Das Ende von Eddy - Édouard Louis - E-Book

Das Ende von Eddy E-Book

Édouard Louis

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein Befreiungsschlag, ein Aufbruch in ein neues Leben – mit unglaublicher Sprachgewalt erzählt der junge französische Autor Édouard Louis die Geschichte einer geglückten Flucht aus einer unerträglichen Kindheit: inspiriert von seiner eigenen. ›Das Ende von Eddy‹ ist sein Debütroman, der zu einem großen Erfolg und einer der meistdiskutierten Veröffentlichungen des Jahres wurde.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 207

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Edouard Louis

Das Ende von Eddy

Roman

Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungMottoVorbemerkung des ÜbersetzersPicardieBegegnungMein VaterDas GehabeAuf der MittelschuleDer SchmerzDie Rolle der MännerPorträt meiner Mutter am MorgenPorträt meiner Mutter anhand ihrer GeschichtenDas Schlafzimmer meiner ElternLeben der Töchter, Mütter und GroßmütterDie Geschichten des DorfesEine gute ErziehungDer andere VaterDas Misstrauen der Leute gegenüber den ÄrztenSylvain (ein Bericht)Scheitern und FluchtDer SchuppenNach dem HolzschuppenWerdenLauraAuflehnen des KörpersDer letzte Versuch: SabrinaDer EkelErster FluchtversuchAusweg aus der EngeEpilog

Für Didier Eribon

»Zum ersten Mal wird beim Aussprechen meines Namens niemand benannt.«

Marguerite Duras

Die Verzückung der Lol V.Stein

Vorbemerkung des Übersetzers: Der Familienname des Protagonisten und zugleich der Geburtsname des Autors, Bellegueule (»Schönmaul«), ist in der nordfranzösischen Picardie nicht ganz selten und erregt durch seine sprechende Bedeutung Aufmerksamkeit. »Gueule« (Maul, Fresse, Visage, erweitert auch Aussehen, Erscheinung) hat in Frankreich allgemein einen vulgär-herabsetzenden Klang, aber auch eine weiter gefasste Bedeutung, die Anerkennung beinhalten kann, wie es auch in dem Familiennamen der Fall ist, in dem beide Bedeutungsebenen mitschwingen.

Erstes Buch

Picardie

(Ende der 1990er – Anfang der 2000er Jahre)

Begegnung

An meine Kindheit habe ich keine einzige glückliche Erinnerung. Das soll nicht heißen, ich hätte in all den Jahren niemals Glück oder Freude empfunden. Aber das Leiden ist totalitär: Es eliminiert alles, was nicht in sein System passt.

Im Flur tauchten zwei Jungen auf, einer war groß und rothaarig, der andere klein und mit krummem Rücken. Der Rothaarige spuckte mich an: Da, voll in die Fresse.

Die Rotze rann langsam mein Gesicht hinab, gelb und dick, wie der heisere Schleim aus der Kehle von Alten oder Kranken, sie roch stark, übelkeiterregend. Das schrille, scharfe Lachen der beiden Jungen. Bäh, er hat die ganze Fresse voll, der Wichser. Sie rinnt von meinem Auge bis zu den Lippen hinunter, gelangt in meinen Mund. Ich traue mich nicht, sie wegzuwischen. Ich könnte es leicht tun, einfach mit dem Ärmel. Ein Sekundenbruchteil, eine kleine Bewegung, und die Spucke würde meine Lippen nicht berühren, aber ich lasse es sein, aus Angst, es könnte sie beleidigen, aus Angst, sie könnten mir noch mehr zusetzen.

 

Ich hätte nie gedacht, dass sie das tun würden. Dabei war mir Gewalt nicht fremd, alles andere als das. Schon immer, so weit mein Gedächtnis reicht, hatte ich gesehen, wie mein Vater sich vor der Kneipe mit anderen betrunkenen Männern prügelte, ihnen die Nase brach oder Zähne ausschlug. Männer, die meine Mutter zu intensiv angesehen hatten, und mein alkoholisierter Vater wütete los Was starrst du meine Frau an, für wen hältst du dich, Dreckskerl. Meine Mutter wollte ihn beruhigen Lass doch, Chéri, lass doch aber ihre Bitten blieben ungehört. Stattdessen griffen irgendwann die Kumpel meines Vaters ein, so gehörte sich das, als guter Freund, bon copain, hatte man sich an der Schlacht zu beteiligen, meinen Vater von dem anderen zu trennen, dem Opfer seines Rausches, dessen Gesicht blutig geschlagen war. Ich sah, wie mein Vater, wenn unsere Katze geworfen hatte, die neugeborenen Kätzchen in eine Plastiktüte aus dem Supermarkt steckte und sie so lange gegen eine Betonkante schlug, bis sie ganz blutig war und Ruhe herrschte. Ich hatte ihn im Hinterhof Schweine abstechen sehen, dann trank er das warme Blut, das er auffing, um Blutwurst zu machen (das Blut auf seinen Lippen, seinem Kinn, seinem T-Shirt) Das ist das Beste, das Blut direkt aus dem Tier, das verreckt. Die Schreie des sterbenden Schweins, wenn mein Vater ihm Kehle und Halsschlagader durchschnitt, waren im ganzen Dorf zu hören.

 

Ich war zehn. Ich war neu an der Schule. Als sie in dem Flur auftauchten, kannte ich sie noch nicht. Ich wusste nicht einmal ihre Namen, das war unüblich in dieser kleinen Schule mit gerade mal zweihundert Schülern, wo alle rasch Bekanntschaft schlossen. Sie bewegten sich langsam, sie lächelten, ließen keinerlei Aggressivität erkennen, so dass ich erst dachte, sie wollten mich ansprechen. Warum aber kamen zwei von den Großen und sollten das tun, ich war doch ein Neuer? Der Pausenhof funktionierte genau wie der Rest der Welt; die Großen hatten mit den Kleinen nichts zu schaffen. Meine Mutter sagte dasselbe über die Arbeiter Für uns kleine Leute interessiert sich kein Schwein, schon gar nicht die feinen Leute da.

 

Im Flur fragten sie mich, wer ich sei, ob ich wirklich Bellegueule sei, über den alle reden. Sie stellten mir jene Frage, die ich mir dann selbst stellte, monate-, jahrelang,

Bist du der Schwule?

Indem sie die Frage aussprachen, schrieben sie sie mir ein, für immer, wie ein Stigma, jene Male, die die Griechen mit rotglühendem Eisen oder Messern den Körpern von Menschen beibrachten, die aus der Reihe tanzten, die für die Gemeinschaft gefährlich waren. Unmöglich, mich davon zu befreien. Ein Gefühl der Überraschung durchfuhr mich, dabei war es nicht das erste Mal, dass ich das gesagt bekam. Aber an das Schmähwort gewöhnt man sich nie.

 

Ein ohnmächtiges Gefühl, als verlöre ich den Boden unter den Füßen. Ich lächelte – und das Wort der Schwule explodierte in meinem Kopf, hallte wider, pochte in mir mit der Frequenz meines Herzschlags.

Ich war schmächtig, sie mussten meine Möglichkeiten zur Gegenwehr als gering, vernachlässigenswert einschätzen. In jenen Jahren nannten meine Eltern mich oft Skelett,und mein Vater machte immer wieder dieselben Witze Du bist so dünn, du kannst hinterm Schrank durchgehen.Viel zu wiegen war etwas, das man im Dorf wertschätzte. Mein Vater und meine Brüder waren fettleibig, mehrere Frauen aus der Familie ebenfalls, und sie sagten gern Gesund und kräftig, besser als wenn einer so verhungert ist, dass ihn gleich alles umhaut.

 

(Im Jahr danach war ich die Bemerkungen meiner Familie über meine Schmächtigkeit leid und fasste den Plan, dick zu werden. Nach der Schule kaufte ich von Geld, um das ich meine Tante bat – meine Eltern hätten mir keines geben können –, Kartoffelchips und stopfte mich damit voll.

Bislang hatte ich das allzu fette Essen meiner Mutter verweigert, eben aus der Sorge heraus, ich könnte werden wie mein Vater und meine Brüder – sie stöhnte Keine Sorge, davon kriegst du keine Verstopfung im Hintern – aber jetzt futterte ich alles weg, was ich in die Finger bekam, wie diese Insektenwolken, die im Vorüberfliegen ganze Landschaften kahlfressen. Innerhalb eines Jahres nahm ich zwanzig Kilo zu.)

 

Erst stießen sie mich mit den Fingerspitzen an, nicht besonders brutal, sie lachten immer noch, immer noch hatte ich die Spucke im Gesicht, dann immer fester, bis mein Kopf an die Wand des Flurs knallte. Ich sagte nichts. Der eine hielt meine Arme fest, der andere fing an, mich mit den Füßen zu treten, immer weniger lächelnd, immer ernster in seiner Rolle, immer mehr Konzentration zeichnete sich in seinem Gesicht ab, Wut, Hass. Ich erinnere mich: die Tritte in den Bauch, der Schmerz, wenn mein Kopf an die Backsteinwand prallte. Das ist ein Element, an das man nicht denkt, der Schmerz, das plötzliche physische Leiden des verletzten, gequälten Körpers. Man denkt – angesichts solch einer Szene, ich meine: mit einem Blick von außen – an die Demütigung, die Fassungslosigkeit, die Angst, aber man denkt nicht an den Schmerz.

 

Die Tritte in den Bauch nahmen mir die Luft, ich konnte nicht mehr atmen. Ich riss den Mund auf, so weit ich konnte, um Sauerstoff einzuatmen, ich blähte die Brust, aber die Luft wollte nicht hinein; ein Gefühl, als wären meine Lungen unvermittelt mit einem dickflüssigen Saft gefüllt, mit Blei. Mein Körper zitterte, schien mir nicht mehr zu gehören, meinem Willen nicht mehr zu gehorchen. Wie ein alt werdender Körper, der sich vom Geist befreit, von diesem verlassen wird, sich weigert, ihm zu gehorchen. Der Körper wird zur Bürde.

 

Sie lachten, als mein Gesicht vor Sauerstoffmangel rot anlief (das schlichte Gemüt des Volkes, die Einfachheit der kleinen Leute, die gern lachen, die bons vivants). Tränen stiegen mir in die Augen, reflexhaft, mein Blick trübte sich, wie wenn man sich an seiner eigenen Spucke oder etwas zu essen verschluckt. Sie wussten nicht, dass das Erstickungsgefühl die Tränen hervorrief, sie dachten, ich würde weinen. Sie waren unduldsam.

 

Als sie nahe an mich herankamen, konnte ich ihren Atem riechen, diesen Geruch nach saurer Milch und totem Tier. Sie putzten sich wahrscheinlich nie die Zähne, ebenso wenig, wie ich das tat. Die Mütter im Dorf gaben nicht viel auf die Zahnhygiene ihrer Kinder. Der Zahnarzt war zu teuer, und der Geldmangel wurde immer irgendwann zu einer Entscheidung umgedeutet. Die Mütter sagten Egal, gibt ja Wichtigeres im Leben. Ich bezahle diese Nachlässigkeit meiner Familie, meiner sozialen Klasse bis heute mit scheußlichen Schmerzen und schlaflosen Nächten, und viele Jahre später, als ich in Paris auf der École Normale zu studieren anfing, sollten meine Mitstudenten mich fragen Warum sind deine Eltern denn nicht mit dir zum Kieferorthopäden gegangen. Meine Lügen. Ich behauptete, meine Eltern, ein wenig allzu bohemehafte Intellektuelle, hätten sich derart auf meine literarische Bildung konzentriert, dass ihnen meine Gesundheit manchmal aus dem Blick geraten sei.

 

Der große Rothaarige und der Kleine mit dem krummen Rücken schrien jetzt im Schulflur. Die Schimpfworte wechselten sich mit den Tritten ab, und dazu mein Schweigen. Schwuchtel, Schwuli, Schwuppe, Tunte, Schwanzlutscher, Arschficker, oder auch Homo und Gay. Pédale, pédé, tantouse, enculé, tarlouze, pédale douce, baltringue, tapette, fiotte, tafiole, tanche, folasse, grosse tante, tata. Manchmal begegneten wir einander auf der Treppe im Strom der Schüler oder woanders, auf dem Hof. Vor aller Augen konnten sie mich nicht schlagen, so dumm waren sie nicht, sie hätten einen Schulverweis riskiert. Sie begnügten sich damit, dass sie Schwuchtel zischten oder Ähnliches. Niemand ringsum achtete darauf, aber alle hörten es. Ich denke, dass alle es hörten, weil ich mich an das genüssliche Grinsen in den Gesichtern der anderen erinnere, auf dem Hof, auf den Fluren, an die Befriedigung darüber, zu hören und zu sehen, wie der große Rothaarige und der Kleine mit dem krummen Rücken für Gerechtigkeit sorgten, das aussprachen, was alle insgeheim dachten und manche flüsterten, wenn ich an ihnen vorbeiging. Dann hörte ich Schau mal, das ist Bellegueule, der Schwuli.

Mein Vater

Da ist mein Vater. Als er geboren wurde, 1967, gingen die Frauen des Dorfs noch nicht ins Krankenhaus, sondern entbanden zu Hause. Seine Mutter brachte ihn auf dem völlig verdreckten Sofa zur Welt, es war voller Staub, Hunde- und Katzenhaare und Dreck, wegen der immer schlammigen Schuhe, die niemand auszieht, wenn er das Haus betritt. Im Dorf gibt es natürlich asphaltierte Straßen, aber auch viele Feldwege, die immer noch existieren, wo Kinder spielen, unbetonierte Sand- und Schotterwege an den Feldrändern und Gehwege aus gestampfter Erde, die an Regentagen zu schlammigem Treibsand werden.

Bevor ich zur Mittelschule ging, machte ich mehrmals die Woche Fahrradtouren auf den Feldwegen. Ich klemmte kleine Stückchen Karton in die Speichen, damit mein Fahrrad klang wie ein Motorrad, wenn ich in die Pedale trat.

Der Vater meines Vaters trank viel, Pastis und Wein aus Fünf-Liter-Kartons, wie die meisten Männer des Dorfs. Sie kaufen das im Lädchen, das außerdem als Kneipe und Tabakwarenladen dient und wo man auch Brot bekommt. Man kann seine Einkäufe dort zu jeder Zeit tätigen und braucht nur bei den Inhabern anzuklopfen. Sie sind immer für einen da.

Sein Vater trank viel, und wenn er betrunken war, schlug er seine Mutter: Plötzlich drehte er sich zu ihr um und fing an, sie zu beschimpfen, bewarf sie mit allem, was ihm in die Finger kam, manchmal sogar mit einem Stuhl, und dann schlug er sie. Mein Vater war noch zu klein und ein schmächtiges Kind, er sah ohnmächtig zu und fing stillschweigend an, ihn zu hassen.

Das alles hat natürlich nicht er mir erzählt. Mein Vater redete nicht, jedenfalls nicht über so etwas. Das tat meine Mutter, ihrer Rolle als Frau entsprechend.

Eines Morgens – mein Vater war fünf Jahre alt – verschwand sein Vater für immer, ohne Vorwarnung. Das hat meine Großmutter mir erzählt, die ebenfalls die Familiengeschichten weitergab (wiederum die Frauenrolle). Sie lachte noch viele Jahre später darüber, glücklich, dass sie dann endlich von ihrem Mann befreit war Eines Tages ist er in die Fabrik auf Arbeit gegangen und nicht zum Abendessen gekommen, wir haben auf ihn gewartet. Er war Fabrikarbeiter, er brachte das Geld nach Hause, und als er verschwand, stand die Familie mittellos da, kaum genug zu essen für sechs, sieben Kinder.

Das hat mein Vater nie vergessen, er sagte, so dass ich es hören konnte Der dreckige Hurensohn hat uns sitzenlassen, meine Mutter, ohne alles, auf den scheiß ich.

 

Am Tag, als der Vater meines Vaters starb, fünfunddreißig Jahre später, saßen wir im Wohnzimmer, vorm Fernseher, en famille.

Mein Vater wurde von seiner Schwester angerufen, oder aus dem Heim, in dem sein Alter seine letzte Lebenszeit verbrachte. Wer auch immer da anrief, sagte, Dein – Ihr – Vater ist heute früh verstorben, Krebs, aber vor allem eine zerschmetterte Hüfte, nach einem Unfall, die Wunde hat sich entzündet, wir haben alles versucht, aber wir haben ihn nicht retten können. Er war auf einen Baum gestiegen, um Äste zu beschneiden, und hatte den abgesägt, auf dem er selbst saß. Als sie das am Telefon hörten, mussten meine Eltern derart lachen, dass sie eine ganze Weile aus der Puste waren Den Ast absägen, wo er draufsitzt, der Blödmann, das musst du erst mal bringen. Der Unfall, die zerschmetterte Hüfte. Als er das erfuhr, konnte sich mein Vater vor Freude kaum halten, er sagte zu meiner Mutter Ist er endlich krepiert, das Dreckstück. Und: Ich geh eine Flasche kaufen, das will ich feiern. Ein paar Tage später wurde er vierzig, nie war er so glücklich wie in diesen Tagen, er sagte, jetzt habe er zweimal was zu feiern, ein paar Tage nacheinander, zweimal Anlass, mir die Kante zu geben. Ich verbrachte den Abend mit ihnen, so froh wie sie, eben ein Kind, das die Stimmung der Eltern reproduziert, ohne ganz zu begreifen, was eigentlich geschieht (an den Tagen, wenn meine Mutter weinte, tat ich es ihr gleich; ich weinte, ohne zu wissen warum). Mein Vater hatte sogar Limo für mich gekauft und die kleinen salzigen Cracker, auf die ich so wild war. Ich habe nie herausgefunden, ob er nicht doch insgeheim trauerte, ob er bei der Nachricht vom Tod seines Vaters lächelte, so wie man vielleicht lächelt, wenn einem ins Gesicht gerotzt wird.

 

Mein Vater hatte schon früh aufgehört, zur Schule zu gehen. Er wollte lieber abends zum Tanzen in die Nachbardörfer gehen, wobei es unfehlbar irgendwann Keilereien gab, oder er fuhr mit dem Moped herum – mit der pétrolette, wie sie sagten –, bis zu den Teichen, wo er tagelang angelte, oder er verbrachte seine Tage in der Garage, wo er sein Moped tunte, an meinem Bock schrauben, um es schneller zu machen. Als er auf die Mittelschule ging, war er sowieso die meiste Zeit vom Unterricht ausgeschlossen, denn er provozierte und beschimpfte die Lehrer und fehlte ständig.

Über die Schlägereien redete er viel Ich war mit fünfzehn, sechzehn ein echter Kerl, hab mich die ganze Zeit geprügelt, in der Schule und beim Tanzen, wir haben schwer was in die Fresse gekriegt, meine Kumpel und ich. War uns ja scheißegal, so war wenigstens was los, und wenn sie mich damals gefeuert haben in der Fabrik, hab ich mir eben was Neues gesucht, da war das noch nicht so wie heute.

Er war tatsächlich vor der Mittleren Reife von der Schule gegangen, um als Arbeiter in der Fabrik des Dorfs anzuheuern, wo Messingteile hergestellt wurden, wie sein Vater, sein Großvater und sein Urgroßvater vor ihm.

Die echten Kerle verkörperten all die im Dorf so geachteten männlichen Werte, sie verweigerten sich der schulischen Disziplin, für meinen Vater war es von entscheidender Bedeutung, dass er ein echter Kerl war. Wenn er von einem meiner Brüder oder Cousins sagte, der sei ein echter Kerl, dann hörte ich Bewunderung in seiner Stimme.

 

Eines Tages teilte meine Mutter ihm mit, sie sei schwanger. Das war Anfang der 90er. Sie sollte ein Baby bekommen, einen Jungen, mich, ihr erstes gemeinsames Kind. Aus ihrer ersten Ehe hatte sie schon zwei Kinder, meinen großen Bruder und meine Schwester, gezeugt von ihrem ersten Mann, einem Alkoholiker, der an einer Leberzirrhose starb und erst Tage nach seinem Tod aufgefunden wurde, am Boden liegend, halb verwest und von Maden übersät, vor allem die zersetzte Wange, in der sich die Würmer wanden, der Kieferknochen war bloßgelegt, ein Loch so groß wie ein Golfball mitten im wächsernen, gelblichen Gesicht.

Mein Vater war überglücklich. Im Dorf kam es nicht nur darauf an, selbst ein echter Kerl gewesen zu sein, sondern auch seine Söhne zu echten Kerlen zu machen. Als Vater unterstrich man seine Virilität durch seine Söhne, man war es sich schuldig, ihnen die Werte der Männlichkeit zu vermitteln, und das hatte mein Vater auch mit mir vor, einen echten Kerl würde er aus mir machen, sein männlicher Stolz stand auf dem Spiel. Er hatte beschlossen, mich Eddy zu nennen, inspiriert von den amerikanischen Serien, die er im Fernsehen sah (das ewige Fernsehen). Dazu bekam ich die ganze Vergangenheit mit, die zu seinem Namen gehörte, Bellegueule. Ich würde also Eddy Bellegueule heißen. Der Name eines echten Kerls.

Das Gehabe

Die Hoffnungen und Träume meines Vaters machte ich sehr bald zunichte. Offenbar bin ich so geboren, niemand hat je die Ursachen erkundet, den Ursprung, die Herkunft jener unbekannten Kraft, die sich meiner bei der Geburt bemächtigt hatte und mich zum Gefangenen meines Körpers machte. Als ich begann mich zu äußern, sprechen zu lernen, geriet meine Stimme spontan in feminine Lagen, deutlich heller als die der anderen Jungen. Jedes Mal, wenn ich etwas sagte, flatterten meine Hände, sie verdrehten sich und peitschten durch die Luft.

Meine Eltern nannten das Getue, sie sagten Lass doch das Getue. Sie wunderten sich Warum benimmt Eddy sich wie eine Tussi. Sie sagten Reg dich ab, muss das sein, dieses tuntige Gefuchtel. Sie dachten, es sei meine Entscheidung, dass ich mich so benahm, als wäre das eine Ästhetik, die ich kultivierte, um sie zu ärgern.

Dabei war mir selbst ebenso wenig klar, warum ich so war. Dieses Gehabe war stärker als ich, und ebenso wenig konnte ich für meine schrille Stimme. Auch meine Art zu gehen war nicht selbst gewählt, der ausgeprägte, viel zu stark ausgeprägte Hüftschwung, rechts, links, rechts, links, und ebenso die gellenden Schreie, die aus meinem Körper kamen, ich stieß sie nicht selbst aus, sie kamen eigenmächtig aus meiner Kehle, wenn ich überrascht oder froh war oder mich erschrak.

 

Regelmäßig ging ich ins Kinderzimmer, es war dunkel, weil wir kein Licht hatten (nicht genug Geld, um eine echte Beleuchtung zu installieren, eine Deckenleuchte oder auch nur eine nackte Glühbirne: Es gab dort nur eine Schreibtischlampe).

Dann stibitzte ich die Kleider meiner Schwester und stolzierte in ihnen herum, ich probierte alles an, was ich in die Finger bekam: kurze Röcke, lange Röcke, gepunktete und gestreifte Röcke, Träger-T-Shirts, tief ausgeschnittene, abgetragene, löchrige Shirts, und BHs, gepolsterte oder welche aus Spitze.

Diese Darbietungen, deren einziger Zuschauer ich selber war, schienen mir das Schönste, was es überhaupt zu sehen gab. Ich hätte vor Freude weinen mögen, so schön fand ich mich. Mein Herz hätte mir aus der Brust springen mögen, so sehr raste es.

Wenn die atemlose Euphorie dieser Vorstellungen dann abklang, kam ich mir auf einmal idiotisch vor, beschmutzt von den Mädchenkleidern, die ich trug, nicht nur idiotisch, sondern ich widerte mich selbst an, war wie erschlagen von diesem Wahnsinnsanfall, der mich dazu getrieben hatte, mich so zu verkleiden, wie wenn am Morgen, nachdem man über den Durst getrunken hat und die Wirkung des Alkohols abklingt, nur noch eine schmerzliche, beschämende Erinnerung an die lächerliche Trunkenheit und Ausgelassenheit übrig ist. Ich stellte mir vor, wie ich diese Kleidungsstücke zerschnitt, verbrannte oder an einem Ort vergrub, an dem sie nie jemand finden würde.

Auch meine übrigen Vorlieben hatten eine weibliche Orientierung, ohne dass ich gewusst oder verstanden hätte warum. Ich liebte Theater, Schlagersängerinnen und Puppen, während meine Brüder (und in gewisser Weise auch meine Schwestern) Videospiele, Rap und Fußball bevorzugten.

Während ich älter wurde, spürte ich die Blicke meines Vaters immer schwerer auf mir lasten, das Entsetzen, das in ihm aufstieg, seine Ohnmacht angesichts des Ungeheuers, das er gezeugt hatte und dessen Anomalie immer deutlicher zutage trat. Meine Mutter war von der Situation wohl überfordert und gab bald alle Gegenwehr auf. Oft dachte ich, sie würde eines Tages einfach weggehen, eine Nachricht auf dem Tisch hinterlassen, in der sie erklärte, sie könne nicht mehr, so einen Sohn wie mich habe sie nicht gewollt, zu diesem Leben sei sie nicht bereit und verlasse uns jetzt mit gutem Recht. An anderen Tagen glaubte ich, meine Eltern würden mich irgendwann am Straßenrand oder tief im Wald aussetzen, wie man es mit Haustieren macht (und ich wusste, das würden sie nicht tun, das war unmöglich, so weit würden sie nicht gehen; aber ich dachte daran).

 

Hilflos angesichts dieses Geschöpfs, das ihnen so fremd war, versuchten meine Eltern verbissen, mich auf den rechten Weg zu führen. Sie regten sich auf, sagten, wenn ich es hören konnte, Der ist nicht ganz sauber, der ist nicht richtig im Kopf. Meistens nannten sie mich Tussi, und Tussi war das schlimmste Schimpfwort, dass es für sie gab – erkennbar an dem Tonfall, in dem sie es sagten –, das am meisten Abscheu ausdrückte, weit mehr noch als Idiot oder Blödmann. In ihrer Welt galt Männlichkeit derart unangefochten als das Größte, dass sogar meine Mutter von sich selber sagte Ich lass mir nichts gefallen, ich hab schließlich Eier in der Hose.

 

Mein Vater dachte, Fußball zu spielen würde mich kurieren, und so drängte er mich, es damit zu versuchen, wie er es in seiner Jugend getan hatte, wie meine Cousins und meine Brüder. Ich weigerte mich: Schon damals wollte ich viel lieber tanzen, wie meine Schwester. Ich sah mich auf einer Bühne, träumte von Nylonstrümpfen, Pailletten, davon, wie ich der applaudierenden Menge zuwinkte, schweißüberströmt – doch da mir klar war, welche Schande das bedeutete, sprach ich nicht darüber. Ein anderer Junge aus dem Dorf, Maxime, besuchte Tanzkurse, weil seine Eltern ihn aus unerfindlichen Gründen dazu drängten, und musste sich von den anderen verspotten lassen. Sie nannten ihn Ballerina.

Mein Vater flehte mich an Es kostet doch nichts, und dann machst du wenigstens was mit deinem Cousin und deinen Kumpeln aus dem Dorf. Versuch es doch. Bitte, versuch es wenigstens. Ich ließ mich ein einziges Mal darauf ein hinzugehen, viel eher aus Angst vor Repressalien, als um ihm zu gefallen.

Ich ging hin und kam bald wieder nach Hause – lange vor den anderen, denn nach der Trainingseinheit sollten wir uns in der Garderobe umziehen. Und da stellte ich zu meinem Schrecken und Entsetzen fest (ich hätte es mir denken können, alle Welt weiß es), dass es nur Gemeinschaftsduschen gab. Ich ging nach Hause und sagte zu meinem Vater, dass ich nicht wieder hingehen würde Ich mach das nicht, Fußball gefällt mir nicht, das ist nichts für mich.

Wir gingen zusammen zur Kneipe, mein Vater und ich, als er dem Präsidenten des Fußballclubs begegnete, er trug den Spitznamen La Pipe, die Pfeife. La Pipe fragte ihn mit so einem Ausdruck, den Leute aufsetzen, wenn sie etwas wundert, mit hochgezogenen Brauen Warum kommt dein Sohn denn nicht mehr zum Training. Ich sah, wie mein Vater die Augen niederschlug und eine Lüge stotterte Oh, er ist so ein bisschen krank, und in dem Moment durchfuhr mich dieses unerklärliche Gefühl, das ein Kind befällt, wenn es zum Zeugen der öffentlichen Beschämung der Eltern wird, als würde die Welt plötzlich allen Boden unter den Füßen verlieren und ihren Sinn dazu. Ihm war klar, dass La Pipe das nicht glaubte, er wand sich und versuchte es mit Du weißt schon, Eddy ist so ein bisschen komisch, na ja, nicht komisch, aber eben eigen, er sitzt lieber in Ruhe vorm Fernseher. Dann gab er es aber doch noch zu, mit betrübtem Gesicht und ausweichendem Blick Also na ja, Fußball ist halt nicht so seins.