Biker Day - Hans-Joachim Wildner - E-Book

Biker Day E-Book

Hans-Joachim Wildner

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Beschreibung

Eike Wolf ist Polizist und liebt seinen Beruf. Gerne wäre er Kriminalkommissar geworden, doch seine Eigenmächtigkeiten finden bei Vorgesetzten wenig Anklang. Als er gegen ein Mitglied des niedersächsischen Landtags wegen fahrlässiger Tötung und Fahrerflucht ermittelt, bekommt er den Einfluss der politischen Macht zu spüren und wird in den beschaulichen Harzort Altenau versetzt. Doch er gibt nicht auf und stößt bei seinen Recherchen auf Drogenmissbrauch in höchsten Kreisen. Als ungewöhnlich viele Biker im Harz verunglücken, glaubt Wolf nicht mehr an Unfälle. Sein Verdacht bestätigt sich, als plötzlich Videoaufzeichnungen davon auftauchen. Wer hat es auf unschuldige Motorradfahrer abgesehen? Und warum? Steckt eine Aktivistengruppe, die sich »Raserfreier Harz« nennt, dahinter oder verfolgen skrupellose Politiker damit eigene Ziele? Eike, selbst ein passionierter Biker, hat eine schreckliche Vorahnung. Weitere Anschläge geschehen und scheinbar kann sie niemand verhindern. Dann rückt der Human Biker Day näher, wo Hunderte Motorradfahrer an einer Benefiz-Ausfahrt teilnehmen. Eine Katastrophe bahnt sich an.

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Seitenzahl: 507

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Hans-Joachim Wildner

Die Schauplätze dieses Romans sind reale Orte, wie Clausthal-Zellerfeld, Altenau, Bad Lauterberg, Torfhaus uvm. Die Handlung und die Charaktere hingegen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen wären reiner Zufall und sind nicht beabsichtigt.

Impressum

Biker Day

ISBN 978-3-947167-84-5

ePub Edition

V1.0 (06/2020)

© 2020 by Hans-Joachim Wildner

Abbildungsnachweise:

Umschlagmotiv © mikdam # 4230266 | depositphotos.com

Innentitel © grynold # 40199641 | depositphotos.com

Porträt des Autors © Ania Schulz | as-fotografie.com

Lektorat:

Sascha Exner

Verlag:

EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH

Postfach 1163 · 37104 Duderstadt · Deutschland

Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21

E-Mail: [email protected] · Web: harzkrimis.de

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Inhalt

Titelseite

Hinweis

Impressum

Vorwort

Prolog

Samstag, 30. Juni 2017

Samstag, 29. Juli 2017

Mittwoch, 22. August 2017

Freitag, 29. September 2017

Montag, 2. Oktober 2017

Dienstag, 3. Oktober 2017

Donnerstag, 5. Oktober 2017

Donnerstag, 5. Oktober 2017

Donnerstagmittag, 5. Oktober 2017

Freitag, 6. Oktober 2017

Montag, 16. Oktober 2017

Mittwoch, 18. Oktober 2017

Mittwoch, 18. Oktober 2017

Freitag, 20. Oktober 2017

Sonntag, 22. Oktober 2017

Montag, 23. Oktober 2017

Gedanken über den Tod

Mittwoch, 25. Oktober 2017

Donnerstag, 26. Oktober 2017

Gedanken vor der Tat

Freitag, 27. Oktober 2017

Samstag, 28. Oktober 2017

Gedanken während der Tat

Samstag, 28. Oktober 2017

Montag, 30. Oktober 2017

Mittwoch, 1. November 2017

Gedanken nach der Tat

Sonntag, 31. Dezember 2017

Dienstag, 2. Januar 2018

Sonntag, 7. Januar 2018

Montag, 8. Januar 2018

Freitag, 12. Januar 2018

Dienstag, 16. Januar 2018

Montag, 22. Januar 2018

Mittwoch, 24. Januar 2018

Tage danach

Ostermontag, 2. April 2018

Ostermontag, 2. April 2018

Ostermontag, 2. April 2018

Mittwoch, 3. April 2018

Dienstag, 2. Januar 2018

Mittwoch, 4. April 2018

Mittwoch, 4. April 2018

Freitag, 6. April

Freitag, 6. April 2018

Sonntag, 8. April 2018

Montag, 9. April 2018

Dienstag, 10. April 2018

Mittwoch, 11. April 2018

Sonntagnacht, 13. Mai 2018

Montag, 14. Mai 2018

Montag, 14. Mai 2018

Dienstag, 15. Mai 2018

Mittwoch, 16. Januar 2018

Mittwoch, 16. Mai 2018

Donnerstag, 17. Mai 2018

Fraitag, 18. Mai 2018

Freitag, 18. Mai Januar 2018

Mittwoch, 23. Mai 2018

Sonntag, 27. Mai 2018

Sonntag, 27. Mai 2018

Dienstag, 29. Mai 2018

Nachwort

Über den Autor

Mehr von Hans-Joachim Wildner

Eine kleine Bitte

Vorwort

Motorradfahren ist mehr als reine Fortbewegung, es ist ein Gefühl – das Gefühl von Freiheit und Dynamik, von Geschwindigkeit und Beschleunigung. Der Fahrtwind, die spürbare Kraft und der Klang machen es zu einem Erlebnis der Sinne. Wenn man in der Schräglage eine andere Sicht auf die Welt erfährt, wenn Mensch und Maschine zu einer Einheit verschmelzen, erlebt man den Flow, der die Schranken der Vorsicht öffnet und Risiken ausblendet.

Die Illusion der eigenen Unverletzlichkeit schützt uns einerseits vor einem Lebensgefühl in ständiger Angst, andererseits verleitet sie manchen zur Leichtsinnigkeit. Gefahren werden unterschätzt oder gar verdrängt. Nichts kann passieren, es ist alles unter Kontrolle. Mit diesem Hochgefühl fährt man dem Alltag rasch davon – und manchmal auch seinem eigenen Schutzengel, obwohl die Statistik mahnt: das Risiko, mit dem Motorrad tödlich zu verunglücken sei sechsmal höher als mit dem Auto.

Der Gewinn an Freiheit geht leider mit wenig schützender Technik einher. Zweiräder haben keine Knautschzone, keinen Gurt und keinen Airbag. Eine Lücke, die nur der Fahrer durch Besonnenheit und Umsicht ausgleichen kann. Es macht mich betroffen, wenn ich in der Bikersaison häufig Zeitungsberichte über Motorradunfälle lese.

Trotzdem hat es mich während der Recherche zu diesem Buch gepackt. Ich habe mich kurzerhand bei einer Fahrschule angemeldet und im Mai 2019 die A2 Prüfung bestanden. Für das Manuskript zu diesem Roman war das die innigste Erfahrung.

Ich bin stolz, nun selbst Biker zu sein, und freue mich, wenn ich auf Tour bin und von anderen mit Handzeichen freundlich gegrüßt werde. Das gibt mir das unbeschreibliche Gefühl: Du gehörst dazu.

Ich wünsche allen Bikern allzeit gute und sichere Fahrt sowie spannende Unterhaltung mit »Biker Day«.

Euer Hans-Joachim Wildner

Prolog

Sonntag, 28. Mai 2017

5. Human Biker Day, Bad Lauterberg

Jörg Reimers stoppte seinen Porsche an der Kreuzung, stieß einen Fluch aus und trommelte ungeduldig auf dem Lenkrad herum. Er hatte es eilig. Und nun das. Ein Motorradfahrer in gelber Weste mit dem Aufdruck »HBD – Team, Ordner« versperrte ihm mit seiner Maschine den Weg von der Heikenbergstraße in die Scharzfelder Straße. Rings um die Kreuzung herum standen Leute mit ihren Handys in Fotohaltung. Was geht denn hier ab?, wunderte er sich.

Dann vernahm er ein gedämpftes Brummen, das rasch anschwoll und bald darauf den Asphalt zum Beben brachte. Hinter einem Polizeimotorrad mit Blaulicht folgten Hunderte Maschinen, chromblitzend, mit schnittigen Rennverkleidungen oder in kraftstrotzendem Schwarz. Eine gewaltige Armada, die kein Ende zu nehmen schien, donnerte vorüber und die Luft vibrierte im Gedröhn der Motoren.

Er schaute auf die Cockpitanzeige seines Wagens: 28-05-2017. Es war Sonntag, der letzte im Mai. Und dann fiel ihm ein, was er in der Zeitung gelesen hatte. Heute ist Human Biker Day. Die große Ausfahrt der Motorradfahrer für einen guten Zweck, erinnerte er sich. »Für einen guten Zweck«, sagte er laut vor sich hin, und dabei krallten sich seine Hände ins Leder des Lenkrades. Sie wissen nicht, was passiert ist, dachte er, und in seinen Ohren wummerte der rhythmische Sound vorüberfahrender Maschinen.

Plötzlich schreckte ihn eine schrille Autohupe aus seinen Gedanken. Im Rückspiegel sah er einen gestikulierenden Autofahrer. Reimers schaute nach vorn und stellte überrascht fest, dass der Verkehr wieder lief. Er legte den Gang ein und setzte seinen Weg fort.

Samstag, 30. Juni 2017

Göttingen, Klinikum

Surrend gab die automatische Glastür den Weg in ihr neues Leben frei und schloss sich hinter ihr. Stella wandte kurz den Blick zurück und hatte das Gefühl, als schnitt die Tür den rückwärtigen Weg ab – unbarmherzig und endgültig. Sie schaute nach vorn. Die Luft, die Sonne, das Leben und der Lärm der Stadt – das alles hatte sie in den Wochen, in denen sie im Klinikum lag vermisst. Nun nahm sie die Welt mit allen Sinnen gierig in sich auf. Es fühlte sich wie früher an und doch würde nichts mehr so sein, wie es einmal war. Der Unfall hatte ihr Leben verändert – von einer Sekunde zur nächsten. Stella konnte sich an Einzelheiten kaum erinnern, aber der Moment, als sie ihre Diagnose erfuhr, fraß sich schmerzlich in ihr Gedächtnis. Es war so unbegreiflich gewesen.

Sie setzte die Sonnenbrille auf. »Wie geht es jetzt weiter?« Die Frage war eher an das Leben gerichtet als an irgendjemand sonst.

»Wie schon?«, sagte ihr Vater, als hielte er die Frage für überflüssig. »Es läuft alles genau so weiter. Im August wirst du mit dem Studium beginnen. Nach spätestens drei Jahren hast du deinen Bachelor in Geologie. Vielleicht machst du anschließend den Master und gehst für ein Jahr nach Amerika und ...«

»Papa!«, unterbrach sie ihren Vater, aus dessen Stimme sie pure Verzweiflung heraushörte, »ich möchte nur vorher noch einmal nach Hause.« Sie lächelte.

Hinter ihr hörte sie das leise Schluchzen ihrer Mutter. Dann spürte sie deren Wange an der ihren.

»Es wird alles gut, Schatz. Papa fällt es schwer, das zu akzeptieren, genau wie mir, aber es wird alles gut«, flüsterte sie ihr ins Ohr und küsste ihre Wange.

»Sicher«, antwortete Stella, »aber nun lasst uns nach Hause fahren.« Ihre Mutter schob den Rollstuhl die Zufahrt entlang zum Behindertenparkplatz.

»Ihr habt ein neues Auto«, staunte Stella, als ihr Vater die Schlüsselfernbedienung gedrückt und im selben Moment die Blinklichter eines roten VW Sharan aufgeblitzt hatten.

»Der hat hinten Schiebetüren und genügend Platz für den Rollstuhl«, sagte er. »Hab ich gebraucht gekauft. Für unseren Golf hat mir der Verkäufer ein gutes Angebot gemacht.«

»Aber den Porsche hast du hoffentlich behalten«, meinte Stella.

»Klar doch, den würde ich niemals hergeben«, blinzelte er ihr zu.

Stellas Mutter rangierte unbeholfen den Rolli seitlich an den Wagen heran. »Ich muss das noch üben«, entschuldigte sie sich. Stellas Vater öffnete die Schiebetür, beugte sich von vorn zu seiner Tochter herunter, die ihre Arme um seinen Hals schlang. Dann richtete er sich auf und zog sie vom Sitz hoch. Stella stützte sich am Dachholm des Autos ab, ließ sich auf die Rückbank fallen und hievte ihre Beine in den Fußraum. Sie hatte diese Prozedur mit ihrer Therapeutin schon mehrmals geübt. Unterdessen verstaute ihr Vater den Rollstuhl durch die Heckklappe im Auto. Die linke Sitzhälfte der Rückbank hatte er extra dazu ausgebaut, um Stellplatz zu schaffen.

Stella legte den Gurt an, schaute durch die Scheibe und beobachtete die Menschen, die wie Ameisen durch den Haupteingang des Klinikums eilten. Sie war endlich hier raus und wollte nie wieder rein. Sechs Wochen hatte sie dort verbracht. Wochen mit Tränen und Hoffnung, Resignation und Optimismus, mit Fortschritten und Rückschlägen. Ohne ihre Familie und ihren Freund Sven, hätte sie den Mut verloren, die neue Situation anzunehmen. Ihre Eltern hatten Unmenschliches geleistet, obwohl sie selber Trost und Beistand brauchten. Aber sie ließen sich ihren Schmerz nie anmerken und gaben ihr damit ein Vorbild an Haltung. Sie sah im Rückspiegel in die Augen ihres Vaters. Er erwiderte ihren Blick und lächelte. Wie wunderbar ist es, eine Familie zu haben, ging ihr dabei durch den Kopf.

Für Sven war es ein Schock gewesen. Sie kannten sich von ihrer Schulzeit auf der KGS, verstanden sich von Anfang an gut und hatten zusammen die Pausen mit Quatschen und Blödeleien verbracht. Vor knapp einem Jahr passierte es dann. Sie wusste nicht, wie ihr geschah. Aus heiterem Himmel hatte sie sich in ihn verliebt. Richtig verliebt, nicht einfach verknallt.

Sven war keiner von denen, die nur das Eine wollten. Er kletterte sogar mit ihr überall im Harz auf Geröllhalden und Felsen herum und half ihr bei der Suche nach Mineralien für ihre Sammlung. Eines Tages überraschte er sie mit einer selbst gebauten Vitrine, worin sie ihre besten Stücke aufbewahren konnte. Sie wollte Geologin werden, aber ohne gebrauchsfähige Beine? Beide hatten Zukunftspläne geschmiedet und entdeckten durch Zufall Spaß am Tanzen. Seit einem halben Jahr besuchten sie die Tanzschule in Osterode. Stella schluckte bei dem Gedanken. Sven hatte das Thema kein einziges Mal an ihrem Krankenbett angesprochen, aber sie spürte, wie er das vermissen würde. Sie hatte Angst vor der Zukunft.

Sie verließen das Klinikumgelände und bogen in die Robert-Koch-Straße ein. Wie mit den Augen eines Kindes, das ständig Neues in der Welt entdeckt, schaute Stella aus dem fahrenden Auto. Ja, die Welt, es gab sie noch. Wochenlang hatte sie nur Krankenzimmer, Flure, Behandlungsräume und Menschen in grüner Einheitskleidung gesehen, mit Ausnahme ihrer Besucher. Sie bemerkte einige kleine Veränderungen im Straßenbild. Dort ein Baugerüst, an das sie sich nicht erinnern konnte, und ein Stück weiter eine Baugrube, wo vor Wochen ein älteres Wohnhaus gestanden hatte. Die Welt dreht sich noch, dachte sie und freute sich, endlich wieder ins richtige Leben zurückzukehren. Sie wollte nur rasch nach Hause und sehnte sich nach Sven. Würden seine Gefühle stark genug sein, es mit einem Krüp ..., sie erschrak bei diesem Gedanken. Mit einer Behinderten befreundet zu sein?, korrigierte sie sich.

Den Roringer Berg hinauf hörte man dem Sharan die Anstrengung an. Auf einmal mischte sich von hinten ein weiteres Geräusch in den Motorensound. Es klang wie ein Wespenschwarm, der rasch näher kam. Stella erkannte dieses schrille Summen wieder. Sie erschrak und drückte die Augen fest zu, als das Motorrad ohrenbetäubend an ihnen vorbeischoss. Der Heulton fiel mit größer werdendem Abstand wie eine auslaufende Sirene in sich zusammen und wurde rasch leiser. Sie sah ihm nach. Den Oberkörper dicht auf den Tank gedrückt, lag der Motorradfahrer förmlich auf der Rennmaschine und war kaum zu erkennen.

»Idiot«, rief Stellas Vater hinter dem Raser her, »pass auf, dass sie dich nicht demnächst als Organspender unter der Leitplanke hervorziehen!«

Stella sah den Biker hinter der Kuppe des Rohringer Berges verschwinden. Sie hielt die Augen wieder geschlossen. Das Motorengeheul brachte schreckliche Bilder hervor. In ihrem Kopf dröhnte das helle Summen, das urplötzlich verstummte, dann ein Schlag – Stille – Kreischen – Schreie – Stille. Sie sah das fremde Gesicht, das danach über ihr aufgetaucht war.

»Hallo? Können Sie mich hören?«, hatte der Mann gefragt. Sie konnte ihn hören.

»Ja«

»Wie heißen Sie?«

»Stella Reimers.«

»Welcher Tag ist heute?«

Warum fragt er mich nach dem Tag?, dachte sie damals. »Schauen Sie auf ihr Handy«, hatte sie patzig geantwortet. Ihr Kopf schmerzte.

»Spüren Sie das?«, fragte er weiter.

»Ja«

»Und das?«

»Ja«

»Das auch?«

»Nein«

»Und hier?«

»Nein«

Warum fragte er das? Und warum standen so viele Leute um sie herum? Plötzlich war ihr bewusst geworden, dass etwas mit ihr passiert sein musste.

»Was ist passiert?«, hatte sie gefragt.

»Sie hatten einen Unfall«, antwortete der Mann. »Ich bin der Notarzt.«

»Was für einen Unfall?«

Was dann folgte, war ein Albtraum. Sie spürte ihre Beine nicht mehr. »Es tut mir leid«, hatte der Oberarzt gesagt, »ihr Lendenwirbel L2 ist gebrochen und hat das Rückenmark durchtrennt.«

Es war ihr, als fühlte sie plötzlich gar nichts mehr.

»Werde ich wieder laufen können?«

Der Arzt hatte stumm den Kopf geschüttelt. »Paraplegie, das bedeutet Einschränkung an zwei Extremitäten – die Beine, verstehen Sie? Wir müssen abwarten. Es ist möglich, dass sich die Motorik wieder einstellt. Haben Sie Geduld, verstehen Sie?«

Ja, sie hatte verstanden. Nein, sie würde es nie verstehen. Nichts hatte sich eingestellt. Ihre Beine blieben gefühllos.

Würde Sven das aushalten? Und würde sie es selbst aushalten? Sie hatte Angst vor der Zukunft.

Samstag, 29. Juli 2017

Bad Lauterberg, Weinfest

»Das glaub ich jetzt nicht, wenn das nicht Sven Kaiser ist?«

Sven drehte sich um und starrte auf den Mann, der lächelnd auf ihn zuging.

»Pascal, du? Was machst du in Bad Lauterberg?«, fragte Sven, stellte sein Weinglas auf den Stehtisch und kam ihm einen Schritt entgegen. The winner takes it all tönte von der Musikband über den Kirchplatz.

»Wein trinken natürlich«, antwortete Pascal und umarmte Sven freundschaftlich. »Euer Weinfest strahlt über den Harz hinweg bis nach Bad Harzburg. Ich dachte, ich schau mal vorbei. Wie geht es dir?«

»Gut«, sagte Sven, »komm stell dich zu uns.« Sven gab dem Weinhändler, der hinter dem Tresen des Verkaufspavillons stand, ein Handzeichen. »Noch ein Glas Riesling, bitte«, rief er ihm zu. Er wandte sich zurück und wies auf die anderen Männer am Tisch. »Das sind Arbeitskollegen von mir bei Exide.«

»Hi«, grüßte Pascal in die Runde. »Hi«, kam es mehrfach zurück.

»Wann wirst du endlich Bundeskanzler?«, fragte Sven und griente dabei. »Pascal ist nämlich bald Landtagsabgeordneter in Hannover«, erklärte er seinen Kollegen. Der Weinhändler stellte Pascal ein Glas auf den Tisch. Sven prostete ihm zu. »Zum Wohl.«

Nachdem sie getrunken hatten, fragte Pascal: »Aus dir hätte ein guter Politiker werden können. Warum hast du damals alles geschmissen?«

»Ach weißt du, Politik ist nichts für mich. Plakate kleben, Flyer verteilen und immer nur lächeln, da habe ich echt keinen Bock drauf. Ich bin zweiundzwanzig und möchte mich keinen Parteizwängen unterwerfen oder mir meine Meinung von irgendwelchen Politbonzen vorschreiben lassen. Nein Danke, ich bin kein Arschkriecher.«

Pascal zog die Stirn kraus. »Hältst du mich für einen Arschkriecher?«

»Die Frage musst du dir selbst beantworten«, sagte Sven und nippte an seinem Wein.

»Danke. Geschickt rausgeredet.« Pascal war etwas verschnupft von Svens unterschwelligem Vorwurf, und eine passende Antwort lag ihm auf der Zunge, aber er wollte die ausgelassene Stimmung auf diesem Fest nicht mit einem Streit belasten. »Mal was anderes«, lenkte er vom Thema ab, »bist du noch mit dem netten Mädchen zusammen. Wie heißt sie gleich – Stella, richtig?«

Eine bedrückende Stille erfasste auf einmal die Tischrunde. Verstohlene Blicke von den Kollegen streiften Sven, dessen Mimik zu erstarren schien, und nicht nur das, er stand da, wie in Stein gemeißelt.

Pascal irritierte dieser unverhoffte Stimmungsumschwung. »Entschuldige, habe ich da aus Versehen Öl in irgendein Feuer gegossen?«, fragte er verunsichert.

Sven kaute auf der Unterlippe, unfähig zu antworten.

»Sie hatte einen Unfall«, antwortete einer seiner Kollegen leise.

»Oh, nein, das wusste ich nicht. Was ist denn passiert?«, wollte Pascal wissen, sah Sven betroffen an und erschrak. Sven sah plötzlich seltsam verändert aus. Harte Gesichtszüge, eisige Augen und sein Mund unförmig verkrampft. Es hatte den Anschein, als würde er sich gleich in einen Werwolf verwandeln. Er starrte seinen ehemaligen Parteikameraden an, als hätte dieser ihn zutiefst beleidigt. Nach einer Weile öffneten sich langsam seine Lippen.

»Was passiert ist, willst du wissen? Ich wünsche niemandem, nicht mal meinen ärgsten Feinden, was ihr passiert ist. Sie sitzt im Rollstuhl, das ist passiert«, grollte es aus den Tiefen seiner Seele, und in der Stimme lagen Wut und Verzweiflung.

»Das tut mir wirklich leid, Sven. Wenn ich irgendwas für dich tun kann ...«

»Ach ja? Ihr Politiker hättet längst etwas tun können. Ihr könntet verhindern, dass diese Raser auf ihren Feuerstühlen jedes Frühjahr wie Heuschrecken über den Harz herfallen und alles ummangeln, was ihnen in die Quere kommt«, fauchte Sven ihn an.

Pascal schloss aus Svens Reaktion, dass Stella durch Motorradfahrer zu Schaden gekommen war. Er verstand seine Verbitterung, aber er fühlte sich zu Unrecht angegriffen.

»Meinst du nicht, dass du jetzt etwas übertreibst, Sven?«, versuchte er ihn zu beruhigen.

Svens Kollegen guckten verstört, zogen sich unauffällig zurück und tauchten in die Menschenmenge des Platzes ein. Hatten sie eine Vorahnung?

Dann geschah etwas, was Pascal schockierte. Ein Mann und eine Frau in Motorradkombi schlenderten von der Hauptstraße kommend auf den Festtrubel zu. Sven hatte eben sein Weinglas aufgenommen, als er die beiden erblickte. Er stierte wie paralysiert zu dem Paar hinüber.

»Sieh sie dir an«, zischte er, »wie Aliens kommen sie daher. Sie glauben, alles sei zu ihrem Spaß angerichtet.«

Plötzlich zerplatzte das Glas in seiner Hand und Blut quoll zwischen den Fingern hindurch. Er verzog keine Miene, als spürte er den Schmerz nicht. Dann stapfte er davon, ohne sich zu verabschieden. Pascal schaute verwirrt hinterher und beobachtete, wie Sven vor den beiden Motorradfahrern stehen blieb und drohend mit dem Finger auf sie zeigte. Das Paar machten kopfschüttelnd einen Bogen um ihn herum und tippten sich an die Stirn.

Country Roads erklang von der Bühne und übertönte Svens Flüche. Die Party nahm ihren Lauf, die Feiernden wippten im Takt und sangen mit. Für Sven war das Fest zu Ende.

Mittwoch, 22. August 2017

Herzberg, Amtsgericht

»Darfst du da einfach so hineinfahren?«, fragte Stella, als ihr Vater an dem Hinweisschild zum Parkplatz vor dem Herzberger Schloss vorbeifuhr und geradewegs durch die Tordurchfahrt lenkte.

»Einfach so nicht, aber für dich mach ich das«, sagte er und fuhr auf den Innenhof des Schlosses. »Sei unbesorgt, für Behinderte ist das erlaubt«, erklärte er ihr, als er vor dem Eingang zum Amtsgericht anhielt. Sven sprang sofort aus dem Auto. »Warte einen Moment«, hielt Stellas Vater ihn zurück. »Ich seh erst einmal nach, in welchem Raum die Verhandlung stattfindet.« Er stieg ebenfalls aus, ging die Eingangsstufen hinauf und verschwand in dem Gebäudetrakt. Nach wenigen Minuten kehrte er zurück. »Ich habs mir schon gedacht. Wir müssen in den ersten Stock«, sagte er und öffnete die Kofferraumklappe. Sven beugte sich zu Stella ins Auto. Sie legte Ihre Arme um seinen Hals und gab ihm einen Kuss auf die Wange, bevor er sie aus dem Sitz hob.

»Ich bin unheimlich aufgeregt«, flüsterte sie ihm ins Ohr.

»Ich auch«, gestand Sven. »Ich habe eine Stinkwut auf die und weiß nicht was ich tue, wenn die mir von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Ich werde mich überwinden müssen, denen nicht vor die Füße zu spucken.«

»So kenn ich dich ja gar nicht«, sagte Stella. »Versprich mir, locker zu bleiben.«

Er drückte sie fest an sich und vergrub sein Gesicht in ihrer Schulter. »Ich werde denen niemals vergessen, was sie dir angetan haben«, sagte er. »UNS angetan haben«, ergänzte er.

»Vertrau dem Staatsanwalt, das soll ein scharfer Hund sein. Er wird denen schon zeigen, wo der Hammer hängt.«

»Du hast recht. Außerdem liegt für mich der Fall klar auf der Hand, so wie du jetzt. Und dein Papa ist selbst Rechtsanwalt und vertritt dich mit der Schadensersatzklage. Er wird eine ordentliche Entschädigung herausholen. Was soll da schief gehen?« Er lächelte sie an.

Stellas Mutter ging voraus und hielt die Türen für Sven mit Stella und ihren Mann auf, der den zusammengeklappten Rollstuhl vor sich her trug.

Auf dem oberen Flur setzte Sven seine Freundin in den Rollstuhl zurück und schob ihn in den Gerichtssaal. Sven ging einige Schritte auf den knarzenden Dielen hinein, blieb stehen und sah sich um. Sein Herz schlug schneller, als er den bärtigen Mann in Motorradkluft auf der Anklagebank erblickte. Er tuschelte mit seinem Verteidiger, hielt inne und schielte kurz herüber. Sven erkannte in seinem Gesicht keinerlei Anzeichen von Betroffenheit beim Anblick der jungen Frau im Rollstuhl, deren Schicksal er zu verantworten hatte. Der Mann wandte sich erneut zu seinem Anwalt und setzte das Gespräch mit ihm fort. Auf dem Rückenteil seines T-Shirts protzte ein rundes Emblem mit dem Schriftzug »Vulcan Recken«. Ein solches Abzeichen hatte Sven noch nirgends gesehen. In der ersten Reihe der Besucherstühle hatten vier weitere Männer in Motorradkutte Platz genommen. Sven fand es provozierend, zu diesem Prozess in derartiger Aufmachung zu erscheinen. Ihr Anblick erinnerte ihn an wilde Rockerbanden, die in Film und Fernsehen ihr Unwesen trieben. Diese Banden nahmen sich viele Motorradfans sicher zum Vorbild. Er warf ihnen einen vorwurfsvollen Blick zu und schob Stella absichtlich dicht an ihnen vorüber. Sie schienen den Blickkontakt zu meiden und schauten zur Seite. Stellas Mutter begab sich in die zweite Besucherreihe, wo bereits zwei Frauen saßen.

Sven parkte den Rollstuhl an der Stirnseite des Tisches, hinter dem ein Mann in schwarzer Robe saß und in seinen Akten blätterte.

Er löste sich von dem Papier, erhob sich und kam nach vorne. »Ich bin Staatsanwalt Dr. Henrik«, stellte er sich Stella vor. »Wie geht es Ihnen?«

»Danke, ich bin etwas aufgeregt«, antwortete Stella.

»Dazu besteht kein Grund, Sie sind schließlich nicht angeklagt«, sagte er und begrüßte Stellas Vater, der seinerseits die Anwaltsrobe überstreifte.

»Lassen Sie uns setzen, ich muss Ihnen etwas mitteilen«, sagte er, und Sven glaubte, einen besorgten Zwischenton herauszuhören. Er bugsierte den Rollstuhl näher an den Tisch und die beiden Ankläger rückten die Stühle zusammen.

»Es hat sich ein neuer Aspekt in der Sache ergeben.« Er blätterte in seinen Unterlagen herum, bis er auf Fotos von Motorrädern stieß. »Die Verteidigung beruft sich auf die Ermittlungsakte der Polizei und das Ergebnis der KTU, bei der die beteiligten Motorräder untersucht wurden. Sie behaupten, dass dem Angeklagten keine eindeutige Schuld nachzuweisen sei, da weder an seinem noch an den Motorrädern der anderen Kollisionsspuren zu erkennen seien. Deswegen ist keinem der fünf Fahrer, die an dem Unfall beteiligt waren, eine Schuld nachzuweisen. Hier sehen Sie.« Er zeigte ihnen die Bilder.

»Das ist doch wohl ein Witz«, echauffierte sich Sven. »Heißt das, die kommen ungeschoren davon?«

»Nicht so laut«, ermahnte ihn Stellas Vater. »Kollektivstrafen gibt es in unserem Rechtssystem nicht. Wir müssen deshalb anhand von Zeugenaussagen und eventuellen Gutachten nachweisen, dass einer der Fahrer der Unfallverursacher war.«

»Richtig«, bestätigte der Staatsanwalt. »Ich will Ihnen nichts vormachen, aber das wird schwierig werden, zumal außer den Beteiligten nur zwei Zeugen den Unfallhergang beobachtet haben. Es wird von ihren Aussagen abhängen, ob die Schuld zweifelsfrei bewiesen werden kann.«

»Ich hör wohl nicht recht. Die rasen ein Mädchen auf ihrem Fahrrad über den Haufen und gehen nachher unbescholten nach Hause?«, beschwerte sich Sven im Flüsterton. »Das ist schwer zu ertragen.«

»Nun warten Sie es erst einmal die Verhandlung ab. Noch ist nichts verloren«, erwiderte der Staatsanwalt.

In der linken Wand des Raumes öffnete sich eine Tür. Die Richterin und zwei Beisitzer, eine Frau und ein Mann, betraten den Saal. Alle Anwesenden, mit Ausnahme von Stella, erhoben sich. Die Vorsitzende und ihre Begleiter stellten sich hinter dem Richtertisch auf. Eine Frau, registrierte Sven beifällig. Das könnte von Vorteil sein. Frauen sind normalerweise empathischer als Männer, glaubte er.

»Nehmen Sie bitte Platz«, sagte die Richterin. Mit dem Geräusch rückender Stühle kamen alle der Aufforderung nach. Dann wurde es still im Saal. Sven beobachtete die Vorsitzende einen Augenblick. Was für ein Mensch mag sie sein, überlegte er. Ohne ihre Robe würde sie im Alltag unauffällig bleiben. Er taxierte sie auf Mitte vierzig. Sie trug eine randlose Brille und sah mittelmäßig aus. Ein Muttertyp, schätzte er. Sie ist auf Stellas Seite, was soll da schief gehen?

»Die Hauptverhandlung in der Strafsache Aktenzeichen St 32/4. 3 ist hiermit eröffnet. Ich rufe zunächst die Zeugen auf und bitte Sie nach vorne zu kommen.«

Sie las Stellas sowie sechs weitere Namen von einem Blatt ab. Am Ende standen die vier Männer in der Motoradkleidung, die beiden Frauen und Stella vor dem Richtertisch.

»Ich weise Sie darauf hin, dass Sie vor Gericht die Wahrheit sagen müssen. Uneidliche Falschaussage wird mit einer Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren belegt. Meineid mit einer Strafe nicht unter einem Jahr. Bitte nehmen Sie draußen im Flur Platz. Sie werden dann einzeln aufgerufen.« Die Zeugen begaben sich zum Saalausgang.

»Frau Reimers, Sie bleiben bitte gleich hier«, forderte die Richterin sie auf, dann sah sie abwechselnd zur Seite der Anklage und Verteidigung. »Legen Sie Wert auf eine Vereidigung der Zeugin?«, fragte sie.

Kopfschütteln von beiden Parteien.

»Frau Reimers, wann genau passierte der Unfall«, fuhr sie fort.

Bevor Stella antwortete, schaute sie flüchtig zu ihrem Vater und Sven. Beide nickten ihr zu, als wenn sie sagen wollten: »Wir halten zu dir.«

»Es war Mittwoch, der 17. Mai«, begann Stella, »am frühen Nachmittag. Die Uhrzeit weiß ich nicht. Ich war mit dem Fahrrad unterwegs und wollte zu meiner Schulfreundin.« Sie schaute erneut zu Sven hinüber. Er lächelte.

»Ja, und weiter«, drängte die Richterin, der der ablenkende Blick zu Sven offenbar zu lange dauerte.

»Ich hatte bei Lidl noch rasch eine Tüte Chips geholt und fuhr weiter. An der Schanzenkreuzung muss es dann passiert sein. Auf dem Zebrastreifen. An mehr kann ich mich nicht erinnern.«

»Können Sie uns den Weg, den Sie genommen haben, auf der Skizze zeigen?«, fragte die Richterin und zeigte auf einen Flipchart-Ständer.

Stellas Vater stand auf und schob sie vor den übergroßen Papierblock, auf dem der Grundriss der Schanzenkreuzung skizziert war. Mit einem Zeigestock fuhr Stella den Weg auf dem Papier nach.

»Hier am Zebrastreifen ist es dann passiert. Ich hörte ein lautes Brummen, dann spürte ich einen Schlag, hörte Schreie und dann nichts mehr.« Stellas Blick schwenkte abwartend über die drei Gerichtspersonen.

»Einen Schlag haben Sie gespürt«, wiederholte die Richterin. »An welcher Stelle?«

»Ich weiß es nicht. Es ging so schnell«, antwortete Stella.

»Dieses Brummen, von dem Sie sprachen, woher kam das?«, fragte die Richterin weiter.

»Es war kein richtiges Brummen, mehr ein Heulen, und war dicht hinter mir. Furchtbar.«

»Danke Frau Reimers!« Sie schaute abermals zu den sich gegenübersitzenden Parteien. »Haben Sie Fragen an die Zeugin?«

Der Verteidiger erhob sich. »Frau Reimers, sind Sie vom Fahrrad abgestiegen, bevor Sie den Zebrastreifen auf der Abbiegespur überquert haben?«

»Nein, die Ampel dahinter war grün und ich wollte noch rüber«, antwortete Stella.

»Danke«, sagte der Rechtsanwalt. »Ich habe weiter keine Fragen.«

Die vier Motorradfahrer wurden nacheinander hereingerufen. Ihre Antworten ähnelten sich.

»Plötzlich war da dieser Fahrradfahrer, ich konnte nicht mehr bremsen und musste über den Gehweg ausweichen.« –

»Kutte, ich meine Michael Büker, führte uns an. Von einer Kollision habe ich nichts mitgekriegt.« –

»Ich fuhr am Schluss und konnte nicht viel erkennen. Ich sah dann nur die Frau auf der Straße liegen.« –

»Zu schnell? Nee, vielleicht etwas über fünfzig, laut Tacho.«

Die beiden Zeuginnen äußerten sich widersprüchlich.

»Ich sah, wie die Frau über den Zebrastreifen fuhr, als eine Gruppe Motorräder um die Ecke kam. Der Erste hat sie voll erwischt.« –

»Die Motoren heulten auf, dass ich mich erschreckte. Wer von denen sie zu Fall brachte, kann ich nicht sagen. Plötzlich fuhren alle wild durcheinander und ich sah die Frau auf der Fahrbahn liegen. Ich habe sofort den Notarzt gerufen.«

Den Bericht des Sachverständigen verstand Sven kaum. Für ihn war nicht erkennbar, welcher Seite er nützte.

Der Verteidiger hackte immer wieder auf Stellas Fehlverhalten herum. Sie hätte absteigen müssen, als Radfahrerin hatte sie auf dem Zebrastreifen keinen Vorrang. Der Staatsanwalt wies die Hauptschuld dem anführenden Fahrer zu. Er hätte die Geschwindigkeit vor dem Fußgängerüberweg drosseln und seine Kameraden mit Handzeichen warnen müssen. Motorradfahrer in der Gruppe hätten erhöhte Rücksicht zu nehmen. Das sei hier nicht zu erkennen gewesen.

Die Beweisaufnahme dauerte über eine Stunde. Bevor sich das Gericht zur Urteilsfindung zurückzog, fragte die Vorsitzende den Angeklagten: »Möchten Sie noch etwas sagen? Sie haben das letzte Wort.«

Der Mann, mit dem Clubabzeichen auf dem Rücken stand auf. »Es tut mir leid, dass es zu diesem Unfall gekommen ist. Meine Kameraden und ich wünschten, wir hätten es verhindern können.« Er setzte sich.

Sven platzte der Kragen. »Sie scheinheiliger Pharisäer«, polterte es aus ihm heraus. Die Richterin unterbrach ihn, indem sie mit einem Holzhammer auf den Tisch schlug.

»Noch ein Wort und ich belege Sie mit einem Ordnungsgeld!«

»Entschuldigung«, sagte Sven umgehend. Der Staatsanwalt schaute ihn einen Augenblick an und schüttelte angedeutet den Kopf.

Das war ungeschickt, warf sich Sven selbst vor, aber trotzdem sah er durch die Zeugenbefragung klare Vorteile für Stella. Die Haftpflichtversicherung würde eine hohe Entschädigung und Schmerzensgeld zahlen müssen. Das Geld brauchten ihre Eltern, um das Haus barrierefrei zu machen und um Stellas Ausbildung zu finanzieren.

Sven schielte zu dem Mann in der schwarzen Lederkluft hinüber, der sich mit seinem Verteidiger unterhielt, als sei das hier ein Kaffeetrinken. Sie lachten sogar.

Warts nur ab, euch wird das Lachen gleich vergehen, rief Sven ihm in Gedanken zu.

Das Gericht kehrte zurück. Die Anwesenden erhoben sich von ihren Plätzen. Sven drückte Stellas Hand, als die Richterin stehend das Urteil verkündete.

»Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil. Die Klage der Staatsanwaltschaft wird abgewiesen. Der Angeklagte wird freigesprochen.« Die Richterin und ihre beiden Beisitzer setzten sich. »Bitte nehmen Sie Platz«, sagte sie.

Sven hatte das Gefühl, von einem Dampfhammer getroffen worden zu sein. Hatte er das richtig verstanden? Er sah Stella an, die stumm neben ihm in ihrem Rollstuhl saß. Ihr Vater schaute zu ihrer Mutter herüber. Sie hatte die Hände vors Gesicht gelegt.

Die Richterin verlas die Urteilsbegründung, aber Sven hörte nur mit halbem Ohr zu. Er war wütend auf diese Person in der schwarzen Robe. Hatte sie keine Augen im Kopf? Sie sah doch das Ergebnis dieser rücksichtslosen Verkehrsrowdys leibhaftig vor sich. Ein junges Leben, dessen Zukunft ruiniert wurde. Diesen Typen geht es nur um ihren Spaß, um den Adrenalinkick, ohne Rücksicht auf andere. Für sie sind die Straßen eine reine Rennpiste, auf der sie ihre Grenzen austesten und ihren Geschwindigkeitsrausch ausleben können.

Sven atmete tief durch. Wie konnte er sich in dieser Frau dermaßen irren? Sie ist kein Muttertyp, sie ist eine eiskalte Paragrafentussi mit Unschuldsgesicht. Wahrscheinlich hatte sie eine traumatische Kindheit erlebt und ist unfähig, eigene Kinder großzuziehen. Oder sie hat ihren Mann mit einer Anderen im Bett erwischt und nutzt ihre Stellung aus, sich an Frauen zu rächen. Sie ist ein gefühlloses Monster. Sie ist ...

Stella zupfte an seinem Hemdsärmel. »Sven? Ist alles in Ordnung?«

»Klar, was soll sein?«, antwortete er. Sie verließen den Saal und gingen nach draußen. Im Schatten der Linde inmitten des Schlosshofes standen die fünf Biker zusammen, redeten und rauchten. Sie verstummten und wirkten verunsichert, als sie mitbekamen, wie Stella herausgetragen und ins Auto gesetzt wurde.

Sven drückte die Autotür zu, drehte sich der Gruppe zu und zeigte drohend mit dem Finger auf sie.

»Es gibt eine andere Gerechtigkeit, der sich niemand entziehen kann. Auch ihr nicht«, rief er und stieg ins Auto.

Der Wagen polterte über das Feldsteinpflaster des Hofes. Stella nahm Svens Hand und schaute ihn eine Zeit lang eindringlich an.

»Warum siehst du mich so an?«, fragte er.

»Da ist etwas in deinen Augen, was mir Angst macht«, gab sie zu verstehen. »Was hat das zu bedeuten?«

»Nichts, Liebes, gar nichts«, antwortete er tonlos und drückte ihre Hand.

»Aua!«, rief sie auf einmal und wollte ihre Hand aus der Umklammerung befreien. Er lockerte sofort den Griff.

»Oh, entschuldige. Ich war in Gedanken«, sagte er und streichelte ihren Handrücken.

»Doch, da ist etwas«, flüsterte sie.

Sven antwortete nicht.

Freitag, 29. September 2017

Osterode

Der Bundesaußenminister hatte es sich nicht nehmen lassen, persönlich nach Osterode zu kommen, um das Denkmal!Kunst-Festival zu eröffnen. Die Bürgermeister der Städte, die das Fachwerkfünfeck bildeten, umringten ihn wie Bienen ihre Königin. Im Pulk anhänglicher Parteigenossen und Bodyguards betrat er die Stadthalle von Osterode, in deren Foyer sich augenblicklich ein Blitzlichtgewitter entlud.

Polizeikommissar Eike Wolf konnte den Minister und den Trubel um ihn herum nur von Weitem verfolgen, da er mit mehreren Kollegen das Gebäude von außen absichern musste. Eine Aufgabe, für die er sich keineswegs vorgedrängelt hätte, aber sein Chef in Goslar hatte ihn zur Unterstützung der Osteroder Kollegen abkommandiert. Auch wenn er ihn diesen Dienst an einem hochrangigen Politiker als kleine Anerkennung verkaufen wollte, wusste Eike, dass er das Gegenteil damit beabsichtigte. Eike vermied es, das gespannte Verhältnis zu seinem Chef zusätzlich zu belasten und folgte diesmal den Anweisungen ohne Widerworte. Du kannst mich mal, hatte Eike gedacht und sich seinen Frust nicht anmerken lassen. Interessant war es allemal, denn wann sah man den Außenminister mal außerhalb der Mattscheibe live und persönlich.

Nach etwa eineinhalb Stunden war der Wirbel um den Minister vorbei. Eike meldete sich beim Einsatzleiter ab und schlenderte zu seinem Auto, dass er auf dem Parkplatz am Kornmagazin abgestellt hatte. Als er den Marktplatz inmitten der Altstadt erreichte, blieb er einen Augenblick stehen und genoss die mittelalterlich anmutenden Fachwerkfassaden und den wuchtigen Kirchturm von St. Aegidien am anderen Ende des Platzes.

Der prominente Gast aus Berlin und das angenehme Wetter hatten viele Menschen nach draußen gelockt. In einiger Entfernung beobachtete Eike zwei junge Frauen, die Kopftücher trugen und plaudernd über den Platz spazierten. Aus der entgegengesetzten Richtung kamen zwei Männer, die Eike durch ihren schwergewichtigen Gang und die tätowierten Schädel auffielen. Ihre fremdenfeindliche Gesinnung roch man von Weitem wie eine Kloake in schwüler Sommerhitze. Wie zwei Arenastiere steuerten sie direkt auf die beiden Frauen zu und stellten sich ihnen breitbeinig in den Weg. Eike ahnte, was kommen würde und forcierte seinen Schritt, um notfalls eingreifen zu können. Die Frauen klammerten sich ängstlich an den Händen und versuchten, an den Männern vorbeizugehen. Die machten rasch einen Schritt in dieselbe Richtung und blockierten den Durchgang abermals. Das Spiel ging zwei dreimal hin und her, bis die Frauen sich umdrehten und zurückgehen wollten. Sofort liefen die Typen um sie herum, und die Provokation begann erneut. Eike war noch ein paar Meter entfernt. Niemand der Umstehenden griff ein. Er beeilte sich.

»Haben Sie ein Problem?«, fragte er, als er nah genug dran war.

Die Männer fuhren wie auf Kommando herum und sahen Eike grimmig an. »Ja, Bulle. Wir haben ein Problem mit Kopftüchern«, knurrte einer.

»Wieso?«, fragte Eike, »Ihr tragt doch gar keine. Aber wenn ich euch so ansehe, würden die euren Glatzen sicher gut stehen.«

Den beiden Stieren erschlafften augenblicklich die Gesichtszüge, dann fletschten sie die Zähne, schnauben wie wütende Rottweiler auf Eike zu und bauten sich dicht vor ihm auf. Obwohl Eike kräftig gebaut und durchtrainiert war, waren die Hooligans körperlich im Vorteil. Trotzdem zeigte er keinerlei Respekt. Im Nahkampftrainig hatte er gelernt, dem Gegner stets Überlegenheit zu suggerieren, um ihn zu verunsichern. Die Frauen hatten sich inzwischen aus dem Staub gemacht, stellte Eike erleichtert fest.

»Ich hoffe, ihr Köter sabbert mich nicht voll«, sagte er und wich aus taktischen Gründen einen Schritt zurück, um eine günstigere Verteidigungsstellung zu erlangen.

»Verzieh dich, du Bullenschwein! Glaub ja nicht, dass wir vor deiner Uniform Schiss haben«, kläffte einer von ihnen und wollte Eike mit der rechten Hand gegen die Brust stoßen. Der wich reflexartig aus, packte den Arm des Angreifers, drehte ihn auf den Rücken und trat ihm dann von hinten in die Kniekehle. Wie eine Konservenpyramide, der man die unterste Dose entzogen hatte, sackte er zu Boden und knallte mit dem Kopf auf das Pflaster.

»Scheiß Bulle«, brüllte der Andere und schleuderte Eike die Faust entgegen. Der duckte sich zur Seite und spürte den Luftzug des Schlages dicht über seinen Haarspitzen hinwegsausen. Eike erwiderte den Angriff, indem er blitzartig seinen Ellenbogen hochriss und dem Mann mitten ins Gesicht rammte. Ein Schmerzensschrei schallte über den Marktplatz. Der Mann ging in die Hocke und drückte seine Hand auf die Nase. Blut sickerte darunter hervor.

Einige Schaulustige hatten sich um die Rauferei herum versammelt und gafften sensationsgierig. Eike schaute sich in der Menge um.

»Sie!« Er zeigte auf eine Frau, die in der vordersten Reihe stand. »Rufen Sie einen Notarzt«, sagte er im Befehlston.

Die Frau stierte erschrocken auf den Polizisten, begann aber sogleich in ihrer Handtasche nach dem Handy zu graben und rief an, als sie es endlich gefunden hatte.

Ein Rettungswagen mit Martinshorn traf wenig später auf dem Marktplatz ein. Davon angelockt füllten sich die Reihen der Umstehenden weiter auf.

Als die Sanitäter die beiden Verletzten behandelten, bemerkte Eike eine Frau, die fleißig Fotos von dem Geschehen schoss. Er ging auf sie zu. »Lassen Sie das bitte«, sagte er.

»Ich bin von der Presse«, rechtfertigte sie sich und präsentierte ihren Ausweis.

Das hat mir noch gefehlt, dachte Eike. Er sah schon im Geist zwei mögliche Schlagzeilen: »Polizist greift couragiert ein, um zwei Ausländerinnen vor Zudringlichkeit zweier Männer zu schützen.« Oder: »Polizist schlichtet gewaltsam harmlose Gängelei an Ausländerinnen und schlägt zwei Männer krankenhausreif.«

Ein Polizeiauto hielt kurz darauf ein paar Meter entfernt vom Geschehen an. Ein Kollege und eine Kollegin stiegen aus und drängten sich durch die Menschenmenge hindurch. »Gehen Sie bitte zur Seite!«, rief der Beamte. Die Neugierigen ließen die Uniformierten scheinbar nur unwillig passieren. Die Reporterin schwänzelte um die Polizisten und Sanitäter herum wobei sie ihren Stift über den Notizblock flitzen ließ.

Eike berichtete seinem Kollegen, was passiert war. Die Polizistin sah nach den beiden Verletzten, während der Osteroder Beamte die Personalien von Eike und einigen Zeugen aufnahm, die sich gemeldet hatten. Eike schaute auf Zehenspitzen stehend nach den beiden Ausländerinnen, konnte sie aber nirgends entdecken. Sie waren wichtige Zeuginnen, aber Eike hatte Verständnis für ihr fluchtartiges Verschwinden.

Der Rettungswagen fuhr ab. Die Beamten verabschiedeten sich voneinander und langsam löste sich die Versammlung auf. Eike ging zu seinem Auto. Dieser Einsatz würde für ihn nicht ohne Konsequenzen bleiben, das war ihm bewusst.

Montag, 2. Oktober 2017

Polizeikommissariat Clausthal-Zellerfeld

Eike ließ sich an diesem Montagmorgen in den Schreibtischstuhl fallen und drückte die Starttaste seines Rechners.

»Wie war das Wochenende?«, fragte seine Kollegin Corin-na Steinbrenner, die ihren Schreibtisch gegenüber hatte.

»Na, wie immer. Viel zu kurz«, antwortete Eike. »Und deins?«, erkundigte er sich zurück.

Corinna wollte eben antworten, als Eikes Telefon läutete. »Moment«, unterbrach er seine Kollegin und entnahm das Mobilteil aus der Ladestation. Die angezeigte Nummer verriet den Anrufer – sein Chef Ben Struwe von der Polizeiinspektion Goslar.

»Wolf, guten Morgen Herr ...«

Struwe ließ ihn nicht ausreden.

»Haben Sie schon die Zeitung gelesen?«, dröhnte es in Eikes Ohr.

»Nein, bin noch nicht dazu gekommen.«

»So? Dann lese ich Ihnen die Überschrift vor«, kündigte Struwe in einem bissigen Tonfall an. »Polizist schlichtet ausländerfeindlichen Übergriff auf zwei Frauen.« Er machte eine Pause. Eike ahnte, über welchen Vorfall berichtete wurde. Aber was ist an der Formulierung so dramatisch?, fragte er sich.

»Nachdem sich die Frauen entfernt hatten, schlug der Beamte die beiden Männer krankenhausreif«, las Struwe weiter. Eike hörte, wie Struwe Luft holte. »Sind Sie von allen guten Geistern verlassen?«, brüllte er ins Telefon, dass Corinna Steinbrenner es mithören konnte. Sie blickte verstört herüber. »Das wird für Sie Folgen haben, Wolf. Wenn die beiden Männer Sie wegen Körperverletzung verklagen, kann ich nichts mehr für Sie tun. Haben wir uns verstanden?«, fauchte Struwe.

»Ich habe in Notwehr gehandelt«, verteidigte sich Eike. »Dafür gibt es Zeugen.«

»So? Der Ruf der Polizei ist durch Ihr unbeherrschtes Handeln beschädigt worden. Ich habe Ihre Extratouren satt. Beim nächsten Mal werde Sie ohne Vorwarnung auf eine andere Dienststelle versetzen.«

Eike bekam feuchte Hände.

»Warum? Ich bin von diesen Schlägertypen angegriffen worden«, entgegnete Eike. »Wohin wollen Sie mich versetzen?«

»Dorthin, wo sie auf keine dummen Gedanken kommen, und wo selbst James Bond vor Langeweile Suizid verüben würde.«

Struwe legte auf.

Dienstag, 3. Oktober 2017

B 241, an der Ziegelhütte

Er empfand es als reine Schikane seines Chefs, dass er schon wieder an einem Feiertag Dienst schieben musste, sonst hätte er den Montag als Brückentag frei gemacht und mit dem 3. Oktober, dem Tag der Deutschen Einheit, ein langes Wochenende gehabt. Aber Ben Struwe hatte ihn seit dem Vorfall in Osterode erst recht auf dem Kieker. Der blaue Himmel steigerte zusätzlich seinen Frust – Motorradwetter. Wie gerne wäre er heute an der Weser entlang getourt, von Hannoversch Münden bis Bodenwerder.

Dass seine Kollegin Corinna ebenfalls eingeteilt war, empfand er als kleinen Trost. Sie war unkompliziert und vorausschauend. Sie waren ein gutes Team. Eike hoffte auf einen ruhigen Bürotag, wurde jedoch abrupt enttäuscht, als das Telefon alle Erwartungen zunichtemachte.

»Es wäre ja auch zu schön gewesen«, rief Eike seiner Kollegin zu. Corinna Steinbrenner schaute überrascht auf. »Die Rettungsleitstelle«, informierte er sie und griff zum Hörer. »PK Oberharz, Eike Wolf.«

»Ein Verkehrsunfall mit Personenschaden ist gemeldet worden. Auf der B 241, in der Nähe der Alten Ziegelhütte. Ein Mann ist in seinem Auto eingeklemmt. Feuerwehr und Rettungswagen sind verständigt.«

»Verstanden«, sagte Eike, »wir übernehmen.« Er legte auf und schaute auf die Uhr. Es war 15:32 Uhr. Dann sprang er aus seinem Stuhl. »Komm Corinna, Feierabend ade. Unfall an der alten Ziegelhütte.«

Corinna Steinbrenner katapultierte die Nachricht ebenfalls aus ihrem Bürosessel. Beide warfen ihre Jacken über, setzten die Dienstmützen auf und liefen nach draußen zum Wagen. Das Martinshorn heulte auf und Eike lenkte den Dienstpassat in Richtung Osterode. Von unterwegs informierte Corinna über Funk die Kollegen dort und bat um Unterstützung zur Umleitung des Verkehrs und Absperrung der Unfallstelle.

Als sie das Restaurant »Alte Ziegelhütte« passiert hatten, sah Eike unten in der Talsohle bereits einen in Motorradkluft gekleideten Mann aufgeregt winken. Eike stoppte den Wagen am Straßenrand. Er und Corinna sprangen heraus. Aus der anderen Richtung kamen der Rettungswagen und ein Gerätefahrzeug der Feuerwehr. Die Osteroder Kollegen trafen kurz darauf ein und übernahmen mithilfe einiger Feuerwehrleute die Verkehrsregelung.

An dem Baum gegenüber der abzweigenden Nebenstraße »An der Ziegelhütte« stand ein roter Golf mit heftig deformierter Motorhaube, und mitten auf der Straße lag eine Frau, ebenfalls in Motorradkleidung. Sie war kalkweiß. Der andere Motorradfahrer kniete dicht bei ihr und stützte ihren Kopf.

»Sieh du nach der verletzten Frau«, sagte Eike zu Corinna und rannte zu dem verunglückten Golf. Der Motorblock hatte sich durch den Aufprall in den Innenraum verschoben und den Fahrer eingeklemmt.

»Können Sie mich hören«, rief Eike ihm zu.

Der Mann sah Eike flehentlich an und öffnete den Mund, doch er brachte keinen laut zustande, es drang nur schaumiges Blut hervor. Er rang offenbar nach Luft. Eike riss mit aller Kraft an der Tür, aber sie hatte sich hoffnungslos verkeilt und war nicht mehr zu bewegen. Dann rollte der Kopf des jugendlich wirkenden Mannes schlaff zur Seite.

Inzwischen kamen die Rettungssanitäter und der Notarzt herbeigeeilt. Durch die geborstene Türscheibe untersuchte der Arzt den schwer verletzten Mann, der auch auf seine Ansprache nicht reagierte. Er kontrollierte Puls und Atmung und sah Eike besorgt an.

»Der muss schnellstens da raus«, rief er den Feuerwehrleuten zu, die bereits mit einem hydraulischen Rettungssatz angelaufen kamen. Um den Einsatzkräften nicht im Weg zu sein, lief er zurück zu der Frau, um die sich unterdessen ein Sanitäter kümmerte. Man hatte sie an den Straßenrand gelegt und mit einer Rettungsdecke zugedeckt.

»Sie hat einen Schock, sonst keine sichtbaren Verletzungen«, sagte der Rettungssanitäter.

Eike wandte sich dem Motorradfahrer zu, der leicht zu zittern schien. »Sind Sie verletzt?«, fragte er ihn.

»N-Nein«, antwortete er mit bibbernder Stimme.

Eike sah ihn intensiv an. »Sonst alles in Ordnung mit Ihnen?«

»Ja, ja. Alles okay. Nur der Schreck sitzt mir noch in den Knochen«, sagte er.

»Können Sie zu dem Unfallhergang etwas sagen?«, fragte Eike.

Der Mann nickte. »Ja« Er schluckte, bevor er weitersprechen konnte. »Meine Frau und ich fuhren vor dem Wagen her.« Er drehte sich um und zeigte auf die abwärts führende Straße aus Richtung Osterode. »Plötzlich sah ich im Rück-spiegel, wie ein anderes Motorrad hinter dem Golf hervorschoss und zum Überholen ansetzte. An dieser Gefällstrecke sind siebzig erlaubt und Überholen verboten. Aus der Gegenrichtung kam der grüne Renault.« Er wies auf das Fahrzeug, dass ein Stück weiter schräg auf dem Seitenstreifen stand. »Da hinten ...«

Eike schaute sich vergeblich nach dem Fahrer um und bat Corinna in dem Fahrzeug nachzusehen.

»Und weiter«, drängte Eike den Mann, seine Schilderung fortzuführen.

»Der Motorradfahrer hatte das entgegenkommende Auto zu spät bemerkt, wechselte kurz vor dem Golf auf die rechte Fahrbahn und brachte meine Frau und mich in Bedrängnis. Wir mussten scharf bremsen, sonst hätte er uns voll erwischt und in den Graben gedrängt. Ich hörte noch die quietschenden Reifen des Golfs hinter uns und kurz darauf das Krachen von berstendem Blech. Der Motorradfahrer gab Gas und fuhr davon, als wenn ihn das alles nichts anginge.«

»Haben Sie sich das Kennzeichen gemerkt?«, fragte Eike.

»Nicht ganz, es ging alles so schnell. Ich hab mir die Nummer aufgeschrieben.« Er reichte Eike einen Zettel. »Das Ortskürzel habe ich nicht klar erkannt, könnte GS ... GL oder GI gewesen sein« rätselte er, »aber bei der Nummer bin ich mir sicher, Zahlen kann ich mir gut merken.«

»Kein Problem, das kriegen wir auch so raus«, sagte Eike und steckte den Zettel ein. »Was für ein Motorrad war das?«

»Eine von diesen Rennmaschinen, neongrün. Von welchem Hersteller kann ich nicht sagen«, antwortete der Mann. »Der Fahrer trug eine weiß-rote Lederkombi«, ergänzte er.

Corinna Steinbrenner brachte die Fahrerin des Renault zu Eike. »Das ist Frau Müller«, stellte seine Kollegin sie vor.

Eike schätzte die Dame auf Anfang siebzig. Sie hielt beide Hände vor den Mund und schluchzte kläglich. Das Unfallgeschehen hatte sie offenbar ziemlich mitgenommen.

»Ich dachte, das überlebe ich nicht«, jammerte sie. »Das Motorrad kam direkt auf mich zu, ich musste fast in den Graben ausweichen, und dann sah ich im Rückspiegel, wie das andere Auto gegen den Baum krachte. Es war so schrecklich, Herr Wachtmeister.«

Sie heulte laut auf. Corinna umarmte und tröstete sie. Eike gab ihr eine Weile sich zu beruhigen.

»Geht's wieder?«, fragte er.

Sie löste sich aus der Umarmung und sah Eike aus wässrigen Augen an.

»Können Sie mir beschreiben, was genau passiert ist, Frau Müller?«, fragte Eike.

Sie wischte sich die Augen und schnäuzte die Nase.

»Es war plötzlich da und kam auf mich zugerast. Ich dachte, ich muss sterben«, wimmerte sie.

»Wie sah das Motorrad aus? Können Sie sich erinnern, vielleicht sogar an das Kennzeichen?«

»Ich kenne mich mit diesen Dingern nicht aus. Ich glaube, es war gelb ... oder grün«, antwortete sie, »nein, ich glaube, es war grün, mehr weiß ich nicht.«

In dem Augenblick kam der Notarzt auf Eike zu. Sein Blick verriet, dass er schlechte Nachrichten hatte. Er sah Eike stumm an, schüttelte den Kopf und reichte ihm eine Geldbörse. »Wir konnten ihm nicht mehr helfen«, sagte er dann. »Würden Sie bitte einen Bestatter informieren?«

»Ich mach das«, sagte Corinna Steinbrenner, griff zum Handy und telefonierte.

»Wie geht es der Frau?«, erkundigte sich Eike.

»Sie ist wieder okay«, sagte der Arzt.

Eike wollte sich gerade dem Portemonnaie zuwenden, als sich ein Wagen im Schritttempo näherte und in respektvollem Abstand zur Unglücksstelle hielt. Eine Frau stieg aus. Um ihren Hals baumelten eine Kamera und eine Ausweishülle. Sie kam zielstrebig auf ihn zu. Es war dieselbe Pressefrau, die er zuvor in Osterode getroffen hatte und die mit ihrem Artikel, den Zorn seines Chefs auf ihn gelenkt hatte.

»Frau Moor«, grüßte er die Journalistin, die auch für den Harz Kurier schrieb. Melanie Moor war für ihre knackigen Schlagzeilen berüchtigt. »Ihnen entgeht aber auch nichts«, bemerkte er kühl.

»Wäre ich sonst eine Pressefrau geworden?«, antwortete sie.

»Sie müssen sich etwas gedulden, dann habe ich Zeit für Sie«, vertröstete Eike sie und konzentrierte sich wieder auf das Portemonnaie in seiner Hand. Er öffnete es. In den Fächern steckten Kreditkarten, Personalausweis und Führerschein. Er musste in diesem Augenblick an die Angehörigen des Mannes denken, die ahnungslos ihren Beschäftigungen nachgingen und nicht wussten, dass jemand aus ihrer Mitte nie wieder nach Hause kommen würde. Bei diesem Gedanken wuchs ein Kloß in seinem Hals, den er vergeblich versuchte hinunter zu schlucken. Zaudernd zog er Ausweis und Führerschein aus der Geldbörse heraus und warf einen Blick darauf: Felix Krüger, wohnhaft in Goslar. Als er das Geburtsdatum las, drückte ihm der Kloß fast die Luft ab. Der Mann war achtzehn Jahre alt und hatte erst seit drei Monaten die Fahrerlaubnis. Eike sah die Straße entlang, in die Richtung, in die sich der Motorradfahrer aus dem Staub gemacht hatte. Es wird dir nichts nützen, du skrupelloses Arschloch. Ich kriege dich, schwor sich Eike.

»Jemand muss umgehend die Familie informieren«, sagte Corinna mit feuchten Augen und zittriger Stimme.

»Ja, natürlich. Ich werde die Kollegen in Goslar bitten, das schnellstens zu übernehmen.« Eike lief zum Wagen und griff zum Funkgerät.

Der Leichenwagen traf ein. Die Bestatter legten den Toten in den Sarg, schoben ihn in das Heck des Fahrzeuges und fuhren davon. Eike und Corinna sahen ihnen andächtig hinterher.

»Fahrerflucht ist so hinterhältig und feige«, fluchte Eike, »Gott sei Dank haben wir das Kennzeichen. Der Kerl entkommt mir nicht. Und dann kann er sich warm anziehen.«

Corinna berührte seinen Arm. »Eike, reiß dich zusammen. Dein Zorn ist im Moment wenig zielführend.«

»Aber anspornend«, entgegnete er, wandte sich ab und ging zum Dienstwagen.

Die Polizeibeamten aus Osterode fotografierten den Unfallort und vermaßen ihn. Eike rief über Funk im Präsidium an und bat um eine Datenbankabfrage des Kennzeichens mit verschiedenen Ortskürzeln, die mit G begannen. »Nur die Motorräder darunter interessieren mich«, erklärte er. »Legt mir bitte eine Liste mit den Adressen und möglichst Telefonnummern auf den Platz.«

Die Journalistin schwänzelte geraume Zeit mit Notizblock um Eike herum. Er winkte ihr zu.

»Und nun zu Ihnen«, sagte er und beantwortete ihre Fragen.

Als sie sich verabschiedet hatte, bestellte Eike einen Abschleppdienst für den Golf, der kaum noch als solcher zu erkennen war. Die Feuerwehr hatte mit ihrer hydraulischen Schere ganze Arbeit geleistet. Nachdem die Unfallstelle geräumt war, wurde die Straße wieder freigegeben.

Bald darauf rollten die ersten Fahrzeuge vorüber, so, als sei nichts gewesen. Nur die frisch aufgerissene Rinde des Baumes erinnerte noch an den schrecklichen Unfall. Eike und seine Kollegin machten sich auf den Weg zurück ins Kommissariat. Er war auf die Liste gespannt.

»Liegt auf deinem Schreibtisch«, sagte der Kollege vom Innendienst, als Eike und Corinna das Büro betraten. Eike stürmte auf seinen Platz zu und riss das Blatt Papier an sich. Drei Kennzeichen hatten dieselbe Buchstaben- und Zahlenkombination und begannen mit G. Ein Motorrad war in Gießen, eines in Goslar und das dritte in Gifhorn gemeldet. Er fand rasch heraus, dass nur der Fahrer mit dem Goslarer Kennzeichen infrage kam. Der Halter aus Gießen befand sich auf einer Mittelmeerkreuzfahrt und der aus Gifhorn lag im Krankenhaus.

»Martin Bödecker, wohnhaft in Goslar«, rief er Corinna zu.

Corinna stellte sich neben ihn und sah auf die Liste.

»Bödecker ... Bödecker«, wiederholte sie, »den Namen habe ich doch schon einmal gehört. Aber in welchem Zusammenhang?«

Eike tippte den Namen in die Suchzeile bei Google und wartete auf die Ergebnisseite. »Ach du Scheiße!«, rief er, als er die erste Trefferzeile las. Corinna beugte sich herunter und schaute interessiert auf den Bildschirm.

»Der ist das? Ich wusste doch, dass ich den kenne«, sagte sie und richtete sich wieder auf. »Das kann ja heiter werden. Der hat beste Beziehungen«, bemerkte sie zusätzlich.

»Die werden ihm nichts nützen, und wenn er es tatsächlich war, dann reiß ich ihm den Arsch auf«, zischte Eike.

»Martin Bödecker ist Mitglied im Landtag und Fraktionsführer der Opposition, der kann sich hinter seiner Immunität verstecken«, bemerkte Corinna.

»In zwei Wochen ist Wahl. Wenn das vorher ans Licht kommt, ist er geliefert, politisch und als Privatmann. Dann kann er sich seine Immunität sonst wo hinstecken«, sagte Eike.

Corinna legte ihre Hände auf seine Schultern. »Eike, lehn dich nicht zu weit aus dem Fenster, sonst bist du am Ende geliefert.«

»Sieh doch bitte mal in der Datenbank nach, ob gegen ihn schon etwas vorgelegen hat«, bat Eike, »ich suche inzwischen seine Privatadresse raus.«

Corinna eilte zu ihrem Schreibtisch und klapperte auf der Tastatur.

»Unser Fraktionsführer scheint auch das Verkehrssünderregister anzuführen«, rief Corinna ihm kurz darauf zu. »Alkohol am Steuer, Missachtung der Geschwindigkeitsbegrenzung, und hier: bei Rot über die Kreuzung gebrettert. Dafür musste er drei Monate die Karte abgeben. Mannomann, der verwechselt Immunität mit Narrenfreiheit.«

Eike erhob sich. »Wir fahren nach Goslar in den Tulpenweg und besuchen ihn«, entschied er kurzerhand.

* * *

Etwa eine halbe Stunde danach lenkte Eike den Wagen in den Tulpenweg. »Hier muss es sein«, sagte Corinna und zeigte auf ein schmuckes Einfamilienhaus. Eike parkte das Auto am Gehweg. Sie stiegen aus und hielten auf das Haus zu. Vor der angrenzenden Garage stand eine grüne Kawasaki. Eike machte rasch ein Handyfoto, dann sah er sich die Maschine ringsherum an. Es handelte sich um eine Z1000. Das Nummernschild stimmte mit den Angaben überein.

»Die bringst du im Nullkommanix auf 200«, sagte Eike beiläufig.

»Und genauso schnell ins Grab«, ergänzte Corinna.

Eike betastete vorsichtig den Auspuffkrümmer und fühlte noch Restwärme.

»Oder in den Knast«, gab er zurück und deutete ein schadenfrohes Grinsen an.

»Ist etwas mit meinem Motorrad nicht in Ordnung?«, hörte er plötzlich eine feste Männerstimme. Eike drehte sich um und sah Martin Bödecker auf sie zukommen. Fast hätte er ihn nicht erkannt, auf den Fotos im Internet wirkte er freundlicher und dynamischer. Eike schätzte ihn auf Ende vierzig. Sein Bauchansatz wurde durch das eng anliegende Hemd ungeschickt kaschiert.

»Schöne Maschine, macht locker 250 Spitze«, sagte Eike und stellte sich und Corinna vor. »Sie sind Martin Bödecker, nicht wahr?«

»Was wollen Sie von mir?« Er schob arrogant das Kinn vor.

»Sie sind eben von einer Spritztour zurückgekommen. Richtig?«, fragte Eike.

Bödecker zog die Stirn glatt. »Was geht das Sie an?«, zischte er.

»Der Motor ist noch warm«, erklärte Eike. »Wo sind Sie gewesen?«

Martin Bödecker streckte seinen Hals, um größer zu wirken. »Hören Sie«, fauchte er Eike an, »stehlen Sie mir nicht meine Zeit und verlassen Sie umgehend das Grundstück!« Er drehte sich um und ging davon.

»Sie stehen im Verdacht, einen Unfall mit Todesfolge verursacht und Unfallflucht begangen zu haben«, rief Eike ihm nach.

Bödecker blieb wir erstarrt stehen, wirbelte herum und schaute nach links und rechts. »Kommen Sie mit rein«, forderte er die beiden Polizisten auf.

Die Wohnung war modern und geschmackvoll eingerichtet, fand Eike. Bödecker führte die beiden Beamten ins Wohnzimmer. Im Hintergrund spielte klassische Musik, die eine sakrale Atmosphäre verbreitete. Unzählige Bücher und CDs reihten sich in einem wandfüllenden Regal aneinander und zogen Eikes Blick an.

»Meine Frau liebt Literatur und Musik«, erklärte er kurz dazu.

Im selben Moment erhob sich eine Frau aus einem Sessel, legte eine Illustrierte beiseite und kam mit eleganten Schritten auf sie zu. Sie war attraktiv, groß und schlank und lächelte freundlich, als Bödecker sie als seine Frau vorstellte. Corinna hatte Eike erzählt, dass Bödeckers Frau früher als Model gearbeitet hatte.

»Ist etwas passiert?«, fragte sie zaghaft.

»Nein, nein Schatz, lass dich nicht stören, wir gehen ins Arbeitszimmer«, sagte er und führte ihn und Corinna nach nebenan. Das Zimmer war nicht minder kostspielig eingerichtet. Vor dem Panoramafenster mit Gartenblick stand ein protziger Schreibtisch mit ledernem Chefsessel. Zahlreiche Auto- und Motorradmodelle füllten Glasvitrinen und Regale. Eike trat einen Schritt näher heran und bewunderte die detailreichen Modelle.

»Das ist eine ungeheuerliche Anschuldigung«, echauffierte sich Bödecker, nachdem er die Tür geschlossen hatte. »Was glauben Sie, wen Sie hier vor sich haben?«

Eike wandte seinen Blick von den Automodellen ab, ließ sich aber von Bödeckers dominantem Auftreten nicht beirren.

»Ich möchte wissen, wo Sie heute gegen 15:30 Uhr gewesen sind«, sagte Eike. Bödecker setzte sich auf die Kante seines Schreibtisches und verschränkte selbstgefällig die Arme.

»Wo hat sich der Unfall ereignet, den ich angeblich verursacht habe?«, fragte er.

»Auf der B 241, kurz vor der Gaststätte Alte Ziegelhütte bei Clausthal-Zellerfeld«, sagte Eike.

Bödecker stützte jetzt beide Hände auf die Tischplatte.

»Ja, ich habe heute nach dem Essen eine Tour unternommen. Beim Motorradfahren kann ich abschalten und alles hinter mir lassen, verstehen Sie?«

Eike nickte. »Ich fahre selbst Motorrad und kann das gut verstehen«, sagte er beherrscht. Dann verschärfte er den Ton. »Was ich jedoch nicht verstehe, ist, wenn dabei auch das Gehirn abschaltet und die Bundesstraße mit einer Rennstrecke verwechselt wird ohne Rücksicht auf andere Verkehrsteilnehmer.«

Bödecker sprang auf. »Sie vergreifen sich im Ton, Herr Polizeihauptmeister.«

»Kommissar ... Polizeikommissar«, korrigierte Eike seinen Dienstgrad. »Bitte beantworten Sie meine Frage!«

Bödecker schritt jetzt vor seinem Schreibtisch hin und her.

»Ich bin über die L85 bis Blankenburg und weiter zur Rappbodetalsperre gefahren, um mir die neue Hängebrücke anzusehen. Von dort bin ich über Hasselfelde, Braunlage und Torfhaus zurückgefahren und war Viertel vor fünf wieder hier. Genügt Ihnen das?«

»Waren Sie allein unterwegs?«, fragte Corinna.

Bödecker sah sie missfällig an, so, als lehne er sie als Gesprächspartnerin ab, und wandte sich zurück an Eike.

»Beantworten Sie bitte die Frage«, forderte Eike.

Bödecker rümpfte die Nase. »Ja, ich war allein.«

»Gibt es irgendwelche Zeugen, die belegen können, dass Sie zum Unfallzeitpunkt nicht am Unfallort gewesen sein konnten?«, fragte Corinna weiter.

Bödecker starrte ins Leere und schien nachzudenken. »Moment.« Er setzte sich wieder auf die Schreibtischkante. »Warten Sie.« Er holte sein Smartphone aus der Hosentasche und wischte einige Male darauf herum. »Hier«, sagte er und hielt Eike das Display vor Augen. Das Bild zeigte, wie er an einem rustikalen Tisch saß, vor ihm ein Weizenbierglas, im Hintergrund waren Felsstelen mit einer Weltkugel in der Mitte zu erkennen, und in der Ferne das Brockenplateau. Rechts neben der Felsskulptur stand ein Mann und schaute durch ein Fernglas zum Brocken hinüber. »Sie sehen mich dort auf der Terrasse der Bavaria Alm auf Torfhaus. Das Bild hat eine Kellnerin heute Nachmittag aufgenommen«, behauptete er.

»Das beweist doch nichts«, entgegnete Eike, »das kann irgendwann fotografiert worden sein.«

»Augenblick«, sagte Bödecker siegessicher und tippte erneut auf das Handy, »hier, sehen Sie, Datum und Uhrzeit.«

Eike las: »3.10.2017, 15:35 Uhr.«

Bödecker grinste selbstgefällig. »Kleine Nachhilfe in Physik gefällig. Niemand kann zur gleichen Zeit an zwei verschiedenen Orten sein.«

»Danke für die Belehrung«, entgegnete Eike, »aber das beweist noch gar nichts. Datum und Uhrzeit lassen sich im Handy beliebig einstellen.«

Bödecker sprang hoch und schlug mit der Hand auf den Schreibtisch. Sein Gesicht glühte.

»Das glaube ich nicht«, kläffte er, »so viel Ignoranz ist mir im Leben noch nicht begegnet. Was macht es für einen Sinn, wenn Sie eindeutige Beweise infrage stellen. Reden Sie mit der Kellnerin. Die Dicke mit den langen schwarzen Haaren, vielleicht erinnert sie sich.«

»Das werden wir«, sagte Eike. »Würden Sie mir das Bild per E-Mail schicken?« Eike gab ihm seine Visitenkarte.

»Das wird für Sie Konsequenzen haben, Herr Wolf«, zischte er aus hartem Mund hervor und drohte mit dem Zeigefinger. »Ich bin Mitglied des niedersächsischen Landtages und genieße Immunität. Außerdem habe ich beste Kontakte zum Polizeipräsidium.«

»Wir machen nur unsere Arbeit, Herr Bödecker. Wo kämen wir hin, wenn wir Hinweise auf eine Straftat ignorieren würden?«

Bödecker wechselte erneut seine Gesichtsfarbe und wies mit dem Finger zur Tür. »Verlassen Sie sofort mein Haus!«, brüllte er.

* * *

Zwanzig Minuten später stellte Eike den Wagen an der Zufahrtsstraße zum großen Parkplatz auf Torfhaus ab. Ein kühler Wind empfing sie hier oben, als sie ausstiegen. Erstaunlich viele Motorräder standen noch aufgereiht auf dem Abstellplatz vor der Bavaria Alm, obwohl es inzwischen kurz vor sechs Uhr abends war. Eike und Corinna gingen an den Maschinen vorbei und betraten kurz darauf den Vorraum des Restaurants. Links von dem verglasten Kamin befand sich der Tresen, hinter dem ein Kellner Bier zapfte. Eike ging zu ihm.

»Entschuldigung«, sprach er den Mann an, »wir suchen eine Kellnerin mit langen schwarzen Haaren.«

Der Kellner stellte das schaumige Bierglas zur Seite, griff sich ein anderes Glas und begann erneut zu zapfen, so als wäre er taub. Erst als der Schaum überlief, schaute er Eike groß an und unterbrach abrupt seine Arbeit.

»Schwarze Haare, sagten Sie? Hat sie was angestellt?«, fragte er erstaunt.

»Wir möchten sie sprechen«, überging Eike die Neugier des Kellners.

»Sie hat eben Feierabend gemacht, ich weiß nicht, ob sie noch da ist«, sagte er.