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»Ich habe mich von deinem Vater befreit und dachte, jetzt wird alles besser.« Édouard Louis kehrt zur Geschichte seiner Mutter zurück. Zu einer Frau, die sich schon einmal befreit hat. Von Alkohol, Gewalt und Scham, vom Schweigen. Und deren Geschichte sich zu wiederholen droht, als sie eines Nachts den Sohn anruft, während ihr neuer Partner sie im Hintergrund rüde beschimpft. Schritt für Schritt plant der Sohn mit ihr den Ausbruch, ein neuer Anfang gelingt, aber wie geht das Leben weiter, wenn man Freiheit nie gelernt hat? »Monique bricht aus« ist ein einfühlsames und zartes Porträt einer Mutter, die für ihre Selbstbestimmung kämpft, und eines Sohnes, der sich mit ihr verbündet. Zweier Menschen, die sich einander annähern und behutsam beginnen, eine gemeinsame neue Geschichte zu schreiben.
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Seitenzahl: 116
Veröffentlichungsjahr: 2025
Édouard Louis
»Ich habe mich von deinem Vater befreit und dachte, jetzt wird alles besser.« Édouard Louis kehrt zur Geschichte seiner Mutter zurück. Zu einer Frau, die sich schon einmal befreit hat. Von Alkohol, Gewalt und Scham, vom Schweigen. Und deren Geschichte sich zu wiederholen droht, als sie eines Nachts den Sohn anruft, während ihr neuer Partner sie im Hintergrund rüde beschimpft. Schritt für Schritt plant der Sohn mit ihr den Ausbruch, ein neuer Anfang gelingt, aber wie geht das Leben weiter, wenn man Freiheit nie gelernt hat?
»Monique bricht aus« ist ein einfühlsames und zartes Porträt einer Mutter, die für ihre Selbstbestimmung kämpft, und eines Sohnes, der sich mit ihr verbündet. Zweier Menschen, die sich einander annähern und behutsam beginnen, eine gemeinsame neue Geschichte zu schreiben.
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Édouard Louis wurde 1991 geboren. Sein autobiographischer Debütroman »Das Ende von Eddy«, in dem er von seiner Kindheit und Flucht aus prekärsten Verhältnissen in einem nordfranzösischen Dorf erzählt, wurde zu einem internationalen Bestseller und machte Louis zum literarischen Shootingstar. Seine Bücher erscheinen in 30 Ländern und werden vielfach fürs Theater adaptiert und verfilmt. Édouard Louis lebt in Paris.
Sonja Finck übersetzt aus dem Französischen, Englischen und Spanischen, unter anderem Bücher von Annie Ernaux, Jocelyne Saucier, Wajdi Mouawad und Didier Eribon. Sie wurde 2019 mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet. Sonja Finck lebt abwechselnd in Kanada und Deutschland.
Zitat
I
II
III
Zitatnachweise
»Vor mir sehe ich also das Neue Leben.«
Hélène Cixous: Ève s’évade (Ève bricht aus)
Sie rief mich mitten am Abend an. Sie weinte. Zum Zeitpunkt des Anrufs war ich achtundzwanzig Jahre alt und hatte sie in meinem Leben vielleicht drei- oder viermal weinen hören.
Am Telefon erzählte sie mir, dass der Mann, den sie nach der Trennung von meinem Vater kennengelernt hatte und mit dem sie jetzt in einer Hausmeisterwohnung in der Innenstadt von Paris zusammenwohnte, ihr dasselbe antat wie mein Vater, unter dem sie zwanzig Jahre lang gelitten hatte, dass er sie sogar noch schlechter behandelte; er trank, er trank sehr viel, sobald der Tag zu Ende ging, schenkte er sich einen Whisky nach dem anderen ein, in alte Senfgläser, die er zu Schnapsgläsern umfunktioniert hatte, und wenn er betrunken war, demütigte und beleidigte er sie, beschimpfte er sie
als Schlampe
als Nutte
als dummes Stück Scheiße,
ich hörte ihn im Hintergrund, während sie an diesem Februarabend mit mir telefonierte, er beschimpfte sie selbst jetzt, wo sie durch das Handy zu mir sprach, ich hörte alles mit, ich hörte, wie dieser Mann zu ihr sagte, sie sei nichts als eine Schlampe, eine Nutte, ihr Sohn – ich – sei nichts als eine Schwuchtel, ihre anderen Söhne – meine Brüder – seien nichts als Versager, meine Mutter konnte nicht mehr aufhören, sie konnte die Tränen nicht zurückhalten, sie sagte zu mir: Ich habe mich von deinem Vater befreit und dachte, jetzt wird alles besser, jetzt fängt ein neues Leben an, aber es geht wieder los, es geht wieder von vorne los, sie sagte, unterbrochen von Schluchzern, Ich weiß auch nicht, warum mein Leben so scheiße ist, warum ich immer an Männer gerate, die mich nicht glücklich machen, die wollen, dass ich leide, das hab ich doch nicht verdient,
bin ich denn so ein schlechter Mensch?
Ich begann auch zu weinen.
Ihr Weinen brachte mich zum Weinen.
Ich versuchte, tief durchzuatmen. Ich setzte mich auf das Sofa hinter mir und sagte: »Mach dir keine Sorgen, wir finden eine Lösung« – ein Satz, den mir die Umstände diktierten, den ich vermutlich hundertmal im Kino oder Fernsehen gehört hatte; in den dramatischsten Situationen reagiert man immer am konventionellsten.
Ich dachte fieberhaft nach und sagte dann: »Ich weiß, was wir machen. Du packst ein paar Kleider in eine Tasche und fährst jetzt gleich zu meiner Wohnung.«
Sie konnte bei mir unterkommen; ich wollte nicht, dass sie bei einem Mann blieb, der sie attackierte und ihr Leid zufügte, sie musste sofort da weg, ein Freund, der in Paris war und einen Schlüssel zu meiner Wohnung hatte, würde ihr die Tür aufschließen, natürlich hatte ich meinem Freund noch nicht Bescheid gegeben, aber ich wusste, dass er es tun würde, ich wusste, dass er mir helfen würde – dass er ihr helfen würde. Ich erklärte meiner Mutter, dass ich mich seit mehreren Wochen beruflich im Ausland aufhielt und noch zwei weitere Wochen dort bleiben musste, dass ich nicht sofort nach Frankreich zurückkehren konnte, dass ich aber mein Bestes tun würde, ihr aus der Ferne zu helfen.
Sie antwortete:
»Ich glaube, ich habe sowieso nicht die Kraft, jetzt gleich zu gehen. Ich gehe morgen.«
Ich insistierte: Wenn der Mann, mit dem sie zusammenlebte, so aggressiv war, könne man nicht wissen, wie sich der Abend entwickelte. Was, wenn er körperlich gewalttätig wurde? Wenn er versuchte, sie zu schlagen? Wenn er sich auf sie stürzte? So etwas sei gar nicht so selten, sagte ich, du weißt doch, dass meine Schwester einmal mit Blutergüssen im Gesicht nach Hause gekommen ist, von einem Mann, Loïc, dem Fußballspieler, den ich so hübsch fand, du weißt doch, dass mein Bruder einmal so lang auf eine Frau eingeschlagen hat, bis sie die Polizei gerufen hat, ich habe mein Leben lang und vor allem in unserer Familie Männer erlebt, die Frauen schlagen, ich will nicht, dass dir dasselbe passiert, ich sagte, Ich will nicht, dass dir dasselbe passiert, du musst da weg, du musst da weg, und während ich verzweifelt versuchte, sie zu überreden, tobte der Mann im Hintergrund weiter, Was glotzt du so, glaubst du etwa, ich hab Schiss, nur weil du mich bei deinem Sohn verpetzt,
du Schlampe
du dumme Fotze,
glaubst du etwa, ich hab Schiss vor deinem Sohn, diesem Arschficker,
ich benutzte seine Beleidigungen als Argument, um meiner Mutter zu sagen: Hörst du nicht, wie er mit dir redet, ich bekomme alles mit, du musst da weg, mein Freund Didier wird dir helfen, bitte, Mama, nimm ein paar Klamotten und deinen Hund und bring dich in Sicherheit, bitte, du musst dich in Sicherheit bringen, aber sie antwortete mir mit der müden Stimme eines verletzten Tieres, sie hauchte: Nein, ich kann hier jetzt nicht weg, ich muss erst meine Papiere zusammensuchen, ich hab wichtige Dokumente hier, ich werde warten, bis er schläft und sie dann raussuchen, er weiß, dass er mich in der Hand hat, weil ich meinen ganzen Kram hier habe.
Ich flehte sie an: Die Papiere sind egal, die kann man neu beantragen, wir beantragen sie neu, versprochen, du sagst einfach, sie wären dir abhandengekommen, und wir beantragen sie neu, du musst da weg, sofort, ich sagte: Du hast mich doch angerufen, weil du gespürt hast, dass du in Gefahr bist, sonst hättest du es nicht getan, du musst da weg, noch heute Abend, aber mein Flehen war vergeblich, sie ließ sich nicht umstimmen, ich merkte sogar, dass mein Beharren sie belastete, und mit einem Mal hatte ich Angst, Angst, eine ohnehin schon unerträgliche Situation noch schlimmer zu machen, also versuchte ich nicht weiter, sie zu überzeugen und sie von ihrem Plan abzubringen.
Ich sagte seufzend: »Bist du sicher, dass die Nacht nicht zu schwer wird, wenn du dableibst?«
Sie holte tief Luft. Sie hatte aufgehört zu weinen: »Eine weitere schlimme Nacht macht jetzt auch keinen Unterschied mehr. Er ist sowieso bald so besoffen, dass er einschläft und mich in Ruhe lässt. Mach dir keine Sorgen, ich bin das gewohnt.«
Ich wusste, dass sie es gewohnt war. Ich hatte meine ganze Kindheit über gehört, wie mein Vater sie, wenn er betrunken war,
fette Sau
fette Kuh
oder einfach nur die Fette nannte, vor allem vor anderen Leuten, um sie zum Lachen zu bringen und meine Mutter zu demütigen. Ich wusste, dass sie es gewohnt war, aber es wäre mir lieber gewesen, wenn sie es nicht mehr gewesen wäre.
Sie wiederholte:
»Mach dir keine Sorgen, ich schaffe das schon. Tut mir leid, dass ich dich angerufen habe.«
Ich nahm ihr das Versprechen ab, dass sie am nächsten Morgen so bald wie möglich dort weggehen würde, und sie versprach es. Ich fragte: »Sollen wir weiter telefonieren? Wenn du willst, kann ich die ganze Nacht mit dir am Telefon bleiben.«
Aber das wollte sie nicht.
»Nein. Wenn er merkt, dass ich mit dir rede, wird er noch wütender. Ich ignoriere ihn einfach, bis er betrunken einschläft.«
Ich legte auf und schickte eine Nachricht an Didier. Als sein Name auf meinem Display aufleuchtete, ging ich ran und erzählte ihm, was passiert war. Didier sagte, er könne am nächsten Morgen, egal wie früh, zu meiner Wohnung fahren, um meine Mutter reinzulassen und ihr den Schlüssel zu geben. Ich fragte, ob er auch etwas Bargeld abheben und es ihr vorstrecken könne, damit sie einkaufen gehen, sich Lebensmittel und Hygieneartikel besorgen könne, ich würde ihm das Geld nach meiner Rückkehr nach Paris zurückgeben, und Didier antwortete, natürlich, natürlich, das sei überhaupt kein Problem.
Ich legte das Handy weg, ließ meinen Blick durch den Raum schweifen und wartete. Ich weiß nicht, worauf ich wartete.
Ich versuchte, den Abend so normal wie möglich zu verbringen. Es gelang mir nicht. Ich war sicher, dass jeden Moment eine Katastrophe passieren würde. Ich schrieb meiner Mutter eine WhatsApp: Alles in Ordnung? Wie ist die Lage?
Sie antwortete: Ich komme schon klar. Geh schlafen, mach dir keine Sorgen. Ich stellte mir vor, wie sie sich in einer Ecke des Wohnzimmers zusammenkauerte, während der Mann ganz in ihrer Nähe herumbrüllte; ich stellte mir vor, wie das Handy, während sie darauf herumtippte, ihr Gesicht beschien, wie der grün-violette Schimmer des Displays sie mal in Licht, mal in Dunkelheit tauchte. Ich erinnerte mich, in einem Geschichtsbuch gelesen zu haben, dass man an Frauenskeletten aus der Jungsteinzeit Knochenbrüche gefunden hatte, die vermutlich von häuslicher Gewalt stammten. Das, was meine Mutter erlebte, roch nach steinzeitlichen Grotten, nach jahrtausendealter Gewalt.
Ich schickte ihr eine weitere Nachricht: Schläft er jetzt?
Ich wartete auf ihre Antwort.
Ich stand auf und lief im Zimmer hin und her.
Übertrieb ich? Sah ich alles viel zu dramatisch? Oder hatte sie schon zu oft solche Szenen erlebt und konnte deshalb besser damit umgehen als ich, obwohl sie diejenige war, die attackiert und beschimpft wurde, nicht ich?
Spielte sie die Ereignisse herunter?
Davon ging ich aus.
Mir fiel ein, wie meine Schwester in meiner Jugend eines Abends mit Blutergüssen im Gesicht nach Hause gekommen war und niemand ihre Ausrede geglaubt hatte: Ich habe mir schon wieder den Kopf gestoßen, wie dumm von mir.
Ich erinnerte mich an die Erzählungen meines Vaters über seinen Vater – meinen Großvater –, der seiner Frau, wenn er betrunken war, Stühle ins Gesicht geschleudert hatte, etwas, worüber sie – meine Großmutter – nie gesprochen hatte.
Sagte meine Mutter mir ebenfalls nicht alles?
Irgendwann schrieb sie: Alles gut, er schläft. Morgen bin ich hier weg, das schwöre ich. Geh schlafen.
Ich zwang mich, ihr zu glauben; ich schluckte ein Schlafmittel, ging ins Bett und ließ das Handy lautgestellt. Ich wollte keinen Anruf von ihr verpassen, keine Nachricht. Ich hatte Angst vor einem Unglück und träumte von einem Wunder.
Am nächsten Morgen. Sie wartete, bis ich aufgewacht war und in der App als »online« angezeigt wurde, dann schrieb sie mir: »Ich bin so weit.«
Ich protestierte: »Warum hast du dich nicht früher gemeldet, wenn du schon wach bist?« Sie antwortete: »Ich wollte dich ausschlafen lassen.«
Die ganze Nacht lang hatte ich befürchtet, dass sie einen Rückzieher macht. In meinen Albträumen rief sie mich an, um mir mitzuteilen, dass sie sich umentschieden hatte, dass sie blieb; ich erzählte ihr davon, doch sie schien sich sicher zu sein:
»Nein, es ist vorbei. Ich lasse nicht mehr auf mir herumtrampeln, ich gehe, und zwar für immer.«
Der Mann, bei dem sie lebte, schlief noch, es war der richtige Moment, um sich davonzumachen. Sie hatte die Schubladen durchforstet und alle offiziellen Dokumente, die sie wichtig fand, zusammengesucht: ihr Stammbuch, die Renten- und Krankenversicherungsunterlagen, die Rezepte für ihre Medikamente. Ihren Personalausweis. Sie hatte eine kleine Tasche gepackt, mit T-Shirts, Socken und einer einzigen Hose zusätzlich zu der, die sie am Körper trug; als wir am Vorabend miteinander gesprochen und einen Fluchtplan entworfen hatten, riet ich ihr, nur das Nötigste mitzunehmen, damit sie nicht zu schwer zu tragen hatte und keine Rückenschmerzen bekam.
Ein größerer Koffer, fürchtete ich, hätte ihre Flucht erschwert, der Mann, bei dem sie lebte, hätte sie hören können, er wäre von dem Rumpeln auf der Treppe wach geworden und hätte sie eingeholt, diese Szene wie aus einem Horrorfilm lief in Endlosschleife in meinem Kopf, ich stellte mir vor, wie der Mann ihr eine Hand auf die Schulter legte und sagte, Wo willst du denn hin? Du bleibst schön hier, wie sie erstarrte und wegen ihres riesigen Koffers nicht weglaufen konnte, wie er sie in der Wohnung einsperrte und sie Tag und Nacht bewachte, damit sie keinen Fluchtversuch mehr wagen konnte, ich beschrieb ihr das Bild, meine Angst, dass es Wirklichkeit wurde, und sie versicherte mir, dass sie nur einen Rucksack mitnehmen würde, einen kleinen, leichten Rucksack, und ihren Hund.
Alles war bereit.
»Geht es los?«
»Es geht los.«
Ich bestellte online ein Taxi, aus der Ferne, aus meiner Wohnung in Athen, Tausende Kilometer entfernt von ihrem erschöpften Körper, ihrem gepressten Atem.
Keine fünf Minuten später schickte mir der Fahrer eine Nachricht, er stehe unten vor dem Haus. Sie nahm die Treppe:
»Ich gehe jetzt los.«
Sie ließ so vieles zurück, mehrere Jahre ihres Lebens, Kleidung, Dinge, die sie im Laufe der Zeit gekauft hatte, damit die Wohnung nicht ganz so deprimierend war, wie sie es formuliert hatte.
Ich sah ihren ein Meter achtundfünfzig großen Körper vor mir, auf der Flucht, sah sie auf die Straße treten, ihren Rucksack auf dem Rücken, ihren kleinen Hund unter dem Arm, sah sie mit schnellen Schritten vom Haus zu dem wartenden Auto laufen,