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Anna geht davon aus, dass es ein Menschenrecht ist, sich immer wieder neu zu erfinden. Konventionen sind ihr reichlich egal. In ihrem Austauschjahr in Kalifornien entsteht eine tiefe Freundschaft zu ihrer Gastschwester Nora. Als Nora ungewollt schwanger ist und das Kind abtreiben will, springt Anna ins Vakuum und will, gegen sämtliche Widerstände, die Rolle des werdenden Vaters übernehmen. Dann jedoch überstürzen sich die Ereignisse und am Ende des Buches ist kein Stein mehr auf dem anderen. Anna aber steht. Und wie.
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Seitenzahl: 348
Veröffentlichungsjahr: 2022
Inhalt
[Cover]
Titel
Widmung
Vorbemerkung:
1. Große Gefühle
2. Welten zusammentragen
3. Ewigkeit aufsaugen
4. Nur Stoff, Leute!
5. Ich flieg davon
6. Überschattungen
7. La petite mort
8. Wellengang
9. Drei Monde zu spät
10. Tausend Mal lesen
11. Eine Frage der Würde
12. VERDAMMT NOCHMAL
13. Ein Gefühl von Wissen
14. Was los ist bei dir
15. 15. Tic, tic, tic
16. Indianer weinen nicht
17. Nächste Frage
189. Lebensrollen
19. Alles bereit
20. Wie soll das bloß gehen?!
21. Zu Hause
22. Kapierst du das?
23. Es ist immer da
24. Raus damit, jetzt
25. Blumenkeller summen
26. Wir beide mehr als zwei
27. Bleib noch ein paar Tage
28. Am schwarzen Brett
29. Wattehülle
30. Sinnlose Runden
31. Zum Teufel schicken, weiterlieben
32. Mit oder ohne Effekt
33. Was braucht es denn noch?
34. Geplatzte Träume
35. Feuer unterm Dach
36. Alles, was ich will
37. Dass das Wasser kochen muss
38. Rochade
49. Leere schafft Raum
40. Schatztruhe
41. Auf einem Haufen
42. Der Tag der Tage
43. Ich dreh hier durch
44. Das soll einer verstehen
45. Wohin des Weges
46. Der Nebel wird dicht
47. Hunderte von Fragezeichen
48. Bruderschwester
49. Wundertüte
50. Nicht aber ohne ein Geschlecht
Epilog
Autor:innenporträt
Kurzbeschreibung
Impressum
Für Eva und HaraldEs ist ein Rätsel. Warum trifft man im Lauf seines Lebens auf einige wenige Menschen, warum auf genau die, und auf Milliarden andere nie.
Anna der Vater
Vorbemerkung:
Anna der Vater ist das zweite Buch meiner Trilogie über Anna und ihr buntes, eigenwilliges Leben.
Anna der Vater setzt in der kleinen Museumszelle auf Alcatraz ein, dort nämlich, wo sie im ersten Buch Anna der Indianer erfährt, dass sie sich soeben in ihren bisher unbekannten leiblichen Vater verliebt hat.
Im Herbst 2023 wird, ebenfalls beim Schöffling Verlag, der dritte Teil der Trilogie unter dem Titel Anna der Häuptling erscheinen. Jedes Buch ist als Werk in sich abgeschlossen und kann auch ohne Kenntnis der beiden anderen gelesen werden.
So oder so: Herzlich Willkommen in Annas Welt.
Livia Anne Richard
Das Schweigen der Wände ist laut. In der kleinen Gefängniszelle im Museum auf Alcatraz ist es kalt. Anna sitzt auf dem metallenen Bettgestell und sinniert darüber, dass dieses Bett so manchem Häftling ungastlicher, aber einziger Zufluchtsort war. Dass hier bestimmt auch Unschuldige gesessen haben. Aber eigentlich will sie sich nur ablenken von ihrem inneren Durcheinander. Der Vater also. Mein Vater, denkt sie. Soeben in meinem Leben aufgetaucht. Heute morgen wusste ich noch nichts von ihm, dann kam sein Anruf. Die Welt fühlt sich wundersam verrutscht an. Anna zieht die Beine an, umschlingt sie mit ihren Armen und schaut hinaus aus dem kleinen vergitterten Fensterchen in den dunkelblau gewordenen Tag, der Nebel hat sich verzogen. Sie schaut über das Meer, zur Skyline von San Francisco, welche sich nun in der Dämmerung wie ein Schattenwurf abzeichnet. Nico, der neben ihr sitzt, glücklich, und doch mit der Frage, ob es richtig war, seine Tochter aufzusuchen, und warum er ihr nicht früher, gleich zu Beginn der Begegnung, gesagt hat, wer er ist. Trotz des Unfalls mit dem Fuß. Nur ein paar Stunden ist es her, so lange kennen sie sich nun. Es ist Anna, die dem Schweigen ein Ende setzt.
Es gibt keine Kunstaustellung, oder?
Wie meinst du, Anna?
Du hast gar keine Ausstellung in San Francisco, sondern bist extra aus der Schweiz hierher geflogen, um es mir zu sagen.
Ja. Da ich es dir nicht am Telefon sagen wollte, musste ich einen Grund angeben, warum ich in Kalifornien bin.
Und warum hast du neunzehn Jahre damit gewartet?
Deine Mutter hat mir den Kontakt zu dir bis zu deiner Volljährigkeit verboten. Und nun habe ich durch einen Zufall erfahren, dass du im Ausland bist. Das war meine Chance.
Volljährig werde ich erst mit zwanzig.
Ja. Ich konnte nicht mehr warten. Konnte einfach nicht mehr.
Ich habe gewusst, dass es dich gibt, irgendwo da draußen. Mein anderer »Vater«, Eric, hat mir mal einen Brief geschrieben. Da war ich elf, und er und Mama waren schon länger getrennt. Darin stand, dass er nicht mein leiblicher Vater ist.
Jetzt schaut Anna Nico in die Augen. Alles noch da, sein Blues im Blick, alles noch gleich, es hat sich nichts verändert, es müsste sich etwas ändern, etwas müsste klar werden, zurechtgerückt werden.
Du könntest mich küssen.
Nein, Anna. Ich küsse dich nicht, und ich werde dich nicht küssen.
Und warum?
Ich bin dein Vater, Anna.
Warst du aber die letzten neunzehn Jahre auch nicht.
Das ändert nichts an der Tatsache, dass ich es bin. Und immer sein werde.
Wir heißen nicht mal gleich.
Das ändert nichts an der Tatsache –
Jajaja. Wer sagt, dass ein Vater seine Tochter nicht küssen darf?
Wenn du »richtig« küssen meinst: Das Gesetz.
Ich scheiß auf das Gesetz.
Und die –
Moral.
Warum weißt du, dass ich »Moral« sagen wollte?
Manchmal kann ich Gedanken hören.
Ah ja?
Ist so. Ich höre oft die Worte, bevor sie den Mund verlassen. Aber leider nur bei anderen Leuten. Bei mir selbst nicht, da weiß ich erst, was ich denke, wenn ich gehört habe, was ich sagte.
Das hast du schön formuliert.
Ist nicht von mir.
Das wird dir noch einiges an Fettnäpfen einbringen in deinem Leben.
Was tun wir jetzt?
Wir nehmen das Schiff zurück nach San Francisco.
Nein. Was tun wir mit uns?
Ach so, entschuldige. Ich wünsche mir eine lebendige Vater-Tochter-Beziehung mit dir. Das habe ich mir immer gewünscht. Das ist alles. Und das ist viel.
Wir könnten auch ein Paar sein.
Du bist neunzehn Jahre jung Anna. Du hast dein ganzes Leben vor dir, und ich werde dir nicht im Weg stehen.
Du musst mir ja auch nicht im Weg stehen. Du kannst den Weg mit mir gehen.
Schluss jetzt. Lebe dein Leben. Du hast ein Recht darauf. Bitte, Anna.
Warum hast du Mama verlassen?
Ich habe sie nicht verlassen. Wir waren ja nicht zusammen in dem Sinn. Leider.
Leider?
Ich hätte sehr gern eine Familie mit ihr gegründet. Ich habe deine Mutter geliebt, weißt du. Aber ich konnte nicht. Meine Frau war damals schon krank, sie ist sehr jung krank geworden, und ich, ich war auch noch sehr jung. Aber ich brachte es nicht übers Herz, sie zu verlassen.
Ach, so war das.
Ja, Anna. Vor vier Jahren ist sie gestorben. Es war eine Erlösung. Wir haben zwanzig Jahre lang in Italien gelebt, in einem Haus in Ligurien mit Blick aufs Meer. Und zwanzig Jahre lang gekämpft gegen ihre Leukämie. Mal ging es ihr richtig gut, dann kam wieder ein Rückfall, und die Behandlungen begannen von vorne. Das Klima dort hat ihr gutgetan, sie mochte die Kälte nicht, und ich bin ständig hin- und hergereist, hatte in der Schweiz eine kleine Wohnung. Nun habe ich das Haus in Ligurien verkauft.
Habe ich Halbgeschwister?
Nein. Es gibt nur dich. Meine verstorbene Frau konnte keine Kinder bekommen, obwohl sie sich das sehr gewünscht hätte.
Als Kind hatte ich einen Bruder. Er hieß Ander. Aber den sah nur ich. Er konnte sich nach Belieben herzaubern und wegzaubern und hatte den Körper eines Jungen und den Kopf eines Fuchses. Er war total elegant angezogen, schwarzer Anzug, weißes Hemd. Das letzte Mal ist Ander aufgekreuzt, als ich in meinem Kinderzimmer den Brief von Eric las. In dem er schrieb, dass er nicht mein richtiger Vater ist. Seither nenne ich ihn Eric und nicht mehr Papa. Gesehen habe ich die beiden danach nie mehr, Ander hat sich in Luft aufgelöst, und Eric ist nach Singapur gegangen, arbeitet da bei einer Bank. Der Brief, das war an dem Tag, als meine Nonna beerdigt wurde, er hat ihn mir vorbeigebracht, als wir im Regen vor der Kirche standen. Dann ist er gegangen, er kam nicht mit rein. Nonna wird beerdigt, sie ist zu Asche geworden. Papa wird beerdigt, er ist zu Eric geworden. Mama wird auch beerdigt, sie ist zur Lügnerin geworden. Sie hat Eric und mir die ganze Zeit vorgemacht, wir wären Vater und Tochter, dabei wusste sie – egal. Alles war weg. Da war ich elf Jahre alt und fühlte mich auf einen Schlag uralt. Der heutige Tag fühlt sich genau umgekehrt an. Gewinn. Nicht Verlust.
Das freut mich, dass du das so siehst. Deine Mutter hat es bestimmt gut gemeint, sie wollte dich in einer intakten –
Die Erwachsenen »meinen es immer gut«, wenn sie Scheiße bauen. Und sie bauen vor allem dann Scheiße, wenn sie zu viel denken, sogar für die anderen denken, denken, was für die gut ist.
Bald bist auch du erwachsen.
Will ich aber nicht. Will ich niemals sein. Erwachsene sind Langweiler. Glauben nur, was sie sehen.
Du glaubst an Dinge, die du nicht siehst?
Ich glaube, dass das, was wir sehen, fast nichts ist im Verhältnis zu dem, was noch ist.
Da könntest du recht haben. Den Ander, den musst du mir dann mal genau beschreiben, Anna. Wie er Anna sagt! Dann male ich ihn für dich.
Weiß nicht. Weiß nicht, ob der malbar ist. Kannst du eigentlich vom Malen leben, oder musst du auch noch arbeiten?
Nico grinst. Malen ist Arbeit, Anna. Und ja, ich lebe davon. Sogar ganz gut.
Ich habe von dir bis heute noch nie was gehört. Weder als Vater noch als Maler.
Nico muss lachen.
Ich mag deine unverblümte Ehrlichkeit, Anna. Die Leute sagen sonst immer: Ach so, das bist DU, der Nico bist du also. Fragt man sie, welche Werke sie denn kennen, geht das Schauspiel los, großes Hangeln und Rudern: Also ich kenne dieses da, das ehm, wie heißt es nochmals – das mit dem eh – ah nein, nicht das, das andere, und so weiter.
Jetzt lachen sie beide und schauen sich an. Da ist es wieder. Schwingt wie ein zeitloses Pendel hin und her, von Anna zu Nico und zurück, tief hinab und hoch hinaus.
Was beschäftigt dich in deinem Leben, Anna? Oder womit möchtest du dich beschäftigen?
Warum willst du das wissen?
Die Themen, die einen Menschen beschäftigen, sagen viel über ihn aus.
Anna denkt nach und lässt sich Zeit. Von der ersten Sekunde ihrer Begegnung an hat es überhaupt keine Rolle gespielt, ob einer von ihnen spricht oder ob beide schweigen. Anna findet, ein Miteinander-schweigen-Können sei Gradmesser Nummer eins für Stimmigkeit. In jeder Beziehung.
Weißt du: Als ich klein war und wir Cowboy und Indianer spielten und gegeneinander in den Krieg zogen, da habe ich Regeln aufgestellt. Man darf sich zum Beispiel nicht gegenseitig an den Haaren ziehen, darf einander nicht ins Gesicht hauen. Wenn einer auf dem Boden liegt und sagt ich gebe auf, muss man ihn sofort frei lassen. Man hat Messer, aber aus Karton. Und ich meinte, die Kriege der Erwachsenen sind auch so. Man rauft sich, steht wieder auf, klopft einander den Staub vom Rücken und lacht. Und der Tag, an dem du merkst, dass es Krieg gibt in echt, mit echten Messern und echten Gewehren und Bomben und was weiß ich, das ist kein guter Tag. Bisher hast du den Erwachsenen blind vertraut. Was würden wir von Tieren denken, die sich gegenseitig vernichten und nebenbei die ganze Welt zerstören? Wir würden sagen, dieses Tier hat diesen Planeten nicht verdient, und dieser Planet hat dieses Tier nicht nötig, weg damit! Das beschäftigt mich. Tag und Nacht.
Siehst du, das sagt doch viel über dich aus.
In der Schule fängt es schon an. Diese Gruppen. Dieser Wettkampf. Dieses Die-sind-Scheiße-wegen-dem, aber die sind noch viel mehr Scheiße wegen dem.
Habt ihr das hier mitbekommen, im Herbst stimmen wir ab über eine Schweiz ohne Armee.
Pfff. Auch noch fortschrittlich, im Jahr 1989. Wird sowieso nicht durchkommen. Und wenn, bringt es nichts. Das ist ungefähr so, als wenn du am Strand ein einzelnes Sandkorn nimmst, es nach Hause bringst, in deinen Garten wirfst und dann behauptest: So, hier ist jetzt der Sandstrand. Ein Sandkorn allein macht noch keinen Sand, geschweige denn einen Strand. Zum Frieden auf der Welt wird eine Schweiz ohne Armee ein Sandkorn beitragen. Also nichts.
Aber wenn das andere Länder auch tun, dann sind es mehrere Sandkörner, und dann hast du deinen Strand.
Als Kind wollte ich Friedensstifterin werden. Ich habe mich immer gesehen, wie ich vor Tausenden von Menschen stehe und erkläre, dass Frieden machbar ist.
Friedensstifterin. Das wäre ein schöner Beruf.
Schon, ja. Aber damals glaubte ich auch noch, die Kindergärtnerin Frau Krähenbühl, die für mich keine Krähe, sondern eine Eule war, könne zaubern. Könne aus einem Apfel zwei Sterne zaubern. Damals hatte ich, wie ich vorhin schon gesagt habe, einen Bruder, den nur ich sah. Tja. Aber manchmal kommt sie schon noch zurück. Diese Magie. Wenn man nichts denkt, zum Beispiel.
Wenn ich ein Bild male, erlebe ich manchmal auch so etwas wie einen magischen Moment. Manchmal weiß ich gar nicht, was ich malen werde, beginne einfach mal mit einem Strich oder sonst was – und plötzlich entsteht es ganz von selbst. Meine Hand folgt etwas mir Unbekanntem. Und ich kann einfach staunend zuschauen, was wird. Aber wir waren bei dir. Dann hast du also Cowboy und Indianer gespielt, als kleines Mädchen. Und ich habe mir dich immer auf einer Schaukel mit einer Puppe vorgestellt.
Nein. Keine Puppen. Fußball. Auf Bäume klettern. Verstecken. Aber am liebsten Cowboy und Indianer.
Warst du bei den Cowboys oder bei den Indianern?
Was denkst du?
Ich denke, du warst bei den Indianern.
Stimmt. Ich war der Winnetou. Der Chefindianer. In unserem Quartier gab es außer mir nur Jungs, die wollten immer, dass ich die Squaw bin, aber ich wollte nicht die Squaw sein und habe eines Tages gesagt: Ihr könnt eine Mutprobe für mich ausdenken, und wenn ich die bestehe, bin ich für einen Tag der Winnetou.
Und? Hast du die Mutprobe bestanden?
Mhm. Und ich war für einen Tag der Winnetou, und dann blieb ich es auch. Habe das Amt nicht mehr abgegeben. Es war sofort klar, dass ich ein guter Häuptling bin. Diese Indianer-Energie. Die kann ich mir auch heute noch herholen. Wenn ich sie brauche. Dann bin ich mehr Indianer als Anna.
Später, mit etwa vierzehn, da hatte ich eine Bande. Ich bin der Bandenchef, alle anderen sind Jungs. Jeder kann in die Bande kommen, der will. Ich möchte auch Mädchen, aber die haben Schiss. Wir sind der Dorfschreck. Wir verpassen Leuten einen Denkzettel, die es verdient haben. Wenn sie ungerecht waren zu einem Schwächeren.
Wir machen viel gutes Zeug. Irgendwelche Vollidioten haben das Biotop der Erstklässler zerstört. Alles futsch, die Kaulquappen, die kleinen Fische, alles tot. Die Erstklässler weinen bitterlich, die haben sich solche Mühe gegeben. Sogar die Steine rund ums Biotop haben sie von Hand bemalt. Und wir, unsere Bande, richten in einer Nacht- und Nebelaktion alles wieder her, schöner als zuvor. Sogar neue Kaulquappen siedeln wir an, ich weiß, wo man die findet. Kleine Fische finden wir keine. Aber für die Kinder ist es ja vor allem cool zu beobachten, wie die Kaulquappe einen Frosch aus sich zaubert, du, sag mal, dann soll ich dich jetzt Papa nennen, oder was?
Oh, das war jetzt ein abrupter Themenwechsel. Du bestimmst, wie du mich nennen willst, Anna.
Ich nenne dich lieber Nico. Ich habe schon mal einen Papa genannt, der es dann plötzlich nicht mehr war. Nicht mehr wahr mit h, sogar.
Ich bin es. Und ich werde es von nun an immer sein. Wenn du willst.
Mir doch scheißegal.
Wieder schauen sie sich an. Wieder ist da tiefes Erkennen. Jetzt ist es zu viel. Dem Indianer kommen unfreiwillig die Tränen. Nico schließt ihn in die Arme, der Indianer ist im Tipi.
Ich glaub, ich habe dich vermisst, schluchzt Winnetou.
Ich habe dich auch vermisst, Anna.
Keine Schule heute. Keinen Vortrag. Aber einen Vater. Endlich.
1
Große Gefühle
Ich habe sie verdrängt. Und manchmal sogar kurz vergessen. Aber die Sehnsucht nach ihr frisst mich auf. Ich habe mir immer ein Kind gewünscht, und jetzt ist da mein Töchterchen. Ich sehe es nicht aufwachsen, kann ihm nichts zu Weihnachten schenken, kann ihm nicht das Malen beibringen, kann ihm kein Eis kaufen, kann es nicht trösten, wenn es weint. Ich hätte es anders gewollt. Hätte sie wenigstens besuchen wollen, hätte das Doppelleben einfach weitergeführt zwischen meiner kranken Bea und diesem Leben. Aber Annas Mutter ist der Alles-oder-nichts-Typ. Was ich auch verstehen kann. Besonders mit Kind. Immer habe ich gewusst, wie alt Anna gerade ist. Und dass, wenn sie mal volljährig sein wird, ihre Mutter mir nicht mehr verbieten kann, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Wenn Anna das dann überhaupt will. Jetzt ist es halt etwas früher geschehen.
Ich konnte bisher nicht darüber schreiben: Ihr erster Schultag. Gott. Ich weiß, wo sie zur Schule gehen wird. Ziehe meinen alten Hut ins Gesicht und stelle mich unter einen Baum, so nahe wie möglich am Eingang des Schulhauses und trotzdem so, dass mich niemand erkennt. Ich stehe so weit im Abseits, dass ich sogar an einer Zigarette ziehen kann. Es regnet Bindfäden. Von überallher kommen Mütter mit herausgeputzten Kindern. Vereinzelt auch Väter. Die Aufregung ist greifbar. Ich weiß nicht mal, wie sie aussieht, meine Kleine. Aber da kommt sie!, das muss sie sein, an der Hand der Mutter, der Schulranzen fast größer als sie selbst, ich möchte ihn tragen für sie. Sie hüpft beim Gehen, hüpft wild und mit beiden Füßen in jede Pfütze. Die Mutter schimpft, aber sie lässt sich nicht stoppen, meine Tochter. Alles an meinem Kind strahlt angstfreie Vorfreude aus, sie scheint fast zu explodieren vor lauter Energie. Sie hat lange, dunkelbraune Zöpfe und ein blaues Regenmäntelchen. Blaue Gummistiefelchen. Wie gern würde ich zu ihr hingehen, sie hochheben und in die Arme schließen. Ihr ins Ohr flüstern: Die Lehrer haben nicht immer recht, lass dich bloß nicht verbiegen und verkopfen, hör niemals auf zu hüpfen, und wenn der Himmel für dich grün ist, dann bleib dabei und male ihn grün, mein Kind. Aber ich stehe nur da und schaue. Komme mir vor wie ein Voyeur. Dabei ist es meine eigene Tochter, die ich bestaune.
Das ist das einzige Mal in ihrer ganzen Kindheit, dass ich sie sehe. Die Mutter schön wie eh und je. Wäre Bea nicht krank, ich hätte sie für diese beiden, für dieses Leben verlassen. Loredana hat mich vor die Wahl gestellt, und ich – konnte nicht. Muss diesen Kampf mit Bea durchstehen. Das ist der Sinn einer Ehe, in guten wie in schlechten Zeiten. Da kann man nicht einfach den Bettel hinschmeißen. Jetzt wird mein Töchterchen von der riesenhaften Schuleingangstür verschluckt und ich von meiner Sehnsucht. Ich spüre einen Kloß im Hals, und schon kommen die Tränen. Ich ziehe den Hut noch tiefer ins Gesicht und gehe durch den Regen davon.
Dass ich Anna in Kalifornien suchen gegangen bin, war nicht von langer Hand geplant. Es hat sich so ergeben. In der Zeitschrift Unter uns einer Firma für Nahrungsergänzungsmittel war ein Portrait über mich erschienen, nachdem sie drei meiner Bilder für ihre Eingangshalle gekauft hatten. Sieber, der Personalchef, drückt mir ein Exemplar Unter uns in die Hand. Es ist mir unangenehm, und doch blättere ich aus irgendeinem Grund darin herum, als wüsste ich – und da ist ein Bild von ihr und ihr Bericht. Ihr Bericht über ihren Aufenthalt als Austauschstudentin in den USA. Auf dem Bild ein schmales, drahtiges Mädchen. Strahlend-frech. Ich erkenne sie sofort, noch bevor ich ihren Namen lese. Solche Dinge kann man nicht erklären. Anna. Meine Anna. Es gibt mir einen tiefen Stich ins Herz. Und mir wird klar: Jetzt! Jetzt suche ich sie, ich will sie finden, will ihr alles sagen, will mein Kind anschauen und vielleicht an seinen Haaren riechen. Ich frage Sieber, der glücklicherweise Fan meiner Bilder ist, wer diese Anna sei und wie es komme, dass sie da bei ihnen publiziere. Und er erzählt, sie mache eigentlich eine Lehre bei ihnen, als kaufmännische Angestellte, und habe, allen Widerständen zum Trotz, ein Austauschjahr in den USA durchgesetzt, was eigentlich überhaupt nicht gehe, es bringe den ganzen Lehrlingsturnus durcheinander, aber am Schluss hätten alle entnervt aufgegeben, so etwas Stures habe er noch nie erlebt wie dieses Fräulein, und sie habe sogar ein Präjudiz beim Kaufmännischen Verband erwirkt, ab sofort dürften nämlich auch andere Lehrlinge und nicht nur Gymnasiasten und Seminaristen ein Austauschjahr machen, und sozusagen als milde Strafe für all das Ungemach, das sie mit ihrer Aktion ausgelöst habe, müsse sie nun monatlich einen Bericht schreiben, was sie auch tue, und er gebe zu, die Berichte würden von den Mitarbeitern gern gelesen, sie seien doch recht lebendig geschrieben. Dann gibt es noch mehr Berichte von ihr? Ich würde die gern lesen, ich kenne die Gegend, wo sie ist, lüge ich, und Sieber gibt sie mir. Ich lese sie alle hintereinander weg und erfahre, wo sie wohnt und dass sie bereits bei einer zweiten Gastfamilie ist. Sie schreibt über ihre Schule und was es für sie bedeutet, im Ausland zu sein. Endlich erfahre ich etwas über sie, und zwar von ihr selbst. Ich spüre, wie nah sie mir ist. Ehe ich weiß, was ich tue, sitze ich in einem Reisebüro und buche einen Flug nach San Francisco. Und zwar für den nächsten Tag.
Erst über dem Atlantik wird mir richtig bewusst, wohin die Reise geht. Und ich werde unsicher. Darf ich so in ihr Leben hineinplatzen? Wer weiß, was ihre Mutter über mich erzählt hat. Vielleicht will sie mich gar nicht kennenlernen. Vielleicht schreibt sie nur die positiven Dinge in ihren Berichten, dabei geht es ihr schlecht. Hat Heimweh nach der Mutter. Vielleicht bricht sie zusammen, wenn ich jetzt auch noch komme.
Dann bin ich da. Quartiere mich in einem kleinen Hotel in San Francisco ein und lasse ganze drei unruhige Tage und schlaflose Nächte verstreichen. Die Zweifel werden immer größer. Gleichzeitig wird der Wunsch, sie zu sehen, immer übermächtiger. Dann, am vierten Tag, nehme ich zum tausendsten Mal diesen Zettel in die Hand und wähle endlich die Nummer, die ich über die Auskunft schon am ersten Tag ausfindig gemacht habe. Meine Hände zittern.
Und dann geht sie ran, sie selbst! Damit habe ich nicht gerechnet. Ich habe damit gerechnet, dass jemand aus der Familie das Telefon abnimmt und nicht die Austauschschülerin. Und mein so schön geübter Satz: Hello here is Nico from Switzerland, can I please talk to Anna?, war für die Katz, denn jetzt ist sie dran, und ich kann es nicht am Telefon sagen, so etwas sagt man nicht am Telefon. Wenn ich ihr jetzt erkläre, wer ich bin, hängt sie bestimmt auf. Also erzähle ich ihr nur, ich sei Kunstmaler aus der Schweiz. Ihre Lehrfirma habe gerade Bilder von mir gekauft, und nun hätte ich eine Kunstaustellung in San Francisco. Der Personalchef Sieber lasse herzlich grüßen. Und ich hätte ein paar Ausgaben von Unter uns für sie, mit ihren Berichten. Sie ist skeptisch, logisch, soll sie auch, mein Kind soll ja nicht jedem dahergelaufenen Fötzel einfach so trauen! Aber sie willigt ein, dass wir uns treffen. Ich sage, in ca. einer Stunde bin ich da, Morgenverkehr in San Francisco und so weiter. Ich bin nervös. Ich war noch nie so furchtbar nervös. Viel zu schnell fahre ich in die Foot Hills, wo sie wohnt.
Dann stehe ich vor der Haustür. Klingle. Werde es gleich sagen, gleich zu Beginn, dann ist es raus. Werde sagen: Guten Tag, Anna, ich bin hergekommen, um dir zu sagen, dass ich dein Vater bin. Das ist fair, dann weiß sie, was ich weiß, und kann mich zum Teufel schicken, wenn sie will. Aber es kommt nicht so weit. Sie reißt die Tür auf und klemmt ihren Fuß darunter ein. Ich kann die Tür etwas anheben und es gelingt mir, den Fuß meiner Tochter zu befreien. Jetzt hüpft sie auf einem Bein, kurz habe ich das Bild vom ersten Schultag vor mir, da ist sie auch gehüpft. Diesmal aber helfe ich ihr, sich auf den Boden zu setzen, und schaue mir ihren verletzten Fuß an. Sie scheint sich zu schämen für das, was ihr da passiert ist. Spricht erst nur zu ihrem Fuß. Dann schaut sie kurz hoch, mir direkt in die Augen. Und noch einmal. Länger. Staunend. Schaut mich an, als wäre ich eine Offenbarung. Dieser Blick. Da hätte ich es sagen sollen, spätestens da, ich sehe doch, wie sie schaut! Und ich kann nichts anderes tun als zurückschauen. In die Augen meines Kindes.
Das Muttermal. Sie hat es an genau derselben Stelle wie ich, über der Oberlippe. Sie hat es von mir. Und meine braunen Augen und die dunklen Haare. Und meine Grübchen, die hat sie auch.
Die Zeit bleibt stehen. Und ich warte zu lang, sie will nach Alcatraz, aus dem Nichts kommt diese Idee. Ich würde ihr keinen Wunsch abschlagen, fast keinen. Im Auto will sie rauchen, übersieht einfach das große Rauchverbotsschild am Handschuhfach des Mietwagens, meine Anna. Und ich will es nicht während der Fahrt sagen, schon gar nicht auf dem Highway. Weiß ja nicht, wie sie reagiert. Womöglich aus dem fahrenden Wagen springt oder was weiß ich anstellt. Ich spüre so deutlich, dass alles ganz anders ist, als ich es mir neunzehn Jahre lang vorgestellt habe. Sage ihr erst in dieser schäbigen Museumszelle auf Alcatraz – warum nur wollte sie unbedingt nach Alcatraz mit mir?! –, dass ich ihr Vater bin. Und da ist es schon zu spät. In der kurzen Zeit hat sie Gefühle für mich entwickelt, die nicht sein dürfen. Ich wusste, wen ich treffen würde. Sie war völlig unvorbereitet. Und sie ist neunzehn, da verliebt man sich so schnell.
Ich weiß nur, dass ich sie nicht noch einmal verlieren will. Ich will ihr ab jetzt ein richtiger Vater sein. Einer, der da ist, wenn sie mich braucht.
Wie oft hatte ich mir vorgestellt, wie unsere erste Begegnung verlaufen könnte. Aber, dass sie mich als Mann und nicht als Vater sehen könnte, darauf wäre ich nie gekommen. Eines aber ist jetzt schon sicher: Wir sind eine Einheit und werden damit klarkommen. Müssen.
2
Welten zusammentragen
Der Mietwagen windet sich die Serpentinen zum Haus von Annas Gastfamilie hinauf. Anna ist ganz zappelig, ob wohl schon jemand zu Hause sei. Sie hätte solch einen Drang, allen am liebsten sofort den neugewonnenen Vater vorzustellen. Stella ist zu Hause, ihr Auto steht vor der Tür. Nico parkt.
Nico?
Ja?
Weißt du, warum ich Ja gesagt habe zu einem Treffen?
Nein.
Weil ich heute in der Schule einen Vortrag hätte halten sollen.
Worüber denn?
Über das Drunk-and-Drive-Problem der amerikanischen Jugend im Vergleich zur Schweiz.
Oh, und du warst nicht vorbereitet?
Doch. Ein bisschen. Aber ich hatte keinen Bock. Wollte lieber schwänzen.
Nico grinst.
Manchmal muss man auch Dinge tun, auf die man keinen Bock hat.
Falls das ein Versuch sein soll, mich jetzt noch zu erziehen: Vergiss es. Daran ist schon Mama gescheitert.
Ich will dich nicht erziehen.
Dann halt die Klappe.
Du!
Kommst du noch mit rein?
Ins Haus?
Ja klar!
Wen könnte ich denn kennenlernen? (Er hat sich die Namen alle gemerkt. Aber er hört Anna ganz einfach gern zu.)
Nora ist noch in der Schule. Das ist meine Gastschwester. Ein Jahr jünger als ich, aber das merkt man nicht. Wir sind beste Freundinnen. Am Anfang war ich im Gästezimmer, und jetzt teilt sie sogar ihr großes Wasserbett mit mir. Einfach so. Die ersten paar Monate war ich bei einer anderen Gastfamilie, aber das hat nicht funktioniert. Als die Mutter ausgezogen ist, wollte der Vater mir an die Wäsche. Hier ist alles super. Ich liebe das Wasserbett und Pancake, das ist der Kater, der schläft auch bei uns.
Stella, Noras Mom, ist Scheidungsanwältin. Ich kann gut mit ihr. Und dann gibt es noch John. Noras Stiefvater, Stellas zweiter Mann. Der kaut immer so auf der inneren Unterlippe rum, schau!, so macht er, wenn er sauer ist. Er handelt mit Maschinen, die aus ungenießbarem Wasser trinkbares filtern. (Anna hätte es kürzer machen können. Stella ist da, das ist ihr Wagen, die anderen noch nicht. Aber sie trägt gerade ihre Welten zusammen.)
Hat dieser erste Gastvater – also, was hat er gemacht?
Na ja. Nicht so wichtig.
Anna, ich bin für dich da. Endlich. Du kannst mir jederzeit alles anvertrauen.
Danke. Nicht nötig. Ich habe ihm ja gesagt, dass er nach alt riecht.
Oh. Dann ist er dir definitiv zu nah gekommen.
Ja. Ist er. Aber nicht so nah, dass ich – egal. Also was ist, kommst du jetzt mit rein?
Nein, ich glaube, besser nicht, Anna.
Warum?
Du sollst Zeit haben, das erst mal alles zu verdauen. Und ich will auch deine Gastfamilie nicht »überfallen«.
Dann kommst du ein anderes Mal. Wie lange bleibst du hier?
Ich werde in einer Woche zurückfliegen.
Oh. Nur eine Woche? Du könntest ja auch hier malen?
Nein, Anna. Es ist besser so.
Wenn das Jahr um ist, kann ich dann bei dir wohnen?
Und deine Mutter?
Ich habe all die Jahre mit Mama gelebt und noch keinen Tag mit dir. Jetzt möchte ich mit dir leben.
Wir werden sehen, Anna. Du bist noch ein halbes Jahr in den USA, da kann sich noch vieles verändern.
Ja, aber nicht, dass ich mit dir leben möchte. Hast du Platz für mich?
Ich habe ein Haus und bin da allein. Es gibt jede Menge Platz. Aber weißt du, wenn du dich dann mal so richtig verliebst in einen Mann, wirst du mit ihm wohnen wollen, nicht mit deinem Vater. Und das ist auch gut so.
Gibst du mir deine Telefonnummer?
Vom Hotel in San Francisco oder in der Schweiz?
Beide.
Anna kommt zur Tür herein. Irgendwie fühlt sich alles anders an als zuvor. Aber das ist ja auch logisch. Man hat nun aus dem Nichts einen richtigen Vater und muss sich erst mal neu erfinden.
Ja, Stella ist da. Das spürt man sofort. Das Haus atmet ruhiger, wenn Stella zu Hause ist. Sicher ist sie im Schlafzimmer und hat sich kurz hingelegt, wie sie das seit kurzem oft tut nach der Arbeit. Anna zieht die weißen Ballerinas aus und betrachtet ihren verletzten Fuß. Sie spürt noch immer seine Hände darauf. Vaters Hände. Vater. Papa. Wie wunderschön. Ich werde ihn Papa nennen. Aber nur für mich allein, im Geheimen. Papapapapapa.
Mama hat also gewusst, wer der Vater ist. Brandschwarz hat sie gelogen.
Jetzt kommt Nora.
Oh, you are already here, hi! School was a bitch, be glad you weren’t there! How was your day with your friend?
Phuu. Jetzt geht es los, denkt Anna. Und sagt: Sei leise, deine Mom schläft.
Did you have fun?, bohrt Nora.
Pssst. Lass uns auf die Terrasse gehen und eine Zigarette rauchen, flüstert Anna.
O.K.
Leise schleichen sie nach unten und öffnen die Terrassentür möglichst geräuschlos.
Jetzt erzähl!, sagt Nora. Hast du Zigaretten?
Hier. Ich habe heute morgen ein bisschen geflunkert, flüstert Anna. Ich kannte den Mann gar nicht, der angerufen hat.
Du hast gesagt, es sei ein Freund von dir aus der Schweiz?
Ja, ich wollte keine Diskussionen mit dir, du siehst ja immer gleich schwarz.
Tue ich nicht. Ich mache nur ab und zu Gebrauch von meinem Gehirn, im Gegensatz zu dir.
Haha. Nun, er war kein Freund. Ich kannte ihn nicht. Aber es hat sich so vertraut angefühlt am Telefon und
Was? Du bist mit einem wildfremden …?
Wart jetzt. Ich sage doch, es hat sich vertraut angefühlt.
Nora verdreht die Augen, wie nur Nora die Augen verdrehen kann.
Dazu kam, dass ich keinen Bock auf den doofen Vortrag hatte.
Du wirst ihn nachholen müssen, sagt Mr Brown. Aber erzähl jetzt!
Also, du bist zur Schule gefahren, und ich warte hier auf diesen Nico und suche zwei gleiche Socken, und schon klingelt es, ich bin überhaupt noch nicht ready und irgendwie scheißnervös und habe keine Ahnung warum, und dann renne ich nach oben, schaue durch den Spion und sehe niemanden, reiße die Tür auf und klemme meinen Fuß unter der Scheißtür ein. Auf jeden Fall ist er mein Vater.
Nora hat jetzt eine sehr lange Zündschnur.
Wie, äh was?
Mein Vater halt.
Der Typ ist dein Vater?
Yep.
Also, du meinst das jetzt nicht irgendwie im übertragenen Sinn?
Nope.
Er ist dein leiblicher Vater?
Yep.
Aber, du hast doch erzählt, du wüsstest nicht, wer er ist, du hättest ihn nie gesehen?
Jetzt schon.
Der Maler ist dein Vater?
Woher weißt du, dass er Maler ist?
Hast du heute morgen nach seinem Anruf erwähnt!
Ach so. Ja. Er ist Maler. Toll, nicht? Ich habe einen Künstler zum Vater.
Und wie, also warum?
Er durfte keinen Kontakt mit mir haben. Meine Mutter hat es ihm verboten. Jetzt wäre es noch immer verboten, weil wir in der Schweiz erst mit zwanzig volljährig sind. Er ist extra hergereist, um es mir zu sagen.
Holy shit. Und wie geht es dir damit?
Eigentlich ganz gut. Es ist nur so: Wegen meines verletzten Fußes hat er mir erst auf Alcatraz gesagt –
Ihr wart auf Alcatraz? Why the hell would he take you to Alcatraz it is so fucking boring there?
Ich wollte da hin.
Du? Warum?
Weiß auch nicht. War so eine Spontanidee. Es hat sich richtig angefühlt.
Ach, du mit deinen Gefühlen.
Eben. Er hat mir erst auf Alcatraz gesagt, dass er mein Vater ist. Und das war dann etwas spät.
Ich verstehe nicht.
Mich hat’s etwas erwischt.
Pause. So ein langes Gesicht hat Nora noch nie gemacht.
Wait, du willst mir jetzt aber nicht erzählen, dass du dich in deinen eigenen …?
Da wusste ich ja noch nicht, dass er es ist.
Aber, in dieser kurzen Zeit?
Auf den ersten Blick. Also auf den zweiten, um genau zu sein.
Holy Shit.
Das hast du schon mal gesagt. Ich habe mich ja auch gleich wieder entliebt. Also als Tochter nicht, aber sonst.
Wo setzt du das Komma, nach Tochter oder nach nicht?
Hä?
Egal. Man kann sich nicht einfach so entlieben, Anna.
Ich schon. Ich kann alles, was ich will.
Ich glaub es nicht. Holy Shit!
Du hast auch schon abwechslungsreicher geflucht.
Noch eine Zigarette. Den Rauch in die Baumkronen blasen. Nachdenken. In gänzlich unbekannten Gewässern strampeln, ohne schwimmen zu können.
Hast du es ihm gesagt?
Im Auto. Auf dem Weg nach San Francisco, bevor wir nach Alcatraz gingen.
Und was hast du gesagt?
Dass ich glaube, dass ich ihn liebe.
Das hast du gesagt? Aber da kanntet ihr euch ja erst –
Eine halbe Stunde.
Du spinnst.
Hat sich halt so angefühlt.
Und wie hat er reagiert?
Er wollte nichts davon wissen.
Na hoffentlich!
Aber da wusste ich noch nicht, warum.
So was kann auch nur dir passieren, Anna, echt.
Danke, du mich auch.
Shit, das ist ja …
Ich will bei ihm leben, wenn ich wieder in der Schweiz bin.
Anna, hell! Wenn du solche Gefühle für ihn hast, dann ist es doch schlauer, wenn du ihn überhaupt nicht mehr siehst.
Ich habe ihn neunzehn Jahre lang vermisst, ohne es zu wissen. Weiß ich erst seit heute in der Zelle.
In der Zelle?
In der Zelle auf Alcatraz.
Ich raffe es nicht. Du weißt schon: Es ist total illegal, mit dem eigenen Vater zu schlafen.
Wer sagt denn, dass ich mit ihm schlafen will, are you crazy?
Gut. Immerhin. Aber das ist alles TOTAL absurd. Mit neunzehn will man doch von zu Hause ausziehen. Und du willst bei deinem Vater einziehen.
Ja und? Wer sagt, was richtig ist? Andere hatten ihren Vater in ihrer Kindheit. Ich nicht.
Ja, verstehe ich ja. Aber vielleicht willst du ja mal Familie und –
Vielleicht ja. Irgendwie. Aber ich möchte keine Mutter sein.
Warum?
Weiß nicht. Hast du noch Zigaretten?
Hier. Ich schon. Ich möchte gern irgendwann Mutter sein.
Ja. Du wirst bestimmt eine fantastische Mom.
Anzünden. Rauchringe in die Baumkronen schicken. Zählen, wer mit einem Zug mehr Ringe blasen kann, und dabei lachend fast ersticken.
Dann: Auftritt Stella. Auftritt ohne Ankündigung, aus dem Nichts. Auftritt, wie ihn nur Muttertiere beherrschen.
Ah, da seid ihr ja, wie war die Schule?
Beide verstecken ihre brennende Zigarette reflexartig hinter dem Rücken.
Sagt mal, Girls, könnte es sein, dass ihr Zigaretten raucht?
Nein.
Doch, natürlich seid ihr am Rauchen!
Nur ein bisschen.
Was heißt ein bisschen?! Macht sofort diese Zigaretten aus, ihr wisst doch genau, dass ich das nicht dulde! Wie lange geht das schon so?
Nur heute. Nur so zum Probieren. Anna war auf Alcatraz, weisst du, und …
Wie, Anna war auf Alcatraz?!
Und das, ehm, Päckchen lag da auf dem Boden.
Auf Alcatraz?! Du hast also die Schule geschwänzt, Anna?
Nur ein bisschen.
Hört auf mit eurem »ein bisschen«! Man kann nicht ein bisschen rauchen, man kann nicht ein bisschen die Schule schwänzen, man kann nicht ein bisschen lügen, und man kann auch nicht ein bisschen schwanger sein! Rauchen ist Rauchen, Schwänzen ist Schwänzen, Lügen ist Lügen und schwanger ist schwanger! (Stella ist sauer. Das merkt man daran, dass sie dann die Tendenz hat, für einen an sich übersichtlichen Sachverhalt viele Worte zu verlieren.)
Und warum wusste ich nichts davon, dass du nach Alcatraz willst?
Das wusste ich heute morgen selbst noch nicht.
So, jetzt mal der Reihe nach, young Lady!
Ich habe heute meinen richtigen Vater kennengelernt. Darum.
Bitte, was?
Nora stupst Anna in die Seite, und Anna, die das Herz auf der Zunge trägt und gleich die ganze Geschichte nachliefern will, interpretiert das so: Halt den Ball flach. Das mit den Gefühlen weglassen. Unbedingt.
Anna tut, wie ihr gestupst wird. So eine Freundin, eine Freundin, deren Stupsen man hören kann, das geht über alles.
Und erzählt vom Telefonat am frühen Morgen und dass Nico ein erfolgreicher Kunstmaler ist und sogar ein Haus hat, was in der Schweiz für einen Künstler alles andere als normal ist, und dass er mit ihr eigentlich nicht in Kontakt treten darf, weil Mama es so will und sie selbst und ihren ersten Vater, Eric, jahrelang im Glauben ließ, sie seien Vater und Tochter, und jetzt habe Nico herausgefunden, dass sie in den USA sei, und heute nun habe sie ihn kennengelernt.
In Stellas Gesichtsausdruck hat die Wut dem Staunen Platz gemacht. What a story!, sagt sie endlich. Aber so wie du strahlst, scheint es ja eine gute Geschichte zu sein.
Eine sehr gute Geschichte, sagt Anna.
3
Ewigkeit aufsaugen
Ich bin kein Mann der großen Worte. Ich male lieber oder schreibe Tagebuch. Brauche meine Ruhe. Ich sage nicht viel, weil es nicht viel zu sagen gibt. Schließlich bin ich hier nur für ein kurzes Gastspiel. Man muss sich ja nicht dauernd das Maul über das Wetter, das Essen, die Steuern, den Fußball und über Gott weiß was zerreißen. Alle Welt nimmt sich so blödsinnig ernst, die Flughöhe stimmt nicht. Und am Ende sind sie überrascht, weil es wirklich das Ende ist, denn damit haben sie sich nicht befasst. Stattdessen hat man sich ein Leben lang über den Baum des Nachbarn und sonstigen Kleinkram geärgert. Aber man kann die Leute ja auch reden lassen und auf Durchzug schalten.
Bei Anna ist es etwas anderes, von ihr will ich alles wissen. Wie sie denkt, wie sie fühlt, alles an ihr interessiert mich. Sie kann quasseln, klar, das ist auch normal in dem Alter. Aber bei ihr, da schwingt immer noch etwas mit. Auch wir haben über das Wetter geredet, sie hat mich gefragt, wie es gerade sei in der Schweiz, und ich habe gesagt: Saukalt und regnerisch, und sie: Dass das Wetter in der Schweiz scheiße ist, das ist ausgleichende Gerechtigkeit. Man kann nicht das reichste Land der Erde sein und dann noch meinen, dass die Sonne scheint.
Meine Anna. Ich sollte nicht immer schreiben meine Anna. Sie ist nicht meine Anna. Sie gehört mir nicht. Aber ich schreibe es halt trotzdem gern. Weil ich es jetzt kann. Sie ist so einzigartig. Aber wahrscheinlich sehe ich sie auch durch die Vater-Nachholbedarf-Brille. Die ist doppelt rosa. Ich hänge an ihren Lippen, will alles wissen über sie. Ich bin froh, dass sie mich nicht mehr gebeten hat, sie zu küssen. Und auch nicht versucht hat, mich zu küssen. Ich will sie nicht abweisen, aber es würde mir nichts anderes übrigbleiben. Ich liebe sie so sehr, wie man sein Kind liebt. Ich hoffe, nein, ich glaube, sie hat akzeptiert, dass wir Vater und Tochter sind. Und Schluss.
Gestern waren wir zusammen in San Francisco. Ich kaufe ihr in einem Laden, der von Indianern betrieben wird, einen zweiteiligen beigen Anzug mit türkis-braunem Indianermuster und Fransen. Und Mokassins mit Perlen drauf. Es gibt wunderschöne Sachen für Frauen, aber nein. Die will sie nicht mal anprobieren. Sie will ihn gleich anbehalten, diesen Anzug, und die Leute auf der Straße schauen ihr nach, was in San Francisco unüblich ist, nicht wie in der Schweiz, wo die Leute schon glotzen, wenn einer eine Blume im Haar trägt. Anna, der Indianer. Sie scheint davon nichts zu bemerken.
Wir fahren an die Pazifikküste. Wie sie staunen kann! Schau, Nico, wie das glitzert und schäumt. Da, schau, die Welle, die da kommt, die ist ja riesig! Jetzt, jetzt, jeeeetzt überschlägt sie sich! Minutenlang kann sie dastehen. Vergisst sich, vergisst mich, vergisst, den Mund zu schließen. Öffnet sich mit allen Poren diesem Moment, als wolle sie ihn für die Ewigkeit aufsaugen. Und ich? Ich denke: Alles abspeichern, Nico!, Déformation professionnelle. Und plötzlich sieht sie mich an und sagt: Du schaust ja ganz komisch, als ob du dir beim Schauen zuschauen würdest, überlegst du, ob du das dann malen willst? Unglaublich.
Dann reißt sie sich den Indianer vom Leib und ruft währenddessen: Nicht gucken, Nico! Wie jeder Teenager es seinem Vater zurufen würde, wenn er sich auszieht. Ich bin so erleichtert, dass sie das ruft. Schaue weg. Sie stürzt sich in die Fluten, das Wasser ist doch kalt!, sie bleibt viel zu lange drin, ich rufe gegen den Wind, sie solle herauskommen, winke, rufe, sie werde sich eine Erkältung holen, und endlich kommt sie zurück, und kurz sehe ich: Einen Tochter-Körper. Schon wieder erleichtert.
Der Tochter-Körper schlottert, die Lippen sind bläulich, die Zähne klappern aufeinander und ich: Dir ist ja ganz kalt, und sie: Sssssicher isssst mmmmir nicht kkkkalt.
