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Édouard Louis

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Beschreibung

Der neue Roman von Édouard Louis, Autor von »Das Ende von Eddy«.

Was kostet es, das eigene Leben in die Hand zu nehmen?

Mit Mitte zwanzig hat er schon mehrere Leben hinter sich: Eine Kindheit in extremer Armut, die Scham über die eigene Herkunft, die Flucht vom Dorf in die Stadt, den Aufbruch nach Paris. Er macht sich frei von den Grenzen seiner Herkunft, nimmt einen neuen Namen an, liest und schreibt wie ein Besessener, probiert sich aus, will alle Leben leben. Immer neue Welten erschließen sich ihm. Mit unbändiger Energie erfindet er sich wieder und wieder, schließt Freundschaften und hinterfragt doch die radikale Selbstveränderung, die sich nie ganz vollendet. Édouard Louis hat ein großes Buch geschrieben darüber, was man zurücklässt, wenn man bei sich selbst ankommt.

»Ein starkes Buch.« ARD Morgenmagazin.

»Édouard Louis beginnt seinen neuen, autobiografischen Roman mit einer derart fesselnden Einführung in sein Leben, dass man schon nach wenigen Seiten süchtig nach mehr ist.« Zeit Magazin.

»Ein Buch von aufwühlender Schönheit.« Le Monde. 

»Es hat eine enorme aufpeitschende Kraft, wie Édouard Louis sein Leben reflektiert.« Edgar Selge. 

»Ein seltener Glücksfall – ein Autor, der etwas zu sagen hat und bereit ist, es ohne Rücksicht auf sich selbst zu tun.« The New York Times. 

»Fesselnd.« FAZ.

»Höchst eindrucksvoll. In der Radikalität, mit der er vorgeht, liegt eine enorme Kraft. « Jörg Magenau, rbb.

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Seitenzahl: 277

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Über das Buch

Mit Mitte zwanzig hat er schon mehrere Leben hinter sich: Eine Kindheit in extremer Armut, die Scham über die eigene Herkunft, die Flucht vom Dorf in die Kleinstadt,  den Aufbruch nach Paris. Er macht sich frei von den Grenzen seiner Herkunft, nimmt einen neuen Namen an, liest und schreibt wie ein Besessener, probiert sich aus, will alle Leben leben. Er trifft sich mit Männern in mondänen Hotels, die in einer Nacht so viel ausgeben, wie seine Familie im Dorf in einem ganzen Jahr. Immer neue Welten erschließen sich ihm. Mit unbändiger Energie erfindet er sich wieder und wieder, schließt Freundschaften und hinterfragt doch die radikale Selbstveränderung, die sich nie ganz vollendet. Der Verlust über das, was hinter ihm liegt, bleibt spürbar.

Wie können wir werden, was wir sind – oder sein wollen? Und was kostet es, das Leben in die Hand zu nehmen? Édouard Louis hat ein großes Buch geschrieben darüber, was man zurücklässt, wenn man bei sich selbst ankommt.

Über Édouard Louis

Édouard Louis, geboren 1992, gilt als einer der wichtigsten Autoren der jüngeren Generation. Sein Roman »Das Ende von Eddy« machte ihn 2015 international bekannt. Er erzählte darin von seiner Kindheit in einem Dorf in Nordfrankreich in prekärsten Verhältnissen. In »Anleitung ein anderer zu werden« erzählt er davon, wie er die Grenzen seiner Herkunft hinter sich ließ. Seine Bücher erscheinen in 35 Sprachen und werden an Bühnen überall auf der Welt fürs Theater adaptiert. Zuletzt erschienen »Im Herzen der Gewalt«, »Wer hat meinen Vater umgebracht« sowie »Die Freiheit einer Frau«. Édouard Louis lebt in Paris.

Sonja Finck, geboren 1978 in Moers, lebt als literarische Übersetzerin in Berlin und Gatineau, Kanada. Sie überträgt unter anderem Annie Ernaux ins Deutsche. 2019 erhielt sie den Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis.

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Édouard Louis

Anleitung ein anderer zu werden

Roman

Aus dem Französischen von Sonja Finck

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Widmung

Motto

Zwei Prologe

I — Elena(fiktive Aussprache mit meinem Vater)

Imaginäres Gespräch vor dem Spiegel

II — Didier (Bruch)

Wende

Der nächste Morgen

Übergang

Paris, die ersten Male

Dazwischen

École normale

Vorbereitung

Ludovic

Projekt, Fortsetzung und Ende — (die Hoffnung)

Ergebnis

Imaginäres Gespräch vor dem Spiegel

Abschied

Elenas Monolog — (Hommage an Jean-Luc Lagarce)

Ankunft

III — Kurze Briefe für einen langen Abschied (fiktive Aussprache mit Elena)

IV — Auflösung

Scheitern

Barcelona

Rückkehr und letzter Versuch

Ende

Epilog

Erläuterungen

Impressum

Wer von diesem Roman begeistert ist, liest auch ...

Für Giovanni S.

»Ich bin nichts anderes mehr als ein Vorwand.«

Jean GENET, Tagebuch eines Diebes

Zwei Prologe

Es ist dreiunddreißig Minuten nach Mitternacht, ich sitze in meinem dunklen, stillen Zimmer und beginne zu schreiben. Draußen vor dem offenen Fenster höre ich Stimmen in der Nacht, in der Ferne Polizeisirenen.

Ich bin sechsundzwanzig Jahre und ein paar Monate alt, die meisten Menschen würden sagen, ich hätte das Leben noch vor mir, noch hätte nichts richtig angefangen, aber ich habe seit Langem das Gefühl, dass ich schon zu viel erlebt habe; vermutlich habe ich deshalb ein so großes Bedürfnis zu schreiben, das Schreiben ist für mich eine Möglichkeit, die Vergangenheit zu fixieren und mich so vielleicht von ihr zu befreien; vielleicht ist die Vergangenheit aber auch so tief in mir verankert, dass ich nicht anders kann, als von ihr zu erzählen, jederzeit, bei jeder Gelegenheit, vielleicht tue ich in dem Glauben, mich von ihr zu befreien, nichts anderes, als ihre Anwesenheit zu stärken und ihre Macht über mich zu vergrößern, vielleicht sitze ich in der Falle – ich weiß es nicht.

Ich war einundzwanzig Jahre alt, und es war zu spät, ich hatte schon zu viel erlebt – Armut und Not in der Kindheit, die sich wiederholenden Szenen, wenn meine Mutter mich zu einer Nachbarin oder einer Tante schickte, wenn ich bei ihnen klingelte und um eine Packung Nudeln oder ein Glas Tomatensoße bat, weil meine Mutter kein Geld hatte und weil sie wusste, dass ein Kind mehr Mitleid erregen würde als ein Erwachsener.

Auch viel Gewalt, ein Cousin, der mit dreißig im Gefängnis gestorben ist, ein großer Bruder, der schon in der Jugend Alkoholiker war, der so viel Alkohol im Körper hatte, dass er morgens betrunken aufwachte, eine Mutter, die es mit aller Macht leugnete, um ihren Sohn zu schützen, die uns jedes Mal, wenn er trank, hoch und heilig versprach, es wäre das letzte Mal, danach würde er aufhören. Die Schlägereien in der Dorfkneipe, der obsessive Rassismus der abgehängten Regionen, der in jedem Wort, oder fast in jedem Satz zum Ausdruck kam, Sind wir hier in Afrika oder was, überall nur Ausländer; die allgegenwärtige Angst vor dem Monatsende, die Angst, kein Holz mehr kaufen zu können, um das Haus zu heizen, den Kindern keine neuen Schuhe kaufen zu können, wenn die alten Löcher haben, die Worte meiner Mutter, Ich will nicht, dass sich meine Kinder in der Schule schämen müssen, und mein Vater; mein Vater, der krank war von der Arbeit, der Arbeit am Fließband, in der Fabrik, und später auf der Straße, wo er den Müll anderer Leute aufsammelte, mein Großvater, den dasselbe Leben krank gemacht hatte, der krank geworden war, weil sein Leben eine fast identische Wiederholung des Lebens seines Urgroßvaters, seines Großvaters, seines Vaters und seines Sohnes war: Entbehrungen, soziale Unsicherheit, Schulabgang mit vierzehn oder fünfzehn, Fabrikarbeit, Krankheit. Als ich sechs oder sieben Jahre alt war, sah ich die Männer um mich herum und dachte, dass mein Leben genauso werden würde wie ihres, dass ich eines Tages wie sie in der Fabrik arbeiten und die Fabrik auch mir den Rücken kaputtmachen würde.

Ich floh vor diesem Schicksal und arbeitete als Bäckereiverkäufer, Wachdienstmitarbeiter, Buchhändler, Kellner, Kartenabreißer im Theater, Aushilfe in einer Anwaltskanzlei, Nachhilfelehrer, Prostituierter, Ferienlagerbetreuer und Proband für medizinische Studien. Durch ein Wunder besuchte ich eine der prestigeträchtigsten Universitäten Europas und machte einen Abschluss in Soziologie und Philosophie, dabei hatte sonst niemand in meiner Familie studiert. Ich las Platon, Kant, Derrida, Beauvoir. Nach der Unterschicht in einem nordfranzösischen Dorf lernte ich das Kleinbürgertum einer Provinzstadt kennen, seine Säuerlichkeit, und später die Welt der Pariser Intellektuellen, das französische und internationale Großbürgertum.

Ich hatte Umgang mit den reichsten Menschen der Welt. Ich hatte Sex mit Männern, in deren Wohnzimmern Originale von Picasso, Monet, Soulages hingen, die nur im Privatjet reisten, die in Hotels wohnten, in denen eine Nacht, eine einzige Nacht, so viel kostete wie das Jahreseinkommen unserer siebenköpfigen Familie.

Ich war Adligen nah – zumindest körperlich –, dinierte mit Herzogen und Prinzessinnen, aß Kaviar und trank mehrmals in der Woche seltenen Champagner, machte mit dem Bürgermeister von Genf, mit dem ich mich angefreundet hatte, in Schweizer Villen Urlaub. Ich lernte Drogendealer kennen, liebte einen Mann, der Eisenbahngleise reparierte, einen anderen, der mit Anfang dreißig mehr als ein Drittel seines Lebens im Gefängnis verbracht hatte, und lag in einem Pariser Vorort, der als einer der gefährlichsten Orte Frankreichs galt, in den Armen eines Dritten.

Mit Anfang zwanzig hatte ich offiziell einen neuen Nachnamen angenommen, meinen Vornamen geändert, mein Gesicht transformiert, eine Haartransplantation und mehrere Operationen durchführen lassen, einen neuen Gang, neue Gesten und eine neue Sprechweise gelernt, meinen nordfranzösischen Dialekt abgelegt. Ich war nach Barcelona geflohen, um mit einem verarmten Adligen ein neues Leben anzufangen, hatte alles aufgeben und nach Indien auswandern wollen, hatte in Paris in einer Einzimmerwohnung gewohnt und in einem der reichsten Stadtteile New Yorks eine große Wohnung besessen, war wochenlang allein durch die USA gezogen, war durch geisterhafte Straßen irgendwelcher mittelgroßer Städte gelaufen, in dem Versuch, mein neues Leben hinter mir zu lassen. Wenn ich meinen Vater oder meine Mutter besuchte, hatten wir uns nichts mehr zu sagen, wir sprachen nicht mehr dieselbe Sprache, alles, was ich in dieser kurzen Zeit erlebt und durchgemacht hatte, trennte uns voneinander.

Vor meinem fünfundzwanzigsten Geburtstag schrieb und veröffentlichte ich mehrere Bücher, ging überall auf der Welt auf Lesereise, in Japan und Chile, im Kosovo, in Malaysia und Singapur. Ich hielt in Harvard, Berkeley und an der Sorbonne Vorträge und war von diesem Leben erst beeindruckt, dann genervt, dann angewidert.

Ich war dem Tod knapp entkommen, hatte den Tod erlebt, seine Realität gespürt, hatte wochenlang keine Kontrolle über meinen Körper gehabt.

Vor allem aber hatte ich versucht, meiner Kindheit zu entfliehen, dem grauen Himmel Nordfrankreichs und dem Leben, zu dem die Gesellschaft meine Freunde von damals verurteilt hatte, einem Leben der Entbehrung, in dem die einzige Aussicht auf Glück die Treffen an der Bushaltestelle sind, bei denen man aus Plastikbechern Bier und Pastis trinkt, um die Realität zu vergessen. Ich träumte davon, auf der Straße erkannt zu werden, träumte davon, unsichtbar zu sein, träumte davon, zu verschwinden, träumte davon, eines Morgens als Frau aufzuwachen, träumte davon, reich zu werden, träumte davon, noch einmal ganz von vorne anzufangen.

Manchmal wollte ich mich in einer Ecke verkriechen, weit weg von allem, mir ein Loch graben, mich hineinlegen und nie wieder ein Wort sprechen, mich nie wieder bewegen, nach dem Vorbild von Nietzsches russischem Fatalismus, wie ein Soldat, der zu lange gekämpft hat, der erschöpft ist vom Krieg, der seinen schweren, schmerzenden Körper irgendwo weit weg von allen anderen Menschen im Schnee ablegt und auf den Tod wartet.

Diese Geschichte – diese Odyssee – will ich hier erzählen.

Ich lief die Treppe hoch. Ich weiß nicht mehr, was ich im Treppenhaus dachte, ich nehme an, ich zählte die Stufen, um an nichts anderes zu denken.

Vor der Tür wartete ich, bis ich wieder bei Atem war, dann klingelte ich. Auf der anderen Seite der Wand kam der Mann näher, ich hörte seine Schritte auf dem Parkett.

Keine zwei Stunden zuvor hatte ich zum ersten Mal Kontakt mit ihm gehabt, über eine Webseite. Er hatte mich angeschrieben. Er stehe auf Jungs wie mich, jung, schlank, blond, blaue Augen – er präzisierte: arischer Typ. Er schrieb, ich solle mich wie ein Student anziehen, und ich war seinem Wunsch gefolgt und hatte mich so angezogen, wie er sich einen Studenten vorstellen musste, ich trug einen zu großen, von Geoffroy geliehenen Kapuzenpulli und himmelblaue Turnschuhe, meine Lieblingsschuhe, ich erfüllte ihm seinen Wunsch, weil ich hoffte, er werde mir dann mehr Geld geben, als Belohnung für meine Mühe.

Ich wartete.

Nach einer Weile öffnete er die Tür, und bei seinem Anblick musste ich die Gesichtsmuskeln anspannen, um keine Grimasse zu ziehen – er sah ganz anders aus als auf den Fotos, die er geschickt hatte, sein Körper war weich und schwer, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, es war, als würde ihn ein Gewicht zu Boden ziehen, als würde er zerfließen.

Offensichtlich war ihm schon der Weg zur Tür schwergefallen, er wirkte erschöpft, atemlos und verschwitzt, auf seiner Stirn glitzerten kleine Tropfen; ich wandte den Blick ab, so weit es ging, ich wollte sein Gesicht nicht sehen, ich dachte, In weniger als einer Stunde bist du mit dem Geld hier raus. Sein Geruch schlug mir entgegen, ein künstlicher Geruch nach Vanille und verdorbener Milch. Ich konzentrierte mich auf diesen Gedanken, In weniger als einer Stunde, mit dem Geld, als ich hinter ihm in der Wohnung Stimmen hörte. Es waren die Stimmen von mehreren Männern, vielleicht drei oder vier; ich fragte, wer sie seien; er sagte grinsend: Das kann dir egal sein. Tu einfach so, als wären sie nicht da, sie kennen das schon, ich hole mir oft Nutten ins Haus, du bist nicht der Erste. Wir gehen direkt zum Schlafzimmer, ignorier sie einfach.

Ich dachte: Ich will nicht, dass andere mein Gesicht sehen –Scham stieg in mir auf, erfüllte meinen Körper von den Fingerspitzen bis zum Nacken, eine lauwarme, lähmende Flüssigkeit, deren Brennen mir vertraut war. Ich drohte ihm, ich würde sofort wieder gehen. Ich dachte, meine Worte würden ihn ärgern oder verletzen, aber er versuchte nicht, mich aufzuhalten, gelassen bot er mir 50 Euro an, für mein Kommen, falls ich auf der Stelle umkehren und wieder gehen wollte, und ich hasste ihn, weil er ruhig blieb. Ich brauchte mehr als 50 Euro. Ich sagte, Okay, aber wir gehen direkt ins Schlafzimmer, die anderen sollen mich nicht ansehen und ich setze meine Kapuze auf.

Er schwor, dass seine Freunde nicht versuchen würden, mein Gesicht zu sehen, Denen ist das scheißegal, er drehte sich bereits um, ich sah seinen fetten weißen Nacken, Denk an das Geld, denk an das Geld.

Ich durchquerte mit ihm zusammen das Wohnzimmer. Er ging voraus. Ich senkte den Kopf, die Kapuze verbarg mein Gesicht. Im Schlafzimmer setzte er sich auf die Bettkante, und als sein schwerer Körper die Matratze berührte, gab sie ein kurzes Quietschen von sich.

Die Matratze schrie an meiner Stelle.

Ich stand vor ihm, wagte nicht, mich zu rühren, er musterte mich, Du bist echt geil, du kleine Nazisau. Ich sagte nichts, er wollte, dass ich schwieg, das wusste ich, es erregte ihn, dafür bezahlte er mich, für meine Härte, meine Kälte. Ich spielte eine Rolle. Er sagte, ich solle mich ausziehen, und fügte hinzu: So langsam wie möglich, und ich gehorchte.

Jetzt stand ich nackt vor ihm und wartete. Er sagte nur: Ich will, dass du mich fickst wie eine Schlampe. Er stand auf, zog seine Hose halb runter, bis sie ihm um die Knie hing, drehte sich um, stieg aufs Bett, ging auf alle Viere – sein Arsch vor mir war zu weiß und zu rot, eingefallen, schlaff, von braunen Härchen übersät – er wiederholte: Los, fick mich, mach mich zu deiner Schlampe. Ich presste meinen Schwanz an seinen Körper, aber es passierte nichts, mein Schwanz blieb leblos, ich scheiterte, und ich schaffte es nicht, meine Gedanken auf etwas anderes zu lenken, mir eine andere Situation vorzustellen, die Realität seines Körpers drängte sich mir auf, als wäre die Realität seines Körpers so brutal, so absolut, dass sie jede Fantasie zerstörte. Er sagte: Was ist los, kriegst du keinen hoch, und um Zeit zu gewinnen, sagte ich, Halt den Mund. Ich spürte, wie sein Körper unter meinen Händen erschauderte, meine Worte erregten ihn.

Ich versuchte es wieder, rieb mich an ihm, auf ihm, verzweifelt, ich mühte mich ab, versuchte, mir einen anderen Körper unter meinem vorzustellen, oder vielmehr einen anderen Körper auf meinem, weil das die Stellung war, bei der ich normalerweise geil wurde, ich konzentrierte mich, aber die Berührung mit seiner kalten, trockenen Haut holte mich immer wieder in die Wirklichkeit zurück, in seine Gegenwart. Er begann zu seufzen, er verlor die Geduld. Ich wiederholte, Halt den Mund und beweg dich nicht, aber ich wusste, dass es beim zweiten Mal nicht mehr so gut funktionierte. Er wollte etwas anderes. Ich rieb mich noch härter an ihm, aber ich wusste, dass ich verloren hatte, die Sache war von vornherein verloren gewesen, heute glaube ich, dass ich das schon beim Betreten des Schlafzimmers wusste.

Ich dachte an das Geld, das ich unbedingt brauchte, an meine Scham, wenn ich dem Zahnarzt am nächsten Tag sagen müsste, dass ich die Rechnung nicht begleichen könne, daran, wie wir uns ansehen würden, an die Worte, die er sicher auswendig kannte, Kann ich beim nächsten Mal bezahlen, es tut mir leid, ich habe mein Portemonnaie vergessen, und er würde wissen, dass ich log, und ich würde wissen, dass er es wusste, ich dachte an die Scham, die ich aufgrund dieser unendlichen Spiegelsituation empfinden würde – es war so einfach, so banal, aus diesem Grund war ich bei diesem Mann und presste mich nackt an ihn.

Er war immer noch auf allen Vieren, er rührte sich nicht. Ich löste mich von ihm, umrundete das Bett, stellte mich vor sein Gesicht. Sein Ausdruck war müde, erschöpft vom Warten, flehend. Ich sagte, Blas mir einen, und er nahm meinen Schwanz in den Mund, aber der blieb weiter schlaff. Ich schloss die Augen. Ich weiß nicht, wie ich es geschafft habe, aber nachdem ich zwanzig Minuten vor ihm gestanden hatte, zog sich mein Schwanz zusammen und ich kam, ich nahm meinen Schwanz aus seinem Mund und spritzte ihm übers Gesicht, ich senkte den Kopf und sah die dicke weiße Flüssigkeit auf seiner Stirn, seinen Wangen, seinen Lidern.

Mein Atem zitterte.

Ich zog mich an. Ich dachte: Es ist fast vorbei. Fast vorbei. Er nahm ein Handtuch vom Nachttisch neben dem Bett, wahrscheinlich hatte er es in dem Wissen bereitgelegt, dass ich kommen würde, wischte sich das Gesicht ab und ging zu einer kleinen Kommode. Er nahm ein Bündel Geldscheine heraus und kehrte damit zu mir zurück.

Er gab mir 100 Euro; ich rührte mich nicht. Er wusste genau, worauf ich wartete und warum ich reglos dastand, aber er stellte sich dumm. Er spielte mit mir, und er wusste, dass ich ihn durchschaute, er wusste, dass ich wusste, dass er mit mir spielte, dass ich aber zu große Angst hatte, um etwas zu sagen. Schließlich sagte er, Du hast es nur halb gemacht, also gebe ich dir auch nur die Hälfte. Du solltest mich ficken und hast es nicht getan. Eine Nutte, die nicht fickt, ist keine Nutte. Du kannst froh sein, dass ich dir 100 gebe. Er sagte es nicht aggressiv, sondern wie eine Feststellung, wie wenn man eine Verwaltungsvorschrift oder einen Vertrag vorliest. Ich sah es ihm an. Ich hatte gelernt, auf den ersten Blick einzuschätzen, ob jemand vermögend war, ich irrte mich nie, ich wusste, dass er reich war und dass 100 Euro keine Rolle spielten, dass 100 Euro weniger ihm nicht wehtun würden. Das Herz schlug mir in der Brust (nicht mein Herz pochte, sondern mein ganzer Körper). Ich begann dem Mann die Situation zu erklären, dabei kannte ich nicht einmal seinen Namen, ich erzählte ihm alles, die Scham, der Zahnarzt. Er sagte, das sei nicht sein Problem, Wenn man etwas nur halb macht, kriegt man auch nur die Hälfte. Im Leben muss man wissen, was man will. Du bist noch jung, du wirst das noch lernen.

Nach diesem Satz gab ich auf. Es bestand die Gefahr, dass seine Freunde sich Sorgen machten und ins Schlafzimmer kamen, um nach dem Rechten zu sehen, und sie durften mein Gesicht nicht sehen, Sie dürfen auf keinen Fall dein Gesicht sehen, Auf keinen Fall dürfen andere dein Gesicht sehen.

Ich nahm das Geld und verließ die Wohnung, ich durchquerte Paris im Dunkeln und ging nach Hause. Die Bürgersteige glänzten vom Regen, die Stadt spiegelte sich in ihnen, es war wie eine zweite, auf den Boden projizierte Stadt. Ich lief durch die Straßen. Ich dachte nicht, dass ich ihn hasste. Ich dachte nichts.

Als ich über die Schwelle meiner Wohnung trat, setzte ich mich aufs Bett und weinte. Selbst als ich weinte, dachte ich nichts. Ich wusste meinen Namen nicht mehr. Ich weinte nicht wegen dem, was passiert war, das war halb so schlimm, ein unangenehmer Moment, wie man ihn immer mal erleben kann; vielmehr konnte ich wegen dem, was passiert war, um all die Male in meinem Leben weinen, in denen ich es nicht getan hatte, um all die Male, in denen ich mich zurückgehalten hatte. Möglicherweise ließ ich in jener Nacht in diesem Zimmer zu, dass meine Augen zwanzig Jahre ungeweinter Tränen weinten.

Ich stellte mich unter die Dusche. Ich zog mich nicht aus. Ich ließ warmes Wasser laufen und spürte, wie es an meinem Körper hinablief, vom Schädel bis zu den Fersen. Ich legte den Kopf in den Nacken und öffnete den Mund, als wollte ich schreien, einen langen Schrei ausstoßen, aber ich tat es nicht. Das Wasser durchtränkte meine Kleidung, mein weißes T-Shirt nahm die Farbe meiner Haut an, meine durchnässte Hose war dunkler und schwerer als sonst.

Ich stand lange unter der Dusche und beobachtete, wie das Wasser an mir hinabrann. Als ich aus der Dusche trat, wurde es draußen hell. Ich glaube, in diesem Moment fragte ich mich, ob ich jemals eine solche Szene würde schreiben können, eine Szene, die ungeheuer weit weg von dem Kind war, das ich einst gewesen bin, und von seiner Welt, keine tragische oder mitleiderregende Szene, sondern vor allem eine Szene, die diesem Kind radikal fremd war, und in diesem Moment nahm ich mir vor, es eines Tages zu tun, alles zu erzählen, was zu dieser Szene geführt hatte, und alles, was danach passiert ist, in dem Versuch, in der Zeit zurückzugehen.

I

Elena(fiktive Aussprache mit meinem Vater)

Muss ich dir den Anfang der Geschichte noch einmal erzählen? Ich wuchs in einer Welt auf, die alles ablehnte, was ich war, und ich empfand es als Ungerechtigkeit – das dachte ich immer wieder, hundertmal am Tag, bis zum Erbrechen – ich empfand es als Ungerechtigkeit, weil ich es mir nicht ausgesucht hatte.

Ich habe die Geschichte schon einmal erzählt, aber ich muss es noch einmal von vorne tun, das habe ich mir fest vorgenommen, bereits in meinen ersten Lebensjahren wurde das Problem benannt: Als ich zu sprechen anfing, als ich lernte, mich auszudrücken und mich in der Welt zu bewegen, hörte ich um mich herum immer öfter Fragen, Warum redet Eddy wie ein Mädchen? Er ist doch ein Junge? Warum bewegt er sich wie ein Mädchen? Warum fuchtelt er beim Reden mit den Händen? Warum schaut er den anderen Jungs hinterher? Kann es sein, dass er irgendwie ein bisschen schwul ist?

Ich hatte mir nicht ausgesucht, mich so zu bewegen, so zu sprechen, ich wusste nicht, warum ich diese komische Art hatte – so sagten die Leute im Dorf, Eddys komische Art, Eddy hat eine komische Art –, ich wusste nicht, warum diese komische Art von mir und meinem Körper Besitz ergriff. Ich kann nicht sagen, warum ich mich zu den Körpern der anderen Jungen hingezogen fühlte und nicht zu denen der Mädchen, wie es von mir erwartet wurde. Ich war in mir selbst gefangen. Nachts träumte ich davon, mich zu verändern, ein anderer zu werden, und vielleicht wurde bereits in diesen ersten Lebensjahren die Idee der Veränderung für mich zentral.

Du sorgtest dich als einer der Ersten. Wenn meine Mutter und du euch abends zum Schlafen hinlegtet, hörte ich euch reden – unsere Zimmer hatten keine Türen, wir konnten uns keine leisten, also hattest du die Zimmer mit Vorhängen aus dem Trödelladen abgetrennt. Ich roch die Zigaretten, die du im Bett Kette rauchtest, der Rauch zog in mein Zimmer, vor allem aber hörte ich deine Stimme durch die Dunkelheit dringen, Warum spricht Eddy so komisch? Wir haben ihn doch nicht zur Schwuchtel erzogen, ich kapier das einfach nicht. Kann er sich nicht normal verhalten?

Schwuchtel. Mit fünf oder sechs Jahren begriff ich, dass mich dieses Wort definieren und mich für den Rest meines Lebens begleiten würde.

Was du allerdings nicht weißt, weil ich es dir verheimlichte, ist, dass dieses Wort mich überall verfolgte, nicht nur zu Hause, sondern auch auf der Straße, im Dorf, in der Schule, überall, dass du nicht der Einzige warst, der sich sorgte.

(Oder wusstest du es und sagtest nichts, um dich vor der Wahrheit zu schützen?)

Was du auch nicht weißt, ist, dass die Beleidigung der Grund war, warum ich alles andere unerträglich fand, die Armut, unsere Lebensweise, den allgegenwärtigen Rassismus im Dorf, als müsste ich mir, weil ich ausgegrenzt wurde, ein eigenes Wertesystem geben – ein System, in das ich hineingepasst hätte.

Wenn meine Mutter abends sagte, dass es nichts zu essen gab, weil wir kein Geld hatten, verschlimmerte die Beleidigung den Hunger. Wenn wir nicht mehr genug Holz hatten, um das Haus zu heizen, litt ich wegen der Beleidigung stärker unter der Kälte als die anderen. Wenn ich die Frauen auf dem Dorfplatz oder in der Bäckerei sagen hörte, In Frankreich gibt es zu viele Ausländer, man sieht überall nur noch Schwarze, verachtete ich sie und fühlte mich spontan denjenigen zugehörig, die die Leute im Dorf ausgrenzen und vernichten wollten.

Ich weiß nicht, wie man schon in der Kindheit einen so präzisen und in gewissem Sinne so erwachsenen und anachronistischen Gedanken haben kann, aber ich weiß noch genau, dass ich aus dem Dorf wegwollte, dass ich reich, mächtig und berühmt werden wollte, denn die Macht, die ich dank meines Reichtums oder meiner Berühmtheit erlangen würde, wäre eine Rache an dir und an der Welt, die mich nicht gewollt hatte. Dann würde ich dir und allen anderen Menschen, die ich im ersten Teil meines Lebens gekannt hatte, ins Gesicht sagen können, Seht nur, wie weit ich es gebracht habe. Ihr habt mich beleidigt, aber jetzt bin ich mächtiger als ihr, ihr habt euch geirrt, als ihr mich einen Schwächling genannt und auf mich herabgeblickt habt, und ihr werdet euren Fehler bereuen. Ihr werdet bereuen, mich nicht geliebt zu haben.

Ich wollte es aus Rache zu etwas bringen.1

Was wusstest du? Was beschlossest du zu ignorieren? Ahntest du, wie mein Leben aussah? Stelltest du dir überhaupt solche Fragen?

Ich habe dir nie gesagt, dass ich im Sportunterricht, wenn wir Mannschaften bilden sollten, meist, um Fußball oder Handball zu spielen, nie gewählt wurde, dass mich niemand in seiner Mannschaft haben wollte. (Wenn ich dir heute davon erzähle, macht mich das nicht traurig, ich will nicht, dass du Mitleid hast, ich will nur, dass du es weißt, mehr nicht – in der Zeit zurückgehen.)

Es ist eine der trivialsten und vorhersehbarsten Szenen vom Schmerz eines Kindes, jeder hat das Gefühl, sie schon tausendmal in Büchern gelesen oder in Filmen gesehen zu haben, und trotzdem ist es eine der Szenen, die mich am meisten verletzt haben.

Die Szene war immer dieselbe: Zwei Schüler wurden ausgesucht, um die beiden Mannschaften zusammenzustellen, die gegeneinander antreten mussten. In der Turnhalle roch es nach Kunststoff, der Gestank des schimmernden Bodenbelags vermischte sich mit dem Schweißgeruch. Die beiden Schüler, die die Mannschaften bildeten, fast immer zwei Jungs, sagten abwechselnd einen Namen, und der Gewählte stellte sich hinter denjenigen, der ihn aufgerufen hatte.

Die Gruppe derjenigen, die noch nicht gewählt worden waren, schrumpfte, einer nach dem anderen verschwanden die Körper um mich herum. Am Ende, wenn ich als Letzter übrig war, wenn mein Name als einziger nicht ausgesprochen worden war, zuckte einer der beiden Mannschaftskapitäne mit den Achseln und murmelte: »Na, dann halt Eddy«, und ich spürte, wie enttäuscht die anderen darüber waren, dass ich in ihrer Mannschaft sein würde, spürte die Blicke auf mir.

Ich litt nicht so sehr darunter, nicht gewählt zu werden, als darunter, von den anderen als derjenige gesehen zu werden, der nicht gewählt wurde. Oft, wenn ich zu der Gruppe ging, die gezwungen war, mich aufzunehmen, flüsterte jemand, »mit der Schwuchtel haben wir keine Chance, das Spiel ist verloren«. Der Erwachsene, der uns beaufsichtigte, tat so, als hätte er es nicht gehört.

Diese Szene wiederholte sich, absolut identisch, fast ohne Variation, Dutzende Male in meiner Kindheit.

Derselbe Ton, dieselbe Stimme, dieselbe Enttäuschung beim Aussprechen meines Namens.

Ich erzählte dir damals auch nicht, warum ich nicht mit der Schule in den Skiurlaub fahren wollte. Es handelte sich um eine Klassenfahrt, die jedes Jahr für die Siebtklässler angeboten wurde, ein einwöchiger Skiurlaub für eine läppische Summe, keine fünfzig Euro, und selbst diese fünfzig Euro konnte das Sozialamt übernehmen. In unserer Region konnten sich nur sehr wenige Familien einen Winterurlaub leisten, für die meisten würde es der einzige Urlaub ihres Lebens sein, die einzige Gelegenheit, für ein paar Tage der feuchten Kälte Nordfrankreichs zu entkommen.

Ich hatte dir gesagt, dass ich nicht mitfahren wollte. Du versuchtest, mich zu überreden. Ich weigerte mich, ich beharrte auf meinem Nein. Niemand verstand mich. Ich log, ich hätte keine Lust, Skifahren zu lernen, und du regtest dich auf, das könne ich doch gar nicht wissen, wie könne ich sagen, dass ich nicht gern Ski fuhr, wenn ich es noch nie ausprobiert hatte.

Ich verriet dir den eigentlichen Grund nicht. Ich wusste, dass man auf der Klassenfahrt in Mehrbettzimmern schlief, dass ich mir tagelang mit anderen Jungs ein Zimmer hätte teilen müssen, mit denselben Jungs, die mich auf dem Schulhof als schwule Sau beschimpften, die mir auf dem Flur im Vorbeigehen Ohrfeigen gaben, zwischen zwei Unterrichtsstunden, einfach so, aus Spaß, die mir Zettel in die Tasche schoben, auf denen stand: »Stirb, Schwuchtel«, die enttäuscht stöhnten, wenn sie mich im Sportunterricht in ihre Mannschaft aufnehmen mussten.

Ich verriet dir nicht, dass ich nicht mit in den Skiurlaub fahren wollte, weil ich Angst hatte. Weil ich Angst vor den anderen Jungs hatte. Ich verriet dir natürlich auch nicht, dass ich wie jedes Kind davon träumte, den Schnee und die Berge zu sehen.

Damals wusste ich noch nicht, dass die Beleidigungen und die Angst meine Rettung sein würden, vor dir, vor dem Dorf, vor der exakten Wiederholung deines Lebens. Ich wusste noch nicht, dass die Erniedrigung mich dazu zwingen würde, mich von all dem zu befreien.

Das Haus meiner Kindheit

Auch das verriet ich niemandem, weder dir noch sonst irgendwem: Als ich begriff, dass mein einzige Chance die Flucht war, suchte ich nach allen möglichen Auswegen.2 Kein Tag verging, an dem ich nicht dachte, Ich muss hier weg, ich muss hier weg – dieser Satz wurde ein fester Bestandteil meines Lebens.

Meinen ersten echten Fluchtversuch unternahm ich an dem Tag, als ein Fernsehschauspieler in unserem Dorf auftrat – weißt du noch?

So etwas gab es sonst nicht, niemand kam in unser Dorf, in diese graue, kalte Gegend, Dutzende Kilometer von der nächsten Stadt entfernt. Nachdem ich das Plakat mit der Ankündigung gesehen hatte, nahm ich ein Blatt Papier und schrieb, Ich heiße Eddy Bellegueule, ich will Schauspieler werden, ich will weg aus diesem Dorf, ich tue alles, was Sie wollen, bitte rufen Sie mich an. Ich las die Zeilen noch einmal durch und schrieb unten rechts meine Telefonnummer hin. Ich war zwölf Jahre alt. Ich wartete den ganzen Tag auf dem Parkplatz vor dem Festsaal neben der stillgelegten Metallfabrik, ich wusste, dass der Schauspieler dort parken würde, irgendwer hatte mir davon erzählt.

Ich wartete stundenlang, ich saß auf dem Schotterboden, ließ mir den weißen Staub durch die Finger rieseln, die Sonne schien mir auf die Unterarme. Irgendwann kam endlich das Auto angefahren; ich stand auf und sah den Schauspieler und zwei, drei weitere Personen aussteigen, wahrscheinlich seine Assistenten; sie hatten die Körper eines anderen, eines privilegierten, komfortablen Lebens. Ich wartete, bis sie sich entfernt hatten, näherte mich dem Auto und klemmte meinen kleinen Brief unter den Scheibenwischer. Dann kehrte ich nach Hause zurück, ging wortlos an dir vorbei, legte mich auf mein Bett und hoffte wochenlang auf eine Antwort, die nicht kam.

Es gab weitere Versuche, die verhasste Kindheit hinter mir zu lassen, weitere Bemühungen, aber erst die weiterführende Schule, das niedrige Gebäude aus rotem Backstein und Stahl, in dem auch du zur Schule gegangen warst, das Collège des Cygnes, das alle Kinder der Umgebung besuchten (oder fast, die Kinder aus reichen Familien gingen auf Privatschulen in der Stadt), brachte die Rettung.

Auf der Schule probierte ich alles aus, nahm an sämtlichen Arbeitsgemeinschaften und Workshops teil, dem Schachklub, dem Kalligraphie-Workshop, der Comic-AG, obwohl ich Comics hasste.

Ich steckte all meine Zeit und all meine Energie in diese AGs, um in den Pausen und beim Mittagessen nicht allein zu sein, vor allem aber aus dem unbestimmten Gefühl heraus, dass ich in einer der AGs möglicherweise eine Berufung oder Begabung finden könnte, dank der ich das Dorf verlassen, ein anderes Leben leben, reich und mächtig werden und es euch allen heimzahlen könnte.

Die Flucht gelang mir schließlich durch das Theater. Das weißt du. Du hast sofort gespürt, dass das Theaterspiel uns voneinander trennen würde, wenn ich von den Proben nach Hause kam, regtest du dich auf, Hör mir auf mit deinem Theater-Scheiß. Eine der Französischlehrerinnen bot eine Theater-AG an, einmal die Woche nachmittags nach der Schule.

Beim ersten Mal betrat ich den grauen, ovalen Saal neben der Bibliothek als Erster, vor allen anderen. Die Lehrerin, Aude Detrez, ließ uns kleine Szenen spielen, die sie selbst geschrieben hatte, und dort, in ihrer Gegenwart, passierte es.

Die Wahrheit ist nämlich, dass mir das Theaterspielen erstaunlich leicht fiel. Wahrscheinlich, weil ich es gewohnt war, eine Rolle zu spielen. Ich hatte es von klein auf ganz von selbst gelernt, ich spielte Rollen, um zu verbergen, wer ich war, um mich zu schützen. Von klein auf versuchte ich, mein Begehren für die anderen Jungs zu verbergen, versuchte verzweifelt, männlicher zu sein, den klischeehaftesten Bildern von Männlichkeit zu entsprechen, ich lernte die Namen von Fußballspielern auswendig, trank mit den anderen Jungen bis spät in die Nacht an der Bushaltestelle Bier, tat so, als interessiere ich mich für Mädchen, ich tat alles, damit die Schläge und Beleidigungen in der Schule aufhörten, alles, um die Anwesenheit der Beleidigung in meinem Leben abzumildern.

Von klein auf hatte ich so getan, als wäre ich jemand, der ich nicht war, und wegen dieser Tatsache, dank dieser Tatsache war das Theaterspielen für mich eine Selbstverständlichkeit, eben keine künstlerische Berufung, sondern einfach die Weiterführung meines Lebens.