Im Herzen der Gewalt - Édouard Louis - E-Book

Im Herzen der Gewalt E-Book

Édouard Louis

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Beschreibung

In seinem autobiographischen Roman ›Im Herzen der Gewalt‹ rekonstruiert der französische Bestsellerautor Édouard Louis die Geschehnisse einer dramatischen Nacht, die sein Leben auf den Kopf stellt. Auf der Pariser Place de la République begegnet Édouard in einer Dezembernacht einem jungen Mann. Eigentlich will er nach Hause, aber sie kommen ins Gespräch. Es ist schnell klar, es ist eine spontane Begegnung, Édouard nimmt ihn, Reda, einen Immigrantensohn mit Wurzeln in Algerien, mit in seine kleine Wohnung. Aber was als zarter Flirt beginnt, schlägt um in eine Nacht, an deren Ende Reda Édouard mit einer Waffe bedrohen wird. Indem er von Kindheit, Begehren, Migration und Rassismus erzählt, macht Louis unsichtbare Formen der Gewalt sichtbar. Ein Roman, der wie schon ›Das Ende von Eddy‹ mitten ins Herz unserer Gegenwart zielt – politisch, mitreißend, hellwach.

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Seitenzahl: 253

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Édouard Louis

Im Herzen der Gewalt

Roman

Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel

FISCHER E-Books

 

Inhalt

WidmungEinsZweiDreiVierFünfSechsSiebenAchtZWISCHENSPIELNeunZehnElf   Szenen eines AlbtraumsZwölfDreizehnVierzehnFünfzehnSechzehnEpilog

Für Geoffroy de Lagasnerie

Eins

Und ein paar Stunden nach dem, was in der Kopie der Anzeige, die gefaltet bei mir zu Hause in einer Schublade liegt, Mordversuch genannt wird, verließ ich meine Wohnung und ging die Treppe hinunter.

Ich ging im Regen über die Straße, um mein Bettzeug bei neunzig Grad zu waschen, unten im Waschsalon, keine fünfzig Meter von meiner Haustür entfernt, gebeugt unter einem allzu unhandlichen, allzu schweren Wäschesack, meine Knie knickten unter dem Gewicht ein.

Es war noch nicht ganz hell. Kein Mensch auf der Straße. Ich war allein, ich stolperte voran, ich hatte nur ein paar Meter zu gehen, und doch zählte ich vor lauter Eile: Nur noch fünfzig Schritte, komm, nur noch zwanzig, gleich bist du da. Ich ging schneller. Und ich dachte auch – in ungeduldiger Erwartung der Zukunft, die das Ganze in gewisser Weise in die Vergangenheit verlegen, es verbannen und relativieren würde: In einer Woche denkst du: Jetzt ist es schon eine Woche her, komm schon, und in einem Jahr: Jetzt ist es schon ein Jahr her. Der eiskalte Regen war nicht dicht, aber extrem fein, unangenehm, er kroch in meine Stoffschuhe, die Nässe breitete sich in den Sohlen und im Gewebe der Socken aus. Ich fror – und ich dachte: Vielleicht wird er wiederkommen, er wird wiederkommen, jetzt bin ich zur Flucht verurteilt, er hat dich zur Flucht verurteilt. Der Inhaber war schon im Waschsalon, er war klein, gedrungen, sein Oberkörper ragte hinter der Reihe der Waschmaschinen hervor. Er fragte, ob es mir gutgehe, ich antwortete Nein, so schroff ich nur konnte. Ich wartete seine Reaktion ab. Ich wollte, dass er reagierte. Er fragte nicht nach, er zuckte mit den Schultern, wandte den Kopf ab, verzog sich in sein enges Büro hinter den Wäschetrocknern, und ich hasste ihn dafür, dass er nicht nachfragte.

Ich ging mit der sauberen Bettwäsche wieder zu mir hoch. Ich schwitzte auf der Treppe. Ich bezog das Bett neu, Redas Geruch schien noch darin festzuhängen, also machte ich Kerzen an und brannte Räucherstäbchen ab; es genügte nicht; ich griff nach Geruchsentferner, Deo, auch nach verschiedenen Parfüms, die ich zu meinem letzten Geburtstag bekommen hatte, zu Eau de Cologne, und besprenkelte das Bettzeug damit, ich weichte die Kissenbezüge, die ich doch eben gerade gewaschen hatte, in Waschlauge ein, der Stoff schied sie in Form von quellenden kleinen Seifenbläschen aus. Ich schrubbte die Holzstühle ab, wischte mit einem in Reinigungsmittel getränkten Schwamm über die Bücher, die er angefasst hatte, rieb die Türgriffe mit Desinfektionstüchern ab, wischte sorgsamst jede einzelne Holzlamelle der Jalousien ab, verrückte und vertauschte die am Boden stehenden Bücherstapel, wienerte das metallene Bettgestell, besprühte die glatte Oberfläche des Kühlschranks mit einem nach Zitrone duftenden Mittel; ich konnte nicht aufhören, mich trieb eine dem Wahnsinn nahe Energie an. Ich dachte: besser verrückt als tot. Ich scheuerte die Dusche, die er benutzt hatte, leerte mehrere Liter Chlorreiniger in Toilettenschüssel und Waschbecken (jedenfalls mindestens zwei Liter, ich hatte noch eine volle Eineinhalb-Liter-Flasche und eine zweite, die erst halb leer war), ich scheuerte das gesamte Badezimmer, es war absurd, putzte sogar den Spiegel, in dem er sich in der Nacht betrachtet oder vielmehr bewundert hatte, warf die Kleidungsstücke in den Müll, die er berührt hatte, sie zu waschen hätte nicht genügt; ich weiß nicht, warum es beim Bettzeug genügte, nicht aber bei der Kleidung. Ich wischte den Boden, auf allen vieren, das heiße Wasser verbrannte mir die Finger, der Putzlappen riss kleine rechteckige Fetzen meiner aufgeweichten Haut ab. Die Fetzen rollten sich zusammen. Ich hielt inne, ich atmete tief durch, in Wirklichkeit schnüffelte ich, schnüffelte wie ein Tier, ich war zum Tier geworden bei der Suche nach diesem Geruch, der nicht verschwinden zu wollen schien, trotz all meiner Mühen, sein Geruch ging nicht weg, und ich schloss daraus, dass er an mir selber haftete, nicht am Bettzeug oder an den Möbeln. Das Problem kam aus mir. Ich ging in die Dusche, wusch mich einmal, zweimal, dann ein drittes Mal und so weiter, mit Seife, Shampoo, Haarspülung, den ganzen Körper, um ihn möglichst gründlich neu zu beduften, es war, als hätte Redas Geruch sich in mich hineingefressen, tief hinein, zwischen Fleisch und Epidermis, und ich kratzte mich am ganzen Körper, schliff meine Glieder ab, mit aller Kraft, besessen, um die tieferen Hautschichten zu erreichen, sie von seinem Geruch zu befreien, ich fluchte, verdammte Scheiße, aber der Geruch blieb, verursachte mir immer stärkere Übelkeit und Schwindel. Ich schloss daraus: Wahrscheinlich sitzt der Geruch in deiner Nase. Wahrscheinlich riechst du das Innere deiner Nase. Der Geruch sitzt darin fest. Ich verließ das Bad, ich ging wieder zurück und goss mir Kochsalzlösung in die Nasenlöcher; ich schnäuzte mich, wie beim Naseputzen, denn ich wollte, dass die Lösung die gesamte Oberfläche des Inneren meiner Nase überzog; es nutzte nichts; ich riss die Fenster auf und verließ die Wohnung, ging zu Henri, dem einzigen Freund, der am 25. Dezember um neun oder zehn Uhr morgens schon wach war.

 

Meine Schwester schildert diese Szene ihrem Mann. Ich stehe hinter einer Tür versteckt, belausche sie. Ich höre ihre Stimme, ich erkenne sie sogar nach Jahren der Abwesenheit, ihre Stimme, in der immer Wut und Groll mitschwingen und auch Ironie, und Resignation.

Vor vier Tagen bin ich bei ihr eingetroffen, in der naiven Hoffnung, ein paar Tage auf dem Land wären das einzige Mittel, über die Müdigkeit und den Überdruss meines Alltags hinwegzukommen, aber kaum hatte ich dieses Haus betreten, die Reisetasche auf die Matratze gestellt, kaum hatte ich das Schlafzimmerfenster geöffnet, das auf die Wäldchen und die Fabrik des Nachbardorfs hinausgeht, da begriff ich, dass ich einem Irrtum aufgesessen war und noch melancholischer und deprimierter wieder nach Hause fahren würde.

Ich habe sie seit zwei Jahren nicht mehr besucht. Wenn sie mir das vorwirft, stottere ich eine Worthülse in der Art von »Ich muss halt mein Leben führen« und versuche, so viel Überzeugung da hineinzulegen, damit nicht ich ein schlechtes Gewissen bekomme, sondern sie.

Aber ich weiß nicht, was ich bei ihr zu suchen habe. Schon letztes Mal war ich in dasselbe Auto gestiegen wie diese Woche, in dieses Auto, das mich krank macht mit seinem kalten Tabakgeruch, und mir war regelrecht übel geworden bei dem Blick aus dem Fenster, immer noch dieselben Mais- und Rapsfelder, dieselben endlosen Flächen von stinkenden Zuckerrüben, die Reihen von Backsteinhäusern, die widerwärtigen Plakate des Front National, die schäbigen kleinen Kirchen, stillgelegten Tankstellen, heruntergekommenen, baufälligen Supermärkte, einfach zwischen die Weiden geknallt, in diese deprimierende nordfranzösische Landschaft. Ich hatte seinerzeit begriffen, dass ich mich einsam fühlen würde. Beim Aufbruch nach Hause war mir klar, dass ich das Land hasste und nie wiederkommen würde. Aber dieses Jahr komme ich also wieder. Und da ist noch etwas. Du willst nur nicht wiederkommen, weil ihr euch unweigerlich zankt, kaum dass du fünf Minuten da bist, dachte ich bei der Ankunft, als ich in ihrem Auto saß und sang, um nicht reden zu müssen, nicht nur, weil alles an ihr, Verhalten, Gewohnheiten, auch die Denkgewohnheiten dich angreift und wütend macht. Nein, dir ist zudem aufgefallen, wie leicht es dir fällt, sie nicht mehr zu sehen, wie gleichgültig es dir ist, auch darum magst du sie nicht mehr sehen. Das ist hart, denn außerdem erwartest du, dass sie dich bei dieser Anstrengung, sie zu vernachlässigen, auch noch unterstützt. Jetzt weiß sie Bescheid. Jetzt weiß sie, zu was für einer Gefühlskälte du imstande bist, und du schämst dich. Es gibt eigentlich keinerlei Veranlassung dazu, du hast ein Recht darauf, sie nicht sehen zu wollen, dennoch schämst du dich. Dieser Besuch konfrontiert dich mit deiner eigenen Grausamkeit, mit dem, was du in deiner Beschämung Grausamkeit nennst. Du weißt, das Zusammensein mit Clara zwingt dich, an dir die Seiten zu sehen, die du lieber nicht sähest, und das nimmst du ihr übel. Ob du willst oder nicht, du nimmst es ihr übel.

Seit meinem letzten Besuch habe ich ihr nur ein paar SMS geschickt oder eher nichtssagende Postkarten, aus einem unbestimmten Gefühl familiärer Verpflichtung heraus, sie hat sie mit Magneten an ihrem Kühlschrank befestigt; rasch auf einer Parkbank oder auf der Ecke eines Kaffeehaustischs hingekritzelte Nachrichten, »Umarmung aus Barcelona, bis bald, Édouard«, »Liebe Grüße aus Rom. Superwetter!«, vielleicht gar nicht einmal, um eine schmale Verbindung zu ihr aufrechtzuerhalten, wie ich es mich glauben mache, sondern um sie an die Distanz zwischen uns zu erinnern, und ihr klarzumachen, wie fern ich ihr mittlerweile bin.

 

Ihr Mann ist von der Arbeit zurück. Von dort, wo ich stehe, kann ich seine Füße sehen. Clara und er befinden sich im Wohnzimmer, ich im Nachbarraum. Die Tür steht vier, fünf Zentimeter offen, ich höre ihr zu, ohne dass sie sehen können, wie ich aufrecht, starr in meinem Versteck hinter der Tür stehe. Auch ich kann sie nicht sehen, kann sie nur hören, sehe nur seine Füße, ahne aber, dass sie auf dem Stuhl gegenüber sitzt. Reglos hört er ihr zu, und sie redet.

»Er hat mir einfach gesagt, er würde so gut wie gar nichts über ihn wissen, nur seinen Vornamen: Reda.«

Didier und Geoffroy sind der Meinung, dass er mich angelogen und mir einen erfundenen Namen genannt hat. Ich habe keine Ahnung. Ich gebe mir Mühe, nicht darüber nachzudenken, jedes Mal, wenn es mir einfällt, versuche ich, mich davon abzulenken. Ich konzentriere mich auf etwas anderes, als wollte ich, dass er, der mir so viel genommen hat, wenigstens dies gelassen hat, ich will mich überzeugen, dass dieses Wissen, diese vier Buchstaben, eine Art Revanche ergeben, oder, falls der Begriff zu weit geht, eine direkte Macht über ihn, die mir aus diesem Wissen erwächst. Ich will nicht in jeglicher Hinsicht verloren haben. Wenn ich diese Geschichte in meiner Umgebung erwähne und man einwendet, er habe mir ganz offenbar nicht seinen echten Vornamen genannt, und das sei in so einem Fall, in dieser Konstellation geradezu typisch, dann überkommen mich Verärgerung und Aggression, ich kann mich nicht davon frei machen, diese Vorstellung ist mir ganz und gar unerträglich, ich möchte losschreien und meinen Gesprächspartner zum Schweigen bringen, ihn schütteln.

»Er hat mir das heut früh noch mal gesagt. Wir waren beim Bäcker, und ich hab zu ihm gesagt, er soll mir das noch mal sagen«, und tatsächlich hatte ich während der Fahrt gesagt, dass, als Reda mit der Waffe auf mich zielte – denn diese Szene sollte ich ihr Mal ums Mal schildern, das wollte sie, als er mit der Waffe auf mich zielte, dass die Frage da für mich schon nicht mehr war Bringt er mich jetzt um, denn das schien mir in dem Moment bereits festzustehen, es war unvermeidlich, er würde mich umbringen, ich würde sterben müssen in jener Nacht in meiner Wohnung, und ich fügte mich ins Offensichtliche mit jener Fähigkeit des Einzelnen, sich zu fügen und sich an jedwede Situation anzupassen, man braucht sich nur die Weltgeschichte anzuschauen, noch an die widernatürlichsten und schrecklichsten Umstände passen die Menschen sich an, arrangieren sich – und das, so hatte ich mit meinem Hang zu groß tönenden Worten zu Clara gesagt, ist zugleich die beste und die schlimmste Botschaft an die Menschheit, denn sie läuft darauf hinaus, dass man nur die Welt zu verändern brauche, um die Menschen zu verändern, oder jedenfalls die allermeisten, Clara hörte schon nicht mehr hin, man braucht nicht jeden Einzelnen gesondert zu verändern, was viel zu lange dauern würde, die Menschen passen sich an, sie erdulden nicht, sondern passen sich an. Die Frage war also nicht mehr Bringt er mich jetzt um, sondern vielmehr Wie bringt er mich um, genauer: Wird er mich mit seinem Schal erwürgen, oder: Nimmt er die schmutzigen Messer aus meiner Spüle, oder: Erschießt er mich, oder: Lässt er sich etwas einfallen, auf das ich gar nicht komme; ich hatte keine Hoffnung mehr zu entkommen, ich hoffte nicht mehr zu überleben, sondern wollte nur möglichst schmerzlos sterben. Später haben die Polizei und auch Clara mich für meinen Mut bewundert; nichts schien mir weniger zu dieser Nacht zu passen, ihr fremder zu sein als der Begriff des Muts. Reda tritt ein paar Schritte zurück, den Hahn der Waffe gespannt. Er streckt den anderen Arm aus, den, mit dem er sie nicht hält, und tastet in dem Kleidungsstapel auf meinem Schreibtischstuhl herum. Er nimmt wieder den Schal zur Hand. Ich denke: Jetzt würgt er mich wieder. Doch als er wieder bei mir war, versuchte er nicht, mich zu erwürgen wie noch vor wenigen Minuten, bevor er die Waffe gezückt hatte. Er griff nicht nach meinem Hals. Diesmal wollte er mich fesseln, er packt meinen rechten Arm, will den anderen nehmen, um beide zusammenzubinden, ich erinnere mich an den Schweißgeruch, der von ihm ausging, an den Geruch nach Sex auch. Ich zappelte, hinderte ihn und hatte derart Angst, ich dachte: Ich will nicht sterben, etwas derart trist Banales, tragisch Banales. Ich stieß schwache Schreie aus, natürlich schrie ich nicht laut. Das hätte ich niemals riskiert. Ich schob ihn weg, immer noch ganz ruhig, so ruhig, wie es ging, und sagte, er solle das lassen. Ich leistete Widerstand, es gelang ihm nicht, er sagte immer wieder, jedes Mal lauter Toi je vais te faire la gueule, Ich mach dich fertig Ich mach dich fertig Ich mach dich fertig. Er schrie. Ich hoffte, ein Nachbar würde uns hören und die Polizei rufen, Aber wenn die Polizei auftaucht, dann bewegt er sich vielleicht unkontrolliert, aus Angst, verhaftet zu werden, und bringt mich sofort um, in Panik, wenn er hört, dass die Polizisten etwas durch die Tür rufen wie: Aufmachen, Polizei. Da es ihm nicht gelang, mich zu fesseln, nahm er wieder seine Waffe, die er vorübergehend in die Innentasche seines Kunstledermantels gesteckt hatte, warf den Schal zu Boden oder legte ihn sich selbst um, ich weiß nicht mehr, und drückte mich auf die Matratze.

 

Am Morgen des 25., nur wenige Stunden nach dieser Szene, ging ich zu Henri, teils zu Fuß, teils per Rad, und unterwegs dachte ich immer wieder: In einer Woche wirst du denken: Jetzt ist es schon eine Woche her, komm schon, und in einem Jahr wirst du denken: Jetzt ist es schon ein Jahr her. Kaum hatte ich seine Etage erreicht, da machte er mir schon auf, er hatte wohl meine Schritte gehört. Ich wollte mich Schutz suchend in seine Arme stürzen, hielt mich aber zurück, ich könnte nicht einmal sagen, warum.

Zu Clara hatte ich gesagt: »Ich hätte nie gedacht, dass er gefährlich sein könnte.« Später glaubte ich monatelang, jedermann könnte potentiell gefährlich sein, inklusive der Menschen, die mir am nächstens waren, ich dachte, egal wer könnte unvermittelt mörderische Anwandlungen haben, Zerstörungslust und Blutdurst, könnte ohne Vorwarnung über mich herfallen, sogar Didier und Geoffroy, meine besten Freunde – unmittelbar nach dieser Nacht glaubte ich das noch nicht, und dennoch hielt irgendetwas mich Henri gegenüber zurück. Wir standen reglos da, und während dieses Augenblicks, in dem die Zeit gefroren schien, spürte ich, wie er mich musterte und verstohlen analysierte, nach allen Anzeichen, die erklären könnten, warum ich hier war, so früh morgens an so einem ungewöhnlichen Tag. Seine Blicke wanderten über mich hinweg, über mein schmutziges, fettiges Haar, meine übermüdeten, dunkelrandigen, erschöpften Augen, meinen von violetten Würgemalen bedeckten Hals, meine blutroten, geschwollenen Lippen. Mit jeder Spur, die er erkannte, wurde sein Gesicht verblüffter; ich erinnere mich daran, dass ich mehrfach geduscht hatte, bevor ich zu Henri ging, und dennoch erinnere ich mich ganz genau an meine ungewaschenen Haare, als ich bei ihm war. Er bat mich herein. Er ging hinter mir her, ich spürte seinen Blick im Nacken. Ich weinte nicht. Ich ging in seine Wohnung. Auf den Möbeln standen gerahmte Fotos, hinter dem Sofa hing unter Glas ein großes Porträt von ihm. Ich setzte mich hin, Henri machte Kaffee. Er kam aus der Küche, zwei Tassen in den Händen, sie zitterten auf den Untertassen; er fragte mich, ob ich darüber reden wollte, ich sagte Ja. Dann beschrieb ich Reda, erst seine braunen Augen und schwarzen Brauen, also ich fing bei seinen Augen an. Ein glattes Gesicht, zugleich sanft und markant, maskulin geschnitten. Wenn er lächelte, hatte er Grübchen, und er lächelte viel. Auf der Kopie der Anzeige, die ich zu Hause aufbewahre, heißt es im Polizeijargon: Maghrebinischer Typus. Jedes Mal, wenn ich mir das Blatt anschaue, ärgere ich mich über dieses Wort, denn ich kann daraus den Rassismus der Beamten während der Befragung heraushören, die später am 25. Dezember erfolgte, dieser reflexhafte Rassismus, der alles in allem das Einzige war, was sie in ihrer zu engen Uniform verband, auf dem ihre Einigkeit an jenem Abend beruhte, denn für sie implizierte maghrebinischer Typus keine geographische Information, sondern bedeutete schlicht Schurke, Übeltäter, Krimineller. Auf Wunsch der Beamten hatte ich Reda kurz beschrieben, und auf einmal unterbrach mich der Polizist, der mich befragte: »Ah, Sie meinen, maghrebinischer Typus.« Er triumphierte, er war – vielleicht wäre es zu viel zu sagen überglücklich, aber er lächelte, strahlte, als hätte ich endlich etwas zugegeben, das er mir schon die ganze Zeit lang entlocken wollte, als hätte ich endlich den Beweis erbracht, dass er schon immer im Besitz der Wahrheit war, er sagte immer wieder »maghrebinischer Typus, maghrebinischer Typus«, zwischen den Sätzen wiederholte er »maghrebinischer Typus, maghrebinischer Typus«. Ich schilderte Henri die Vorfälle der Nacht, dann wollte ich mich hinlegen. Er zeigte mir, wo im Zwischengeschoss sein Bett stand, dann ging ich hoch, um zu schlafen. Ich hatte schon lange nicht mehr geschlafen, nur die kurzen Nickerchen mit Reda.

Zwei

Meine Schwester fährt mit ihrem Bericht fort, ich höre zu, sie trinkt Wasser in kleinen Schlucken, sie schluckt, stellt das Glas auf den Tisch, ich höre das Klacken auf dem Resopal:

»Und darüber hat er am meisten gestaunt, er hat gesagt: An dem Morgen bin ich aufgewacht, und da hat es angefangen. Einfach so (ich sagte zu ihr, ich habe auf meinem Bett gelegen, auf dem Rücken, habe die Augen aufgemacht und die Zerrungen gespürt, sie zerschnitten mich wie Messerklingen, schnitten mir überall zwischen die Rippen, mein Rücken fühlte sich so hart an wie ein Schildkrötenpanzer), und da hat er sofort etwas gedacht, und später hat er es weiter gedacht, in den Tagen danach, er könnte von jetzt an nie wieder ertragen, glückliche Leute zu sehen. Völlig idiotisch. So was Dämliches. Was hätte ich darauf sagen sollen. Ich hab nichts gesagt, ich hab so getan, als ob ich mir meine Schuhe anschauen würde. Ganz schön blöd hab ich dagestanden (ich wollte wieder einschlafen, weiterschlafen, aber mir tat alles weh). Und da sagt er zu mir Ich habe alle anderen gehasst, ich weiß, das ist völlig verrückt, Clara, aber als ich an dem Morgen aufgewacht bin, hab ich gedacht, ich hasse alle (und ich dachte: Wie könnt ihr nur).

Also ich hab das ein bisschen komisch gefunden. Denk bloß nicht, ich hätte das normal gefunden. Gut. Ich hab mir halt gedacht Besser, man hört so was, als man ist taub oder was. Aber ich hab mich gehütet, was dazu zu sagen, sonst hätte ich ganz schön was auf die Ohren bekommen. Er hat gesagt Ich hasste alle anderen (und ich dachte: Wie könnt ihr nur, ich war an jenem Morgen aufgewacht, nachdem Reda fort war, mit einem ganz seltsamen Geschmack im Mund und dem Bewusstsein, dass ich nie wieder würde die geringste Spur, das geringste Anzeichen oder Manifestation von etwas würde ertragen können, das wie Glück aussieht, ich hätte den nächstbesten lächelnden Passanten ohrfeigen können, ihn beim Mantelkragen packen und schütteln und anschreien, anbrüllen mögen, sogar Kinder, sogar Kinder, Schwache oder Behinderte, schütteln hätte ich sie mögen und ihnen ins Gesicht spucken und sie zerkratzen bis aufs Blut, bis sie kein Gesicht mehr hätten, bis es um mich herum keine Gesichter mehr gäbe. Ich hätte ihnen die Augen auskratzen mögen, und ich dachte: Wie könnt ihr nur, und ich konnte nichts dafür, ich hätte die Behinderten packen und hochheben und aus ihrem Rollstuhl schleudern mögen, mein Gott, ich konnte kein Lächeln oder Lachen mehr ertragen, draußen auf der Straße, im Park, im Café, nirgends, das Lachen stach mir durch das Trommelfell und verstopfte mir die Ohren, es hallte für den restlichen Tag in meinem Schädel wider, saß in meinem Kopf fest, in meinen Augen, unter meinen Lippen – als wäre das Lachen gegen mich gerichtet).

Und was dann? Also ich denke, er hat sich abgetastet, Haut, Arme, Beine, Schwanz, abgetastet, weil er sicher sein wollte, dass er nicht träumt. Er konnte nicht mal rausgehen, ein bisschen an die frische Luft, um auf andere Gedanken zu kommen. Es ging nicht, draußen war ein Scheißwetter (ich hörte es auf die Fensterscheiben prasseln, es regnete, es hatte seither geregnet, den ganzen Januar über). Er wollte weiterschlafen, aber der ganze Körper hat ihm weh getan, und er hat sowieso daran denken müssen. Er erkannte nichts mehr wieder. Bisschen, wie wenn du hoffst, nach dem Aufwachen bist du wer ganz anderer, wie eine Verwandlung, nur dass er das nicht gewollt hatte, und schon gar nicht so.

Und sogar, wenn es nicht mal in echt war (sogar, wenn es nicht einmal real war). Sogar, wenn er Werbung sah auf einem Bus oder einer Häuserwand, ich mein, diese ganzen Fotos von glücklichen Familien, wie sie am Swimmingpool frühstücken, also was die Reklame so als Glück verkaufen will, da hätte er am liebsten ein Messer hergenommen oder egal was, einen Schlüssel aus der Tasche, und die Gesichter zerschnitten (abfackeln hätte ich das wollen). Er wollte so viele Leute wie möglich mit sich runterziehen, hat er zu mir gesagt (ich hatte zu ihr gesagt: den Schmerz verteilen). Und er hat gesagt Ich weiß schon, das hat überhaupt keinen Sinn (ich dachte: Wie könnt ihr nur, aber nicht nur, wenn ich sie lächeln sah, ich hatte zu ihr gesagt, auch Unglück hätte ich nicht mehr ertragen in den Gesichtern der Leute, als ob es weniger authentisch wäre, weniger wahr, weniger tief, weniger real als meines).

Na ja, sie hat uns ja viel so Geschichten erzählt, unsere Mutter. Vielleicht hat er so reagiert, weil sie derart auf ihn eingeredet hat, als er noch zu Hause gewohnt hat. Keine Ahnung. Neulich in einer Sendung im Zweiten, da hat einer erklärt, wer nie was von der Liebe gehört hat, der würde sich nicht verlieben können. Hm. Wenn ich so was denk, dann denk ich gleich: Mach bloß das Fernsehen aus, Schätzchen, sonst brennen dir noch die Sicherungen durch. Aber dran denken tu ich trotzdem.

Das war, als sie angefangen hat, bei alten Leuten den Haushalt zu machen, bevor wir uns kennengelernt haben. Lässt sich nichts gegen sagen, der Beruf hat Zukunft, alle Jungen werden mal alt irgendwann. Sie hat sie gewaschen und ihnen ihre Tabletten gegeben, und wenn sie wieder zu Hause war, hat sie rumgejammert. Ich schwör dir, wie eine Irre hatte die gekämpft um den Job. Hier bei uns kann eine Frau nicht viel machen, schon gar nicht, seit die Fabrik niemanden mehr einstellt, alles geht den Bach runter, und jetzt heißt es noch von wegen, angeblich soll sie ganz zumachen.«

 

Und mehr noch, es war noch viel schwieriger gewesen, als sie es da sagt, denn unsere Mutter hatte keinen Führerschein und musste sich gegen die Konkurrenz der anderen Frauen behaupten, vieler Frauen, die diesen Beruf ergreifen wollten, teils, um Geld nach Hause zu bringen, teils, um sich von ihren Männern unabhängiger zu machen. Sie hatte kämpfen müssen für ihre Stelle, die wie durch ein Wunder frei wurde, sie ließ ihr Fahrrad herrichten, eigens dafür, und schwang sich darauf, um von einem Amt zum anderen zu fahren, sie zog sich gut an und band sich das Haar straff nach hinten, schminkte sich jeden Tag etwas geschickter als am Tag davor. Dabei sagte unser Vater, er möge das nicht, er machte ihr Vorhaltungen oder wollte es ihr verbieten, »Ohne siehst du viel besser aus«, »Das taugt nur für Huren«, und sie ging Klinkenputzen auf den entsprechenden Ämtern, ging immer wieder hin, wenn sie eine Absage bekam oder spürte, dass ihr die Situation aus den Fingern glitt, wegrutschte, sie wollte ihre Entschlossenheit beweisen, fuhr mit dem alten Fahrrad herum, ob es regnete oder schneite, schrieb einen Brief nach dem anderen, rief da an, um ihre Besorgnis kundzutun, wenn keine Antwort kam. Und dann schaffte sie es, für ein paar Jahre wurde das ihr Beruf. Wenn sie nach Hause kam, schilderte sie uns, wie ihre Alten – wahrscheinlich aus einer Art animalischem Instinkt heraus – sich restlos gehen ließen, als wollten sie die anderen für ihren nahen Tod zahlen lassen, als würde es den Gedanken an den Tod erträglicher machen, wenn sie dafür sorgten, dass sie widerliche Erinnerungen hinterließen; sie zerbrachen alles im Haus, rissen die Tischtücher herunter, schmissen Souvenirs auf den Boden, warfen Geschirr an die Wand.

 

»Und jeden Tag dasselbe. Jeden Tag haben sie mit ihrem Krimskrams geworfen, gerahmten Fotos, Schneekugeln aus Lourdes, Tischsets, die sie aus dem Urlaub mitgebracht hatten. Alles haben sie kaputt gemacht, zertrümmert. Und dazu haben sie herumgeblökt wie die Irren, so was hast du noch nicht gehört und wirst es auch nie hören, so Schreie, die bleiben nicht in den Klamotten hängen, die nimmst du mit nach Hause und kannst sie nicht vergessen, oh, und sogar Frauen, die ihr Leben lang einen auf feine Dame gemacht hatten, immer so hübsch und besonders. Sogar die, glaub ja nicht, die wären besser als die anderen, im Gegenteil. Sogar noch versauter sind die, weil sie endlich loslegen und alle machen können, was sie sich im Leben verkniffen haben. Die krähen dann immer so dreckige Lieder, Still liegt der Puff, die Nutten schlafen oder Wer bumst denn da, wer bumst denn da (so spät an meine Tür), so was in der Art, und an manchen Tagen, den schlimmsten Tagen, da erledigen sie ihre Bedürfnisse überall in ihrer eigenen Bude, hat meine Mutter mir erzählt, auf dem Küchentisch, am Boden, überall hin. Überall haben sie sich erleichtert, und meine Mutter versuchte auf den Knien, ihre alte Schlapphaut im Wohnzimmersessel, ihre Falten sauber zu kriegen mit nichts als einem harten Waschlappen und einer ollen Plastikschüssel, die Körper dermaßen schlapp, als würden sie vom Stuhl quellen oder regelrecht runterfließen. Und die Mutter kam weinend von der Arbeit nach Hause. Die konnte einfach nicht mehr. Und weinte: Stell dir bloß mal vor, die alte Milard hat überall hingeschissen. Hat sich mit dem Esszimmervorhang abgewischt. Ich halt das nicht mehr aus, lang mach ich das nicht mehr mit, lange nicht mehr, sagte sie. Überall Scheiße, ich hab die wegmachen müssen und kann doch den Gestank nicht ab, du weißt ja, Scheiße hab ich noch nie abgekonnt, für mich ist das das Schlimmste, da hab ich mich nie dran gewöhnen können und werd das auch nicht so bald. Am liebsten hätte ich gekotzt, ich hab mich beherrscht, aber leicht war das nicht, beinah hätte ich noch draufgekotzt und mich nie wieder davon erholt – und wir sagten dann zu ihr Na Gott sei Dank, dass du das bald los bist, Mutter. Das hat sie entspannt. Und also Édouard – also nicht in demselben Maß, aber lange nach diesem Weihnachten hat er so Ausraster gehabt, hat alle mit sich in den Abgrund reißen wollen, wie die Alten, um die unsere Mutter sich gekümmert hat seinerzeit. Und er hat zu mir gesagt: Jeden Tag wurde es schwieriger. Am Ende hatte er beschlossen, zu Hause zu bleiben, allein, er rührte sich nicht mehr. Die Fensterläden hat er verrammelt. Sich eingesperrt. Die Hände auf die Ohren gelegt und feste zugedrückt, damit er die Nachbarn nicht mehr durch die Wand hören musste oder das Gerede der Hauswartsfrau im Innenhof von seinem Haus.«

 

An den Tagen, an denen ich ruhiger war, stellte ich mir vor, wie ich unversehens Unbekannte auf der Straße ansprach, irgendwo auf dem Bürgersteig oder im Supermarkt, um ihnen meine Geschichte detailliert zu erzählen, alles. In meinen Visionen ging ich auf den Betreffenden zu, er schrak zusammen, und ich redete los, ebenso vertraut und unverblümt, als würde ich ihn schon immer kennen, ohne mich vorzustellen, und was ich ihm da erzählte, war so hässlich, dass er nicht anders konnte als stehenzubleiben und mir bis zum Ende zuzuhören; er lauschte, und ich beobachtete sein Gesicht. Zum Zeitvertreib stellte ich mir Szenen vor, wo ich das so machte. Das habe ich Clara nicht erzählt, aber diese Phantasie vollständiger Schamlosigkeit und jener Auftritte hielt mich für Wochen innerlich aufrecht.

Ich konnte ja auch nicht aufhören, davon zu erzählen. In der Woche nach Weihnachten hatte ich den meisten meiner Freunde den Vorfall geschildert, doch nicht nur ihnen, auch Personen, denen ich nicht so nahestand, entfernteren Bekannten oder Leuten, mit denen ich bisher kaum gesprochen hatte, manchmal auch nur auf Facebook. Es verärgerte mich, wenn der andere auf mich einzugehen versuchte, allzu viel Empathie zeigte oder mir seine Analyse des Geschehenen servierte, wie als Didier und Geoffroy drauf wetteten, er heiße in Wirklichkeit nicht Reda. Alle sollten davon wissen, aber ich wollte der Einzige in ihrer Mitte sein, der die Wahrheit erkannte, und je mehr ich sagte, je mehr ich redete, desto mehr bestärkte ich mich selbst in der Empfindung, ich sei der Einzige, der wirklich wusste, niemand sonst, im Gegensatz zu der lächerlichen Naivität der anderen. Jedwedes Gespräch lenkte ich irgendwie auf Reda, bezog alles auf ihn, als müsste jedes Thema ganz logisch die Erinnerung an ihn wachrufen.

In der ersten Februarwoche – gerade gut einen Monat nach Weihnachten – traf ich einen Schriftsteller, der mir kurz davor geschrieben und mich zum Mittagessen eingeladen hatte. Ich kannte ihn nicht, sagte aber zu, und ich weiß auch, warum. Ich sollte einen Beitrag für eine von ihm herausgegebene Literaturzeitschrift verfassen (einige Tage später lieferte ich einen aus offenkundigen Gründen sehr schlechten Text ab), und auch ihm gegen