlich angespannt, was vor allen Dingen im Gesichtsbereich deutlich sichtbar ist.

Verhalten am Blick erkennen

Gut beurteilen lässt sich das Verhalten eines Hundes schon an seinem Blick, denn er unterscheidet sich deutlich bei den hier beschriebenen Emotionen. Mit etwas Übung kann man die Gemütsregungen ganz gut am Blick erkennen. Mit dieser ersten Einschätzung ist es einfacher, in den richtigen Kontakt mit dem Hund zu gehen.

Ein unsicherer Hund zeigt sich zögerlich neugierig, der Blick ist dabei recht weich und offen, eher fragend.

Ein Hund, der sich fürchtet, hat die Augen weit offen, fixiert damit das furchteinflößende Objekt oder vermeidet den Blickkontakt. Er schaut ängstlich aus und Ansätze vom Augenweiß sind sichtbar.

Ist der Hund misstrauisch, so zeigt sich dies in einem sehr kritischen Blick, er beobachtet scharf alles, was um ihn herum geschieht; er mustert sein Gegenüber oft von unten nach oben; er beobachtet dabei wahlweise die Hände oder die Füße, was mit schlechten Erfahrungen zu tun haben kann.

Ein Hund in Panik reißt die Augen weit auf. Man sieht das Weiß besonders stark in den Augen.

Reaktionen auf Angst und Furcht

Ist der Hund mit einem konkreten Angstauslöser konfrontiert, bleiben ihm drei Reaktionsmöglichkeiten, die als „die drei F“ bezeichnet werden.

Beim vierten „F“ wird meist von Flirt gesprochen. Es ist ein „Um-den-Finger-Wickeln“, ein „Einschleimen“, aktives Demutsverhalten, um das Gegenüber in eine positivere Grundstimmung zu bekommen. Es ist weit weg von der Angst, die wie beschrieben handlungsunfähig macht.

Das fünfte „F“ bezeichnet man im Englischen als Fiddle about, was man am besten mit „Rumalbern“ oder „Rumhampeln“ übersetzen kann. Die Hunde versuchen, für sich unangenehme, bedrohliche Situationen spielerisch mit dem Gegenüber zu lösen. Dieses Verhalten ist sehr zielgerichtet und berechnend, es findet direkte Kommunikation statt und der bedrohte Hund reagiert sehr fein und schnell auf die Antwort des anderen.

Oft wird von fünf oder sechs „F“ gesprochen. Der Vollständigkeit halber wollen wir an dieser Stelle daher auch diese beschreiben. Sie werden allerdings NICHT in der echten Angst gezeigt, sondern sind für Hunde (und auch Menschen) Konfliktlöseverhalten mit meist demütiger Körperhaltung.

Auf welche der Optionen ein Hund zurückgreift, hängt von seinem Temperament und der jeweiligen Situation ab.

Demutsverhalten

Ein arttypisches Verhalten, das sehr überlegt und zielführend bei sozial lebenden Tierarten eingesetzt wird, um zu beschwichtigen und um Konflikte unblutig zu lösen, ist das Demutsverhalten. Beim Demutsverhalten ist die Körperhaltung ebenfalls klein, rund, man zeigt sich schwach.

In der aktiven Demut