Solange die Schienen singen - Hans-Joachim Wildner - E-Book

Solange die Schienen singen E-Book

Hans-Joachim Wildner

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Beschreibung

Als die Bahn auf den Brocken kam: Im 19. Jahrhundert steht auch der Harz an der Schwelle zur Industrialisierung. Der Nordhäuser Bürgermeister erkennt die Chancen der neuen Zeit und kämpft für den Bau der Harzquer- und Brockenbahn. Fuhrleute und Handwerker fürchten jedoch um ihre Existenz und formieren Widerstand. In diesem Spannungsfeld gerät der junge Eisenbahningenieur Franz von Gleiwitz zwischen die Fronten unterschiedlicher Interessen. Selbst seine Liebe zu der Fuhrmannstochter Sophie Heitmüller droht daran zu zerbrechen. Zudem holt ihn ein traumatisches Erlebnis aus seiner Militärzeit ein, was ihn mit erschreckenden Enthüllungen zu überrollen scheint. Um seine Liebe und seine berufliche Zukunft zu retten, muss er eine folgenschwere Entscheidung treffen.

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Seitenzahl: 511

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Hans-Joachim Wildner

Solange die Schienen singen

Roman

Impressum

Solange die Schienen singen

ISBN 978-3-96901-069-3

ePub Edition

V1.0 (10/2023)

© 2023 by Hans-Joachim Wildner

Abbildungsnachweise:

Umschlagmotiv: Ansichtskarte »Am Bahnhof Westerntor«,

Wernigerode a. Harz | #22557 © Stengel & Co., Dresden-Berlin (gemeinfrei)

Porträt des Autors © Ania Schulz

Bild Karl Jäkel © Joachim Wildner

Lektorat & dtp:

Sascha Exner

Verlag:

EPV Elektronik-Praktiker-Verlagsgesellschaft mbH

Obertorstr. 33 · 37115 Duderstadt

Fon: +49 (0)5527/8405-0 · Fax: +49 (0)5527/8405-21

E-Mail: [email protected]

Wichtiger Hinweis:

Die Schauplätze dieses Romans sind reale Orte. Die Handlung und die Charaktere hingegen sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit lebenden und toten Personen wären reiner Zufall und sind nicht beabsichtigt.

Inhaltsverzeichnis

TITELSEITE

IMPRESSUM

SOLANGE DIE SCHIENEN SINGEN

PROLOG

1 - MONTAG, 18. AUGUST 1890 - WERNIGERODE / HASSERODE

2 - MONTAG, 18. AUGUST 1890 - POLIZEIWACHE HASSERODE

3 - MONTAG, 18. AUGUST 1890 - IM THUMKUHLENTAL

4 - DIENSTAG, 19. AUGUST 1890 - HASSERODE

5 - MITTWOCH, 20. AUGUST 1890 - HASSERODE

6 - FREITAG, 9. AUGUST 1895 - BRAUNSCHWEIG, TECHNISCHE HOCHSCHULE

7 - SAMSTAG, 10. AUGUST 1895 - WOLFENBÜTTEL

8 - DONNERSTAG, 14. NOVEMBER 1895 - NORDHAUSEN

9 - DIENSTAG, 25. FEBRUAR 1896 - BERLIN

10 - DIENSTAG, 25. FEBRUAR 1896 - BERLIN, SCHEUNENVIERTEL

11 - MITTWOCH, 26. FEBRUAR 1896 - POLIZEISTATION FRIEDERICHSTRAßE

12 - MITTWOCH, 15. APRIL 1896 - NORDHAUSEN

13 - SONNTAG, 3. MAI 1896 - HASSERODE, GASTHAUS ›ZUM AUERHAHN‹

14 - DONNERSTAG, 7. MAI 1896 - NORDHAUSEN, RATHAUS

15 - MITTWOCH, 27. MAI 1896 - NORDHAUSEN

16 - MITTWOCH, 10. JUNI 1896 - IM THUMKUHLENTAL

17 - DONNERSTAG, 11. JUNI 1896 - WOLFENBÜTTEL

18 - FREITAG, 12. JUNI 1896 - HASSERODE

19 - FREITAG, 12. JUNI 1896 - WOLFENBÜTTEL

20 - FREITAG, 12. JUNI 1896 - AUF DEM HEITMÜLLER-HOF

21 - SONNABEND, 13.6.1896 - WOLFENBÜTTEL

22 - SONNABEND, 13. JUNI 1896 - WERNIGERODE

23 - MONTAG, 15. JUNI 1896 - WERNIGERODE

24 - MONTAG, 15. JUNI 1896 - POLIZEIWACHE HASSERODE

25 - DIENSTAG, 16. JUNI 1896 - PFARRHAUS HASSERODE

26 - MITTWOCH, 17. JUNI 1896 - WERNIGERODE, BAHN-BAULEITUNG

27 - MITTWOCH, 17. JUNI 1896 - HÜTTE AM KLEINEN THUMHUHLENKOPF

28 - SONNTAG, 21. JUNI 1896 - HASSERODE, GASTHAUS ›ZUM AUERHAHN‹

29 - MITTWOCH, 24. JUNI 1896 - STRECKENABSCHNITT WERNIGERODE – HASSERODE

30 - SONNTAG, 28. JUNI 1896 - WERNIGERODE, HOTEL LINDENBERG

31 - SONNTAG, 5. JULI 1896 - KONKORDIENKIRCHE HASSERODE

32 - SONNTAG, 5. JULI 1896 - WERNIGERODE

33 - MONTAG, 6. JULI 1896 - WERNIGERODE, KANZLEI DR. FRANKE

34 - MITTWOCH, 22. JULI 1896 - WERNIGERODE, BAHN-BAULEITUNG

35 - DONNERSTAG, 20. AUGUST 1896 - WERNIGERODE, HEUERNTE

36 - FREITAG, 21. AUGUST 1896 - WERNIGERODE

37 - DONNERSTAG, 27. AUGUST 1896 - WERNIGERODE, BAULEITUNG

38 - SONNTAG, 30. AUGUST 1896 - HASSERODE, KONKORDIENKIRCHE

39 - FREITAG, 4. SEPTEMBER 1896 - WERNIGERODE, AM BAHNHOF

40 - SONNABEND, 5. SEPTEMBER 1896 - WERNIGERODE, GRUBESTRAßE

41 - MONTAG, 7. SEPTEMBER 1896 - WERNIGERODE, BURGSTRAßE

42 - MONTAG, 21. SEPTEMBER 1896 - NORDHAUSEN, RATHAUS

43 - MITTWOCH, 30. SEPTEMBER 1896 - HASSERODE, DUELL AM KUHBORN

44 - DIENSTAG, 15. DEZEMBER 1896 - DIE BAULOK

EPILOG

WIDMUNG

ÜBER DEN AUTOR

MEHR VON HANS-JOACHIM WILDNER

EINE KLEINE BITTE

Solange die Schienen singen

Sie stampft und faucht

Und zischt und raucht

Als könnt’ sie kaum an sich halten

Mit Dampf und Feuer

So Ungeheuer

Unbändige Kraft zu entfalten.

Bald tönt das Signal

Und mit einem Mal

Gewaltiger Donner erschallt

Wie die Stimme zum Kampf

Zwischen Kolben und Dampf

Der von den Bergen widerhallt.

Unaufhaltsam schafft

Ihre eiserne Kraft

Jede Last zu bezwingen

Und fortan uns treibt

Eine neue Zeit

Solange die Schienen singen.

Hans-Joachim Wildner

Prolog

Dienstag, 18. November 1873

Hasserode, Harz

Funken stieben auf und Flammen schnappten gefräßig nach den eingeworfenen Holzscheiten. Mit der Fingerspitze schubste er die heiße Ofenklappe zu, hob hastig den eisernen Verschlussriegel an und ließ ihn zurückfallen. Den stechenden Schmerz, den das überhitzte Metall hinterließ, konnte er trotzdem nicht verhindern. Rasch pustete er den Finger, kühlte ihn dann am Ohrläppchen und ging nach draußen, um die Pferde und Schweine zu versorgen. Dass der Riegel die Gabel verfehlte und die Klappe wieder ein Stück aufschwenkte, bemerkte er nicht.

Das Feuer knisterte und prasselte und manchmal knallte es in der Feuerstelle, als kleine Explosionen die Funken aufspritzen ließen. Von niemandem wahrgenommen, flog bei einem solchen Knall ein glühendes Holzteilchen aus dem Spalt der Ofenklappe heraus und landete im Holzvorratskorb, der neben dem Herd stand.

Heute war Waschtag und die Fuhrmannsfrau hatte schon früh im Nebengebäude am Waschzuber zu tun, in dem die Wäsche über Nacht zum Einweichen gelegen hatte. Sie musste aus der Lauge herausgenommen, gespült und anschließend mit Kernseife behandelt werden.

Im Dachgeschoss des Wohnhauses schlief das kleine Mädchen noch in ihrem Bettchen.

Aus dem Vorratskorb neben dem Küchenherd schraubte sich zaghaft eine dünne Rauchfahne zur Decke.

Der Fuhrmann betrat das Stallgebäude und ging zuerst zu den Pferdeboxen, um die schweren Zugtiere zu füttern. Der Deckel der Futterkiste, in der das Hafer-Häcksel-Gemisch gelagert wurde, quietschte laut beim Öffnen. Die beiden Kaltblüter stellten die Ohren auf, schnaubten und schielten hinter sich, wo das vertraute Geräusch herkam, was Futter bedeutete. Mit einem Eimer schöpfte der Mann eine ordentliche Portion heraus und verteilte sie in der Futterrinne. Gierig schnappten die hungrigen Mäuler nach dem Hafer, noch bevor er das Gefäß geleert hatte. Er musste ihre Köpfe unsanft wegdrücken, um den Rest nicht zu verschütten. Dann warf er den Eimer in die Kiste zurück und schloss den Deckel. Mahlende Kaugeräusche der beiden Vierbeiner füllten jetzt die Stille im Stall.

Unterhalb der Küchendecke hing inzwischen eine dichte Qualmwolke.

Die Frau fischte noch die letzten Wäschestücke aus der Lauge, wrang sie aus und warf sie in den Bottich, der mit klarem Spülwasser gefüllt war. Sie zog jedes Teil zwei, drei Mal durch das Wasser, breitete es auf der Waschbank aus und rieb es mit einem Stück Kernseife ein.

Eine erste Flamme züngelte aus dem Holzkorb heraus. Funken stoben herum, trafen den Stuhl, den Papierstapel alter Zeitungen und den Fenstervorhang.

Das Kind schlug kurz die Augen auf, steckte den Daumen in den Mund und schlief wieder ein.

Grunzend empfingen die drei Schweine den Fuhrmann im Stallgebäude, als er mit dem Kübel gekochter Kartoffelschalen mit Kleie und Schrot an den Futtertrog trat und den Inhalt hineinschüttete. Unbändig und ohrenbetäubend quiekend, stürzten sich die Tiere auf das Futter, das sie schmatzend herunterschlangen.

Luna, die Hündin, witterte den Brandgeruch und bellte aufgeregt im Hof.

Die Flammen hatten längst die Küchenmöbel erreicht und züngelten an der Schlafzimmer- und Flurtür empor. Die Scheiben des Küchenfensters zerbarsten durch die Hitze, und begierig drängte das Feuer ins Freie, wo es sich an der verbretterten Fassade hinauffraß.

Die Frau hörte als Erste das warnende Bellen des Hundes. Dazwischen schrie irgendjemand, was sich wie »Feuer« anhörte. Sie rannte aus der Waschküche auf den Hof und blieb vor Schreck stehen. Das Bild, was sich ihr bot, raubte ihr beinah den Verstand. Gierige Feuerzungen lechzten aus dem Fenster des Wohnhauses heraus und kletterten an der Holzverkleidung nach oben. Lohende Flammen, schwarzer Rauch und glühende Funkenschauer wüteten über dem Hof. Das Kind, war ihr erster Gedanke, der ihr wie ein stechender Schmerz durch den Kopf schoss. Das Mädchen lag im Dachgeschoss in ihrem Bett und schlief.

»Feuer, Feuer«, scholl es von allen Seiten und die Nachricht verbreitete sich rasend schnell durch den Ort. Männer und Frauen mit Eimern liefen herbei. Einer bediente die Brunnenpumpe auf dem Hof. Eine Kette wurde gebildet und gefüllte Wassereimer weitergereicht.

Der Fuhrmann versuchte, mit einer Leiter an das Giebelfenster zu gelangen, hinter dem sich die Schlafstube befand, in der auch das Kind schlief. Sie war zu kurz.

Durch den Ort schallte die Glocke der Feuerwehr. Sie würde gleich eintreffen.

Die Flammen wüteten weiter und die Frau schrie hysterisch nach ihrem Kind. Blindlinks rannte sie auf die Haustür zu, um das Mädchen aus der Feuersbrunst herauszuholen. Kurz davor angelangt, schlug ihr unerträgliche Hitze ins Gesicht und ließ sie ungewollt zurückweichen. Ein erneuter Versuch wurde durch eine feste Hand, die sie am Arm packte, vereitelt.

»Nein!«, sagte ein junger Mann, den sie als den Sohn ihres Nachbarn erkannte. Der Junge goss sich einen Eimer Wasser über den Kopf und rannte um das Haus herum, um von der Rückseite hinein zu gelangen.

Zwei Männer mussten die Bäuerin festhalten, die wie von Sinnen schrie und um sich schlug.

Die Feuerwehr war jetzt eingetroffen und die Wehrmänner bereiteten die Pumpe vor. Jeder wusste, dass das Haus nicht zu retten war, denn die Flammen fanden reichlich Nahrung in dem Gebälk und der Verkleidung des Fachwerkhauses.

Der Fuhrmann stand noch immer auf der Leiter und versuchte verzweifelt, mit einer Hand das Fensterbrett zu erreichen. Obwohl er auf der letzten Sprosse balancierte, konnte es nicht gelingen. Plötzlich schwenkte der Fensterflügel auf und zwei Hände reichten das weinende Mädchen nach draußen. Der Fuhrmann griff nach ihr auf der wackeligen Leiter und verpasste sie. Er trat zwei Sprossen tiefer, wo er selbst festeren Halt gewann. Der Nachbarsjunge beugte sich weit über das Fensterbrett und ließ das Mädchen an den Handgelenken gefasst weiter nach unten, wo der Fuhrmann es sicher greifen konnte. Mit einem Arm umklammerte er den kleinen Körper und stieg mit ihm vorsichtig abwärts.

Die Frau lief heulend hinzu und beide umschlossen schluchzend ihr Kind.

Nach einer Weile löste sich der Fuhrmann aus der Umarmung und rief: »Wo bleibt der Junge?« Er blickte sich nach ihm um, konnte ihn aber in dem Durcheinander auf dem Hof nirgends entdecken. »Wo ist der Junge?«, schrie er verzweifelt in die Menge, die inzwischen den Hof bevölkert hatte. Die Hühner flatterten gackernd dazwischen herum.

Die Feuerwehrmänner hatten bereits ihre Spritze in Betrieb genommen und versuchten, ein Übergreifen der Flammen auf die Stallungen zu verhindern. Einige Männer hatten die Pferde und Schweine aus dem Gebäude geholt und auf die rückwärtige Koppel getrieben.

Die Nachbarsleute und Eltern des Jungen rannten nun aufgelöst vor dem brennenden Haus auf und ab und riefen nach ihrem Sohn. Ihre Panik schien sich auf die Helfer und Schaulustigen zu übertragen. Der Lärm der schreienden und kreischenden Menschen mischte sich in das Prasseln und Heulen der Feuersbrunst und schallte durch den Ort bis ins Tal hinauf.

In der Haustür, die längst von dem Feuer verzehrt worden war, erschienen jetzt die Umrisse einer Gestalt, die, einer lebenden Fackel ähnlich, herausgerannt kam, nach einigen Schritten stürzte und sich schmerzschreiend am Boden wälzte. Es war der junge Nachbar, der unter Einsatz seines eigenen Lebens das Kind vor dem sicheren Tod bewahrt hatte. Die Eltern des Jungen stürzten sich auf ihn, um die Flammen zu ersticken, aber es gelang ihnen nicht. Erst nachdem Helfer ihre Wassereimer über den brennenden Körper ergossen, erstickte das Feuer. Der zerschundene Leib lag regungslos vor den Füßen der Menschen und offenbar wusste niemand, wie ihm zu helfen war. Die furchtbaren Schmerzen hatten ihn in die Ohnmacht befördert. Sein Vater kniete sich neben ihn, drehte ihn vorsichtig auf den Rücken und schrie entsetzt auf.

1

Montag, 18. August 1890

Wernigerode / Hasserode

Die ungewohnte Geräuschkulisse lockte die Menschen in der Wernigeroder Friedrichstraße an die Fenster und Gartenzäune. Der rhythmische Gleichklang zahlreicher Nagelstiefel, untermalt vom Klappern der Säbel und Karabiner, begleitete phonetisch die militärische Abteilung. Dem Infanteriezug voraus führte ein Fähnrich sein Pferd locker am Zaumzeug. Das braune Fell des Hengstes glänzte, als sei es gewachst. Mit aufgestellten Ohren trottete das Tier geduldig neben seinem Reiter her. Kinder kamen auf die Straße gestürzt, winkten den Soldaten zu und liefen lachend und johlend ein Stück mit der Kompanie mit. Wernigerode war keine Garnisonsstadt und Uniformen der kaiserlichen Armee waren eher ein ungewohnter Anblick und somit für die Halbwüchsigen eine willkommene Abwechslung im täglichen Allerlei. Aber nicht nur für die Knirpse. Ein Bäcker mit teigverschmierter Schürze trat vor seinen Laden und grüßte militärisch. Gegenüber winkte ein Metzger, der noch sein Fleischmesser in der Hand hielt, den Soldaten zu. Weiter oben hatte der Hasseröder Hufschmied seine Arbeit unterbrochen, stand mit verschränkten Armen vor seiner Werkstatt und beobachtete mit zufriedenem Lächeln den vorbeimarschierenden Soldatenzug. Immer mehr Menschen säumten die Straße. Die Frauen winkten den Marschierenden zu, die Männer grüßten, wie sie es während ihrer eigenen Dienstzeit beim preußischen Heer gelernt hatten.

Die Infanteristen genossen diese öffentliche Aufmerksamkeit. Das war nicht immer so, aber seit den ruhmreichen Siegen der preußischen und kaiserlichen Armee im Deutsch-Österreichischen und Deutsch-Französischen Krieg erfuhr das Militär in der Zivilbevölkerung hohes Ansehen.

»Gleichschritt halten, ihr Kerle! Links-zwo-drei-vier, links-zwo-drei-vier.« Die brüllende Stimme von Leutnant Ochs, der an der linken Flanke den Zug befehligte, scholl durch das Hasseröder Tal wie ein Donnergrollen, unüberhörbar, als wolle er die Einwohner des Ortes ebenfalls seinem Befehl unterordnen. Der Kies der unbefestigten Straße knirschte unter den unzähligen Stiefeln, Staub wirbelte auf und stand wie ein grauer Bodennebel zwischen den Beinen der Kompanie. Der August war heiß wie lange nicht mehr.

Gefreiter Müller flüsterte seinem Nebenmann verstohlen zu: »Ein Tag Exerzierausbildung bei Ochs strapazieren deine Trommelfelle mehr als eine Woche Übungsschießen mit der sechspfünder Feldkanone.« Infanterist Schiefke griente. Ochs’ donnerndes Organ war im ganzen Bataillon berüchtigt.

»Ruhe im Glied!«, brüllte Ochs, der das Getuschel offenbar mitbekommen hatte. »Wir sind im Manöver und nicht beim Kaffeekränzchen. Mir scheint, ich führe eine Rotte Waschweiber durch die Landschaft anstatt einer Kompanie Infanteristen.«

Gefreiter Müller und sein Kamerad Schiefke, der neben ihm marschierte, schielten sich grinsend an. »Das Großmaul hat vor Weibern mehr Schiss als vor eine Schwadron feindlicher Kavallerie«, murmelte Schiefke undeutlich durch die Zähne.

»Haben Sie was Erheiterndes beizutragen, Schiefke?«, maulte Ochs, der jetzt neben den beiden marschierte.

»Nein, Herr Leutnant, das nicht, ich melde gehorsamst, ich muss mal«, antwortete er und löste damit verhaltenes Kichern in der marschierenden Abteilung aus. Einige Kameraden brachte die Ablenkung aus dem Tritt, die stolpernd versuchten, den Gleichschritt wieder aufzunehmen.

»RUHE! Verdammte Bande«, brüllte Ochs in einer Lautstärke, die scheinbar den gesamten Ort für Sekunden in Schockstarre versetzte. Das Pferd, das der Obergefreite und Avantageur von Gleiwitz führte, richtete die Ohren steil auf und trampelte nervös. Die herumtollenden Kinder starrten Ochs mit großen Augen an und brauchten etwas Zeit, um den Schreck zu verdauen. Ein paar der Kleineren rannten plärrend nach Hause.

Der Leutnant eilte jetzt an die Spitze der Abteilung und postierte sich mittig der Straße, dort wo ein Weg rechts abzweigte. Er wartete, bis ihn die erste Reihe des Zuges erreichte, und befahl: »Rechts schwenkt .... MARSCH!« Die Soldaten schwenkten gekonnt, als sei es eine Exerzierübung, in die Seitenstraße ein. »Gerade ... AUS!«

Der Weg führte über eine Holzbrücke, die das Flüsschen Holtemme überspannte, das aus den Bergen kommend zu Tal rauschte. Wie hunderte Hammerhiebe dröhnten die Bohlen unter den Nagelstiefeln der Soldaten. Auf der anderen Seite stieg der Weg an, erst leicht, dann steiler werdend.

»Ohne Tritt!«, befahl Ochs, was ein Gemurmel der Erleichterung in den Reihen auslöste, denn der Befehl hob die strenge Gleichschrittformation auf. Die Männer griffen sogleich nach ihren Taschentüchern und wischten sich den Schweiß aus Gesicht und Nacken. Zum Glück erreichte der Weg bald einen Buchenwald, dessen Blätterdach Schatten und angenehme Kühle spendete. Hier ließ der Leutnant anhalten. Die Männer sollten sich ausruhen. Der Obergefreite Franz von Gleiwitz legte das Gewehr und seinen Tornister ab und setzte sich auf einen Baumstuken.

»Sie nicht, Obergefreiter!«, rief Ochs und winkte den Offiziersanwärter zu sich.

Von Gleiwitz sprang auf. »Herr Leutnant«, meldete der Obergefreite, bereit, einen Befehl zu empfangen.

»Sie reiten voraus«, befahl Ochs. »Laut meiner Karte müssten wir bald eine Lichtung erreichen. Kundschaften Sie aus, ob sich das Gelände für ein Biwak eignet. Ihr Gepäck können Sie hierlassen.«

»Jawohl, Herr Leutnant!« Von Gleiwitz stieg auf das Pferd und preschte davon.

Der Waldweg, in dem die Räder schwerer Langholzwagen tiefe Furchen gegraben hatten, mündete in eine grasbewachsene Lichtung. Obergefreiter von Gleiwitz zog leicht am Zügel seines Rappen und brachte ihn zum Stehen. Er blickte sich um. Die Waldwiese lag wie ein grüner Teppich vor ihm, der wie ein Wall aus Blättern hoher Buchen und rankenden Brombeerbüschen umschlossen wurde. Ein Großteil der Wiese war von einem grob behauenen Stangenzaun umgeben, hinter dem braune Kühe weideten. In der von der Wegemündung gegenüberliegenden Seite, die wie ein Zipfel auslief, entdeckte er eine Holzhütte. Ihr Zustand könnte genügen, um sie als Kommandostand und Unterkunft für die beiden Offiziere zu nutzen. Allerdings ein Biwak inmitten einer Kuhherde würde weder den Soldaten noch den Kühen sonderlich gefallen. Trotzdem beschloss er, sich die Hütte näher anzusehen, und stieß seine Stiefelferse sanft in die Flanke des Fuchses, der gehorsam Schritt aufnahm und gemächlich entlang des Weidezaunes trottete. Kurz bevor von Gleiwitz die Hütte erreicht hatte, entdeckte er am Rand der Wiese ein grasendes Pferd. Ein schwerer Kaltblüter, das Arbeitspferd der Fuhrleute. Von Gleiwitz wunderte sich, weil es noch Kummet und Trense trug. Er hielt nach dem Fuhrmann Ausschau, konnte aber niemanden entdecken. Irgendetwas stimmte hier nicht. Wahrscheinlich hatte sich der Wallach erschreckt und war durchgegangen, bis er sich hier bei der Kuhherde sicher fühlte. Manchmal genügte schon ein aufflatternder Vogel, der ein Pferd in Fluchtpanik versetzte. Das Tier hatte sich auf dieser Wiese offenbar beruhigt und genoss nun das saftige Grün. Ungestört und friedlich, so wie auch die Stille über der Lichtung lag. Nichts rührte sich.

Vor dem Holzhaus stieg von Gleiwitz aus dem Sattel und band seinen Fuchs an einen herunterhängenden Buchenzweig, nach dessen Blättern die Pferdelippen gierig schnappten.

Aus der Nähe betrachtet erwies sich die Holzhütte zwar als ein vom Wetter gezeichneter Schuppen, der jedoch in brauchbarem Zustand zu sein schien. Die Jahre hatten das Holz grau und rissig gemacht, aber das Dach erfüllte offenbar seinen Zweck. Zunächst aber ging von Gleiwitz langsam auf den Kaltblüter zu und redete beruhigend auf ihn ein. Dann ergriff er den Zügel und band das Tier am Weidezaun fest. Sicher waren sein Besitzer und einige Helfer längst unterwegs, um ihn zu suchen. Plötzlich vernahm er lautes Poltern und Gerumpel aus dem Inneren der Hütte. War jemand drinnen, vielleicht der Fuhrmann, dem das Pferd gehörte? Von Gleiwitz machte kehrt, um nachzusehen, hielt aber kurz inne, als plötzlich ein spitzer Schrei in die Stille der Lichtung brach. Ein Schrei, wie der eines Ertrinkenden in Todesangst. Alarmiert davon, rannte er auf die Hütte zu, riss die Tür auf und blieb im selben Moment fassungslos stehen. Was sich seinen Augen bot, lähmte für eine Sekunde seine Sinne und brachte den Glauben an Vernunft und Sittlichkeit ins Wanken.

Ein Mann, groß und drahtig, beugte sich über das entblößte Hinterteil einer Frau, die er mit kräftiger Hand am Hals gepackt hatte und ihren Kopf auf die Tischplatte gedrückt hielt. Er verging sich an ihr. Sie konnte sich nicht wehren, nicht einmal mehr schreien.

»Lass sofort von der Frau ab!«, forderte von Gleiwitz in scharfem Ton.

Der Mann drehte seinen Kopf zur Seite, sah den Uniformierten erschrocken an und richtete sich auf. Hastig fummelte er an seiner Hose herum, um sie zu schließen, und wandte sich um. Von Gleiwitz erschauderte bei seinem Anblick. Der Mann hatte ein Halstuch vor das Gesicht bis über die Nase gebunden, das nur seine Augen freiließ. Mit der rechten Hand umklammerte er ein Messer mit zweischneidiger, spitzer Klinge. Die Augen des Mannes fixierten ihn, aber darin erkannte von Gleiwitz weder Wut noch Boshaftigkeit, sondern pure Angst und Verunsicherung. »Verschwinde, Soldat, und vergiss, was du gesehen hast!«, verlangte er. Seine dunkle Stimme klang kratzig.

Die Frau hatte sich inzwischen von der Tischplatte erhoben und stand taumelig da, unfähig, wegzulaufen. Erst jetzt konnte Franz ihr Gesicht sehen, zumindest das, was noch als solches zu erkennen war. Ihr Anblick jagte ihm einen Gefühlsschauer durch den Körper, so, als würden sich ihre Schmerzen auf ihn übertragen wollen. Ihre Gesichtszüge waren zur Unkenntlichkeit entstellt und aufgedunsen, die Augen zugeschwollen, mit Blut und Tränen gefüllt. Offenbar hatte sie sich vehement gewehrt.

»Verschwinde!«, wiederholte der Mann und bedrohte ihn mit dem Messer. Zur Gegenwehr zog von Gleiwitz sein Bajonett aus der Scheide und richtete es am langen Arm auf den Mann. »Ich nehme Sie fest wegen unsittlichen Vergehens an einer Frau und werde Sie der Polizei übergeben. Stecken Sie sofort das Messer weg!«, sagte er. Blitzschnell packte der Mann die Frau von hinten und drückte ihr die Klinge an die Kehle.

»Du wirst niemanden festnehmen, Soldat. Gib die Tür frei, sonst steche ich zu!«, fauchte er und in seinen Augen flackerte jetzt Panik auf, die zeigte, dass er in diesem Zustand zu allem fähig war. Doch diese Augen, ging Franz durch den Kopf. Was war nur mit den Augen des Mannes? Irgendetwas Eigenartiges lag in ihnen verborgen.

Die Messerklinge fest an ihren Hals gepresst, schob er die Frau vor sich her, die sich seinem Willen beugen musste. Als beide die Tür erreichten, stieß er sie plötzlich mit beiden Händen von sich, dem Soldaten entgegen, der mit gezogenem Bajonett dastand. Von Gleiwitz, völlig überrumpelt, konnte nicht mehr reagieren. Die Frau brachte einen gurgelnden Laut hervor und sackte zu Boden.

Fast betäubt vor Entsetzen starrte von Gleiwitz auf die junge Frau, die bewegungslos vor seinen Füßen lag. Auf ihrem Kleid bildete sich im Hüftbereich ein nasser Blutfleck. Dann schaute er auf sein Bajonett, das er noch in der Hand hielt ‒ die Klinge war blutverschmiert. Wie traumatisiert glitt ihm die Waffe aus der Hand und fiel klirrend zu Boden. In dem Moment realisierte er, was geschehen war. Was hatte er getan? Er ging in die Knie und beugte sich über die Frau, die sich nicht rührte. Jetzt, wo er sie so nah vor sich sah, registrierte er, wie jung sie war, fast noch ein Mädchen. Ihre Kleidung, die nach Arbeit und Stall roch, ließ vermuten, dass sie Bäuerin oder Magd war.

Ihr Brustkorb hob sich im Rhythmus ihrer hastigen Atmung auf und nieder und der Blutfleck auf ihrem Kleid breitete sich weiter aus. Von Gleiwitz ergriff panische Angst um das Leben dieser jungen Frau. Er wähnte sich schuldig und flehte innigst, sie möge diese Verletzung überleben. Was konnte er tun? Vorsichtig versuchte er, ihr Gesicht von Blut und Haaren zu befreien, aber alles war zu sehr verschmutzt und verklebt. Er tastete nach dem Bajonett, konnte es in seiner Aufregung aber nicht finden. Das Blut aus ihrem Bauch sickerte jetzt bereits auf den Boden. Es blieb wenig Zeit, er musste Hilfe holen. Zaghaft berührte er ihren Arm. »Hören Sie mich?«, fragte er. Sie brachte jedoch keinen Laut hervor. »Es tut mir leid, aber ich muss Sie für eine Weile allein lassen, um Hilfe zu holen. Meine Abteilung wartet unten im Tal. Unser Sanitäter wird sich um Sie kümmern und dann bringen wir Sie zu einem Arzt oder ins Krankenhaus.«

Sie stöhnte vor Schmerzen, konnte aber nicht antworten.

»Bleiben Sie still liegen. Ich bin gleich zurück.« Er stand auf und sah noch einmal zu ihr hinunter. »Nicht bewegen!«

Dann stürmte er hinaus, band sein Pferd los, hechtete mit einem Satz in den Sattel und preschte über die Lichtung zurück zu seiner Einheit.

Leutnant Ochs erhob sich von einem Baumstumpf, auf dem er gesessen hatte, und zog ein erstauntes Gesicht, als er von Gleiwitz in vollem Galopp angehetzt kommen sah. Der Obergefreite riss am Zügel und sprang bereits aus dem Sattel, bevor das Pferd zum Stehen kam.

»Ist eine Horde feindliche Kavallerie oder der leibhaftige Teufel hinter Ihnen her?«, fragte Ochs.

»Viel schlimmer«, antwortete von Gleiwitz und berichtete hastig, was ihm auf seinem Erkundungsritt widerfahren war.

Der Leutnant hörte aufmerksam zu, wobei sich seine Gesichtszüge mehr und mehr verhärteten. Als von Gleiwitz die Geschehnisse zu Ende geschildert hatte, ließ Ochs sofort sein Pferd bringen und befahl dem Sanitäter, von Gleiwitz zu der Hütte zu folgen. Der Hauptgefreite holte seinen Rucksack, schwang sich auf den Fuchs.

»Wo ist ihr Bajonett?«, fragte Ochs.

Von Gleiwitz griff prüfend an die Metallscheide und registrierte erst jetzt, dass er es in der Hütte hatte liegen lassen.

»Ich muss es wohl in der Eile zurückgelassen haben«, erklärte er.

»Vergessen Sie es nicht wieder! Und jetzt los!«

Von Gleiwitz und der Sanitäter stiegen auf die Pferde und stoben den Waldweg hinauf.

* * *

Wenig später erreichten sie die Lichtung und galoppierten auf den Schuppen zu. Von Gleiwitz sprang aus dem Sattel, rannte sofort hinein und blieb in der Türöffnung schreckerstarrt stehen. Die Frau war verschwunden. Nur eine Blutlache auf dem Boden erinnerte an das dramatische Geschehen, das sich vor Kurzem hier abgespielt hatte. Er blickte sich um, aber in der Hütte rührte sich nichts außer einer Spinne, die über den Boden huschte, und den Staubpartikeln, die im Schein des einfallenden Lichts in der Luft tanzten. Auch sein Bajonett war unauffindbar.

»Ich verstehe das nicht«, sagte er. »Hier hat sie gelegen, hier, wo das Blut zu sehen ist.« Von Gleiwitz trat weiter in den Raum und suchte nach seinem Messerbajonett, konnte es jedoch nicht finden.

Der Sanitäter stand am Eingang und verfolgte seinen Kameraden mit den Augen. »Vielleicht war sie doch nicht so schwer verletzt, wie du geglaubt hast, und konnte sich allein auf den Weg machen«, mutmaßte er.

Von Gleiwitz schüttelte den Kopf. »Unsinn. Sieh doch das viele Blut. Das Bajonett steckte tief in ihrem Bauch. Nein, sie muss Hilfe bekommen haben. Aber von wem?« Er verließ die Hütte und schaute nach dem Kaltblüter, den er an den Weidezaun gebunden hatte – auch der Wallach war verschwunden.

Der Sanitäter sah von Gleiwitz fragend an. »Aber wo mag sie sein?«

»Das wüsste ich ebenfalls gern, und vor allem, wie es ihr geht. Es war immerhin meine Waffe, die sie verletzt hat. Hoffentlich wird sie es überleben, ansonsten würden mich ein Leben lang Schuldgefühle plagen«, antwortete von Gleiwitz und starrte gedankenversunken in den Raum, der nun ein Geheimnis zu bewahren schien. »Ich muss Gewissheit haben«, sagte er nach einer Weile, »aber hier können wir nichts mehr tun.« Sie ritten zurück zu ihrer Truppe.

 

Leutnant Ochs befahl, das Biwak am Ortsrand von Hasserode aufzuschlagen, und dem Obergefreiten von Gleiwitz, den Vorfall der örtlichen Polizei zu melden.

2

Montag, 18. August 1890

Polizeiwache Hasserode

Von Gleiwitz fand die Polizeistation im Gemeindehaus des Ortes in der Amtsfeldstraße. Er blieb noch einen Moment im Sattel sitzen und sah sich um. Zwei Sandsteinstufen führten zum Eingangspodest, das von einem kleinen Balkon mit schmiedeeisernem Geländer überdacht war. Efeu kletterte an den Mauersteinen der nördlichen Giebelwand empor und hatte fast das Dach erreicht. Soldat von Gleiwitz stieg vom Pferd und band es an einen der Zaunpfosten. Dann rückte er seine Uniform auf akkuraten Sitz zurecht und betrat das Gebäude.

Auf der linken Seite des Flures befanden sich die Schreibstube der Gemeindeverwaltung sowie das Arbeitszimmer des Bürgermeisters und rechts die Amtsstube der Polizeiwache. Die Namen der diensthabenden Beamten, Wachtmeister Alfred Schloote sowie Schutzmann Ernst Müller, waren auf dem Türschild zu lesen. Von Gleiwitz klopfte an und trat ein. Der Raum war klein, dienstgemäß eingerichtet, und lag im Dunst von Pfeifenrauch, angereichert vom Duft nach frischem Brot und Wurst. Ein schwergewichtiger Mann rekelte sich kauend hinter einem schlichten Tisch in einem Lehnstuhl. Seine Uniformjacke stand weit offen und gewährte seinem Kugelbauch zwanglose Freiheit. Die spätsommerliche Hitze, die zwischen den Wänden brütete, machte ihm sichtlich zu schaffen. Seine fleischigen Wangen leuchteten rot und waren von einem Netz blauer Äderchen durchzogen. Auf seiner Stirn glänzte der Schweiß. Der Amtsvorsteher wirkte etwas kurzatmig, strahlte aber trotzdem unantastbare Ruhe aus. Hinter ihm, an einem pultartigen Tisch, saß ein jüngerer Mann im Rang eines Schutzmannes, dessen wachsamen Blicken offenbar nichts entging. Es hatte die Augen eines Hitzkopfes und Draufgängers, glaubte von Gleiwitz zu erkennen.

Der Wachtmeister wickelte hastig sein Wurstbrot in einen Bogen Papier ein, ließ es in der Schublade verschwinden und stützte autoritär die Hände auf den Tisch, der mit Tabakkrümeln übersät war.

»Welches Anliegen führt Sie zu mir, Herr Obergefreiter?«, fragte der Beamte kauend.

»Ich muss eine Anzeige machen«, antwortete von Gleiwitz.

Wachtmeister Alfred Schloote schluckte den letzten Bissen herunter, unterdrückte einen Rülpser, wobei sich seine Wangen weiter aufblähten. »Gegen wen?«, fragte er.

»Gegen mich selbst«, sagte von Gleiwitz und verblüffte damit die beiden Polizisten, die einen Augenblick in Sprachlosigkeit verharrten.

Schloote fand als Erster seine Stimme wieder. »Gehören Sie zu der Infanterieabteilung, die heute Morgen durch den Ort marschiert ist?«, wollte er wissen.

»Ja«, bestätigte der Soldat. »Ich hatte Befehl, ein Biwakgelände auszukundschaften und kam auf eine Lichtung, oberhalb des Ortes in nördlicher Richtung. Dort fand ich eine Weide und eine Schutzhütte, aus der ...«

Der Wachtmeister schnitt ihm das Wort ab. »Das muss der Kuhborn sein«, fuhr Schloote dazwischen. »So nennen wir die Waldwiese«, erklärte er.

Von Gleiwitz erzählte weiter, was ihm dort widerfahren war. Mit dem Fortgang seiner Beschreibung verhärteten sich die Mienen der beiden Polizeibeamten mehr und mehr, bis sie am Schluss einen Ausdruck des Schreckens annahmen.

»Sind Sie sicher, dass die Frau gewaltsam ...« Der Wachtmeister genierte sich offenbar, das Wort auszusprechen. »Ich meine, dass sie missbraucht wurde?«

Der Obergefreite nickte. »Der Mann hatte die Frau im Nacken gepackt und auf die Tischplatte gedrückt, sodass sie kaum atmen konnte. Glauben Sie mir, es geschah gegen ihren Willen, warum sonst hätte sich der Mann mit einem Tuch maskieren sollen?«

Der Wachtmeister zog jetzt ein Gesicht, als würde er Zweifel hegen. »Was weiß ich? Manche Menschen mögen solche perversen Spielchen.«, ätzte er gehässig. »Sie haben zwei beim Liebesakt gestört, da reagiert man schon mal aggressiv. Außerdem findet eine Frau immer einen Weg, den Mann, der ihr an die Wäsche will, abzuweisen.« Er lehnte sich selbstgefällig in seinem Stuhl zurück. »Wir Männer müssen uns vor den Reizen der Frauen hüten, denn manche wissen geschickt ihre Rundungen einzusetzen«, sagte er belehrend, sah dabei den Schutzmann an und griente unverschämt. Ernst Müller nickte untertänigst und imitierte das Mienenspiel seines Vorgesetzten. »Das war ein Unfall, den sich das Weib selbst zuzuschreiben hat«, behauptete er. »Lassen Sie die Sache auf sich beruhen, bevor der untadelige Ruf der armen Frau beschädigt wird«, schlug der Wachtmeister vor.

Obergefreiter von Gleiwitz, der bereits als Kind preußische Disziplin, Zucht und Ordnung als Wertefundament eingetrichtert bekommen hatte, war empört über diese Unterstellung und Verallgemeinerung von Unsittlichkeit der Frauen. Er baute sich in strammer Haltung auf. »Was erlauben Sie sich«, entgegnete er scharf. »Wollen Sie das Urteilsvermögen und das Wort eines preußischen Soldaten und Avantageurs in Zweifel ziehen?«

Der Wachtmeister, sichtlich aufgerüttelt, setzte sich gerade, seine roten Wangen schienen zu glühen. Er spitzte seine Lippen, die wie eine Hasennase zuckten. »Keineswegs, Herr Obergefreiter«, sagte er respektvoll. »Können Sie die Frau beschreiben?«

»Obwohl ihr Gesicht kaum noch zu erkennen war, weil der Kerl es furchtbar zugerichtet hatte, schien sie mir noch sehr jung zu sein, fast noch ein Mädchen. Sie trug ein blaues Kleid und sie roch nach Stall, genauer gesagt nach Pferdestall. Mehr kann ich Ihnen dazu nicht sagen«, antwortete von Gleiwitz.

»Stallgeruch ist hier nichts Außergewöhnliches, das hilft uns sicher nicht viel weiter«, sagte der Wachtmeister. »Allerdings kann sich jemand mit einer solchen Verletzung schwerlich verstecken. Die Frau braucht einen Arzt, womöglich muss sie sogar ins Krankenhaus. Wir werden sie ausfindig machen und befragen.«

»Gut«, antwortete von Gleiwitz, »und was wollen Sie unternehmen, um den Dreckskerl zu finden?«, wollte von Gleiwitz wissen.

Der Wachtmeister ließ sich mit der Antwort einige Sekunden Zeit. »Gar nichts«, entgegnete er dann, und seine Widerrede löste beim Obergefreiten Unverständnis aus. Schutzmann Müller durchzuckte es, und er rollte seine Augen zwischen seinem Vorgesetzten und dem Soldaten hin und her. Offenbar spürte er die Spannung, die plötzlich die Amtsstube erfasste, und verschanzte sich hinter seinem Pult.

»Ich hör wohl nicht recht«, empörte sich von Gleiwitz. »ER ist der Täter, der die Frau missbraucht und in mein Bajonettmesser gestoßen hat. Vielleicht lebt sie nicht mehr oder ringt verzweifelt mit dem Tod, das blutjunge Ding, das ihr Leben noch vor sich hat. Und diesen Halunken wollen Sie unbehelligt lassen? Was ist das für eine Rechtsauffassung? Muss ich an Ihrer Integrität als preußischer Staatsbeamter zweifeln ... Herr Wachtmeister?« Von Gleiwitz war außer sich und schlug mit der Faust auf den Schreibtisch, dass das Tintenfässchen beinah umgekippt wäre.

Schlootes Mund zuckte erneut vor und zurück. »Ich muss doch sehr bitten«, erwiderte er. »Sie sind in meiner Amtsstube und haben nicht das Recht, hier wie der Hausherr aufzutreten.«

Von Gleiwitz schob drohend das Kinn vor und erhob die Stimme. »Das könnte bald nicht mehr ihre Amtsstube sein. Wenn Sie in diesem Fall untätig bleiben, werde ich Sie Ihrer vorgesetzten Dienststelle melden. Haben Sie das verstanden?« Er schmetterte die Worte förmlich in den Raum, dass sie wohl im ganzen Haus zu hören waren. Der Schutzmann lag mit dem Gesicht fast auf dem Pult, kritzelte irgendetwas auf ein Blatt und tat so, als ginge ihn die Auseinandersetzung nichts an.

Die hitzigen Wangen des Beamten verloren etwas an Farbe. »Jawohl!«, antwortete er kleinlaut und wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn.

»Wer ist Ihr Vorgesetzter?«, verlangte von Gleiwitz zu wissen.

Schloote rang sichtlich mit der Antwort, stammelte schließlich: »Hauptmann Preuß, von der Direktion Wernigerode.«

»Dann werde ich meine Anzeige dort vortragen müssen«, sagte von Gleiwitz und drehte sich zur Tür.

»Warten Sie«, rief der Wachtmeister hastig und erhob sich von seinem Stuhl. Von Gleiwitz blieb stehen. »Sehen Sie selbst. Wir sind nur zwei Polizisten und für den ganzen Ort zuständig. Wir kümmern uns um lästige Hausierer, um Nachbarschaftsstreitigkeiten, um rüpelhafte Kinder, um Kunden, die sich im Kaufmannsladen oder vom Marktschreier betrogen fühlen, um kleine Diebstähle und müssen im Ort für Ordnung sorgen. Das ist nicht einfach, verstehen Sie?«

»Nein! Das verstehe ich nicht«, machte von Gleiwitz klar.

»Hören Sie«, sagte Schloote, »man erzählt sich in dieser Gegend allerhand gruselige Geschichten von einem maskierten Mann, der nachts um die Häuser schleicht und Leute erschreckt.«.

Der Soldat wirbelte herum. »Dann sollten Sie ebenfalls um die Häuser schleichen und den Kerl festnehmen.«

»Niemand hat ihn bisher gesehen. Er ist Gerücht, ein Gespenst, mit dem ungehorsamen Kindern Angst gemacht wird. Die Erwachsenen sagen: Wenn du nicht hörst, kommt der Maskenmann.«

Von Gleiwitz, reichlich verwundert, ging bedächtig zwei Schritte auf Schloote zu und baute sich erneut vor ihm auf. »Wollen Sie mich zum Narren halten?«, fauchte er den Polizisten an. »Ich habe Augen im Kopf, und das war kein Geist, den ich gesehen habe.«

»Gewiss nicht«, räumte der Wachtmeister ein, »aber in außergewöhnlichen Situationen sehen wir nur das, was wir sehen wollen.«

»Auf Ihre Weisheiten kann ich verzichten«, entgegnete von Gleiwitz ungehalten. »Ich verlange, dass Sie alles daransetzen, die Frau und den maskierten Mann zu finden. Nur durch deren Aussage kann ich von jeglicher Schuld an diesem tragischen Vorfall rehabilitiert werden.«

»Seien Sie unbesorgt«, sagte Schloote, »ich werde in unserem Amtsblatt zur Mithilfe der Bevölkerung aufrufen. Wenn Sie mir sagen, wie ich Sie erreichen kann, werde ich Ihnen Bescheid geben, sowie ich etwas weiß.«

»Wenden Sie sich an die 4. Herzoglich-Braunschweigische Feldbatterie in Wolfenbüttel, zu Händen Obergefreiten Franz von Gleiwitz.«

Der Wachtmeister kritzelte Notizen auf ein Blatt und sagte: »Jawohl, Sie hören von mir.«

Franz von Gleiwitz sollte vergeblich darauf warten. Die Ungewissheit steckte wie ein Dorn tief in seiner Seele und wollte sich nicht mehr lösen.

Am selben Tag in Hasserode

Der Heitmüller-Hof lag an der Bielstein-Chaussee, dort, wo sie einen weiten Bogen machte und das Anwesen begrenzte, das im Tal zwischen dem Kellerberg im Norden und dem Mannsberg im Süden geschützt lag. Luise, die Frau des Fuhrmannes Heinrich Heitmüller, stand am Küchentisch und putzte Gemüse, als sie Hufeisengeklapper vernahm. Neugierig trat sie vor die Haustür, trocknete sich die feuchten Hände an ihrer Schürze ab und lächelte zufrieden, als sie ihren Sohn Walter kommen sah, der das entlaufene Zugpferd an der Trense führte.

»Na, da ist ja der Ausreißer. Wo hast du ihn denn diesmal erwischt?«, fragte sie und lachte. Walter blieb stehen und Luise las aus seinem besorgten Blick, dass etwas passiert sein musste. Plötzlich mündete ihr Lachen in einem spitzen Schrei des Entsetzens.

»Sophie!«, rief sie und rannte auf das Pferd zu, auf dem sich kraftlos wankend ihre Tochter kaum noch halten konnte. Luise sah das blutverschmierte Kleid und das geschwollene Gesicht. Sie schrie erneut auf, als das verletzte Mädchen schlaff zur Seite kippte und herunterzufallen drohte, doch Walter war zur Stelle und fing sie auf. Vorsichtig nahm Luise die Hand ihrer Tochter. Sie fühlte sich kalt an. »Sophie! Kind! Was ist nur geschehen?«, fragte sie mit weinerlicher Stimme. Das Mädchen antwortete nicht.

Von den Schreien seiner Frau offenbar aufgeschreckt, kam Heinrich aus dem Stallgebäude herbeigeeilt. »Was ist los?« Dann sah er seine Tochter auf Walters Armen liegen. »Oh mein Gott, Sophie. Was ist mit dir?«

»Trag sie ins Haus!«, wies Luise ihren Sohn an, der sie behutsam in ihre Kammer trug und aufs Bett legte. Die Mutter begann sofort, das Mädchen zu entkleiden, um die Wunde freizulegen.

»Schnell, heißes Wasser und ein paar Tücher«, schickte sie ihren Mann los. »Und du, Walter, du läufst zu Doktor Dreimann. Er soll schnellstens kommen. Beeil dich!«

Walter rannte hinaus.

Luise schob das Kleid und den Unterrock bis zum Brustkorb hinauf und zog den Schlüpfer etwas nach unten, sodass die Wunde frei lag. Noch immer sickerte Blut heraus. Heinrich kam mit einer Schüssel dampfendem Wasser und einigen Tüchern zurück. Luise, die schon als junge Frau von ihrer Großmutter und Mutter viel über Wundbehandlung und Krankenpflege gelernt hatte, benetzte eines der Tücher mit heißem Wasser und säuberte damit den Rand der Wunde.

»Leg ein paar saubere Tücher zusammen und drück sie hier fest auf die offene Stelle«, wies sie ihren Mann an. »So kriegen wir die Blutung hoffentlich zum Stillstand.«

Heinrich tat, was sie verlangte. Sophie stieß einen spitzen Schrei aus. Heinrich verminderte den Druck ein wenig.

»Nein, nicht nachlassen«, forderte Luise sofort, »fest drücken, das ist wichtig.« Es kostete ihn merklich Überwindung, seinem Kind Schmerzen zuzufügen.

Luise zog derweil ihrer Tochter den Schlüpfer ganz aus und wunderte sich, dass er außer mit Blut auch mit einem schleimigen Sekret befleckt war. Sie ahnte, was das zu bedeuten hatte. Ist Sophie vergewaltigt worden?, überlegte sie mit Schrecken. Das kann doch nicht sein, das junge Ding. Wenn sie auch noch schwanger wäre – welche Scham und Schande für die ganze Familie. Rasch legte sie das Wäschestück zur Seite und bedeckte den Unterleib mit einem Laken. Danach streifte sie das Kleid und Unterkleid vorsichtig über ihren Kopf hinweg und legte ihr eine Decke auf den Leib. Das Mädchen hatte viel Blut verloren und Luise bemühte sich, die Angst um ihre Tochter zu verbergen. Sie wusste, dass sich ihr Kind mit dieser Verletzung auf der Schwelle zwischen Leben und Tod befand. Sanft strich sie einige Haarsträhnen beiseite und tupfte vorsichtig mit einem feuchten Tuch das blutverschmierte Gesicht ab. Das Mädchen atmete flach. »Doktor Dreimann wird gleich hier sein«, sagte Luise und streichelte liebevoll ihre Wange. »Es wird alles gut«, versuchte sie zu trösten, und obwohl ihr nicht danach der Sinn stand, zwang sie sich zu einem Lächeln. Heinrich rang ebenfalls um Fassung und schluchzte leise.

Endlich, nach mehr als einer Stunde schlug der Hund draußen an, dann hörte Luise das helle Poltern eisenbereifter Kutschräder und das Klappern von Hufeisen auf dem Feldsteinpflaster des Hofes. Sie rannte hinaus, um nachzusehen. Eine offene Einachserkutsche, von einem Haflinger gezogen, hielt gerade vor der Haustür an. Walter sprang sofort vom Bock herunter, nahm Doktor Dreimann die Arzttasche ab und half ihm beim Heruntersteigen.

»Hier entlang, Doktor«, sagte Luise und eilte vorweg ins Haus. Der Doktor und Walter folgten ihr in die Schlafkammer.

»Du bleibst draußen!«, sagte sie zu ihrem Sohn und schob ihn unsanft zur Tür hinaus. »Kümmer dich um das Pferd vom Doktor.« Sie schlug die Tür zu.

Der Arzt trat an Sophies Bett, stellte seine Tasche auf einem Stuhl ab und betrachtete das Mädchen. »Um Gottes willen! Was ist denn mit dir geschehen?« Er schüttelte den Kopf. Dann untersuchte er die Schwellungen in ihrem Gesicht. »Mit Umschlägen gut kühlen«, wies er Luise an. Dann drängte er Heinrich, der noch immer die Tücher auf die Wunde presste, barsch zur Seite. Vorsichtig nahm er die blutgetränkten Lappen herunter, reichte sie Heinrich am gestreckten Arm entgegen und machte dann wortlos mit der Hand eine Winkbewegung, die sagen sollte: »Weg damit.« Man kannte Doktor Dreimann als wortkargen Mann, der nur redete, wenn er es für nötig erachtete. Stumm untersuchte er die Wunde, tastete den Unterbauch behutsam ab und nickte, scheinbar zufrieden.

»Was ist passiert?«, fragte der Arzt.

»Genau wissen wir es nicht. Sie muss wohl gefallen und mit dem Gesicht aufgeschlagen sein. Unglücklicherweise lag die Sense am Boden, warum auch immer«, antwortete Luise, weil ihr auf die Schnelle keine besser Erklärung einfiel. Auf jeden Fall wollte sie jeglichen Verdacht auf eine Vergewaltigung vermeiden.

Er sah die Frau ungläubig an. »In eine Sense?«, wiederholte er. »Danach sieht es aber nicht aus«, sagte er und sein Blick verriet Zweifel an dieser Aussage.

Luise ging nicht weiter darauf ein. Was wirklich geschehen war, konnte nur Sophie beantworten, aber jetzt musste sie erst einmal verarztet werden. »Sie wird doch wieder gesund, Doktor?«, wollte Luise wissen.

»Das weiß nur der liebe Gott«, antwortete er knapp, öffnete den Metallbügelverschluss seiner Tasche und kramte darin herum. Was er zum Vorschein brachte und auf das Nachtschränkchen legte, jagte Luise einen Schauer über den Rücken, denn solche Instrumente und Utensilien hatte sie vorher nie gesehen. Sie bekam beim bloßen Anblick bereits eine Ahnung, welche Schmerzen sie verursachen würden. Zögerlich fragte sie: »Was haben Sie vor, Doktor?«

»Ich muss die Wunde vernähen, damit sie besser verheilt«, antwortete er und begann in eine gekrümmte Nadel, die wie ein Angelhaken aussah, einen Faden einzufädeln. Luise bekam beim Anblick des Hakens weiche Knie.

»Jetzt machen Sie bloß nicht schlapp. Ich brauche gleich Ihre Hilfe«, sagte der Doktor. Dann schaute er zu Heinrich, der am Fußende des Bettes stand und eine ähnlich kalkige Gesichtsfarbe wie seine Tochter bekommen hatte.

»Jetzt reißen Sie sich mal zusammen, Sie Memme!«, schimpfte er. »Halten Sie ihre Beine fest«, verlangte er von ihm. »Und Sie die Arme«, sagte er im Befehlston zu Luise.

Beide taten, was er gefordert hatte. Doktor Dreimann zog aus der Ledertasche ein braunes Fläschchen hervor und benetzte mit der darin befindlichen Flüssigkeit ein zusammengefaltetes Tuch. Strenger Alkoholgeruch bereitete sich in der Kammer aus. »Jetzt gut festhalten«, sagte er und betupfte vorsichtig die Wunde. Sogleich erfüllte ein schriller Schrei den Raum. Sophie wand sich heftig und trat mit den Beinen, um der brennenden Marter zu entkommen. Sie stöhnte und kreischte und verdrehte ihren Körper wie ein Wurm auf einer heißen Herdplatte, um sich von den Fesseln und den höllischen Schmerzen zu befreien.

Luise fühlte mit ihr und weinte ebenfalls schluchzend.

»Nicht nachlassen«, befahl der Doktor und gönnte weder den Helfern noch seiner Patientin eine Ruhepause. Ohne Verzögerung begann er, die erste Naht zu legen. Sophie schrie erneut hell auf, als er mit der Nadel durch die Hautfalte stach. Nach drei Nahtschlaufen war die klaffende Wunde geschlossen und die Tortur vorüber. Der Arzt verteilte etwas Ringelblumensalbe auf der Nahtstelle und bedeckte sie mit einer Binde, die er um ihren Körper herum wickelte. Luise war froh, dass es vorbei war, auch Heinrich sah mitgenommen aus.

Sophie lag jetzt ruhig und atmete gleichmäßig. Ihre Stirn und Haare waren schweißnass. Ihre Mutter tupfte ihr das Gesicht mit einem feuchten Tuch ab. »Du hast es überstanden, Schatz. Versuch ein bisschen zu schlafen«, sagte sie und konnte wieder ehrlich lächeln.

Doktor Dreimann prüfte mit einem letzten Blick den Sitz der Binde und zog dann die Decke bis über ihre Schultern. Anschließend wusch er seine Hände in der Schüssel mit dem restlichen Wasser, verstaute seine Instrumente und sagte: »Wechseln Sie täglich den Verband. Wenn sie Fieber bekommt oder die Wunde eitert, rufen Sie mich. Mehr kann ich für sie nicht tun.«

»Vielen Dank, Doktor«, sagte Heinrich und drückte mit beiden Händen die Hand des Arztes. »Was sind wir Ihnen schuldig? Viel Geld haben wir leider nicht.«

»Geben Sie mir einen halben Sack Hafer für mein Pferd und vielleicht habt ihr etwas in eurer Speisekammer, was ihr entbehren könnt«, schlug er vor.

»Ja, natürlich«, stimmte Luise zu. Sie war erleichtert, dass der Doktor kein Geld verlangte, denn sie waren wieder einmal knapp bei Kasse.

»Das ist sehr anständig von Ihnen«, fügte Heinrich hinzu, rief Walter herein und wies ihn an, die geforderte Menge Hafer zu holen. Luise ging in die Vorratskammer und packte dem Doktor eine Speckseite sowie eine Schwartenwurst ein. Dreimann verstaute alles auf seinem Wagen und stieg auf die Kutschbank. »Das Mädchen wird großen Durst bekommen, aber sie darf erst morgen etwas trinken ‒ am besten Kümmeltee«, verordnete er, schnalzte zweimal mit der Zunge und sein Haflinger-Wallach setzte sich in Bewegung. »Ich werde die Tage noch einmal nach ihr schauen«, rief er den Heitmüllers zu, ohne sich umzudrehen, und trieb das Pferd mit einem leichten Zügelschlag zur Eile an.

 

Die Männer gingen zurück in das Stallgebäude, um ihre unterbrochene Arbeit fortzusetzen, und Luise eilte sogleich ins Haus zu Sophie, die jetzt ruhig lag. Ihr Gesicht war grün und blau, und ein Schleier feiner Schweißperlen benetzte ihre Stirn.

»Na, wie geht es dir?«, fragte Luise.

»Ich hab Durst«, sagte Sophie weinerlich.

»Doktor Dreimann sagt, du darfst erst morgen etwas trinken.«

»Morgen erst«, stöhnte sie. »Ich könnte jetzt einen ganzen Eimer austrinken.«

»Dann würdest du den Morgen nicht mehr erleben. Du musst durchhalten«, appellierte Luise und verließ für einen Moment die Kammer, um frisches Wasser und neue Tücher zu holen. Mit dem angefeuchteten Tuch benetzte sie ein wenig Sophies Lippen, die gierig danach leckten.

»Langsam, langsam«, mahnte Luise, »du musst dich zusammenreißen.« Sie legte ihrer Tochter ein frisches Tuch auf die Stirn. Das Mädchen schloss die Augen und atmete gleichmäßig. Luise räumte die Kammer auf und nahm die blutverschmierten Sachen und Tücher, um sie in der Waschküche einzuweichen.

 

Am Abend saßen Luise, Heinrich und Walter in der Küche. Eine Petroleumlampe vor ihnen auf dem Tisch spendete gerade ausreichendes Licht. Wie immer zum Feierabend, stopfte sich Heinrich eine Pfeife. Tabakduft breitete sich mit den Rauchwölkchen im Zimmer aus und überdeckte ein wenig den Petroleumgeruch. »Wie geht es Sophie?«, fragte er.

Luise unterbrach ihre Flickarbeit an einer Stricksocke, von denen noch ein Haufen auf dem Tisch lagen. »Sie schläft«, antwortete sie und setzte ihre Arbeit fort.

»Wie um alles in der Welt konnte das nur mit ihr passieren?«, fragte Heinrich kopfschüttelnd.

»Das kann uns nur Sophie beantworten«, sagte Luise.

Walter, der dabei war, die Arbeitsstiefel zu fetten, legte den Lappen zur Seite und stellte den Schuh auf dem Boden ab. »Ich muss euch etwas zeigen«, sagte er, stand auf und ging nach draußen. Luise und Heinrich sahen sich erstaunt an. Nach kurzer Zeit kam er zurück und legte wortlos einen Dolch mit langer Klinge auf den Tisch.

»Was ist das?«, fragte Luise und sah Walter mit großen Augen an. »Das sieht ja gefährlich aus.«

Heinrich nahm seine Pfeife aus dem Mund. »Das ist ein Bajonett, wie es die Armee benutzt«, sagte er. »Wo hast du das her?«

Walter setzte sich wieder. »Der lag neben Sophie in der Hütte am Kuhborn, wo ich sie gefunden habe. Er gehört sicher dem Soldaten, den ich auf der Lichtung davonreiten sah, als sei der Teufel hinter ihm her.«

Luise schob die Lampe näher an die Waffe heran und zeigte auf die Spitze der Schneide, wo auf einer Länge von ungefähr eineinhalb Fingern dunkelrote Schlieren klebten. »Ist das etwa Blut?«, fragte sie schockiert.

»Sieht ganz danach aus«, sagte Walter.

»Dann hat der Soldat ihr das angetan«, schlussfolgerte Heinrich. »Das müssen wir gleich morgen früh Wachtmeister Schloote melden.«

»Wir sollten nichts überstürzen«, wandte Luise ein. »Ich möchte erst von Sophie hören, was dort vorgefallen ist. Da war nämlich noch etwas.«

»Was denn noch?«, fragte Heinrich nach.

»Das ist Frauensache«, wich sie der Antwort aus.

Heinrich paffte jetzt hektisch ein paarmal seine Pfeife. »Gut«, sagte er hitzig, »aber wenn sich herausstellt, dass dieser Soldat unsere Tochter fast umgebracht hat, dann ...« Seine Stimme überschlug sich beinah. »Dann werde ich den Sausack finden und ihm mit seinem eigenen Messer die Rübe abschlagen.« Er sog erneut an der Pfeife und stieß den Rauch aus dem Mundwinkel aus.

»Der Sausack ist Soldat bei der Infanterie«, sagte Walter.

Heinrich schaute seinen Sohn großäugig an. »Woher weißt du das?«

»Das Seitengewehr. Die werden bei der Infanterie eingesetzt. Und sieh hier, im Griff sind die Initialen FvG eingeritzt.« Walter hob den Messergriff dichter an das Glas der Petroleumlampe.

Heinrich sprang erregt aus seinem Stuhl. »Aha, ein Adliger und wahrscheinlich Offizier oder zumindest Anwärter. Eine Schande ist das.«

»Beruhige dich Heinrich«, redete Luise auf ihn ein. »Sie wird nicht sterben. Wir müssen jetzt vor allem einen kühlen Kopf bewahren.«

Heinrich klopfte die Pfeife im Aschkasten des Küchenherdes aus. Dann nahm er das Messerbajonett und hielt es drohend in der Hand. »FvG«, fauchte er. »Diese Buchstaben werde ich nicht vergessen!«

3

Montag, 18. August 1890

Im Thumkuhlental

Die schmale Sichel des Mondes schwebte über den Bergen wie eine glühende Säbelklinge am klaren Nachthimmel. Wachend ... erhaben ... drohend, als könne sie jederzeit mit einem gewaltigen Hieb herniedersausen und alles zerschmettern – die Welt, die Berge, die Hütte.

Den Kopf auf die Hände gestützt, saß Klaus Seifert an dem grob zusammengezimmerten Tisch und wünschte sich in diesem Moment, eine mächtige Hand möge diese Klinge führen und endlich alles beenden. Doch der Mond verharrte, einer höheren Ordnung folgend, auf seinem Platz, und nur ein leichter Nachtwind spielte mit den Blättern des Waldes, die dabei ihr Lied sangen.

Vor ihm die zappelige Flamme einer Kerze, die den einzigen Raum dieser Hütte in schummriges Licht tauchte und tanzende Schatten an Wände und Decke warf. Einsam und ärmlich sein Dasein. Er hatte ein selbstgeschnitztes Kreuz an die Wand gehängt, als Symbol seines Glaubens, als Ermahnung, die zehn Gebote zu beachten, als Erinnerung an die christliche Lebensweise, als sein Beichtvater, Richter und Freund. Sonst gab es niemanden, abgesehen von Pastor Reichenberg aus Hasserode, der ihn mit dem Nötigsten versorgte, dafür jedoch verlangte, sich niemals im Ort sehen zu lassen. Außerdem gab es noch dieses Mädchen, das er vor Jahren zufällig beobachtet hatte, wie sie mit ihrer Mutter Himbeeren pflückte. Dabei hatten sie ausgelassen gesungen und gelacht. Sie war blutjung gewesen und bildhübsch. Ihre Anmut, ihr Lachen, ihre Stimme, ihr Mund, der immer zu lächeln schien. Oft träumte er sich ein gemeinsames Leben mit ihr zurecht, ein Leben, das es für ihn nie geben konnte.

Später einmal hatte er sich der Anweisung des Pastors widersetzt und es gewagt, in den Ort hinunter zu schleichen. Er wollte ein einziges Mal an einem Gottesdienst mit Pastor Reichenberg teilnehmen, heimlich. Es war an einem Sonntag im Januar gewesen. Dichtes Schneetreiben kam ihm gelegen, so konnte er ungesehen in die Kirche von Hasserode gelangen. Es war noch dunkel, als er das Gotteshaus erreichte. Auf der Empore, in einer Nische hinter der Orgel, hatte er sich versteckt. Bald riefen die Glocken zum Gottesdienst, die Menschen strömten herbei und füllten die Bänke. Dann sah er sie, das Mädchen mit der angenehmen Stimme und dem himmlischen Lächeln. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und seine Augen ließen sie nicht mehr los. Er verfolgte jede Bewegung von ihr, wie sie die Lippen beim Singen und beim Beten bewegte. Seitdem saß sie als unvergessliche Erinnerung wie eingemeißelt in seinem Kopf.

Sein Leben hätte einen anderen Weg gefunden ‒ ja, er wäre den Fußstapfen seines Vaters gefolgt, wenn ... Er blickte in die Kerzenflamme. Wenn dieses Unglück damals nicht passiert wäre, dachte er und hielt seine linke Hand, oder das, was von ihr übrig geblieben war, dicht über das Flämmchen. Er spürte keinen Schmerz. Warum hatte ihn das Feuer verschont und stattdessen zum Aussätzigen gemacht. Bei seinem Anblick drehten sich die Leute weg, sie gingen ihm aus dem Weg, Kinder erschreckten sich und liefen heulend davon.

Er würde nie eine Frau haben, nie Kinder, nie ein trautes Heim, nie eine Familie. »Nie, nie, nie«, schrie er plötzlich aus sich heraus und schlug mit der Faust auf den Tisch. »Was für ein erbärmliches Leben.« War das überhaupt noch ein Leben oder nur inhaltloses Existieren? Er starrte eine Zeit lang auf die Kerze, deren Flamme durch die sich mit Tränen füllenden Augen zu verschwimmen schien.

Geräusche von draußen holten ihn aus seiner Lethargie. Er hielt den Atem an und horchte. Knirschende Stiefelschritte auf dem schmalen Pfad, der den steilen Anstieg zu seiner abgelegenen Hütte führte, kamen näher. Wer sollte sich so spät noch hierher verirren, in dieses unwegsame und felsige Gelände des Kleinen Thumkuhlenkopfes, wo, durch einen Felsvorsprung verdeckt, seine Behausung stand? Im Fenster neben der Tür erschien ein dünner Lichtschein, der über den Ginsterbusch huschte. Keuchendes Atmen, jemand war vor seiner Hütte. Es klopfte zwei Mal.

Klaus streifte sich rasch eine Stickmaske über den Kopf und griff zu dem Tschärpermesser, das er in einer ledernen Gürtelscheide trug. Lautlos schritt er zur Tür, öffnete jedoch nicht. »Wer ist da?«, rief er nach draußen.

»Ich bin es«, gab sich der späte Besucher durch seine Stimme zu erkennen. Pastor Reichenberg, registrierte er und schob die beiden Eisenriegel, die die massive Eichentür sicherten, zur Seite und öffnete. Er wurde vom Licht einer Petroleumlampe geblendet. Der Pastor senkte die Lampe etwas, sodass der Mann den Geistlichen ohne Blendung anschauen konnte. Ein rundes Gesicht, aus dem freundliche Augen durch eine dicke Brille blickten. Pastor Reichenberg war der einzige Mensch, dem er vertraute und der ihm als alleinige Kontaktperson zum normalen Leben geblieben war. Er kannte den Pastor bereits seit seiner Kindheit aus vielen sonntäglichen Gottesdienstbesuchen zusammen mit seinen Eltern, denen er unzählige Segen erteilt hatte. Pastor Reichenberg hatte ein großes Herz, groß genug, um sich um einen Aussätzigen zu kümmern. Niemand wusste davon, und der Pastor musste im Laufe der Jahre so oft lügen, mehr, als Gott ihm je vergeben könnte, um das Geheimnis zu bewahren. Selbst seine Frau Martha, die irgendwann Fragen stellte und wissen wollte, wo ihr Mann so turnusmäßig hinging, flunkerte er an. Sie glaubte, die Hausbesuche, die er vorgab, erledigen zu müssen, galten einer anderen Frau. So kam es hin und wieder zu Eifersuchtsszenen und Streit. Aber wie er es versprochen hatte, blieb er standhaft.

»Herr Pastor, so spät noch? Ist etwas passiert?«, fragte er.

Der Pastor trat ein, stellte die Petroleumlampe sowie seinen Leder-Rucksack auf den Tisch und ließ sich auf den Stuhl sinken. Er atmete tief durch. »Dieser Anstieg ist jedes Mal eine Qual«, sagte er kurzatmig.

»Und nachts nicht ganz ungefährlich«, fügte Seifert hinzu, zog aus der Ecke einen Hocker herbei und setzte sich dem Pastor gegenüber. Der schnürte den Rucksack auf und entleerte den Inhalt auf der Tischplatte. »Unter den Menschen, die am wenigsten haben, gibt es die meisten mit einem großen Herzen«, sagte er.

»So groß wie Ihres ist keines«, bemerkte Klaus Seifert beim Anblick dieser großzügigen Zuwendung. Demütig und dankbar schaute er auf die Gaben, die wohltätige Menschen für diejenigen gespendet hatten, die in Armut und Elend leben mussten, so wie er. Er staunte über Brot, Wurst, Käse, Butter, Äpfel, Steckrüben, Mehl und zwei Flaschen Wein und dachte daran, wie schön es gewesen wäre, wenn er all das selbst beim Bäcker, Schlachter und Kaufmann oder auf dem Wochenmarkt hätte einkaufen können. Einfach nur wieder am Leben teilhaben können. »Danke, Herr Pastor«, sagte er. »Ich wünschte, ich könnte alles wieder gutmachen.«

Pastor Reichenberg sah ihn an, zumindest den Teil seines Gesichtes, der nicht durch die Maske verdeckt war – seine Augen. Er blickte in diese Augen mit vorwurfsvoller Miene. »Bisher gab es für dich nichts gutzumachen. Im Gegenteil. Aber jetzt ...« Der bekümmerte Blick des Pastors wurde von Sorgenfalten umrahmt.

»Was meinen Sie mit: aber jetzt? Ich versteh nicht, Herr Pastor«, sagte Klaus verunsichert.

»Ein maskierter Mann, dessen Beschreibung auf dich passt, soll einer jungen Frau Gewalt angetan haben, um sich an ihr zu vergehen«, antwortete der Kirchenmann. »Die Gendarmerie sucht nach ihm ‒ nach dem Maskenmann.«

Der Vorwurf verschlug Seifert augenblicklich die Sprache, und die herzliche Atmosphäre, die durch den Besuch des Pastors entstanden war, löste sich im Nichts auf. Klaus Seifert saß regungslos am Tisch, bis er sich wieder gefasst hatte, dann beteuerte er innig: »Herr Pastor, das kann nicht sein. Ich schwöre Ihnen, ich habe ein reines Gewissen.«

Die Blicke des Geistlichen zeigten Skepsis. »Die Fleischeslust ist oft stärker als das Gewissen und in deiner Lage kann dir das Verlangen nach dem Weib den Verstand rauben, da genügt eine einzige Gelegenheit, und alle inneren Widerstände brechen. War es nicht so?«

»Nein!«, rief der Mann entrüstet. »Ich schwöre bei Gott, ich habe niemandem etwas angetan.« Er hob seine rechte Hand.

»Ich möchte dir gern glauben, aber die Indizien lasten schwer und machen mich wankelmütig«, entgegnete der Pastor.

»Warum glauben Sie mir nicht?«

»Bedingungslos glaube ich nur an das Wort Gottes«, antwortete der Pastor.

Seifert ließ bedrückt den Kopf hängen. Sein Leben, das nur aus Weglaufen und Verstecken bestand, war hart genug. Seine Eltern mussten ihr eigenes Kind vor den Blicken anderer verbergen, denn jemand mit einem Fratzengesicht würden die Behörden in eine Anstalt stecken. Krüppel, hieß es, würden die öffentliche Ordnung stören und Kinder verschrecken. Vielleicht geriete er in die Hände von Schaustellern, die ihn als Jahrmarktsensation ausstellen würden. Deshalb baute ihm sein Vater die Hütte in dieser Abgeschiedenheit der Berge und verbreitete die Nachricht, der Junge sei verschollen, wahrscheinlich hätte er seine Situation nicht ertragen und sich das Leben genommen. Das klang glaubwürdig und niemand zweifelte daran. Doch diese Lüge führte zum Ehezerwürfnis seiner Eltern. Seine Mutter hatte sich wenig später vor Gram erhängt und bald darauffolgend starb sein Vater an Schwindsucht. Das kettete ihn für immer an diese Hütte, wie einen Hund, der davon abhängig war, dass jemand ihm etwas zu Fressen vor die Pfoten warf.

Was konnte es für einen Menschen Schlimmeres geben, als von den eigenen Eltern verstoßen und verleugnet zu werden. Diese quälende Last hing beständig an seinem Herzen, das eine weitere Bürde kaum aushalten würde.

»Was raten Sie mir?«, fragte der Mann. »Soll ich mich der Gendarmerie stellen?«

Der Pastor antwortete nicht gleich und schien nachzudenken. Nach einer Weile sagte er: »Nein, wir warten zunächst ab. Ich werde beobachten, was die Ermittlungen der Polizei ergeben.« Er nahm die Petroleumlampe in die Hand, schwang seinen Rucksack über die Schulter und ging zur Tür. »Pass auf dich auf und sei vorsichtig«, sagte der Pastor, verließ die Hütte und verschwand in der Nacht.

Klaus Seifert hörte noch die Tür ins Schloss fallen, dann kehrten Einsamkeit und Stille in die Hütte zurück und das Licht der Kerze spielte weiterhin mit den Schatten.

4

Dienstag, 19. August 1890

Hasserode

Als hinter der dunklen Silhouette der östlichen Bergrücken ein bläulicher Lichtstreifen den neuen Tag ankündigte, stand Luise bereits am Herd und setzte den Wasserkessel für Sophies Kümmeltee auf. Der Hahn begrüßte den neuen Tag auf seine Art und krähte lauthals über den Hof. Heinrich war inzwischen im Stall, band die beiden Belgier los und gab ihnen einen Klaps aufs Hinterteil. Gemächlich trotteten die Tiere nach draußen, wo Walter sie empfing und an die Deichsel des Langholzwagens anschirrte. Heinrich bereitete indes den Wagen vor, verlud Äxte, Ketten und Wendehaken. Ein schwerer Tag lag vor ihnen. Am Thumkuhlenkopf hatten die Waldarbeiter Fichten gefällt, die sie aus dem steilen Hang rücken und zum Sägewerk Jacobi nach Hasserode fahren sollten.

In der Zeit, die der Tee noch ziehen musste, machte Luise die Essensration für die Männer fertig. Brot, Speck, Äpfel und eine Kanne Hagebuttentee verstaute sie in einen Lederrucksack. Dann ging sie mit einer Tasse, die würzigen Kümmelduft verbreitete, rüber in Sophies Kammer. Das Mädchen saß im Bett, das Kopfkissen im Rücken. »Guten Morgen, Mutter«, sagte sie matt, aber ein Lächeln wollte ihr nicht gelingen.

»Wie fühlst du dich? Hast du noch Schmerzen?«, fragte Luise.

»Ich bin ziemlich schlapp, aber es tut nicht mehr so weh«, sagte Sophie. »Kann ich jetzt endlich einen Schluck trinken?«

Luise tastete behutsam die Schwellungen in Sophies Gesicht ab, die sich über Nacht leicht zurückgebildet hatten. Sie konnte bereits die Augen etwas öffnen. Luise reichte ihr die Tasse. »Vorsicht, ist noch heiß. Nur schluckweise trinken, hörst du?« Sophie schlürfte den Tee genüsslich, wie ihr deutlich anzusehen war.

Die Mutter setzte sich derweil auf die Bettkante und wartete, bis ihre Tochter ausgetrunken hatte. Dann nahm sie ihr die Tasse ab und stellte sie auf das Nachttischchen, legte ihre Hand auf Sophies und sah ihr fest in die Augen. »Was ist oben am Kuhborn geschehen?«, fragte Luise in einem Tonfall, der durchblicken ließ, dass sie nicht allein wegen der Verletzung besorgt war.

Wie ein Sturzbach rannen Sophie auf einmal die Tränen an beiden Wangen herunter. Sie schluchzte stotternd und brachte keinen Ton heraus.

»Wer hat dir das angetan?«, fragte Luise geradeheraus.