Anlage Z - Hans-Joachim Wildner - E-Book

Anlage Z E-Book

Hans-Joachim Wildner

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Beschreibung

Abenteuerlustige Schüler entdecken in den Stollen des ehemaligen Rüstungsbetriebes Schickert-Werke in Bad Lauterberg zwei Skelette. Hauptkommissar Brauer nimmt die Ermittlung auf und stößt auf ein Verbrechen, das über siebzig Jahre zurückliegt. Plötzlich überschlagen sich die Ereignisse. Die Unternehmerfamilie einer Osteroder Baumaschinenfirma wird mit Anschlägen terrorisiert, wobei jedesmal der Begriff ›Anlage Z‹ auftaucht. Ungewöhnlich viele Wohnungseinbrüche im Südharz, der Drogenfund in einem ausgebrannten Lkw der Baumaschinenfirma und die Ermordung des Inhabers scheinen mit den ehemaligen Schickert-Werken in Verbindung zu stehen. Die Ermittlungen führen Brauer und sein Team bis zur wehrtechnischen Dienststelle der Marine in Eckernförde und sogar zu einer Chemiefabrik in England. Als nur noch ein Puzzleteil zur Auflösung fehlt, wird Brauers Tochter entführt...

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Seitenzahl: 453

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Hans-Joachim Wildner

Impressum

Anlage Z

ISBN 978-3-947167-58-6

ePub Edition

V1.0 (05/2019)

© 2019 by Hans-Joachim Wildner

Abbildungsnachweise:

Umschlagmotiv: Schickert-Werke im Bau

© Foto Lindenberg & Sohn, Bad Lauterberg

# 3215-4 | fotolindenberg.de

Stacheldraht (Umschlag) © galdzer

# 6189942 | depositphotos.com

Hintergrund (Umschlag) © rawpixel

# 3224651 | pixabay.com

Porträt des Autors © Ania Schulz

as-fotografie.com

Lektorat:

Sascha Exner

Verlag:

EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH

Postfach 1163 · 37104 Duderstadt · Deutschland

Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21

E-Mail: [email protected]

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Wichtiger Hinweis:

Die in diesem Roman erwähnten Schauplätze, Orte und Straßennamen sind teilweise real. Die Nennung der Hotels und Gastronomiebetriebe erfolgt mit Genehmigung der jeweiligen Inhaber bzw. Betreiber. Die Handlung und sämtliche Charaktere entspringen allerdings allein der Fantasie des Autors. Ähnlichkeiten mit verstorbenen oder lebenden Personen wären rein zufällig und sind nicht beabsichtigt.

Inhalt

Titelseite

Impressum

Prolog: KZ Mittelbau Dora, März 1945

Scharzfeld: Montag, 1. Dezember 1947

Mittwoch, 3. Dezember 1947

Bad Lauterberg: Dienstag, 3. Oktober 2017

Herzberg: Mittwoch, 4. Oktober 2017

Polizeiinspektion Northeim: Mittwoch, 4. Oktober 2017

Odertalsperre: Mittwoch, 4. Oktober 2017

Herzberg: Donnerstag, 5. Oktober 2017

Großes Langental: Montagnacht, 9. Oktober 2017

Köhler Baumaschinen: Montag, 9. Oktober 2017

Bad Lauterberg: Dienstag, 10. Oktober 2017

Bad Lauterberg: Freitag, 13. Oktober 2017

Polizeiinspektion Northeim: Dienstag, 17. Oktober 2017

Bad Lauterberg: Dienstag, 17. Oktober 2017

Osterode: Mittwoch, 18. Oktober 2017

Bad Lauterberg: Mittwoch, 18. Oktober 2017

Polizeiinspektion Northeim: Donnerstag, 19. Oktober 2017

Köhler Baumaschinen: Donnerstag, 19. Oktober 2017

Mülldeponie Hattorf: Freitag, 20. Oktober 2017

Polizeiinspektion Northeim: Freitag, 20. Oktober 2017

Eckernförde, WTD 71: Montag, 23. Oktober 2017

Dienstag, 24. Oktober 2017

Polizeiinspektion Northeim: Mittwoch, 25. Oktober 2017

Zuhause bei Brauer, Herzberg: Mittwochabend, 25. Oktober 2017

Polizeiinspektion Northeim: Donnerstag, 26. Oktober 2017

Köhler Baumaschinen, Osterode

Markttreff, Bad Lauterberg: Freitag, 27. Oktober 2017

Göttingen: Freitag, 27. Oktober 2017

Privatanwesen der Köhlers: Nacht von Samstag auf Sonntag, 29. Oktober 2017

Privatanwesen der Köhlers: Sonntagnacht, 29. Oktober 2017

Herzberg und Klinikum Göttingen: Sonntag, 29. Oktober 2017

Privatanwesen der Köhlers: Sonntag, 29. Oktober 2017

Klinikum Göttingen: Sonntag, 29. Oktober 2017

Polizeiinspektion Northeim: Montag, 30. Oktober 2017

Osterode: Montag, 30. Oktober 2017

Zur selben Zeit in Bad Lauterberg: Montag, 30. Oktober 2017

Polizeiinspektion Northeim: Montag, 30. Oktober 2017

Widnes, Cheshire, England: Mittwoch, 1. November 2017

Donnerstag, 2. November

Köhler Baumaschinen: Mittwoch, 1. November 2017

Polizeiinspektion Northeim: Montag, 6. November 2017

Herzberg / Bad Lauterberg / Göttingen: Montag, 6. November 2017

Bad Lauterberg

Göttingen

Großes Langental: Montag, 6. November 2017

Osterode: Dienstagnacht, 7. November 2017

Polizeiinspektion Northeim: Mittwoch, 8. November 2017

Köhler Baumaschinen: Mittwoch, 8. November 2017

Polizeiinspektion Northeim: Freitag, 10. November 2017

Polizeiinspektion Northeim: Freitag, 10. November 2017

Herzberg: Samstag, 11. November 2017

Auf der Autobahn A7

Einige Stunden später

Auf der A7, am Kirchheimer Dreieck

Polizeiinspektion Northeim: Montag, 13. November 2017

Über den Autor

Kontakt erwünscht

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Erzfeuer

Endstation Brocken

Prolog: KZ Mittelbau Dora, März 1945

Bedrückende Stille in der Gegenwart des Todes hing bleiern über dem Platz. Die Mündungsöffnungen zweier Maschinengewehre zeigten drohend von den Wachtürmen des Lagertores auf das Halbrund des Appellplatzes. Ihre Hände auf dem Rücken verschränkt, schritten SS-Wachleute in schwarzen Uniformen durch die Reihen. Wie Wölfe, die ihre paralysierte Opferherde belauerten und jederzeit zuschlagen konnten, schlichen sie durch die Gassen der blockweise angetretenen Häftlinge. Hier und da blieben sie stehen, sahen sich um und klappten mit ihren Schlagstöcken selbstgefällig gegen die Lederstiefel. Tock tock. Mit jedem Schlag zuckten einige der Häftlinge zusammen. Jeder kannte die schmerzliche Wirkung dieser Züchtigungsinstrumente. Keiner wagte, sich auch nur zu räuspern, wenn ein Wachmann nahe an ihm vorüberschritt. Diese täglichen Zählappelle nutzten die Aufseher gerne als weitere Schikane, vor allem, wenn jemand fehlte, und das war nichts Außergewöhnliches. Fast täglich verhungerten Männer, starben an Erschöpfung, wurden zu Tode geprügelt oder erschossen. Die Bestandslisten der Gefangenen gaben selten den aktuellen Stand wider. Trotzdem wurde jedes Mal Fluchtalarm ausgelöst und die Kapos bekamen Befehl, in den Stollen, den Wohnblöcken und dem Lagergelände nach ihnen zu suchen. Zwei Häftlinge wurden diesmal vermisst. Bis die Suche eingestellt wurde, konnten Stunden vergehen. Niemand durfte währenddessen den Platz verlassen. ›Strafstehen‹ nannte die Wachmannschaft diesen ausgedehnten Appell.

Alfred Bleß nahm anstelle seiner Füße nur noch ein taubes Gefühl wahr. Die Holzpantinen und feuchten Fußlappen konnten gegen die Kälte kaum etwas ausrichten. Seit Stunden verharrten sie im ›Stillgestanden‹ in diesem nasskalten Schneegestöber. Er steckte seine Hände unter den Saum der Jacke und drückte sie gegen die Hose, um wenigstens etwas Gefühl in seinen Fingern zu behalten. Die quälende Ungewissheit, wie lange die Tortur diesmal dauern würde, machte die Männer mürbe. Hunger und Müdigkeit steigerten zusätzlich den Drang, endlich in die Baracken zu kommen, die nicht nur Schutz vor dem Wetter, sondern auch vor der Willkür unbeherrschter SS-Schergen bot, die sich am Schikanieren wehrloser Menschen ergötzten. Alfreds Körper versuchte sich mit heftigem Muskelzittern aufzuwärmen. Doch die Nässe und Kälte fraßen sich unaufhaltsam durch die Kleidung bis auf die Knochen, obwohl er inmitten des angetretenen Blocks stand, wo sich die Körper wie Pinguine im Schneesturm gegenseitig etwas wärmten.

Damals, zu Hause, hatte Alfred gerüchteweise von Arbeits- und Konzentrationslagern der Nazis gehört. Jedoch konnte er sich das überhaupt nicht vorstellen und hatte Gemunkel darüber als Halbwahrheiten von Wichtigtuern abgetan. Aber nun erlebte er die grausame Wirklichkeit am eigenen Leib, und diese Wahrheit überstieg seine Vorstellungskraft bei weitem. Er war erschüttert, welche Gräueltaten auf deutschem Boden verübt wurden und dass Menschen wie diese SS-Leute sich zu solchen Unmenschen entwickelten. Es waren doch ebenfalls Familienväter unter ihnen, die ihre Frauen und Kinder liebten, sie zärtlich und fürsorglich behandelten. Wieso konnten sich diese Menschen in Bestien verwandeln? Alfred war fassungslos. Was erzählten diese uniformierten Teufel ihren Familien, wenn sie zum Feierabend gefragt wurden, was sie heute gemacht hätten und wie ihr Tag gewesen war? Was würden sie antworten?

Wer ihn dieser Qual ausgeliefert hatte, ahnte er, und er hatte sich geschworen, den Denunzianten eines Tages zur Verantwortung zu ziehen. Wenn es eine höhere Gerechtigkeit gab, dann musste er diesen Wahnsinn überleben. Eine hinterhältige Intrige hatte ihn in diese Hölle gebracht, ohne Verfahren, ohne Verteidigung, ohne Rechte. Wo Rechtlosigkeit und Terror herrschen, gedeihen Rache und Vergeltung. Wenn er überlebte, würde er sich holen, wofür er unschuldig gelitten hat. Der Gedanke daran gab ihm Kraft, an ein baldiges Ende dieser Folter und Demütigungen zu glauben. Für ihn gab es keine Vergebung.

In der Reihe vor ihm stand der Häftling mit der aufgenähten Nummer 28314. Jakub Zajac, ein Pole, mit dem er sich die Holzpritsche in Block 18 teilte. Jakub hatte bereits acht Jahre in verschiedenen KZs verbracht und Deutsch gelernt. Er kannte das Lagerleben mit allen Facetten. Von ihm hatte Alfred manchen Kniff abgeguckt, wie man SS-Leute austricksen konnte, um möglichst nicht aufzufallen. Jakub wurde 1943 von Buchenwald ins Lager ›Dora‹ nahe Nordhausen verlegt. Er erzählte Karl vom Siechtum im Querstollen 39, der unterirdischen Raketenfabrik im Kohnstein, das er erlebt und, bisher zumindest, überlebt hatte, bevor das Barackenlager fertiggestellt war. Sie mussten sich diese kalte Höhle mit achthundert Häftlingen und ebensovielen Ratten teilen. Jakub besaß offenbar die Zähigkeit und den unbändigen Überlebenswillen einer Katze.

»Was man uns hier antut, darf nicht ungesühnt bleiben«, murmelte er jedes Mal vor sich hin, wenn die Schreie von gefolterten Häftlingen aus dem ›Bunker‹ nach draußen drangen und wie schauerliche Gespenster durch das Lager krochen. »Die Gesichter und Namen dieser Teufel sind unauslöschlich in meinem Kopf eingebrannt. Und ich werde Zeuge sein, wenn diese Henkersknechte ihre gerechte Strafe erhalten. Der Tag wird kommen, an dem auch für uns die Sonne wieder aufgeht«, hatte Jakub einmal gesagt.

»Sollen wir so lange warten oder wollen wir ihr ein Stück entgegengehen?«, gab Alfred zurück.

Jakub hatte Alfred nachdenklich angesehen. Dann griente er. »Die Idee gefällt mir. Ich denke, bald werden wir eine Gelegenheit bekommen«, sagte er.

Die Gedanken an Flucht und Genugtuung belebten Alfreds Durchhaltevermögen, und er spürte, dass trotz der täglichen Erniedrigungen die Flamme seiner Selbstachtung nicht völlig erlosch.

Überleben war die einzige Prämisse, die an diesem Schreckensort zählte. Er wollte auf keinen Fall enden wie der Häftling, der ihm in der Gruppe auf der anderen Straßenseite gegenüber stand. Ein Mann, bis auf die Knochen ausgemergelt und dem Hungertod nah. Der Sträflingsanzug hing an ihm herunter, wie an einem Kleiderständer aufgehängt. Sein Gesicht wirkte wie ein mit Haut überzogener Totenkopf. Alfred empfand Mitleid mit diesem vollständig entkräfteten Menschen, den nur noch der nackte Selbsterhaltungstrieb an der Selbstaufgabe hinderte. Schafft er es noch zurück in die Baracke?, dachte Alfred, als der Mann auch schon wie ein Kartenhaus in sich zusammensackte. In der Reihe, in der er gestanden hatte, wurde es kurzzeitig unruhig, aber sofort nahmen alle erneut Haltung an, ohne sich um den Mann zu kümmern, der vor ihren Füßen lag. Als sei es nichts Besonderes, kam ein Wachmann gemächlich herbei und stellte sich neben den sterbenden Mann, der ihn aus todesverängstigten Augen ansah. »Steh auf, du Schwein!«, brüllte der SS-Mann. Dann knüpfte er bedächtig das Pistolenhalfter auf, zog die Waffe heraus, lud sie durch und richtete sie auf den Kopf des Mannes, der mit letzter Kraft flehentlich seine Hand nach ihm ausstreckte. Ein Schuss zerriss die Stille und hallte als Echo vom Kohnstein zurück. Die Hand des Mannes fiel schlaff auf die dünne Schneedecke, die sich unter seinem Kopf rot färbte. Die Stille kehrte auf den Appellplatz zurück und wurde noch bedrückender als zuvor, und Schnee fiel wie nasse Watte auf den toten Körper nieder.

Alfred sah auf den kahl geschorenen Hinterkopf von Jakub, und er ahnte, welches Drama sich in diesem Moment dahinter abspielte. Nach und nach kamen die Kapos zurück und verschwanden in der Wachstube. In Alfred keimte Hoffnung auf. Er schielte hinüber zu seiner Baracke mit der Nummer 18. Er sehnte sich nach etwas Wärme, einem Stück Brot und einen Becher Tee. Aber er musste noch eine halbe Stunde ausharren, bis endlich der Befehl aus dem Lautsprecher gebrüllt wurde: »Wegtreten!«

Wie eine zähe Masse löste sich die Formation der Häftlinge auf und bewegte sich in alle Richtungen zu den Blocks. Alfred Bleß stöhnte bei jedem Schritt. Das Stehen und die Kälte hatten die Gelenke steif werden lassen. Der dünne Tee war längst kalt geworden, das Brot hart, aber Hunger und Durst gaukelten den Geschmacksnerven etwas vor, was sich wie Genuss anfühlte.

Gegen neun Uhr, bevor das Licht ausgeschaltet wurde, fragte Heinrich Müller, der als Blockältester für die Ordnung in der Baracke verantwortlich war: »Ist jemand krank?«

»Giovanni geht es nicht gut«, rief einer der Kameraden. Der Italiener klagte über krampfartige Bauchschmerzen und Durchfall. Er lag fiebrig auf dem Bettgestell.

»Ich werde ihn morgen krank melden«, sagte Heinrich.

»Armer Teufel, wenn er den Morgen noch erlebt«, flüsterte Jakub zu Alfred. »Ruhr«, mutmaßte er, »die hat hier schon manche hingerafft.«

Punkt neun wurde es in der Baracke stockfinster. Die Männer krochen in die dreistöckigen Holzgestelle, für die die Bezeichnung Bett blanker Hohn war. Sie lagen auf den Brettern wie aufgereihte Heringe. Die durchgelegenen Strohsäcke und harten Decken wärmten nur unzureichend. Automatisch rückten sie enger zusammen. War die Tortur der zwölfstündigen Arbeit, der Schläge, Tritte und Demütigungen für einige Stunden unterbrochen, begannen nun die Qualen der Nacht. Die Gedanken an zu Hause, an die Familie, an das Leben in Bad Lauterberg, das nur wenige Kilometer entfernt war. Alfred sah seine Frau Lisa vor Augen, wie sie an ihrer Nähmaschine saß, Hemden und Hosen für ihn und Karl, seinen fünfjährigen Sohn, nähte. Hatte man sie in Sippenhaft genommen? Musste die Familie für ihn mitleiden? Kein Brief, keine Nachricht – nichts. Er war von seinem alten Leben abgeschnitten. Würde er sie je wiedersehen? Die Ungewissheit quälte ihn bis in die Träume hinein, jeden Abend, jede Nacht.

Jakub schien auch nicht zu schlafen. »Wie alt bist du?«, flüsterte er.

Alfred drehte sich zu ihm. »Achtundzwanzig.«

Jakub schwieg einen Moment, dann sagte er: »Dann hast du dein Leben noch vor dir.«

»Ich habe mein Leben hinter mir, wie alle hier, und ob es danach weitergeht ...« Alfred ließ den Satz unvollendet im Raum hängen.

»Weshalb bist du hier?«, wollte Jakub wissen.

»Seltsam«, sagte Alfred, »das hat mich der SS-Mann bei der Aufnahme auch gefragt?«

»Und, was hast du geantwortet?«

»Ich habe ihm geantwortet: Sagen Sie es mir. Das hat mir zehn Stockhiebe eingebracht.«

»Und was hast du dann gesagt?«

»Dass ich das Opfer einer Intrige bin. Dafür gab es noch einmal zwanzig Hiebe.«

»Intrige? Erzähl mir davon«, sagte Jakub.

»Ich bin einem Arbeitskollegen, der wertvolle Betriebsmittel unterschlagen hat, auf die Schliche gekommen und habe ihn zur Rede gestellt. Einige Tage später stand die Gestapo vor meiner Tür und durchsuchte das Haus. Vom Garten aus führt ein uralter Bergwerksstollen in den Hang, in dem wir Gartengeräte abstellen. Dort haben sie wehrzersetzende Flugblätter gefunden und mich gleich abgeführt.«

»Warum hast du das mit der Unterschlagung nicht der Werksleitung gemeldet?«, fragte Jakub.

»Ich wollte mich erst absichern und habe alles in einem Tagebuch dokumentiert. Als Beweis habe ich sogar die gefälschten Lieferscheine gezinkt und die Nummern notiert. Dann kam die Gestapo.«

»Und wo kamen die Flugblätter her?«

»Keine Ahnung, die wurden mir untergeschoben, um mich klein zu machen. Aber ich weiß von wem, und falls ich hier je wieder rauskomme, kaufe ich mir diesen Dreckskerl. Eins sag ich dir, der wird mit seinem Millionenschatz nicht glücklich.«

»Klingt spannend. Wo ist der Schatz geblieben?«

»Liegt höchstwahrscheinlich noch im unterirdischen Tanklager, wo er alles versteckt hat. Ich weiß nicht, wie er die Sachen da rausschmuggeln will. Alle Werksangehörigen werden streng kon-trolliert.« Jakub fragte nicht weiter.

»Und was hast du in Polen gemacht? Ich meine, bevor sie dich verschleppt haben?«, wollte Alfred nun wissen. Jakub gab keine Antwort. »Jakub?« Er war eingeschlafen.

Um vier Uhr dreißig wurde die Tür aufgerissen. Der Blockführer kam hereingestürmt, ein lang gezogener Pfiff aus der Trillerpfeife schmerzte. »Raus, ihr faulen Säcke!«, brüllte er und verschwand sogleich zur nächsten Baracke. Alle sprangen aus den Betten, nur Giovanni blieb liegen. Die Blicke ruhten fragend auf Heinrich Müller.

»Giovanni, steh auf.« Heinrich rüttelte ihn, doch der Italiener reagierte nicht. Heinrich fühlte den Puls, dann sah er in die Runde der umstehenden Kameraden und schüttelte den Kopf. Giovanni hatte es nicht geschafft. »Er ist noch warm, deshalb werde ich es erst nach dem Appell melden, damit wir seine Ration noch bekommen«, bestimmte Heinrich Müller.

»Und wenn sie misstrauisch werden und gleich nachsehen, dann sind wir am Arsch. Dann müssen wir die nächsten zwei Tage schmachten«, gab Jakub zu bedenken.

»Ich weiß«, sagte Heinrich, »aber seht euch an, jede Scheibe Brot hilft uns.« Er schaute sich in der Baracke um und sein Blick streifte jeden einzelnen Kameraden. Niemand protestierte.

Zwei Mann liefen zum Küchenblock, um die Essenrationen zu holen. Jeder bekam zwei Scheiben Brot, etwas Wurst und Tee. Die Schwächsten unter ihnen sollten die Ration von Giovanni bekommen. Sie schlangen das dürftige Essen in sich hinein und eilten hinaus, um pünktlich um fünf Uhr auf dem Appellplatz anzutreten. Blockweise wurden die Gesamtstärke sowie Ausfälle wegen Krankheit oder Tod gemeldet. Heinrich meldete für Block 18 einen arbeitsunfähigen Schwerkranken. Der SS-Mann schleuderte Müller einen Blick entgegen, der zu verstehen gab: »Du lügst.«

Alfred lief vor Angst ein eiskalter Schauer über den Rücken. Der Fuchs hat uns erwischt, dachte er.

»Wenn du mich angelogen hast, war das eure letzte Mahlzeit für heute«, fauchte der Uniformierte und machte Anstalten, die Baracke 18 zu kontrollieren.

»Halt!«, rief der Lagerkommandant, der unerwartet auf den Stufen des Wachgebäudes stand. »Keine Fisimatenten heute. Es gibt neue Produktionsvorgaben. Seht zu, dass die Horde an die Arbeit kommt!«, befahl er.

Der SS-Mann drehte sich um. »Schafft ihn zum Krankenblock, aber im Laufschritt«, zischte er Heinrich Müller an. Der bestimmte sofort zwei Mann, die Giovanni dorthin bringen sollten. Der Lagerarzt würde seinen Tod feststellen und nicht nachfragen. Tote wurden wie Abfall behandelt, auf einer Karre zum Krematorium geschoben und später die Asche in den Wald gekippt.

Neue Produktionsvorgaben hatte der Kommandant gesagt. Alfred war sicher, dass das die Stückzahl der V2 betraf, die nochmals erhöht werden sollte. Daraus konnte man eine gute und eine schlechte Nachricht ableiten. Die Schlechte war, der Arbeitsdruck würde noch unerträglicher werden. Mehr Stockhiebe und weniger Pausen. Andererseits bedeutete es aber auch: man brauchte mehr Waffen, weil die eigenen Verluste stiegen. Der Feind wurde also stärker und würde hoffentlich diesen wahnwitzigen Krieg bald beenden – das war die gute Nachricht. Alfred spürte an der Reaktion seiner Kameraden, dass sich in ihren Köpfen ähnliche Gedanken umtrieben.

Die Appellaufstellung formierte sich zu den eingeteilten Arbeitsgruppen um, die von den Aufsehern zum Lagertor hinaus und weiter zu den Fahrstollen der unterirdischen Fabrik im Laufschritt getrieben wurden. Keuchend kamen sie am Eingang des Fahrstollens B an. Dort übernahmen sie die Kapos und führten sie in den Tunnel hinein, in dem Gleise für Güterzüge verlegt waren. Die einzelnen Produktionsanlagen verteilten sich auf zahllose Querstollen, in denen die Arbeitstrupps eingesetzt wurden.

Alfred graute jedes Mal vor diesem Stollenlabyrinth. Immer, wenn ihm die stickige Luft hier drinnen entgegenwehte, glaubte er, den Hauch des Todes zu spüren. Es kam ihm vor, als sei es der Atem der Menschen, die sich beim Bau der Anlage zu Tode schuften mussten. Und das Sterben hatte noch kein Ende gefunden. Es wurden sogar extra Häftlinge zum Wegschaffen von Leichen abgestellt.

Der Kapo brachte Alfred zum Stollen 22. Links und rechts standen lange Reihen von Dreh- und Fräsmaschinen. Manche der Geräte schienen im Spänegewirr zu versinken, das sich um sie herum auftürmte.

Mit einem Stoß in den Rücken schubste der Kapo ihn in die Halle hinein. »Wenn ich wiederkomme, ist das alles sauber, verstanden? Späne nach draußen und Boden fegen, und wehe dir, ich finde nachher noch ein Spänchen«, drohte er und verschwand.

Alfred sah sich um. Er stand allein in der Halle und wunderte sich, warum die Maschinen nicht besetzt waren, es sollte doch ab sofort mehr produziert werden. Nur auf dem Fahrstollen herrschte reger Betrieb. Vielleicht hat die Abteilung vorgearbeitet und die Leute werden anderswo dringender gebraucht, mutmaßte er. Um so besser für mich, überlegte er weiter. Er holte sich Besen, Schaufel und einen Handwagen und begann die Späne aufzuladen. Jede Fuhre wurde von der Wache am Eingang gründlich kontrolliert. Nachdem die Metallabfälle abgefahren waren, begann Alfred die Halle auszufegen. Auf Knien klaubte er alles Mögliche unter den Werkbänken und Schränken hervor. Holzteile, Schrauben, ölige Lappen und tote Ratten. Als er mit dem Handfeger schmierigen Staub unter einem Blechschrank hervor fegte, lag mit einem Mal eine Pistole vor seinen Knien, eine, wie sie die SS-Leute trugen. Völlig verdreckt und fast unkenntlich. Er traute seinen Augen kaum und fuhr erschrocken hoch. Alfred sah sich um und erschrak zum zweiten Mal. Wie aus dem Nichts stand plötzlich ein SS-Aufseher hinter ihm. Alfreds Herz raste vor Angst. Wenn der die Waffe bemerkt, bin ich geliefert.

»Steh hier nicht rum, du fauler Sack«, schrie er ihn an und verpasste ihm einen Stockhieb auf den Rücken. Alfred zuckte zusammen und stieß im selben Augenblick die Pistole mit dem Fuß unter den Schrank zurück. »Beweg deinen Arsch oder brauchst du noch ein paar Hiebe?«

Alfred kniete sich sofort wieder hin und setzte seine Arbeit fort. Nach einer Weile traute er sich, vorsichtig aufzublicken. Der Aufseher war verschwunden. Alfred atmete auf, erhob sich und schob den Abfallwagen vor den Blechschrank. Sein Herz hämmerte, als wolle es aus der Brust springen. Was sollte er jetzt tun? Einfach unbeachtet liegen lassen? Womöglich würde der Kapo sie bei der Kontrolle finden und Alfred zur Rede stellen. Nein, das wäre zu gefährlich, und einfach woanders in eine Ecke werfen, würde unter Umständen andere Kameraden in Schwierigkeiten bringen. Mit nach draußen schmuggeln? So gut wie unmöglich. Alfred Bleß wurde mit einem Mal klar, er hatte ein dickes Problem und mit dem Fund der Pistole voll in die Scheiße gegriffen. Scheiße, dieses Wort schoss ihm wie ein Geistesblitz durch den Kopf. Scheiße kontrollierten sie nicht. Das wäre eine Möglichkeit, die Waffe nach draußen zu bringen, und dann würde er weiter sehen. Zum Arbeitsende wurden jedes Mal zwei Mann abgestellt, um die Latrinen in einer Klärgrube auf dem Außengelände zu entleeren. Entsorgen wollte er die Waffe trotzdem nicht, wer weiß, wozu sie einmal nützlich sein könnte. Er dachte ja immer noch an Flucht, zusammen mit Jakub. Dabei konnte die Pistole eine Lebensversicherung sein.

Alfred nahm sich ein Blatt Ölpapier, was überall an den Maschinen herumlag, riss ein Stück ab und wickelte die Pistole darin ein. Dann steckte er sie mit dem Rest in seine Hosentasche und ging zum Verbindungsstollen zwischen den Querstollen 31 und 32, der als Latrinenraum genutzt wurde. Es stank bestialisch hier drinnen. Deshalb war es der einzige Platz, an dem man vor den SS-Schergen Ruhe hatte. Alfred zog seine Hose herunter und setzte sich auf das Brett, das über dem abgeschnittene Ölfass lag. Er sah sich um. Niemand sonst teilte das Geschäft mit ihm. Rasch zog er das Ölpapierbündel aus der Tasche und ließ es in das Fass fallen. Mit einem Gesteinsbrocken, die hier überall herumlagen, markierte er das Fass mit einigen Schrammen. Dann zog er seine Hose wieder hoch und lief zurück.

Um achtzehn Uhr heulte die Sirene durch das Stollensystem. Die Häftlinge strömten aus den Querstollen und eilten zum Sammelpunkt am Ausgang des Fahrstollens. Diejenigen, die zuletzt ankamen, wurden üblicherweise mit dem Entleeren der Latrinenfässer abgestraft. Alfred ließ sich heute bewusst Zeit, um für diese unbeliebte Arbeit mit eingeteilt zu werden. Er hoffte auf eine Gelegenheit, die Pistole unbemerkt ins Lager zu schleusen. Weiter vorne erblickte er Jakub, der ihn mit angedeutetem Kopfschütteln ansah, als er mit einem anderen Kameraden zum Scheißetransport eingeteilt wurde. Jakub deutete mit einem verstohlenen Blick auf die SS-Leute, die auffällig nervös wirkten. Irgendetwas war im Gange.

Als der Häftlingszug abmarschiert war, luden Alfred und der Andere die acht Fässer auf einen Plattenwagen und zogen ihn nach draußen. Das gesamte Außengelände war nur durch Tarnbeleuchtung dürftig erhellt. Die Fenster der Gebäude waren abgedunkelt. Fliegerwarnung, dachte Alfred und verstand nun die Nervosität der SS. Vor der Kläranlage stand ein Handwagen mit drei Leichen beladen. Niemand schien sich darum zu kümmern. Arme Kerle, bedauerte Alfred die toten Kameraden, so will ich auf keinen Fall enden, niemals. Er dachte bei diesem Anblick an Olaf Köhler, mit dem er noch ein Hühnchen zu rupfen hatte.

Sie kippten die Fässer nacheinander in die Grube. Alfred nahm das markierte Fass als letztes. »Du kannst schon ins Lager gehen, den Rest erledige ich alleine«, sagte Alfred. Der Kamerad sah ihn erstaunt an, ließ sich aber kein zweites Mal auffordern und verschwand. Alfred wickelte sich ein weiteres Stück Ölpapier um die Hand, griff in das Fass und zog das Bündel heraus. Er warf es in die dünne Schneematschdecke und reinigte es, so gut es ging von der stinkenden Masse. Das Papier warf er zurück in das Fass und kippte es in die Grube. Dann wusch er sich flüchtig die Hände im Schnee, blicke sich noch einmal um und steckte die Pistole in die Hosentasche.

»He, du da«, rief jemand. Alfred blieb wie erstarrt stehen. Aus dem Dunkel kam ein SS-Mann auf ihn zu. »Du bringst die Toten da in den Leichenbunker«, befahl er.

Alfred ließ den Plattenwagen mit den Fässern zurück, griff die Deichsel des anderen Wagens und zog los. Vor der Kommandantur standen einige SS-Leute zusammen und rauchten. Wie auf Zuruf schauten sie auf einmal zum Himmel hinauf. Alfred blieb stehen und hörte ein entferntes Brummen, was sich bald darauf verstärkte und schließlich zu einem ohrenbetäubenden Heulen anwuchs.

Bomber, dachte Alfred und nutzte die Ablenkung der SS-Leute, um die Pistole unter die Leichen zu schieben. Die Bomberflotte entfernte sich in Richtung Osten. Über Nordhausen blitzten Mündungsfeuer der Flaks auf, die Sekunden später als dumpfe Donner herüberschallten. Am Lagertor winkten die Wachleute ihn unbehelligt durch.

Der Leichenbunker war ein überdachter Platz, auf dem die Toten zwischengelagert wurden, bevor man sie zum Krematorium brachte oder abtransportierte. In dieser Nacht wollte Alfred die Waffe hier abholen.

Nachdem in den Baracken der Strom schon eine Weile abgeschaltet war, stupste Alfred Jakub an. »Ich habe eine Pistole«, flüsterte er ihm zu.

Jakub schlug die Augen auf. »Du hast was?«

»Nicht so laut«, zischte Alfred. »Habe ich unter einem Schrank gefunden«, sagte er kaum hörbar.

»Zeig mal«, sagte Jakub.

»Liegt noch im Leichenbunker. Hole ich heute Nacht«, erklärte Alfred.

»Wenn sie dich damit erwischen, bist du reif«, meinte Jakub. »Und wo willst du sie verstecken?«

»In der Barackenlatrine. Da sucht kein Schwein«, antwortete Alfred.

Jakub schien nachzudenken. Dann sagte er: »Es kann jedenfalls nicht schaden, eine Waffe in Hinterhand zu haben. Für alle Fälle.«

Alfred kämpfte gegen die Müdigkeit an. Nach Mitternacht, wenn alle im Lager tief schliefen und selbst die Wachen vor sich hin dösten, wollte er sich zum Leichenbunker schleichen. Alfred gähnte. Nur nicht einschlafen. Seine Gedanken trugen ihn nach Hause zu Lisa und Karl. Wie groß der Junge inzwischen geworden war? Nur nicht einschlafen.

In der Nacht weckte ihn das Heulen eines weiteren Bombergeschwaders. Alfred ärgerte sich, dass er eingeschlafen war. Kurz darauf grollte Flakfeuer von Nordhausen herüber. Dieser Moment schien eine gute Gelegenheit zu sein, sein Vorhaben durchzuführen. Er stieg vorsichtig von der Pritsche, zog sich an und tippelte auf Zehenspitzen hinaus. Das Lager war stockdunkel. Er drückte sich dicht an der Barackenwand entlang zur Rückseite, lauschte und huschte über den Weg zu einer Baumreihe hinüber. Sie bot ihm Deckung bis zum nächsten Gebäude. Dann ein Stück durch ein Wäldchen und noch ein paar Schritte bis zum Leichenbunker. Im Schutz eines Baumstammes lauschte er noch einmal nach verdächtigen Geräuschen. Er hörte Stimmen. Aus der Dunkelheit leuchtete Zigarettenglut auf. Männer der SS-Nachtwache standen am Leichenbunker zusammen. Sie hatten verbotenerweise ihre Posten verlassen, um zu schwatzen. Hier, in der fühlbaren Nähe ihrer Schandtaten, würden ihre Vorgesetzten sie zuletzt suchen. Scheinheilige Drecksbande, dachte Alfred, drückte sich an die Rückseite des Baumes und konnte ihrem Gespräch lauschen.

»... das muss die Hölle gewesen sein«, sagte einer.

»Dresden existiert nicht mehr«, wusste ein anderer zu berichten.

»Der Führer hat uns den Endsieg versprochen. Was wird aus unserem Vaterland?«, fragte ein Dritter.

»Sieht so ein Sieg aus? Hamburg, Berlin, das Ruhrgebiet, Magdeburg und nun auch Dresden. Frag lieber, was aus uns und unseren Familien wird, wenn Amis und Russen kommen«, gab der Erste zu bedenken.

»Und was machen wir dann mit den Häftlingen? Ich sag euch: Die werden sich fürchterlich rächen und später wichtige Zeugen sein, wenn man uns vor Gericht stellt.«

»Ja, besonders an dir, du Sadist«, meinte einer. Sie kicherten.

»Unsinn«, widersprach der Dritte, »der Kommandant hat gesagt, in dem Fall gibt es eine Endlösung.«

Die Kälte der Winternacht kroch an Alfred hoch. Er bewegte seine Füße ein wenig.

»Lasst uns verschwinden«, sagte einer der Wachmänner, »ich habe eben was gehört.« Sie warfen ihre Zigaretten in den Schnee und stapften davon.

Alfred wartete einen Moment und schlich unter das Dach. Der Handwagen stand noch dort, wo er ihn abgestellt hatte. Er tastete zwischen den steifen Körpern nach der Waffe und musste nicht lange suchen.

Zurück in der Baracke empfing ihn miefige Luft. Schnarchen und heiseres Atmen erfüllte den Raum. Alfred ging zur Latrine in der Barackenecke, ein abgeteiltes Plumpsklo ohne Tür. Die Exkremente fielen in eine Grube, die von Zeit zu Zeit abgepumpt wurde. Er unterdrückte seinen Ekel, griff durch die Öffnung und tastete den Hohlraum darunter ab. Seitlich fühlte er einen Mauervorsprung. Alfred zupfte einige Papierblätter von dem Nagel, wickelte die Pistole darin ein und legte sie auf der Mauerecke ab. Die Waffe existierte einfach nicht, da sie offenbar niemand vermisste.

Ende März änderte sich alles. Appelle fanden kaum noch statt, und wenn, dauerten sie nicht lange. Die SS-Leute liefen wie aufgescheuchte Hühner herum.

»Sieh dir diese Angsthasen an. Sie haben die Hosen voll, weil sie wissen, dass es zu Ende geht«, sagte Jakub, als sie zur Fabrik geführt wurden. Dort herrschte allgemeines Chaos. Anstatt Teile zu schleppen und an Maschinen zu helfen, mussten sie bergeweise Aktenordner nach draußen bringen. Das Führungspersonal lief aufgeregt durch die Gänge, gab Anweisungen, die Minuten später widerrufen wurden.

»Unsere Zeit ist gekommen«, flüsterte Jakub, der zusammen mit Alfred auf dem Außengelände die Akten verbrennen musste. »Du solltest das Ding – du weißt schon, was ich meine – bereithalten.«

»Hast du einen Plan?«, fragte Alfred.

Jakub nickte.

Eines Tages, kurz nach Beginn der Nachtruhe sagte Jakub: »Dienstag nach Ostern ist es so weit.«

»Warum gerade nach Ostern?«, fragte Alfred.

»Wir brauchen ein paar Tage, um uns gut vorzubereiten«, antwortete Jakub.

Am Dienstag nach Ostern, es war der 3. April 1945, wurden zwei Arbeitsgruppen zum Abbau eines Teilelagers im Stollen 31 eingesetzt. Alfred und Jakub gehörten dazu. Die abgebauten Regale und Bauteile mussten zum Stollen 25 gebracht werden. Warum, hatte man ihnen nicht gesagt, aber das interessierte auch niemanden – außer Jakub und Alfred.

»Heute muss es passieren«, zwinkerte Jakub seinem Kameraden zu. Der nickte zustimmend. Kurz danach meldete sich Alfred zum Latrinengang ab und versteckte dort die Pistole hinter den Fässern.

Als die Feierabendsirene heulte, holte Alfred die Waffe. Jakub wartete im Stollen 31.

»Jakub«, flüsterte Alfred, als er zurückkam. Er zog ein Stück zusammengerolltes Ölpapier unter seiner Jacke hervor. Jakub sah ihn fragend an.

»Für den Fall, dass sie mich schnappen, habe ich eine letzte Bitte an dich«, erklärte Alfred. Er überreichte seinem Kameraden die Rolle. »Wenn du es nach Hause schaffst, dann schick das hier meiner Familie.«

»Was ist das?«, wollte Jakub wissen.

»Eine Nachricht. Vielleicht hilft es ihnen. Nur zur Sicherheit, falls ich nicht durchkomme.«

»Ich verspreche es dir, mein Freund«, sagte Jakub, umarmte ihn kurz und steckte das Ölpapier unter seine Jacke.

Um den Anschein zu erwecken, sie hätten eine Aufgabe zu

erledigen, nahmen sie irgendein Regalteil auf und trugen es zusammen den Fahrstollen entlang in Richtung Querstollen 25. Die SS-Aufseher guckten misstrauisch, ließen sie jedoch gewähren. Alfred atmete erleichtert durch, erschreckte aber im nächsten Moment.

»Wo wollt ihr damit hin? Es ist Antreten befohlen«, rief unverhofft ein Kapo hinter ihnen her.

»Das soll noch rasch in den 25er«, sagte Jakub und beachtete ihn nicht weiter.

»Beeilt euch«, gab er zurück und verschwand im schwachen Licht der Notbeleuchtung, die dieser Tage häufiger eingeschaltet wurde.

Im Stollen 25, in dem Teile der Raketenhülle lagerten, packten sie das Regalteil zu den anderen und sahen sich unauffällig um. In der Nähe hörten sie Stimmen, die stetig lauter wurden, anscheinend SS-Leute. Die Männer konnten jeden Augenblick aus der Dunkelheit auftauchen und unangenehme Fragen stellen. Alfred fürchtete, dass eine Begegnung mit der SS zu diesem Zeitpunkt ihren Fluchtplan zunichtemachen würde. Aus der entgegengesetzten Richtung erschienen zwei rote Lichter, begleitet vom klingelnden Poltern der Eisenbahnräder eines Güterzuges. Alfred und Jakub suchten Deckung in dem Querstollen. Die Güterwagen schoben sich vor den Eingang des Lagerstollens und hielten mit ohrenbetäubendem Quietschen. Alfred und Jakub nutzten diese Gelegenheit und krochen in eine der wie riesige Rohre aussehenden Raketenhüllen. Die Güterwagen setzten sich mit einem Ruck wieder in Bewegung und rollten zurück. Alfred und Jakub hielten den Atem an. Hatten die SS-Leute sie noch bemerkt und würden nach ihnen Ausschau halten? Aber es blieb ruhig, trotzdem verharrten beide in ihrem Versteck. Vielleicht hatten sie Glück und ihr Verschwinden fiel nicht auf, ansonsten würden die Kapos bald ausschwärmen, um sie zu suchen. Erst nach Mitternacht wollten sie es wagen, über einen Notstollen, den Jakub schon vor Jahren ausgekundschaftet hatte, herauszukommen. Der Stollen führte zum Steinbruch auf der Ostseite des Kohnsteins, direkt in die Freiheit – aber dieser Ausgang wurde konsequent bewacht.

Bald echote Hundegebell durch das Stollenlabyrinth. Alfred griff Jakub an den Arm, als wenn er sagen wollte: »Jetzt sind wir dran.«

»Beweg dich nicht«, flüsterte Jakub, »selbst Hundenasen sind in diesem Gestank überfordert.«

Alfreds Herzschlag beschleunigte, er schloss die Augen und erwartete das nahe Ende. Man würde sie auf der Stelle erschießen. Das Gebell wurde lauter. Sie mussten jetzt genau vor dem Lagerstollen sein. Alfred hielt den Atem an. Jakub lag wie ein Toter neben ihm. Sie hörten die Hunde an ihrer Röhre herumschnüffeln. Alfred spürte Todesangst und seine Gedanken überschlugen sich. Panisch hechelte er nach Luft, sein Herz hämmerte. Dann wurde es allmählich ruhiger, das Suchkommando zog weiter. Alfred hätte vor Erleichterung schreien können.

»Nicht bewegen! Sie können zurückkommen«, wisperte Jakub. Sie blieben noch bewegungslos liegen. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an. Alfred schmerzten die Gliedmaßen. Die Kapos kamen nicht zurück.

Obwohl sie keine Uhr hatten, glaubte Jakub, es sei an der Zeit aufzubrechen. Vorsichtig krochen sie aus der Röhre heraus. Es schien alles ruhig zu sein, nur die Belüftungsventilatoren rauschten gleichmäßig durch die Gänge. Im Halbdunkel der Notbeleuchtung schlichen sie weiter, immer tiefer in den Berg hinein. In der Nähe des Notstollens gab es eine in den Fels gehauene Taverne, in der ein Wasch- und Umkleideraum für Zivilbedienstete eingerichtet war. Für draußen brauchten sie auf jeden Fall Zivilklamotten.

»Wo lassen wir diese Drecksklamotten?«, fragte Alfred.

»Die nehmen wir mit«, antwortete Jakub.

»Wozu?« Alfred wunderte sich.

»Wirst du dann sehen«, sagte Jakub und ging voran.

Unbehelligt erreichten sie den Raum. Sie mussten nicht einmal Spinde aufbrechen, die Arbeitskleidung hing seitlich an Haken, sogar die Mützen lagen dabei. Darunter konnten sie ihre kahl geschorenen Köpfen verbergen. Sie durchsuchten die Taschen und fanden etwas Geld und eine Zigarettenschachtel.

»Bisher lief alles zu glatt«, meinte Jakub, »irgendetwas ist hier im Busche. Wo sind die Wachen?«

»Ich glaube, die bereiten sich auf das Ende vor. Würde mich nicht wundern, wenn die Führungsmannschaft schon getürmt ist«, antwortete Alfred.

Sie gingen vorsichtig weiter. Bis zum Notstollen waren es nur noch wenige Meter.

»Der wurde als Fluchtweg angelegt«, erklärte Jakub, »deswegen ist er nicht verschlossen, wird dafür aber rund um die Uhr bewacht.«

»Was machen wir mit denen?«, fragte Alfred.

»Wir müssen sie entwaffnen und mitnehmen«, sagte Jakub.

»Mitnehmen? Spinnst du?«, protestierte Alfred.

»Nur so weit, dass sie keinen Alarm schlagen können.«

Als sie näher herankamen, sah Alfred zwei Wachen mit vor dem Bauch hängenden Maschinenpistolen.

»Bist du bereit?«, fragte Jakub.

Alfred schluckte. »Eigentlich nicht, aber es gibt kein Zurück mehr«, sagte er.

»Also, wir machen es wie besprochen.«

Alfred nickte. Jakub nahm die Pistole. Alfred hielt die Zigarettenschachtel in der Hand. Dann gingen beide zielstrebig auf die Wachleute zu.

»Kann ich mal Feuer bekommen«, fragte Alfred einen der beiden SS-Leute. Der schaute ihn verwundert an, holte dann aber ein Feuerzeug aus der Tasche. »Wollt ihr auch eine?« Alfred hielt die Schachtel hin.

Als der Wachmann das Feuerzeug entzündete, griff Jakub seinen Arm und drehte ihn auf den Rücken, mit der anderen Hand drückte er ihm die Pistole an den Kopf. Alfred packte im selben Augenblick die Maschinenpistole des anderen, schlang blitzschnell den Trageriemen um dessen Hals und drehte ihn mit der Waffe wie einen Knebel zu. Völlig perplex übergab der erste Wachmann seine Waffe. Jakub lud sie durch und richtete sie auf den Zweiten, während er den anderen mit der Pistole bedrohte. Ohne Gegenwehr ließ auch der sich entwaffnen. Alfred zog den Ladehebel durch und hielt beide in Schach. Jakub band ihnen die Hände mit einem Draht auf den Rücken zusammen. Plötzlich drang Sirenengeheul von draußen durch den Stollen – Luftalarm. Deshalb hielt sich kaum SS in der unterirdischen Anlage auf. Sie mussten in die Verteidigungsstellungen rund um das Gelände, konstatierte Alfred.

»Hier entlang!«, zischte Jakub und schickte sie voraus in den Notstollen. Kurz vor dem Ausgang band er sie los und forderte sie auf, die Häftlingskleidung anzuziehen. Die beiden SS-Leute sahen sich verängstigt an. Sie wussten, dass sie darin Freiwild waren. »Auf der Flucht erschossen«, würde man später ihren Tod rechtfertigen.

Draußen wütete die Hölle. Der Himmel über Nordhausen brannte. Die Bombenexplosionen ließen den Untergrund beben. Unbeeindruckt dieses Infernos trieb Jakub die beiden Gefangenen über das Steinbruchgelände. An einem Werkstattgebäude standen Baumaschinen. Daneben, unter einem Überdach, fand Alfred einen Treibstoffkanister. Jakub befahl den SS-Leuten, ihre Uniformen damit zu verbrennen. Danach jagte er beide in Richtung des Lagers.

»Dreht ihr euch einmal um, seid ihr tot«, rief Jakub ihnen nach und schoss eine Salve in die Luft. Die SS-Leute rannten wie die Hasen davon.

»Ab hier werden wir unserer Wege gehen«, sagte Jakub, »ich werde mich nach Osten durchschlagen. Der Krieg wird sicher nur noch einige Tage dauern.«

»Danke, Kamerad. Alles Gute für dich«, verabschiedete sich Alfred, dann lief er davon. Er wollte das Chaos des Bombenangriffes nutzen, um möglichst weit seinem Heimatort Bad Lauterberg näher zu kommen. Nur dreißig Kilometer trennten ihn von Zuhause. Dreißig Kilometer, die zur Endlosigkeit werden konnten.

Scharzfeld: Montag, 1. Dezember 1947

Ein lang gezogenes Kreischen begleitete den abbremsenden Personenzug, bis er mit einem Ruck zum Stehen kam. »Scharzfeld, hier ist Scharzfeld«, quäkte die Stimme aus dem Lautsprecher. Alfred nahm seinen Rucksack auf, stieg von der Waggonplattform auf den Bahnsteig hinunter und sah sich um. Drei weitere Reisende verließen ebenfalls den Zug, gingen lächelnd auf ihre Abholer zu und verschwanden in dem roten Backsteingebäude. Auf ihn wartete keiner. Wer sollte auch? Schließlich wusste niemand, dass er zurückkommen würde. Er fühlte sich abgestellt, wie der Karren mit Koffern und Kisten, der vor dem Gepäckwagen stand. Ein scharfer Wind blies über den Bahnsteig und wirbelte den Schnee wie Staub auf. Außer dem Schaffner, der mit der Signalkelle unter dem Arm an der Waggonreihe entlangschritt, war kein Mensch zu sehen. Alfred schlug seinen Mantelkragen hoch, durchquerte das Bahnhofsgebäude und blieb einen Augenblick auf dem Vorplatz stehen. Von den Gleisen dröhnte der Auspuffdonner der anfahrenden Dampflokomotive herüber.

Alfred Bleß konnte es noch nicht fassen. Vor vier Jahren hatte ihn die Gestapo abgeholt, kurz verhört und ohne Gerichtsverfahren ins KZ Mittelbau Dora gesteckt. Einfach so. Ein Politischer, einer, der das Volk aufhetzt und den Endsieg sabotiert, während tapfere deutsche Soldaten an der Front ihr Leben riskieren, hatte man ihn beschimpft. Zur Verteidigung gab man ihm kaum Gelegenheit, die Flugblätter waren zu belastend. Vier lange Jahre. Drei davon im KZ, bis ihm die Flucht gelang. Amerikaner hatten ihn kurz danach aufgegriffen und in das Internierungslager nach Garmisch-Partenkirchen gebracht, weil sie ihn für einen Raketentechniker hielten. Vier Jahre vom alten Leben und der Familie abgeschnitten. Täglich den Tod vor Augen.

Diese Hölle hatte er einem Mann zu verdanken, Olaf Köhler. Ein Krimineller, der sich durch Unterschlagung von Firmeneigentum bereichern wollte, der ihn denunziert hatte, um von seinen verbrecherischen Machenschaften abzulenken. Olaf Köhler, dieser Name löste Wut und Rachegefühle in ihm aus. Bei diesem Namen brodelte es in Alfred und seine innere Stimme schrie nach Gerechtigkeit und Genugtuung. Olaf Köhler, ich bin zurück, du wirst dafür bezahlen, wollte er in diesem Augenblick am liebsten laut herausschreien – aber er blieb beherrscht und ruhig wie der verlassene Bahnhofsvorplatz.

Der Pfiff der Lokomotive schallte aus der Ferne herüber und rüttelte ihn aus seinen Gedanken. Er atmete die frostige Luft tief ein und machte sich auf den Weg ins Dorf hinunter.

Wie war es seiner inzwischen Familie ergangen? Hatten sie die Kriegszeit unbeschadet überstanden? Würde sein Sohn ihn wiedererkennen? Und seine Frau Lisa, nach deren Nähe er sich sehnte, wie würde sie ihn nach dieser langen Zeit empfangen? Würde alles wieder wie früher werden? Alfreds Herz schlug heftiger, er hatte Angst, ihr unverhofft gegenüberzutreten. Gab es am Ende einen anderen Mann?

Alfred hatte sich vorgenommen, zuerst seine Eltern in Scharzfeld aufzusuchen, um zu erfahren, wie es um Lisa und dem Jungen stand. Es wäre sicher ein Schock für sie, ihnen unvorbereitet gegenüber zu treten. Nein, das wollte er ihnen nicht zumuten. Er schulterte den Rucksack und machte sich auf den Weg. Immer die Harzstraße entlang. Wenige Menschen begegneten ihn unterwegs, ab und zu trotte ein Pferdefuhrwerk vorüber. Seine Eltern wohnten in der Bremkestraße. Als er dort einbog, begannen seine Beine leicht zu zittern und wollten den Dienst verweigern. Alfred stützte sich an einem Zaun und atmete ein paar Mal tief durch. Mit pochendem Herzen stand er schließlich vor dem Haus. Ein niedriges Fachwerkhaus mit grüner Tür. Alles sah aus wie immer. Alfred ging zögerlich die zwei Trittstufen hinauf und drehte an der Türklingel. Kurz darauf hörte er Schritte, dann wurde geöffnet. Ein kleiner Junge stand vor ihm und sah ihn verwundert an. Alfred erkannte ihn sofort und musste den aufkommenden Gefühlssturm unterdrücken, um die Tränen zurückzuhalten. Er ging in die Hocke.

»Hallo Karl, weißt du, wer ich bin?«, fragte er mit bebenden Lippen.

Karl sah ihn mit einem erstaunten Blick an und schüttelte den Kopf.

»Wer ist denn da?«, hörte Alfred seine Mutter im Hintergrund rufen. Er erhob sich und sah sie den Flur entlang nach vorne kommen. Plötzlich blieb sie stehen, schlug die Hände vor den Mund und stieß einen gedämpften Schrei aus. »Alfred!«, schrie sie, lief auf ihn zu und fiel ihm um den Hals. »Alfred, mein Junge. Du lebst.« Sie umklammerte ihn, als müsse sie sich an ihm festhalten.

»Oh, mein Gott, Alfred!«, hörte er seinen Vater rufen, der ihn ebenfalls umfasste. Sie standen einen Moment in stiller Umarmung. »Lasst uns reingehen«, schlug Alfreds Vater vor. Sie gingen in die Küche.

»Setz dich, du hast sicher Hunger. Es gibt kaum etwas zu essen, aber eine Scheibe Brot ist noch übrig.«, sagte die Mutter und kramte aufgeregt im Schrank herum. Karl stellte sich neben seinen Opa, hielt sich an dessen Jacke fest und schaute Alfred schüchtern an.

»Ist Lisa zu Hause in Lauterberg?«, fragte Alfred.

Augenblicklich unterbrach seine Mutter ihr Tun am Küchenschrank. Beklemmende Stille erfasste den Raum. Alfreds Mutter drehte sich zu ihm um. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich und ihre Augen funkelten unter den Tränen, die unvermittelt in dicken Tropfen an ihre Wangen herunterrollten. Alfred erschrak und sah seinen Vater an, dessen Gesicht ebenfalls zu einer Maske erstarrt schien. Er schob Karl sanft beiseite, ging ins Wohnzimmer und kam mit einem Brief zurück, den er wortlos seinem Sohn überreichte. Mit zittriger Hand fummelte Alfred den Brief aus dem Kuvert und faltete ihn auf. Es handelte sich um ein Amtsschreiben. Alfred las:

Konzentrationslager Dachau

Kommandantur II

Herrn Alfred Bleß

Ihre Ehefrau Lisa Bleß, geboren am 23.5.1920 zu Bad Lauterberg, ist am 15.1.1944 an den Folgen von Bauchwassersucht im hiesigen Krankenhaus verstorben. Die Leiche wurde am 18.1.1944 im staatlichen Krematorium eingeäschert. Der Totenschein ist anliegend beigefügt.

SS-Sturmbannführer

H. Helmrich

Alfred hätte am liebsten seine Wut und Verzweiflung herausgeschrien, aber mit Rücksicht auf Karl verwand er den Schmerz in seiner Brust und drückte befreiend die Faust auf den Tisch.

»Mama, ich kann jetzt nichts essen«, sagte er.

»Schon gut, du musst dich ausruhen. Oben haben wir ein Zimmer für dich hergerichtet«, antwortete sie und brachte ihn in das geräumige Dachzimmer, das früher einmal ein Abstellraum gewesen war. »Wir haben nie die Hoffnung aufgegeben, dass du zurückkommst«, sagte sie, umarmte ihn kurz und ließ ihn allein.

*

Eine Tasse Malzkaffee stand am Morgen dampfend vor Alfred. Er trank einen Schluck und blickte dabei aus dem Küchenfenster. Dünne Eisbänder säumten die Ufer der Bremke, die mittig der Straße in ihrem Kanalbett dahinfloss.

»Was ist geschehen?«, fragte Alfred und wandte sich seiner Mutter zu. Sie legte Brot und Messer beiseite.

»Nachdem sie dich abgeholt hatten, haben wir Lisa und den Jungen zu uns geholt. Zwei Tage danach kamen sie und haben Lisa abgeführt. Sie haben ihr Komplizenschaft unterstellt. Die Todesnachricht war das Einzige, was wir von ihr je wieder gehört haben. Wenn sich Ortsgruppenleiter Heinrich Schulze damals nicht für uns verbürgt hätte, ich weiß nicht, was sie mit uns gemacht hätten.« Ihre Stimme versagte und sie wischte sich mit der Schürze die Augen. »Jedes Mal, wenn der Postbote klingelte, blieb uns das Herz stehen. Karl gab uns Kraft, das alles auszuhalten.«

Alfred stellte sich hinter seine Mutter und legte tröstend die Hände auf ihre Schultern. »Ihr hättet das Zimmer nicht herrichten müssen, wir ... äh ... ich meine ich habe doch noch das Haus«, sagte Alfred.

»Das Haus ... ja ... das weißt du noch gar nicht. Das haben sie euch weggenommen«, erklärte seine Mutter.

»Wie weggenommen?«, fragte Alfred nach.

»Enteignet«, sagte seine Mutter. »Verräter hätten im Reich kein Recht auf Eigentum, haben sie gesagt.«

Alfred musste sich setzen. Er fühlte sich nach dieser Nachricht niedergeschlagen. »Sie müssen es mir zurückgeben. Ich werde gleich heute zur Kommandantur gehen«, sagte er.

»Papa wird mit Heinrich Schulze reden. Er hat immer noch Einfluss«, sagte seine Mutter.

»Zum Glück ist mir Karl geblieben«, sagte Alfred und trank einen Schluck von dem dünnen Muckefuck.

»Weißt du, wer jetzt in dem Haus wohnt?«, fragte Alfred.

»Nein, ich kenne die Leute nicht. Man sagt, es soll ein rücksichtsloser Geschäftsmann sein, der mit allem handelt, was sich zu Geld machen lässt oder sich zum Tauschen eignet«, antwortete seine Mutter.

Am Abend spielte Alfred mit Karl ›Mensch ärgere dich nicht‹, als sein Vater von der Arbeit kam. Er setzte sich zu ihnen an den Küchentisch.

»Ich habe heute mit Heinrich Schulze gesprochen«, begann er zu berichten, »im Moment kann er nicht viel tun. Die Kommandantur sagt: Der Status quo bleibt solange eingefroren, bis die Besitzverhältnisse aller Immobilien geklärt sind, und das kann dauern. Unter Umständen sogar Jahre. Du solltest auf jeden Fall einen Antrag auf Klärung stellen.«

Alfred setzte seinen Spielstein einige Felder weiter und gab Karl den Würfel. »Kennst du den jetzigen Besitzer?«

»Ein gewisser Köhler. Soll ein überzeugter Nazi gewesen sein«, antwortete sein Vater.

Alfred schreckte bei diesem Namen auf. »OLAF Köhler?«, rief er entsetzt.

»Ja. Kennst du ihn?«, fragte sein Vater.

Alfred sprang auf und lief gereizt in der Küche hin und her. »Und ob ich den kenne. Das ist der Mann, der mir die Flugblätter untergeschoben hat. Ein Verbrecher ist das, dem ich das KZ zu verdanken habe und der Lisa auf dem Gewissen hat. Er hat mein Leben zerstört, das Schwein. Und nun hat er sich auch noch unser Haus unter den Nagel gerissen. Wenn ich den in die Finger kriege, ich weiß nicht, was ich dann mache.« Alfred spürte seine Wangen glühen.

»Tu nichts Unüberlegtes, Junge«, sagte sein Vater.

»Mach dir keine Sorgen«, antwortete Alfred, »aber er wird dafür bezahlen, das schwör ich dir.«

Mittwoch, 3. Dezember 1947

Alfred fühlte sich von diesem Tag an wie gelähmt und verlor sich in düsteren Gedanken. Erfüllt von Hass und dem Wunsch nach Vergeltung, trieb es ihn die nächsten Tage nach Bad Lauterberg in die obere Hauptstraße, wo das Haus stand, das Lisa von ihren Eltern geerbt hatte. Ein älteres Fachwerkhaus, dicht am Hang des Kummel gebaut. In gemeinsamer Anstrengung hatten sie es nach ihren Vorstellungen renoviert und eingerichtet. Sie waren stolz auf ihr Heim gewesen, in dem Karl und später noch ein Geschwisterchen aufwachsen sollten. Alfred dachte an die glücklichen Tage zurück, die niemals wiederkehren würden. Olaf Köhler, dieser skrupellose Naziverbrecher, hatte ihm die Familie und die Zukunft genommen. Köhler galt als kleines Licht unter den Nazischergen und wurde ohne Aufhebens entnazifiziert, hatte Alfreds Vater erfahren. Ein Mitläufer, der rechtlich kaum anzugreifen sein würde.

Aus der Deckung verschneiter Büsche auf der gegenüberliegenden Straßenseite beobachtete Alfred das Haus. Es war kaum wiederzuerkennen. Neuer Anstrich und neue Fenster. Vor dem Eingang protzte ein säulengestütztes Vordach. Der schmiedeeiserne Zaun, der das Grundstück umschloss, wirkte ungastlich. Aus dem Schornstein stieg Rauch in die winterliche Luft. Er hat das wertvolle Metall zu Geld gemacht und sich damit ein angenehmes Leben finanziert, während mein Lebensglück zerstört ist, dachte Alfred. Diese Ungerechtigkeit schreit zum Himmel und nach Vergeltung. Seine Hände verkrampften sich zur Faust, bis es schmerzte. Ein unglaubliches Gefühl von Wut stieg in ihm auf. Er kämpfte dagegen an, um einen klaren Kopf zu bewahren. In tiefe Verbitterung versunken spähte er zu dem Haus und erschrak beinah, als die Tür geöffnet wurde. Ein Mann, mit langem Wollmantel bekleidet, trat auf das Eingangspodest und blickte prüfend zum wolkenverhangenen Himmel. Olaf Köhler, schoss es Alfred durch den Kopf. Er fixierte seinen Widersacher wie ein Raubtier, das seiner Beute auflauert. Köhler setzte einen Hut auf, streifte sich Handschuhe über und schritt bedächtig die drei Eingangsstufen hinunter. Am liebsten wäre Alfred ihm an die Gurgel gesprungen und hätte ihn gewürgt. Sein Hass gegen diesen Mann saß tief, aber er durfte jetzt nicht unüberlegt handeln, denn Olaf Köhler musste büßen. Langsam und quälend sollte er zugrunde gehen, und Alfred würde seinen Untergang genießen.

Olaf Köhler überquerte die Straße und ging dicht an den Büschen vorbei, hinter denen Alfred geduckt stand und den Atem anhielt. Köhler schlug den Weg zum Masttal ein, das unterhalb des Höhenzuges Scholben lag. Alfred wartete einen Moment, zog dann seine Mütze tiefer ins Gesicht und folgte dem verhassten, ehemaligen Arbeitskollegen in unverfänglichem Abstand. Köhler ging auf ein Gelände zu, das Alfred von früher noch als Brachland kannte. Es hatte die Größe eines Fußballfeldes und war nun von einem Maschendrahtzaun umgeben. Olaf Köhler schloss das Tor auf und verschwand in einer Holzbaracke, die neben dem Eingang stand. Alfred suchte erneut Deckung in einem nahegelegenen Gebüsch und inspizierte das Gelände. Er erkannte Bagger, Lkws und Traktoren, die wie eingefroren herumstanden. Was hatte Köhler damit vor? Betrieb er ein Baugeschäft, oder handelte er mit Baumaschinen? Beides wäre eine gute Geschäftsidee, gerade jetzt in der Nachkriegszeit, wo vieles neu aufgebaut werden musste.

Aus dem Ofenrohr, das durch die Barackenwand nach oben übers Dach führte, quoll jetzt Rauch empor. Olaf Köhler schien allein zu sein. Alfred hatte große Lust, ihm unvorbereitet gegenüberzutreten. Auf das Gesicht war er gespannt. Köhler würde zu Stein erstarren, als hätte er in die Augen der Hydra geblickt, wenn er Alfred vor sich sehen würde.

Warum nicht gleich?, dachte er. Olafs Qualen sollen heute beginnen und ihn bis ins Grab begleiten. Alfred trat aus dem Gebüsch hervor, schlug mit seiner Mütze den Schnee von der Jacke und ging mit entschlossenem Schritt auf die Baracke zu. An der Tür hing ein Schild: Olaf Köhler – Baumaschinen. Alfred öffnete ohne anzuklopfen und trat ein. Olaf Köhler saß an seinem Schreibtisch und blickte auf. Seine Augen weiteten sich und starrten Alfred an. Er brauchte offenbar einige Sekunden, um zu begreifen, wer vor ihm stand. Dann sprang er mit einem Satz auf, der Stuhl kippte polternd nach hinten. Köhler stand da wie ein Rekrut beim Befehlsempfang. Alfred schob sein Kinn nach vorn, biss auf die Zähne und bohrte seinen Blick durch Olafs Augen bis ins Gehirn. Olaf Köhler wagte nicht einmal zu blinzeln. Sein Gesicht wurde aschfahl und der Brustkorb hob und senkte sich im Rhythmus der beschleunigten Atmung.

»Alfred, du?«, brachte er stammelnd hervor.

Alfred antwortete nicht. Seine Miene traf den Mann, der sein Leben ruiniert hatte, mit Wut und Verachtung.

»Du ... du bist wieder da?«, stotterte Olaf verlegen. Alfred starrte weiterhin stumm in seine Augen und genoss Olafs Nervosität und Hilflosigkeit, die sich in seiner Mimik widerspiegelten. Alfred wusste, dass seine Rückkehr für Olaf eine gravierende Wende in dessen Leben bedeutete. Olaf Köhler rang sichtlich um Fassung, aber Alfred ließ nicht locker und fixierte ihn wie eine Schlange. Dann trat er näher an den Schreibtisch heran.

»Dafür wirst du bezahlen, du Schwein«, zischte er durch die Zähne.

Olaf wich einen Schritt zurück und stieß gegen den umgefallenen Stuhl. Er richtete ihn zittrig auf.»Was willst du?«, fragte er kleinlaut.

»Ich will Wiedergutmachung«, antwortete Alfred und ließ seinen Blick nicht von ihm.

»Wie?«, fiepste er, sodass seine Stimme in einer Tonhöhe mündete, die einen Hustenreiz bei ihm auslöste.

»Du wirst mir das Haus zurückgeben und lebenslang eine Rente zahlen. Wie viel, werde ich dir noch mitteilen.«

»Rente? Wovon?«

»Willst du mich für dumm verkaufen?«, fauchte Alfred ihn an. »Du hast Millionenwerte an die Seite geschafft. Lass uns nachsehen, ob noch alles da ist.«

»Da kommt niemand mehr heran«, antwortete Olaf.

»Verarsch mich nicht, du Drecksack. Du hast es doch längst beiseitegeschafft.« Alfred umging den Schreibtisch und stellte sich dicht vor seinen Kontrahenten.

»Die Amis haben alles gesprengt. Da ist kein Durchkommen mehr«, sagte Köhler.

»Das ist dein Problem, nicht meins. Du wirst bezahlen, ansonsten lasse ich dich hochgehen.« Alfred ließ Olaf einige Sekunden Zeit zum Überlegen. »Und außerdem«, fuhr er fort, »ich habe alle Beweisunterlagen für deine Unterschlagungen an einem sicheren Ort. Wenn die ans Tageslicht kommen, bist du fällig.«

Olaf holte tief Luft. »Ich werde sagen, dass ich damit den Kriegsnachschub schwächen wollte. Sie werden mir einen Orden verpassen«, entgegnete er.

»Meinst du? Und wenn sie dich nach Uwe Morich fragen, was wirst du dann sagen?«

Olafs Gesicht begann auf einmal zu glühen. Er packte Alfred unvermittelt am Kragen und schüttelte ihn. »Was weißt du über ihn?«, schrie er.

Alfred geriet bei der Berührung außer sich. »Nimm deine dreckigen Pfoten von mit, du Nazisau«, fauchte er zurück. Olaf Köhler krallte sich verbissen an seinem Kragen fest und rüttelte ihn durch. Alfred spürte einen unaufhaltsamen Adrenalinschub durch seinen Körper jagen und verlor die Beherrschung.

Niemand hörte das Poltern und Rumoren zweier kämpfender Männer. Bald darauf wurde es still in der Baracke und der Rauch aus dem Ofenrohr versiegte allmählich.

Bad Lauterberg: Dienstag, 3. Oktober 2017

»Feigling!«, rief Justin vom oberen Rand der Geröllhalde herunter, die den Höhleneingang fast vollständig verschüttet hatte. Nur der obere Bereich der Felsenöffnung war frei geblieben. Justin hatte Mühe, sich auf den lockeren Gesteinssplittern zu halten und trampelte haltsuchend von einem auf das andere Bein. Mit jedem Schritt lösten sich Gesteinssplitter und glitten nach unten. »Komm jetzt. Ich kann schon reingucken!« Er winkte seinem Freund David, der unterhalb des Gerölls im Gestrüpp stand mit der Taschenlampe in der Hand, heraufzukommen.

»Ich weiß nicht«, druckste David ängstlich, »ich habe gehört, da sind Fledermäuse drin, und die Viecher kann ich gar nicht ab.«

»Du Weichei, mit dir kann man echt nicht auf Entdeckungstour gehen. Nächstes Mal frage ich Tim, der hat mehr Mumm als du. Los jetzt!«

David schaute unschlüssig zu seinem Kumpel hinauf. Dann legte er schließlich sein Mountainbike neben Justins in das Unterholz und kletterte auf allen vieren den bröckeligen Hang nach oben.

»Na endlich«, sagte Justin erleichtert.

Als David ihn erreicht hatte, zielte er mit der Taschenlampe in die Höhle hinunter. Viel konnten sie nicht erkennen, weil sie noch oberhalb der Höhlendecke standen.

»Wir müssen da runter«, meinte Justin, machte einen Schritt nach vorn und schlidderte auf den Schuhsohlen, wie auf einem Skateboard stehend, nach unten. Dort angekommen schaute er zurück. »Los, trau dich. Geht ganz einfach«, rief er David zu. Der zog sein Basecap weiter in die Stirn und folgte seinem Kumpan in gleicher Manier. »Na also. Geht doch«, sagte Justin großspurig. »Vielleicht finden wir ja noch Raketenteile hier drin. Wär doch echt krass, eh?«

»Glaub ich nicht. Die haben doch früher keine Raketen hier gebaut«, erwiderte David.

»Aber Raketentreibstoff, hat mein Dad gesagt. Der kannte die Schickert-Werke noch, bevor hier alles plattgemacht wurde«, erzählte Justin angeberisch. »Und ich sag dir was, wo Treibstoff hergestellt wird, muss er auch ausprobiert werden. Hier gab es Raketen, hundertpro.«

David klappte den Schirm seiner Basecap nach oben.

»Mein Vater und mein Opa kannten das Werk auch, aber die haben nie von Raketen gesprochen, und Brüllo übrigens auch nicht«, entgegnete er.