Freiheit für alle - Richard David Precht - E-Book

Freiheit für alle E-Book

Richard David Precht

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Beschreibung

Wie werden wir in Zukunft arbeiten? Und warum eigentlich?

Nichts, was die Arbeit anbelangt, ist heute mehr selbstverständlich. Das zweite Maschinenzeitalter selbstlernender Computer und Roboter revolutioniert unseren Arbeitsmarkt. Es definiert neu was »Arbeit« ist, und wozu wir eigentlich noch arbeiten. Schon seit einiger Zeit arbeiten wir in den westlichen Industrieländern nicht mehr, um unsere Existenz zu sichern. Wir arbeiten, um zur Erwerbsarbeitsgesellschaft dazuzugehören.

Doch wenn »Vollbeschäftigung« nicht mehr der Jackpot ist, den es zu knacken gilt, sondern »Selbstverwirklichung«, dann ändern sich die Lose in der Tombola: Arbeit zu haben wird nun nicht mehr automatisch als Glückszustand bewertet, denn es kommt immer stärker auf die Qualität und die genauen Umstände des Arbeitens an. Aus der Erwerbsarbeitsgesellschaft, wie wir sie bisher kannten, wird eine Sinngesellschaft. Eine gigantische Transformation, und sie ist längst im Gange.

Richard David Precht zeigt uns, wie die Veränderung der Arbeitswelt unser Leben, unsere Kultur, unsere Vorstellung von Bildung, und letztlich die ganze Gesellschaft verändert – und welche enormen Gestaltungsaufgaben auf die Politik zukommen, insbesondere der Umbau unseres Sozialsystems hin zu einem bedingungslosen Grundeinkommen.

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Buch

Es wird zur Selbstverständlichkeit, dass nichts, was die Arbeit anbelangt, heute mehr selbstverständlich ist. Das zweite Maschinenzeitalter selbstlernender Computer und Roboter revolutioniert nicht nur unseren Arbeitsmarkt, es definiert auch neu, was »Arbeit« ist und wozu wir eigentlich noch arbeiten. Was ist, wenn Maschinen mehr als genug erwirtschaften, sodass es auf die menschliche Arbeitsleistung volkswirtschaftlich gar nicht mehr ankommt? Die alte Schicksalsgemeinschaft von Arbeiten und Leben/Überleben ist damit aufgebrochen. Ohne die Lohnarbeitsgesellschaft des ersten Maschinenzeitalters bleibt der Arbeitsbegriff, wie wir ihn seit dem 19. Jahrhundert kennen, nur als Wurmfortsatz zurück, funktionslos und überdauert. Denn: Wenn »Vollbeschäftigung« nicht mehr der Jackpot ist, den es zu knacken gilt, sondern »Selbstverwirklichung«, dann ändern sich die Lose in der Tombola. Arbeit zu haben wird nun gesellschaftlich nicht mehr automatisch als Glückszustand bewertet, sondern es kommt immer mehr auf die Qualität und die Umstände des Arbeitens an.

Richard David Precht zeigt, wie die Veränderung der Arbeitswelt unser Leben, unsere Kultur, unsere Vorstellung von Bildung und letztlich unsere ganze Gesellschaft verändert – und welche enormen Gestaltungsaufgaben auf die Politik zukommen, nicht zuletzt der Umbau unseres Sozialsystems hin zu einem Bedingungslosen Grundeinkommen.

Richard David Precht

Freiheit für alle

Das Ende der Arbeit wie wir sie kannten

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by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Redaktion: Regina Carstensen

Bildnachweis S. 270: Zip Lexing / Alamy Stock Photo, Image ID: W2G16Y

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

JT ∙ Herstellung: cf

ISBN 978-3-641-25445-2V002

www.goldmann-verlag.de

Wenn jedes Werkzeug auf Geheiß oder auch vorausahnend das ihm zukommende Werk verrichten könnte, wie des Dädalus Kunstwerke sich von selbst bewegten, oder die Dreifüße des Hephaistos aus eigenem Antrieb an die heilige Arbeit gingen, wenn so die Webschiffe von selbst webten, so bedürfte es weder für den Werkmeister der Gehilfen noch für die Herren der Sklaven.

Aristoteles, Politik 1253b, 4. Jahrhundert v. Chr.

Wenn Maschinen all das produzieren, was wir brauchen, wird das Ergebnis davon abhängen, wie die Güter verteilt werden. Jeder Mensch könnte ein Leben im Luxus führen, wenn der von Maschinen produzierte Wohlstand aufgeteilt wird, oder aber die meisten Menschen werden furchtbar arm, wenn sich die Besitzer der Maschinen gegen eine weltweite Verteilung wehren. Bislang deutet der Trend auf die zweite Möglichkeit hin, da der technische Fortschritt die Ungleichheit weiter befeuert.

Stephen Hawking, Reddit, 2015

Inhalt

Einleitung

DIE REVOLUTION DER ARBEITSWELT

Der große Umbruch Was kommt auf uns zu?

Die große Beunruhigung Ökonomen recherchieren die Zukunft

Die große Entwarnung Ökonomen futurisieren die Vergangenheit

Zur Kritik der empirischen Vernunft Lässt sich der Umbruch berechnen?

Naturgesetz und Menschenwelt Kompensation oder Freisetzung?

Vier Sieger und ein Todesfall Der Arbeitsmarkt der Zukunft

In der ökonomischen Sackgasse Der Zwang zum Umdenken

WAS IST ARBEIT?

Arbeit Ein Bündel von Widersprüchen

Labour und Work Die Geburt der Arbeitsgesellschaft

»Arbeit« statt »Mensch« Der ökonomische Arbeitsbegriff

Arbeitsfrust und Arbeitsidentität Der paradoxe Arbeitsbegriff der Sozialdemokratie

Die Befreiung der Arbeitswelt Der libertäre Arbeitsbegriff

ARBEIT UND GESELLSCHAFT HEUTE

Dabei sein ist alles Wofür wir heute arbeiten

Labour isn’t working Woran die alte Arbeitsgesellschaft zerbricht

Das feste Geländer Was uns die Arbeit bedeutet

Retten oder ersetzen? Die Humanisierung der Arbeit

Das Richtige tun Die Sinngesellschaft

Existenzsicherung in der postindustriellen Gesellschaft Das Ende des Umlagesystems

DAS BEDINGUNGSLOSE GRUNDEINKOMMEN

Hunger im Paradies Das Paradox des Fortschritts

Volk ohne Land Der Ursprung des Grundeinkommens

Grundeinkommen reloaded Sozialutopismus im Angesicht des industriellen Fortschritts

Instrument oder Grundrecht? Das liberale Grundeinkommen

Freiheit, Nachhaltigkeit, Systemwechsel Das links-humanistische Grundeinkommen

Grundeinkommen heute Koordinaten für ein realistisches BGE

Die faulen anderen Anthropologische Einwände gegen das BGE

Geld für Millionäre? Soziale Einwände gegen das BGE

Wer soll das bezahlen? Ökonomische Einwände gegen das BGE

Evidenz im Experiment? Warum Modellversuche nicht viel nützen

Von Utopia nach Realia Wie wird das Grundeinkommen umgesetzt?

WIE WIRD DIE SINNGESELLSCHAFT GEBILDET?

Selbstbefähigung Bildung im 21. Jahrhundert

Die Neugier bewahren Zeitgemäße Ziele der Pädagogik

Zwölf Prinzipien Die Schulen der Zukunft

ANHANG

Anmerkungen

Ausgewählte Literatur

Einleitung

Das Versprechen war bombastisch. Aber der Autor, der es sich von einem Ghostwriter zu Papier bringen ließ, war es in gewisser Weise auch. 1957 erschien mit Wohlstand für Alle die wohl gewaltigste Zusicherung, die je ein bundesdeutscher Politiker den Bürgern gemacht hatte.1 Vertraute man dem damaligen Wirtschaftsminister Ludwig Erhard, dann würde die in Deutschland neu eingeführte »soziale Marktwirtschaft« immer weiteren Bevölkerungsschichten zu Wohlstand verhelfen und jegliche Armut für immer ausrotten. Das »Wirtschaftswunder« verwunderte und verzauberte die Deutschen so maßlos, dass Erhard selbst später immer wieder zum »Maßhalten« aufrief.

Tatsächlich explodierte in den Fünfziger- und Sechzigerjahren der materielle Wohlstand in Deutschland in ungekannter Geschwindigkeit. Soziale Marktwirtschaft erschien geradezu als eine Zauberformel, etwas, das einen Perpetuum-mobile-Kapitalismus mit menschlichem Gesicht hervorbrachte, der durch Wettbewerb fast wie von Zauberhand zu immer neuen Segnungen führte. Die Weltkriegsgeneration, befangen zwischen schlechtem Gewissen und blütenweiß gestärkten Hemden, transzendental obdachlos zwischen Kriegsgräberfürsorge und Heinz-Erhardt-Witzen, unfähig zu trauern, mitgerissen im diffusen Aufbruch des »Wir sind wieder wer« und der Wiederaufrüstung, dabei weiterhin eingezwängt in die Sechstagewoche mit langen Arbeitszeiten, sah sich völlig überraschend befördert: vom großen Kriegsverlierer zum noch größeren Nachkriegsgewinner. Die Deutschen mochten die Welt nicht mit ihren Wunderwaffen erobert haben, mit ihrer Wirtschaftswunderwaffe, der sozialen Marktwirtschaft, würde es ihnen gelingen. Der Mercedes-Stern mochte das Hakenkreuz ersetzt haben, der schwarze Mief des Katholizismus den braunen der Nazis, an der deutschen Tüchtigkeit jedenfalls bestand kein Zweifel. Und »Wohlstand für Alle« – das war nicht nur der Glaube an die unbegrenzte Arbeitskraft und Arbeitsleistung der Deutschen; es war nicht weniger als die programmatische Erfüllung eines bis dahin für völlig unrealisierbar gehaltenen Menschheitstraums. Es ist genug für alle da! Alles, was es braucht, ist die Tüchtigkeit, sich ein Stück vom großen Kuchen zu verdienen.

Tatsächlich endet in den Sechzigerjahren die Ökonomie der Knappheit in sämtlichen Industrieländern der westlichen Welt. Seit Menschen Zivilisationen gebildet hatten, war eigentlich nie genug für alle da gewesen. Nun aber ernteten die Industrieländer die Früchte des technischen Fortschritts und der immer weiter gesteigerten Produktivität. Alles Weitere würde von nun an nur noch eine Verteilungsfrage sein. Wie viel steht jedem einzelnen Bürger zu, wenn prinzipiell genug für alle da ist? Dabei bleibt eines im Dunkeln. Die Überflussgesellschaft erzeugt nicht nur genug Güter für jeden, sondern sie stellt zugleich mehr und mehr infrage, worauf ihr historischer Erfolg beruht: dass möglichst alle, die erwerbsfähig sind, auch lange und viel arbeiten. Doch wenn dies immer weniger erforderlich ist – wie sollen die Menschen sich dann dauerhaft als Teil einer Erwerbsarbeitsgesellschaft definieren? Wie sollen sie alle weiterhin jene Rolle ausfüllen, die über Jahrhunderte für die meisten ein Gräuel war, lebenserhaltend durch den Lohn, aber zugleich lebenszerstörend durch das Schuften und Sich-Abrackern bis zum häufig frühen Ende? Erst die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte dem massenhaften Sich-kaputt-Arbeiten in den meisten Industrieländern ein Ende bereitet und dafür ungezählte Routineberufe im Dienstleistungssektor geschaffen. Mit einem Wort: Sie ersetzte viel harte Arbeit durch viel langweilige Arbeit.

Doch auch dieser Sprung ist nicht von Dauer. Das zweite Maschinenzeitalter immer leistungsfähigerer Informationsmaschinen pflügt das Terrain heute ein weiteres Mal grundlegend um.2 Und kein Faktor verändert unsere Vorstellung von dem, was Arbeit ist, so sehr, wie technisch-ökonomische Revolutionen. Sie sind die wahren Feldherren, die unbesiegbaren Weltveränderer, die zu neuer Weltgestaltung auffordern, ob sie dies nun ausdrücklich wollen oder nicht. Man kann nicht die Produktionsweise von Gütern und ihre Verteilung, die Arbeitsprozesse, Tätigkeitsfelder und die Kommunikation revolutionieren, ohne die ganze Gesellschaft zu revolutionieren.

So war es immer in der Geschichte, und so geht es weiter. Die erste industrielle Revolution war nicht nur der Beginn der Industrieproduktion mithilfe der Dampfmaschine; sie war zugleich der Anfang vom Ende einer fast zweitausend Jahre währenden Herrschaft von Adel und Kirche. Sie erforderte, dass sich die Ökonomie aus der Staatsgewalt löste und verselbstständigte. Dafür erzwang sie Nationalstaaten, weniger als Lenker der Wirtschaft, denn als große und einheitliche Binnenmärkte. Mit der ersten industriellen Revolution entstand, noch bedeutender, der Entwurf eines neuen Modells von Gesellschaft: die bürgerliche Leistungs- und Lohnarbeitsgesellschaft. Sie führte in wildem Schlingerkurs zum Siegeszug der parlamentarischen Demokratien und der Rechtsstaatlichkeit, der bürgerlichen Institutionen und Verwaltungen und später zur staatlichen Daseinsvorsorge und Gesundheitspolitik. Die zweite industrielle Revolution, die elektrifizierte Massenproduktion, beschleunigte diesen Prozess, provozierte zunächst zwei Weltkriege und ermöglichte langfristig eine nie zuvor gekannte Bildung der Bevölkerung, einen modernen Sozialstaat, eine Hyperkonsumgesellschaft und ein stets steigendes Anspruchsdenken.

Auch die Umwälzung, die hier und heute vor unser aller Augen geschieht, ist gewaltig, gewaltiger als manch einer denken will. Wir leben nicht in einem gesellschaftlich endgültigen Zustand nach dem Ende der Geschichte, in dem technisch-ökonomische Revolutionen nichts anderes bedeuten als schlichtweg Effizienzsteigerung und neues Wachstum, selbst wenn Politiker und Ökonomen in Deutschland dies allzu oft glauben oder glauben wollen. Ganz im Gegenteil: Dass der Entwurf neuer Ideengebäude stagniert und floskelhafte Beschwörungen den Ewigkeitswert des Status quo verkünden, gehört zum festen Inventar jeder Umbruchzeit! Kaum ein Monarch witterte in der Dampfmaschine das langfristige Ende seiner Herrschaft. Man denke ebenso an die ökonomischen Vordenker der auf die Landwirtschaft gestützten französischen Feudalgesellschaft.3 Behaupteten sie nicht beim Anblick von Dampf- und Spinnmaschine umso trotziger, dass einzig das Agrarwesen dauerhaften Produktionsfortschritt verspreche, die Blase der industriellen Revolution bald verpufft sei und eigentlich alles beim Alten bliebe? Zwanzig Jahre später pflügte die Französische Revolution nicht nur ganz Frankreich um, sondern mit ihr eine überdauerte Welt.

Es gibt viel Grund zu vermuten, dass die digitale Revolution eine soziale Revolution enthält, größer als alles, was die Menschen in der Bundesrepublik bislang erlebt haben. Dass alles weitgehend beim Alten bleibt, während Computer und Roboter die globale Arbeitswelt revolutionieren, ist äußerst unwahrscheinlich. Doch man muss wohl erst ein Stück zurücktreten, um den Wandel, die Veränderungen und die Geschwindigkeit, mit der er sich vollzieht, tatsächlich zu begreifen. Auf der einen Seite überschätzen Menschen allzu gerne die kurzfristigen Folgen neuer Technologien. Google Glass, der Minicomputer am Brillengestell, der 2014 die Welt verändern sollte – wo ist er geblieben? Die Nachfrage nach Sprachassistenten in der Wohnung, wie Amazons Alexa, stagniert. Dass in wenigen Jahren in allen Metropolen der Welt nur noch voll automatisierte RoboCars fahren, dürfte keiner mehr glauben. Auch der 3D-Drucker hat die enormen Erwartungen an seine Einsatzmöglichkeiten bislang nicht erfüllt. Und dass Elon Musk in den nächsten Jahren zum Mond oder Mars fliegen wird, nimmt er sich vermutlich selbst nicht mehr ab.

Auf der anderen Seite neigen wir dazu, die langfristigen Folgen neuer Technologien dramatisch zu unterschätzen. Es sind die feinen, aber entscheidenden Veränderungen unserer Lebenswelt und unseres Lebensrhythmus, der Austausch der Werte, der Wandel von Autoritäten und Institutionen, die Verschiebungen im Zusammenleben und in den Sozialstrukturen sowie der Wechsel in der politischen Kultur. Sie ereignen sich so schleichend, dass wir sie oft gar nicht als Folge technischer Revolutionen wahrnehmen. Erst im Nachhinein wird uns das Ausmaß klar. Von 1900 bis 1920, der Zeit der rasanten Elektrifizierung und wegweisender Ingenieursleistungen, wurden nicht nur die elektrische Beleuchtung, die Automobile, die Flugzeuge, die Hochhäuser und das Telefon zur Selbstverständlichkeit – das ganze Leben, zumindest in den großen Städten, wurde neu erfunden, das betraf die Mode, die Musik, die Rolle der Frauen, den Umgang mit Sexualität sowie psychische Krankheiten. Das Weltbild der Physik und der Philosophie änderte sich, die Malerei war kaum noch wiederzuerkennen, und der Film kam auf. Schriftsteller schrieben völlig andere Bücher und gingen neu mit Sprache um, der Lärm nahm zu und die Geschwindigkeit.

Wie gering dagegen sind die Veränderungen in Zeiten ohne große technische Neuerungen. Was änderte sich schon zwischen 1970 und 2000 in der Tiefenstruktur und im Lebensrhythmus der Menschen in den Industrieländern? Erst das Internet und das Smartphone entfachten eine völlig neue Dynamik. Während zwischen 1970 und 2000 die Dinge vor allem mehr wurden – mehr Geld, mehr Autos, mehr Mode, mehr Konsumgüter –, wurden viele Dinge nun plötzlich ganz anders. Das Internet und das Smartphone haben die Arbeitswelt revolutioniert, gänzlich neue Formen von Firmen hervorgebracht, unsere Aufmerksamkeit umgeleitet, unsere Allerreichbarkeit eingefordert, ja, unsere gesamte Orientierung in der Welt verändert. Ungekannte Bedürfnisse wurden freigesetzt, mal Lustbefriedigung und mal Zwangshandlung. Das Mitteilungsbedürfnis explodierte enorm. Der Aufmerksamkeitsdrang vieler Menschen entfesselte sich von allen Konventionen und manifestiert sich in öffentlich gezeigter Schönheit, politischen Statements und ebenso öffentlich gezeigtem Hass. Und die Alltagsrevolution ist noch lange nicht zu Ende. Was wir heute Straßenverkehr nennen, Routine-Berufe, Banking, Verwaltung, medizinische Versorgung, juristische Beratung und so weiter – vieles davon dürfte in zwanzig Jahren völlig anders sein als jetzt.

Die große Umwälzung ist in vollem Gange. Und sie betrifft mehr und mehr das Soziale. Veränderungen im Sozialsystem hinken der Veränderung der Technik und der Arbeitswelt immer mit einem gewissen Abstand hinterher. Von der Inventur der Dampfmaschine durch James Watt bis zur flächendeckenden Ausbreitung von Gewerkschaften vergingen mehr als hundert Jahre. Und noch länger dauerte es, bis man tatsächlich erste nennenswerte soziale Absicherungen schuf. Die zweite industrielle Revolution brauchte in Deutschland mehr als ein irrlichterndes halbes Jahrhundert, bis die soziale Marktwirtschaft ihre Früchte verteilte. Doch man muss kein Prophet sein, um zu sehen, dass es diesmal, in den rasant beschleunigten Gesellschaften des 21. Jahrhunderts, wesentlich schneller gehen wird.

Was aber wird dann aus unserem Begriff der Arbeit, jenem Erbe der christlichen Religion, das seit fast zwei Jahrtausenden, mit Bedeutungen aufgeladen und mit Sinnansprüchen befrachtet, die Anleitung unseres Daseins liefert und unsere Leistungsgesellschaften zusammenhält? Was ist, wenn die Sinnsuche weitgehend außerhalb der Religion stattfindet und Arbeit sich danach befragen lassen muss, ob sie den immer höheren Sinnansprüchen im 21. Jahrhundert genügt? Dass Arbeit heute kein existenzieller Auftrag mehr ist und auch nicht der Zweck des menschlichen Daseins, muss niemandem in der jüngeren Generation mehr erklärt werden. Das wichtigste Gut ist heute nicht die Arbeit, sondern die Freiheit, über seine Zeit zu verfügen, um sie nach eigenem Gutdünken zu gestalten.

Die Vorstellung, was Wohlstand ist, hat sich gewandelt. Sie ist beileibe nicht mehr die gleiche wie zu Erhards Zeiten. Wohlstand ist heute nicht einfach materielle Absicherung, Geld und Status wie in den Fünfzigerjahren. Kühlschrank und Kachelbad, Fernseher und Auto, blank geputzte Schuhe, Rasen, Chrom und Kies – die Insignien des guten alten Wohlstands haben das Zeitliche gesegnet. Die Gesundheit am Arbeitsplatz, Healthfood in der Veggie-Kantine, Rückzugsraum und Kuschelecke, bei Bedarf mehr und mehr Homeoffice sind neu dazugekommen. Ob Bergbau oder Stahlindustrie – Deutschlands Wohlstand gründete lange nicht auf dem Wohlbefinden derjenigen, die ihn erwirtschafteten. Doch wie anders ist es heute! Wohlstand und Wohlbefinden beginnen ineinander zu verschwimmen. Man steht sich so gut, wie man sich fühlt. Und die Korrekturen am Arbeitsbegriff, wie wir ihn kannten, sind keine Aufhübschungen des Alten, sondern sie sind der Anfang von etwas ganz Neuem.

Zum Wohlstand für alle gehört heute deutlich mehr Freiheit als je zuvor in der Geschichte der Industriegesellschaften. Schier endlose Arbeitstage, wie zu Erhards Zeiten, passen heute ebenso wenig zu einer zeitgemäßen Vorstellung von Wohlstand wie der unbegrenzte Raubbau an der Natur mit seinen freiheitseinschränkenden Folgen für künftige Generationen. Anders als in den Fünfzigerjahren ist Wohlstand heute kein rein ökonomischer Begriff mehr, sondern ebenso eine Frage gesunder Psychen und Körper, einer intakten Umwelt, eines gelingenden Miteinanders, der kulturellen Teilhabe und der Erfüllung von Sinnbedürfnissen.

Die Utopie der Industriegesellschaften – immer mehr ökonomischer Wohlstand um nahezu jeden Preis – bekommt dadurch tiefe Risse. Brauchen wir noch unbedingtes Wachstum? Optimieren wir dadurch nicht täglich das Falsche? Die Hoffnungen und Sorgen sind heute nicht mehr die gleichen wie in der Nachkriegsgeneration. Aus dem Ehrgeiz nach einem unbedingten Mehr werden zunehmend Verteilungsfragen. Warum profitieren manche enorm, andere dagegen kaum vom Überfluss? Aus der Frage nach der Versorgung mit elementarem Bedarf ist eine andere geworden: Welche materiellen Luxusbedürfnisse wollen wir überhaupt noch weiter wecken? Aus der Frage nach der Beherrschung der Natur zum menschlichen Nutzen entspringt die Frage: Ist der Nutzen nicht größer, wenn wir sie in Zukunft stärker verschonen? Zu der Frage, was ich arbeite, gesellt sich, untrennbar verbunden, jene Warum und wozu arbeite ich das, was ich arbeite?

Was vormals rational, ja, die Rationalität schlechthin war, erscheint auf einmal als irrational. Alles nur unter wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu betrachten, ist heute keineswegs mehr selbstverständlich. Einerseits scheint uns die ökonomische Rationalität in den Abgrund zu führen, in die Zerstörung der Lebensgrundlagen auf unserem Planeten. Und andererseits kennen Menschen in den fortgeschrittenen Gesellschaften des 21. Jahrhunderts noch andere gleichrangige Motive neben dem wirtschaftlichen Erfolg. Die Dominanz jenes Wertesystems, das die klassische Erwerbsarbeitsgesellschaft mehr als zweihundert Jahre lang bestimmt hat, geht heute zu Ende. Fortschritt trägt seinen Wert nicht mehr in sich, weil er Fortschritt ist, sondern er hat vernünftiger und sinnvoller Fortschritt zu sein. Und dieser neue, ganz andere Fortschritt befragt den früheren Fortschritt: Ist sein Antrieb zu unbegrenztem Wachstum der Volkswirtschaft und zur unbegrenzten Wohlstandsversorgung mit materiellen Gütern tatsächlich vernünftig?

Für die Zukunft der Arbeit ist dieses Hinterfragen von größter Bedeutung. Viele ungeschriebene und geschriebene Imperative der klassischen Erwerbsarbeitsgesellschaft erscheinen heute nicht als vernünftig, sondern als weit verbreitete Mythen des Industriezeitalters. Müssen wir tatsächlich jeden Wochentag einer Erwerbsarbeit nachgehen, egal welcher? Erbringt nur derjenige eine Leistung, der für Geld arbeitet? Ist Tüchtigkeit, die Tugend der Industriegesellschaft, ihrem Wesen nach nicht unabhängig von Entlohnung? Die Prinzipien der Erwerbsarbeitsgesellschaft, wie wir sie bisher kannten, verschwinden nicht über Nacht. Doch sie sind längst ausgehöhlt und unterspült und verlieren nach und nach ihre allgemeine Sinnfunktion.

Für viele Menschen – allen voran Ökonomen und Politiker – erwächst daraus ein großes Dilemma. Ihre Konstanten werden zu Variablen, egal ob angestrebte Vollbeschäftigung, alternativloses Wachstum oder die bedingungslose Kompensation von Arbeitslast durch Konsum. Doch wenn all diese Axiome wegfallen, wer liefert dann noch Prognosen über eine messbare, berechenbare und vorhersehbare Zukunft? Hielt sie sich bislang nicht an rein ökonomischen Kennzahlen fest wie an einem Geländer? Die monumentale und oft überfordernde Frage für die Ökonomie ist nicht mehr, wie es weitergeht, sondern wie es sinnvoll weitergeht und weitergehen soll – eine Frage, vor der die westlichen Gesellschaften in dieser Komplexität noch nie standen.

Der Sprung von der Arbeitsgesellschaft zu einer, wie ich vorschlagen möchte, Sinngesellschaft, zwingt dazu, die Wirklichkeit schärfer zu sehen und umfassender zu verstehen, als Ökonomen dies bisher taten. »Faktoren«, »Größen«, »Ressourcen« und »Wachstumsraten« sind Koordinaten des ersten Maschinenzeitalters; sie entstammen der Blütezeit einer ökonomischen Vernunft, die sich für die Vernunft schlechthin hielt. Theoretisch wie psychisch stehen sie für eine wohlgeordnete Welt, als hätte Gott sie in der Sprache der Mathematik verfasst und mit den Werten der klassischen Ökonomie möbliert. Die Sinngesellschaft dagegen kennt heute auch die Welt »Jenseits von Angebot und Nachfrage«; eine Welt, die Wilhelm Röpke, einer der Väter der sozialen Marktwirtschaft, seinen Kollegen schon 1958 – ein Jahr nach dem Wohlstand für Alle – entgegenhielt.4

Das zweite Maschinenzeitalter pflügt die Denkwelt des ersten um. Nicht nur seine Ökonomie ist disruptiv, sondern, wie bei jeder wirtschaftlichen Revolution, auch deren gesellschaftliche Folgen. Die hoch automatisierte Welt der Zukunft verlangt nicht mehr von jedem Bürger zwangsläufig sein ehernes Arbeitssoll. Und sie lädt die Arbeitswelt einerseits mit immer größeren Sinnansprüchen auf, wie sie andererseits zulässt, dass sehr viel Lebenssinn aus dem Korsett der Arbeit entweicht. Wie soll Lohnarbeit auch das halbe Leben sein müssen, wenn sie volkswirtschaftlich nicht mehr im alten Stil flächendeckend erforderlich ist? Das zweite Maschinenzeitalter voll automatisierter Fertigung und künstlicher Intelligenz macht damit sichtbar, was im ersten trotz immenser Produktions- und Wohlstandserfolge nie zugegeben werden konnte: dass tatsächlich genug für alle vorhanden ist. Die Überflussgesellschaft schlägt ihr Auge auf und erkennt, dass sie da ist.

Noch allerdings zeigen sich die Industriegesellschaften des 21. Jahrhunderts davon vor allem irritiert. Wie lassen sich die Potenziale der Befreiung wahrnehmen, ohne der Wirtschaft zu schaden? Was ist überhaupt sinnvolle Arbeit? Und wie sieht eine Gesellschaft aus, in der Sinnerfüllung und nicht Arbeit den Mittelpunkt bildet? Tatsächlich ist der Zug längst unterwegs. In Deutschland arbeiten selbst diejenigen, die einer beruflichen Tätigkeit nachgehen, heute nur noch ein Zehntel ihrer Lebenszeit oder ein Siebtel ihrer Wachzeit.5 Und dass Arbeit sinnstiftend sein soll, dass sie einen purpose haben muss und im Einklang mit der Lebensbalance stehen soll, ist auf den ungezählten New-Work-Konferenzen als Tatsache gesetzt. Anders hingegen sieht es im Bereich des Niedriglohnsektors aus. Diejenigen, die Pakete und Essen ausfahren oder andere Fahrdienstleistungen vollbringen, kommen auf Konferenzen über die Zukunft der Arbeit so wenig vor wie Kindermädchen, Wachpersonal und Kellner. Doch Millionen US-Amerikaner, die nach Corona nicht mehr an ihren angestammten Arbeitsplatz zurückkehrten, weisen hier ebenso in die Zukunft wie Hunderttausende Lkw-Fahrer und Kellner in ganz Westeuropa, die sich ebenfalls umorientierten.6

Umbruchzeiten kennen stets die wachsende Kluft zwischen dem wünschbar Gewordenen und der Bereitschaft, es auch tatsächlich umzusetzen. Während die traditionelle Erwerbsarbeitsgesellschaft bröckelt, empören sich die Sachwalter des Status quo über das Anspruchsdenken. Der Wegfall einer verpflichtenden Disziplinierung der Menschen durch Arbeit treibt – wie bei jeder sozialen Reform der letzten zweihundert Jahre – stets ein negatives Menschenbild und eine düstere Zukunft hervor. Wo kämen wir hin? Bislang allerdings führt der Weg der sozialen Humanisierung der Industriegesellschaften kontinuierlich nach oben. Und selbst viele Konservative wünschen sich nicht im Ernst ihre guten alten Zeiten zurück, als Frauen noch weitgehend rechtlos waren, Arbeiter in Baracken hausten und Kinder gnadenlos verheizt wurden. Wo also kämen wir, frei nach dem Schweizer Autor Kurt Marti, hin, wenn jeder nur klagte, wo kämen wir hin, und keiner uns zeigte, wo wir denn hinkommen? Wie kommen wir raus aus einer Gesellschaft, in der sich viele davor fürchten, dass die Arbeit für sie weniger wird und die freie Zeit anwächst, während sie doch genau diesen Zustand fast täglich ersehnen?

Tatsächlich handelt es sich bei alledem um eine Machtfrage. Den technischen Fortschritt voranzutreiben und gleichzeitig möglichst alle Arbeitsplätze bewahren zu wollen, ist ein Paradox, hervorgetrieben von einer Politik, die gleichzeitig Gas gibt und bremst. Den Fuß von der Bremse zu nehmen aber erfordert ein neues Wissen über die richtige Richtung, einen neuen gesellschaftlichen Deal, zu dem die Wirtschaft heute bereits eher bereit ist als die Mehrheit in allen politischen Fraktionen im Deutschen Bundestag; eine Lage, die sich in anderen westeuropäischen Ländern kaum anders darstellt.

Dieser neue Deal ist das Thema dieses Buchs. Man erinnere sich der Denker der Aufklärung in ihren Schreibstuben und Salons des 18. Jahrhunderts. In die verblassenden Adelsgesellschaften Westeuropas malten sie die Blaupausen für die künftige bürgerliche Gesellschaft des ersten Maschinenzeitalters. Im gleichen Sinne fällt heutigen Denkern die Aufgabe zu, die Blaupausen zu entwerfen für das zweite. Und wie einstmals in der vornehmen Stille von David Humes Edinburgher Bibliothek, im Schwalbengezwitscher der Pariser Salons oder in Immanuel Kants abgeschiedener Königsberger Gelehrtenstube eine neue Gesellschaft erwachte, gezeugt aus Geist und Tinte, so zeichnen sich auch heute im abnehmenden Licht der klassischen Erwerbsarbeitsgesellschaft die Umrisse einer neuen Gesellschaft ab. Zehn Jahre intensiven Studiums auf ungezählten Kongressen, in ebenso ungezählten Unternehmen, auf Podien und in Foren, dazu unvergessene Gespräche mit vielen interessanten Menschen sowie Jahre der Lektüre ökonomischer Studien und vieler weitsichtiger und weniger weitsichtiger Aufsätze und Bücher haben dieses Buch möglich gemacht. Nach dem allgemeinen Aufriss der gesellschaftlichen Veränderung in Jäger, Hirten, Kritiker und einer philosophischen Reflexion über Künstliche Intelligenz und den Sinn des Lebens folgt mit der Betrachtung zur Zukunft der Arbeit der dritte Teil meiner Trilogie des digitalen Wandels. Er möchte das Potenzial aufzeigen, das der große Umbruch besitzt, um unsere Gesellschaften weiter voranschreiten zu lassen und ihnen echten und nachhaltigen Fortschritt zu bringen.

Richard David Precht

Düsseldorf, im Dezember 2021 

DIE REVOLUTION DER ARBEITSWELT

Warum technisch-ökonomische Revolutionen die Masse der Lohnarbeit nicht verringert haben und warum es diesmal sehr wahrscheinlich anders ist.

Der große Umbruch Was kommt auf uns zu?

Der Beginn der COVID-19-Pandemie war eine Hochzeit der Phrasen. Und die berühmteste davon war ohne Zweifel: »Nach Corona wird die Welt eine andere sein.« Oder gar: »Nichts wird mehr sein, wie es vorher war.« Ob Angela Merkel, Frank-Walter Steinmeier, Emmanuel Macron, Friedrich Merz oder Armin Laschet – die raunende Phrase schien keinem von ihnen zu groß. Und während die einen das Ende nationaler Alleingänge, der Demokratie, der unbeschwerten Gesundheit, der Globalisierung, der Europäischen Union oder jenes des Kapitalismus dämmern sahen, prophezeite der Zukunftsforscher Matthias Horx ein kommendes Paradies: »In der neuen Welt spielt Vermögen plötzlich nicht mehr die entscheidende Rolle. Wichtiger sind gute Nachbarn und ein blühender Gemüsegarten.«1 Ein anderer Zukunftsforscher stimmte ein. Von nun an besännen wir uns darauf, »was wirklich wichtig im Leben ist. Gesundheit. Sicherheit. Geborgenheit«.2

Weit entfernt vom Garten Eden, von der Welt guter Nachbarn, blühender Gemüsegärten und heimeliger Geborgenheit, in den von allen Anwohnern sorgsam abgeschiedenen Flachdachbungalows des World Economic Forums in Cologny hingegen weht ein ganz anderer Wind. Wie Militäranlagen ducken sich die Cubes am Boden, ein Garten fehlt ebenso wie die Nachbarn. Und anders als Horx scheint man hier am Genfer See sehr wohl zu wissen, dass Vermögen in der Welt immer die Hauptrolle spielt und Gemüse in der Regel nur dann gut und essbar ist, wenn man es gar nicht erst zur Blüte kommen lässt.

Im Mai 2020 verkündeten WEF-Direktor Klaus Schwab und Prinz Charles von hier aus eine neue Zeit: The Great Reset – der große Neustart, oder, wie Schwabs dazugehöriges Buch auf Deutsch titelt: COVID-19. Der große Umbruch. Die Welt befinde sich in rasantem Wandel. Die vierte industrielle Revolution, jene der Digitalisierung und der künstlichen Intelligenz, bringe Herausforderungen mit sich, die nur durch eine viel engere Zusammenarbeit globaler Konzerne und Regierungen zu meistern sei. Was gäbe es da Naheliegenderes, als die Atempause der COVID-19-Pandemie zu nutzen, um viel koordinierter und vernetzter durchzustarten? Die Ökonomie der Zukunft müsse nachhaltiger und grüner, der Welthandel fairer und die Digitalisierung sehr viel besser abgestimmt werden. Die Ungleichheiten auf der Welt sollten in ihrer bisherigen Form nicht weiter bestehen und die armen Länder stärker vom Fortschritt profitieren. Der Neoliberalismus, so verkündet Schwab in seinem mit dem französischen Ökonomen Thierry Malleret verfassten Buch, habe ausgedient. Die Regierungen, zurück auf der Weltbühne, gewännen wieder die Oberhand.

Dass mit Schwab ausgerechnet eine Symbolfigur des Neoliberalismus dessen Ende verkündet und für Umverteilung, Vermögenssteuern und echte Nachhaltigkeit wirbt, erstaunt enorm. Kein Wunder, dass der Great Reset sofort größte Ängste und Befürchtungen auslöste, mithin sogar eine Verschwörungstheorie, bei der zutiefst beunruhigte Linke und Rechte sich raunend die Hand reichen. Die Corona-Pandemie ist darin nicht der Anlass, über einen Neustart nachzudenken, sondern sie sei eigens zu diesem Zweck initiiert und aufgebauscht worden: Das WEF und die globalen Konzerne wollten eine neue Weltordnung. Und das Ziel sei nicht eine stabilere und fairere Welt, sondern die geheime Herrschaft der Wirtschaftselite – also genau das Gegenteil dessen, was offiziell verkündet wird.

Tatsächlich mag vieles, was als Great Reset edle Motive für sich in Anspruch nimmt, andere Wurzeln haben. Die plötzlich neu entdeckte Menschenliebe der Wirtschaftseliten erscheint verdächtig. Und auch der Begriff »Reset« mag kalt gewählt sein – legt er doch nahe, Gesellschaften ließen sich runterfahren, neustarten und hochladen wie ein Computersystem. Das Hauptmotiv, einen globalen Neustart zu verkünden, ist gleichwohl nicht entfernt finstere Dämonie. Er entspringt echter Sorge und Angst. Die große Umwälzung und keineswegs nur schöpferische Zerstörung durch die digitale Revolution, gepaart mit den enormen sozialen Folgen unseres Raubbaus an der Natur, könnte die Welt in ein globales Chaos stürzen. Treiben die Gesellschaften des Westens in bisher gekannter Manier neoliberal weiter vor sich hin, scheint ihre Selbstzerstörung unaufhaltbar. So gesehen liest sich der von zahlreichen westlichen Regierungschefs begrüßte Great Reset als ein geradezu verzweifelter Versuch: die äußerste Anstrengung, die fragile Stabilität der gegenwärtigen Weltordnung für die Zukunft zu retten und damit zugleich die alten Macht- und Besitzverhältnisse.

Erschreckend an alledem ist nicht die aus der Perspektive der Beteiligten verständliche Absicht oder gar deren vermeintliche gut geheim gehaltenen diktatorischen Fantasien. Es ist, ganz im Gegenteil, die offensichtliche Fantasielosigkeit. Auf das große Wort vom Neustart oder Umbruch folgen kaum große Ideen. Insofern erhält der Great Reset nichts wirklich Neues. Bessere Vernetzung, Kooperation bei der Bewältigung globaler Herausforderungen, gemeinsame Strategien, mehr technologische Innovation und mehr Nachhaltigkeit sind schöne Worte. Sie sind auch anderen Denkfabriken zuvor eingefallen. Doch ohne soziale und ökonomische Kreativität sowie den Mut zu echten Veränderungen dürften sich die befürchteten Szenarien von künftigen Verteilungskämpfen, aufflammendem Nationalismus, Massakern und Kriegen kaum verhindern lassen.

Kritikabel am Great Reset ist also vor allem dessen unterkomplexes Problembewusstsein: zu glauben, die Welt drehe sich rasant schneller und der Kapitalismus bleibe dabei völlig beim Alten, allenfalls ergänzt um das schöne Adjektiv »verantwortungsvoll«. Der Umbruch und die Neugestaltung der sozialen und ökonomischen Systeme, von der Schwab spricht, dürften weitaus fundamentaler sein als das, was sich durch Vorschläge wie höhere Spendenbereitschaft und Vermögenssteuern irgendwie befrieden lässt. Digitale Revolution, Datenexplosion und künstliche Intelligenz (KI) bilden einen epochalen Technologiesprung, der unsere Art zu leben und zu wirtschaften, allen voran in den Industrieländern, unumkehrbar verändert. Gefragt sind dabei nicht nur Techniker, die Neues erfinden, und Unternehmen, die es produzieren und vermarkten. Die größte Aufgabe besteht, wie bei jeder industriellen Revolution, in etwas ganz anderem: neu zu gestalten, was Menschen tun und wie sie zusammenleben.

Je gewaltiger die Rechenleistung moderner Computer wird, umso effektiver und kostengünstiger lassen sich viele Arbeiten ausführen, die heute noch Menschen erledigen, aber eben bald schon Maschinen. Bisher befreiten recht einfache Automaten Arbeiter und Angestellte von Routineaufgaben. Doch zukünftig leben Arbeiter in der Fertigung, Bürokräfte und Buchhalter in einer Welt, in der die Automation selbst automatisiert ist. Maschinelles Lernen, Deep Learning, befähigt digitales Gerät dazu, seine Verhaltensmuster selbstständig zu variieren und immer weitreichendere Aufgaben zu übernehmen. Und je mehr Daten Computern zur Verfügung stehen – nicht zuletzt durch Milliarden Smartphones und die Aktivitäten der Nutzer im Internet –, umso größer wird ihr »Wissen« und umso präziser ihr Verhalten.

Der Weg scheint vorgezeichnet: Computer werden in der Zukunft mithilfe perfekterer Robotik und Sensorik, von KI und automatisierter Bildanalyse (Machine Vision) Arbeit ausführen, die bislang vielen Millionen Menschen vorbehalten war. Selbstständiges Computerlernen, bei dem physische und virtuelle Prozesse sich völlig neu miteinander verbinden, schafft eine ganz andere Sphäre der Arbeit, die mutmaßlich mit sehr viel weniger Beschäftigten auskommt als alles, was wir bisher kennen. Ob es um die Beschaffung von Rohstoffen geht, um die Produktion, das Marketing, den Vertrieb, die Logistik oder den Service, nichts bleibt davon unberührt. Für die Lohnarbeit nützliches Wissen und Können veraltet dabei in vielen Bereichen schneller als je zuvor, und ständig steilere Ansprüche treten hervor. Branchen sterben und entstehen neu, Jobprofile wandeln sich rasant und ebenso die alltägliche Zusammenarbeit, die bisherige Arbeitsteilung und die gewohnten Hierarchien. Und mit dem schnellen Wandel der Tätigkeiten und Berufsbilder ändern sich zugleich der Lebensrhythmus und die Lebensformen mit weitreichenden Folgen für die Gesellschaft.

Beginnen wir mit der Industrie. Mag Deutschland in manchen Bereichen der Digitalisierung hinterherhinken oder gar abgehängt sein – in der Vernetzung der Industriedaten gehört es zu den führenden Nationen der Welt. Die Arbeit, analoge Daten in digitale Daten zu übertragen, ist weitestgehend abgeschlossen. Sensoren in den Fabriken haben alle Arbeits- und Fertigungsschritte aufgezeichnet. Reale Produktionsstätten sind damit fast überall vollständig virtuell abgebildet und somit transparent. Der erste Schritt zu der von deutschen Physikern und Informatikern im Jahr 2011 so genannten Industrie 4.0 ist damit getan.3 Die Vernetzung der Industriedaten von Sensoren, Geräten und Maschinen bringt diese mehr und mehr dazu, selbstständig untereinander oder mit Menschen zu kommunizieren. Technische Assistenzsysteme unterstützen die Arbeitenden sowohl bei der Entscheidungsfindung als auch bei körperlich riskanten Tätigkeiten. Der Siegeszug der KI verwandelt Werkhallen und andere Produktionsstätten in immer stärker automatisierte Räume mit dem Ziel einer voll automatisierten Fabrik, die sich größtenteils selbst steuert. Schon jetzt treffen cyber-physische Systeme mancherorts autonome Entscheidungen: Sie passen die Fertigung in Echtzeit präzise an bestimmte Anforderungen an, steuern Prozesse, übernehmen die Logistik und managen die Energieversorgung. Selbstlernende Algorithmen prognostizieren Absätze und helfen dabei, die benötigte Produktionskapazität besser zu planen. Sie warten Maschinen vorausschauend und steuern zielgenau autonome Fahrzeuge. Und wo bislang Werkzeugmacher, Ingenieure, Logistikmeisterinnen, Kommissionierer, Speditionskaufleute, Lagermanagerinnen, Fahrer, Disponentinnen oder Supply-Chain-Manager arbeiten, nehmen künftig mehr und mehr voll automatisierte Maschinen und Softwarespezialisten ihren Platz ein.

Bislang, so die für viele beruhigende Nachricht, sind solche voll automatisierten Fabriken eine große Seltenheit. Und dass der Siegeszug cyber-physischer Systeme bislang zu Massenarbeitslosigkeit in deutschen Fabriken geführt hätte, ist auch nicht sichtbar. Allerdings steckt der hier geschilderte Prozess der Vollautomatisierung in Deutschland noch in den Kinderschuhen. Intelligente Softwaresysteme einzukaufen, was nicht wenige deutsche Unternehmen getan haben, und sie effizienzsteigernd einzusetzen, sind zwei verschiedene Dinge. Cyber-physische Systeme perfekt aufeinander abzustimmen und Prozesse dadurch tatsächlich zu optimieren, ist schwierig und langwierig. So lässt die von den Firmen erhoffte effizientere Produktion mit deutlich weniger Beschäftigten oft lange auf sich warten und ist, Stand 2021, selten erreicht. Und die weiteren Mittel der Effizienzsteigerung wie das 5G-Netz, Blockchain-Technologie sowie eine optimiertere Datenerfassung in der Fabrik statt im Rechenzentrum (Edge Computing) sind vielfach noch gar nicht in Anwendung.

Ein zweiter Schauplatz der digitalen Revolution der Arbeitswelt ist deshalb viel schneller und umfassender betroffen: Banken, Versicherungen, Energieversorgung und Verwaltungen. Was heute Controller und Disponentinnen erledigen – Geschäftszahlen prüfen, die Unternehmensleistung planen und steuern, Einsparpotenziale und neue Chancen aufdecken, den Warenverkehr organisieren und die Logistik koordinieren –, kann bereits heute theoretisch weitgehend von Computern erledigt werden. Big-Data-Analysen überschauen die unübersichtlichen Variablen des Marktes wie Kundenverhalten, Preise und Konkurrenzangebote und ersetzen, der Idee nach, menschliche Erfahrung und Routine. Je präziser die Analyse, so die Annahme, umso besser die Entscheidungen. Erhoffen lassen sich gewaltige Einsparungen. Und der erwartete Jobverlust reicht vom unteren bis zum mittleren Management.

Besonders weit auf diesem Weg sind die Banken und Versicherungen. Man denke an Bill Gates’ berühmten Ausspruch: »Es muss Banking geben, aber keine Banken.« Im Zeitalter von PayPal, Bezahl-Apps, Blockchains und Kryptowährungen schwebt er wie ein Damoklesschwert über der Branche. Filialen verschwinden in rasantem Tempo aus dem Stadtbild, Geldautomaten werden abgebaut, und die Fähigkeiten von Bankangestellten als universale Problemlöser mit Empathie und Know-how klingen viel zu schön, um realistisch zu sein. Bieten menschliche Angestellte jedoch keinen entscheidenden Mehrwert gegenüber online zu erledigendem Banking, sterben sie aus – parallel zur älteren Generation, die nicht technisch versiert genug ist und deshalb noch immer Bankfilialen besucht. Das nahe Ende der verbliebenen Zweigstellen ist damit absehbar. Bedenkt man überdies die vermutlich noch länger anhaltende Niedrigzinspolitik, dann zwingt der Druck auch die letzte Bank, alle Möglichkeiten durchzurechnen, um Personal einzusparen. Und was vor den Kulissen gilt, gilt inzwischen mehr und mehr dahinter. Robotic Process Automation, Data Analytics und der verstärkte Einsatz von KI machen viele Stellen überflüssig, auf denen derzeit jene Mitarbeiter geparkt sind, die vorher ihren Dienst am Schalter verrichteten. Wie viele der bisher Beschäftigten sind tatsächlich willens und befähigt, sich zu smarten Experten des Private Bankings oder zu versierten Beratern bei Betriebsversicherungen umschulen zu lassen? Und noch sehr viel weniger der bisherigen Bankangestellten dürften in der Lage sein, die ständig wachsenden IT-Anforderungen zu erfüllen, um im Digitallabor ihres Geldinstituts Apps für Mobile Banking oder automatisierte Kreditvergaben zu entwickeln. Dass Banken in mittlerer Zukunft den Großteil ihrer bisherigen Angestellten weiterbeschäftigen, glauben deshalb nicht mal die kühnsten Optimisten.

Das Gleiche gilt für die Versicherungsbranche. Um Schadensfälle bei der Hausrats- oder Kfz-Versicherung zu bearbeiten, benötigt man in Zukunft vor allem KI, die vorhersagt, wie problematisch oder unproblematisch ein Schadensfall ist. Statt wie bisher Menschen sichten und analysieren Computer die Rechnungen und Belege und ersetzen so Gutachter und Belegprüfer. Wie die Zukunft der Kfz-Versicherer angesichts des sich stark wandelnden Verkehrs in den Groß- und Mittelstädten aussehen wird, ist ohnehin ungewiss. Die Zahl der privat zugelassenen Autos wird jedenfalls nicht weiter steigen können, sondern vermutlich sinken.

Die allgemeine Tendenz scheint damit vorgezeichnet zu sein. Arbeit wird nicht nur zeitlich und räumlich flexibler, das Homeoffice gewinnt immer mehr an Bedeutung und Vollzeitbeschäftigung im Büro wird seltener. Auch das, was in Zukunft von Menschen erledigt wird, ändert sich stark. An die Stelle vieler Beschäftigungen mit Routinetätigkeiten treten deutlich weniger Jobs, allerdings mit höherem Anspruch als Supervisor, Problemlöser und Entscheider. Und diese Entwicklung betrifft nicht nur einfache Arbeiten, sondern eben zunehmend anspruchsvollere Tätigkeiten.

Ein berühmtes Beispiel dafür sind Steuerberater. Der überwiegende Teil ihrer Arbeit ist in seinen Anforderungen sehr ähnlich und gut überschaubar. Dass Computer bei der Verarbeitung großer Datenmengen überlegen sind, bedarf nicht vieler Worte. Sie erkennen sehr viel schneller und präziser Auffälligkeiten und können Steuerprobleme damit nicht nur markieren und inhaltlich analysieren, sondern auch entsprechende Fragen in Dialogform beantworten. Für Routineaufgaben – und das ist der größte Teil des Aufgabenfelds von Steuerberatern – werden in Zukunft sehr viel weniger Menschen gebraucht. Nun könnte man optimistisch vermuten, dass die damit frei werdende Zeit vollständig durch qualifizierte Beratung ersetzt wird. Aber werden die Klienten sie wirklich entsprechend benötigen und honorieren?

Auf ähnliche Weise trifft es viele Juristen. Sicher wird es auch in Jahrzehnten noch Anwälte und Scheidungsrichter geben, und Mordprozesse werden nicht von Computern geführt. Gleichwohl lassen sich viele Tätigkeiten in Großkanzleien, die gegenwärtig noch von Associates ausgeführt werden, digitalisieren. Computerprogramme mit eDiscovery Software durchforsten E-Mails, Memos und Verträge und analysieren sie zielgenau. Watson, die semantische Such- und Analysemaschine von IBM, hält schon jetzt eine ganze Palette von KI-Anwendungen bereit, die ebenso für Juristen sinnvoll sind. Selbstlernende Sprach-, Bild- und Textanalysen bereiten in Sekundenschnelle gewaltige Datenmengen auf und verknüpfen sie miteinander zu Zusammenhängen. Watson beantwortet auf diese Weise auch komplizierte, von Menschen gestellte Rechtsfragen. Und Recherchearbeit, die gemeinhin Monate verschlingt, erledigt sich so in kürzester Zeit. Dass der künftige Großeinsatz semantischer Such- und Analysemaschinen Folgen für juristische Berufe hat, ist unbestritten. Die Frage ist die gleiche wie bei den Steuerberatern: Wie viel menschliche Tätigkeit wird dadurch erleichtert und wie viel wird langfristig ersetzt?

All diese Beispiele der Digitalisierung betreffen die Effizienzsteigerung in Unternehmen, einschließlich Banken und Großkanzleien. Ein ganz anderes Feld ist der sogenannte Plattformkapitalismus. Neben dem beruflichen Leben ist auch unser alltägliches Leben digital geworden. Hier allerdings wird nicht einfach nur etwas verbessert, zeitsparender und effizienter gemacht, sondern die Digitalisierung von jedermann und jederfrau schafft zugleich ganze Branchen ab. Um ein Paket bei der Post abzugeben, einen Urlaubsantrag einzureichen, einen Flug, eine Übernachtung oder eine Reise zu buchen, benötigt man keine Helfer und Vermittler mehr. Der Konsument wird zum »Prosumenten«, zum produzierenden Konsumenten. Doch wenn meine Bank mich den allergrößten Teil meiner Bankgeschäfte im Online-Banking selbst ausführen lässt, wozu braucht es dann noch das Kundengeschäft der Bank? Und was ist mit all den Dienstleistern, Mittelsmännern und Institutionen, die durch eBay, Uber oder Airbnb ersetzt werden? Prosument und Gelegenheitsunternehmer übernehmen überall Tätigkeiten, die ehemals Lohnarbeit waren. Was in den Sechzigerjahren damit begann, dass Supermärkte den Einzelhandel mit Lebensmitteln ersetzten und die Selbstbedienung einführten, ist heute in immer mehr Bereichen selbstverständlich. Vom Fahrkartenautomaten bis zum online gebuchten Ticket – der »arbeitende Kunde« ersetzt Berufsbilder und Lohnarbeiterinnen. Ob Gebraucht- oder Neuwaren, Übernachtungen, Kommunikation, Verkehr, Energie, Finanztransaktionen, Ernährung, Filme, Fotos, Lebensberatung, Partnersuche und Bespaßung – all das ist heute meist vollständig ohne entsprechendes Fachpersonal möglich.

Was sind die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt? Bislang haben die Vernetzung von Industriedaten in cyber-physischen Systemen, die immer selbstständigeren Analyseinstrumente bei Dienstleistern und der Plattformkapitalismus nicht zu einer Rekordarbeitslosigkeit geführt. Und selbst wenn man heftig darüber streiten kann, ob Arbeitslosigkeit in Deutschland tatsächlich treffend in den Arbeitslosenzahlen abgebildet wird – ein totales Desaster am Arbeitsmarkt gibt es bislang weder in Deutschland noch in anderen westlichen Industrieländern. Beunruhigend erscheint lediglich, dass eine enorm hohe Zahl an Beschäftigungsverhältnissen nicht sozialversicherungspflichtig ist. Und dass tatsächlich nur 51 Prozent aller statistisch erfassten erwerbsarbeitenden Menschen in Deutschland einer entsprechend abgesicherten Beschäftigung nachgehen. Statt Massenarbeitslosigkeit boomt der Niedriglohnsektor mit seinen vielen prekären »Jobs«, die niemand ernsthaft Berufsausübung nennen kann.

Wesentlich dramatischer ist die Lage in den USA. Hier lässt sich seit über einem Jahrzehnt beobachten, wie die Mittelschicht bröckelt. Wer mit der IT-Entwicklung nicht Schritt halten kann, ist gemeinhin gezwungen, deutlich schlechter bezahlte Arbeit anzunehmen, falls er überhaupt welche findet. Immer anspruchsvollere Berufsprofile produzieren somit auch immer mehr Verlierer, die den neuen technischen Anforderungen nicht standhalten. Statt eines massenhaften sozialen Aufstiegs wie bis in die Neunzigerjahre geschieht nun ein massenhafter sozialer Abstieg mit den bekannten Folgen der Frustration und Aggression, dem Trend zu populistischen Verallgemeinerungen, Misstrauen gegenüber dem Staat und radikalen Weltbildern. Der Fortschritt durch Technik, der im Silicon Valley gefeiert wird, strahlt nicht nur hell, er legt zugleich einen gewaltigen Schatten über das Land. Dass nicht alle vom Fortschritt profitieren, ist ohnehin klar. Aber sind es zumindest die meisten? Auch das scheint unsicher zu sein. Der Aufbruch in neue technische Dimensionen und zu den Sternen bekommt damit mehr als einen schalen Beigeschmack. Was nützen Tausende Lösungen für den Zukunftsverkehr oder die Zukunftsmedizin, wenn immer weniger sich die Teilhabe daran leisten können?

Kein Zweifel: Die digitale Revolution wird zu einer bislang stark unterschätzten Feuerprobe für die Mittelstandsgesellschaften. Ist Deutschland hier dauerhaft besser für den Umbruch gerüstet als die USA? Und bedeutet, zumindest bei uns, mehr Digitalisierung zugleich mehr Wohlstand für alle? Bereits jetzt erhitzt die Skepsis den Populismus links wie rechts. Das Unbehagen und die nachvollziehbaren Ängste vor wachsender ökonomischer und sozialer Ungleichheit finden professionelle Abnehmer, die einfache Antworten versprechen auf komplizierte Fragen. Tatsächlich ist das Bedürfnis nach schnellen Veränderungen und »Disruptionen« bei den meisten Menschen eher gering. Und die Zahl der Begeisterten in Deutschland ist offensichtlich geringer als die der Besorgten. Wird alles besser oder schlechter? Wohl verstanden ist die Frage, wie ich zeigen möchte, äußerst komplex. Und sie ist beileibe nicht identisch mit der ziemlich engen Frage, wie viele Menschen über kurz oder lang ohne Lohnarbeit sein werden. Sie geht weit darüber hinaus.

Gleichwohl dominieren derzeit vor allem diese Fragen die Debatte: Führt die Digitalisierung zur Massenarbeitslosigkeit, oder fangen die Firmen die nicht mehr ausreichend Qualifizierten mithilfe von Weiterbildungsprogrammen auf? Fallen mehr Beschäftigungen weg, als neue entstehen, oder gleicht sich beides aus? Liegt das größere Problem in Massenentlassungen oder im Fachkräftemangel? Zwei Lager stehen sich in diesen Fragen nahezu unversöhnlich gegenüber mit Thesen, die steiler kaum sein könnten. Einerseits: Die Digitalisierung bringt die größte Arbeitslosigkeit seit mehr als einem Jahrhundert. Und andererseits: Der Arbeitsmarkt kompensiert die durchaus überschaubare Zahl der Jobverluste nahezu vollständig durch Millionen neuer Beschäftigungsverhältnisse, von denen noch längst nicht alle geahnt sind. Beide Sichtweisen gilt es zunächst zu verstehen.

Die große Beunruhigung Ökonomen recherchieren die Zukunft

Ein Gespenst geht um, nicht nur in Europa: Ersetzen Maschinen den Menschen? Es ist ein alter Menschheitstraum, den schon Aristoteles in seinem Werk über den Staat, die Politik, träumt: Voll automatisierte Maschinen befreien den Menschen von der Last der Arbeit. Doch für die Industriegesellschaft erscheint er vor allem als finstere Drohung. Unvergessen sind die hungernden Weber und verzweifelten Maschinenstürmer, aber auch die Millionen Arbeitslosen der Weltwirtschaftskrise, die Hitler den Nährboden gaben, um die Macht zu ergreifen. Weniger als Traum denn als Katastrophe spukt das Gespenst durch die jüngere Weltgeschichte. Was soll man bloß tun, wenn es nicht mehr genug Lohnarbeit für alle gibt?

Nun ist das Gespenst wieder da, eingekleidet in das Gewand unserer Zeit: ein Gespenst aus Zahlen. Exakt 47 Prozent aller US-amerikanischen Arbeitsplätze haben eine hohe bis sehr hohe Wahrscheinlichkeit, dass die digitale Revolution sie mehr oder weniger vollständig automatisiert. »Recherchiert«, wie sie sagen, haben dies der Brite Michael A. Osborne und der Schwede Carl Benedikt Frey, zwei Ökonomen an der University of Oxford.1 Ihre Zahlen, dargelegt in der Oxford-Studie über die Zukunft der Arbeit, sorgten 2013 für Furore. In den nächsten zwanzig Jahren – also bis zum Jahr 2033 –, so die damalige Prophetie, bliebe in der Arbeitswelt mutmaßlich kein Stein auf dem anderen. 2016 legten die Autoren noch einmal nach und stellten ihre nächste Studie vor. Sie nahm die Zukunft der Arbeit global unter die Lupe. Die Zahlen schossen noch weiter in die Höhe. In Argentinien könnten 65 Prozent aller Beschäftigungsverhältnisse durch die Technologie der Zukunft verschwinden, in Indien 69 Prozent, in China 77 Prozent und in Äthiopien 85 Prozent.2

Das Echo auf die Studien war enorm. Viele tausendmal erwähnt und diskutiert, sind sie die wohl bekanntesten Untersuchungen über die Zukunft der Arbeit aller Zeiten. Barack Obama zitierte sie und mit ihm das Council of Economic Advisers, das wirtschaftspolitische Beratungsgremium des Weißen Hauses.3 Das World Economic Forum in Davos geriet fast völlig in ihren Bann und bestätigte die Ergebnisse mit Untersuchungen nach vergleichbarer Methode.4 Auch die Bank of England und die Weltbank nahmen die Zahlen für bare Münze.5 Und eine Studie der London School of Economics and Political Science rechnete nach demselben Verfahren die Beschäftigungslage im künftigen Europa aus. Hier könnten sogar 54 Prozent aller heute bestehenden Jobs mit hoher Wahrscheinlichkeit automatisiert werden.6

Keine Studie dürfte je so viel Staub aufgewirbelt und Alarm ausgelöst haben. Wie aber kommt man zu solchen Zahlen? Osborne und Frey nahmen sich die Liste von Berufen vor, die der Online-Service O*NET des US-Arbeitsministeriums für 2010 auflistete. Die Autoren untersuchten die 702 Tätigkeitsfelder, studierten deren Aufgaben und bündelten sie zu branchenspezifischen Anforderungsprofilen: knowledge (Wissen), skills (Fertigkeiten) und abilities (Können). Dabei kam ihnen zugute, dass die O*NET-Liste auch Aspekte wie die Ausbildung, den erweiterten Kontext der Arbeit, psychische und physische Belastungen und vor allem die Einkommenspannen aufführt. Osborne und Frey überprüften alle Tätigkeiten und befragten sie: Enthalten sie Elemente, die von Computern besser erledigt werden könnten? Zum Beispiel große Datenmengen zu speichern und zu verarbeiten, diese Daten möglichst schnell aufzufinden, Routineabläufe akkurat auszuführen und Routine-Entscheidungen schnell zu treffen. Und sie fragten, inwiefern neue Technologien bestehende Arbeit optimieren, unterstützen, ergänzen, zu Neueinstellungen führen, Tätigkeiten auslagern oder sie mehr oder weniger vollständig ersetzen.

Auf diese Weise ermittelten die Ökonomen, ob die aufgelisteten Berufe mutmaßlich sicher sind, ob sie ein höheres Einsparpotenzial enthalten oder ob der technologische Fortschritt sie mit hoher Wahrscheinlichkeit ganz wegrationalisiert. Unterstützt wurden sie dabei durch die Expertisen der Fachleute. Weltweit führende Robotik-Experten und -Expertinnen fanden sich dazu eigens für einen Workshop im Science Department der University of Oxford ein. Befragt danach, welche Tätigkeiten sie in absehbarer Zeit prinzipiell für automatisierbar halten, informierten sie über die gegenwärtigen und die zukünftigen Möglichkeiten und erstellten Prognosen. Mit dieser Expertise im Gepäck kalkulierten Frey und Osborne die weiteren für sie maßgeblichen Faktoren: Wie schnell werden sich bestimmte technische Entwicklungen in bestimmten Branchen durchsetzen? Wie teuer wird die Technik sein, sodass sich ihr massenhafter Einsatz auch tatsächlich lohnt? Und wie hoch sind im Vergleich zu den Kosten der Automatisierung die Löhne der Arbeiter und Angestellten?

Schnellt das Automatisierungspotenzial bei einem der 702 auf O*NET gelisteten Berufe auf über 70 Prozent, so gilt die Tätigkeit als »gefährdet«. Jetzt musste man nur noch die Zahl der bedrohten Jobs auf die Zahl aller Jobs beziehen, so ergaben sich für Osborne und Frey die berühmten 47 Prozent »hochriskanter« Beschäftigungsverhältnisse in den Vereinigten Staaten.

Der Schlüsselbegriff der Oxford-Studie ist das Wort engineering bottleneck. Wo scheitern neue Technologien wie maschinelles Lernen, KI und Mobile Robotics an einem zu engen Flaschenhals, durch den sie in absehbarer Zeit nicht kommen, um auf dem Arbeitsmarkt größere Spuren zu hinterlassen? Nach Meinung von Osborne und Frey sind dies vor allem jene Tätigkeiten, bei denen die Automatisierungstechnologien sich in komplexen und unstrukturierten Umgebungen zurechtfinden müssen, also überall, wo Prozesse weder routiniert noch regelhaft ablaufen. Was hohe kreative Intelligenz benötigt, stellt Computer oft vor unlösbare Aufgaben. Das Gleiche gilt für komplexe soziale Anforderungen. Wo es auf umfassendes Orientierungsvermögen, große Kreativität und soziale Intelligenz ankommt, sehen die Autoren kaum eine Automatisierungswahrscheinlichkeit.

Im Umkehrschluss ist eine Tätigkeit, nach Osborne und Frey, umso gefährdeter, je weniger dieser Eigenschaften und Fähigkeiten sie voraussetzt. Während Erholungstherapeuten, leitende Ingenieure, Notfallmanagerinnen, Psychiater, Sozialarbeiterinnen, Audiologen, Ergotherapeutinnen, Orthopäden, Mund- und Kieferchirurginnen, Feuerwehrleute, Ernährungsberaterinnen und Choreografen ihrer Arbeit auch zukünftig sehr sicher sein können, listet die Studie gleich 170 Tätigkeiten auf, deren Automatisierungspotenzial bei mindestens 90 Prozent liegt. Besonders stark betroffen sind Banken und Versicherungen und damit Jobprofile wie Kassierer, Kreditberaterin und Bankanalyst, Sachbearbeiterin und Schadensaufnehmer bei Verkehrsunfällen. Buchhalterinnen müssen laut Studie bald ebenso daran glauben wie Makler, Fahrdienstleisterinnen, Models, Wirte, Rechtsanwaltsgehilfinnen, Graveure, Schiedsrichterinnen, Spediteure und Uhrmacherinnen. Die Tendenz ist eindeutig: Je mehr jemand über differenziertere Qualifikationen verfügt, desto stärker ist die Tendenz, dass sein Beruf in zwanzig Jahren noch existiert. Was hingegen weitgehend nach dem gleichen Muster abläuft, ist prinzipiell automatisierbar und wird über kurz oder lang von Maschinen geleistet; es ist nur eine Frage der Zeit. Die Botschaft ist laut und deutlich und für die meisten alarmierend: Die Berufswelt der Zukunft erlebt die größte Revolution seit den Anfängen von Ackerbau und Viehzucht. Weder die erste noch die zweite und auch nicht die dritte industrielle Revolution pflügten das Feld so gewaltig um wie heute das Zeitalter selbstlernender Computer und Roboter.

Kein Wunder, dass die Oxford-Studie in der Folge eine ganze Flut von Untersuchungen auslöste. Kann das wirklich stimmen? Doch die Prophezeiungen überboten sich sogar noch. Im Jahr 2015 präsentierte das Economic Research Department der ING-DiBa die Studie: »Die Roboter kommen. Folgen der Automatisierung für den deutschen Arbeitsmarkt.« Da Deutschland insgesamt höher industrialisiert ist als die USA, rechnet die Untersuchung damit, dass der mutmaßliche Jobverlust entsprechend größer sei. Nicht 47 Prozent wie in den Vereinigten Staaten, sondern gleich 59 Prozent aller bei uns bestehenden Arbeitsplätze seien durch Automatisierung gefährdet. Ende des gleichen Jahres legte auch die Unternehmensberatung A. T. Kearney nach.7 Der Report »Deutschland 2064 – Die Welt unserer Kinder« richtet den Blick gleich ganz weit entfernt in die Welt in fast fünfzig Jahren. Kühn und unerschrocken wird eine völlig veränderte Landschaft vorgestellt: eine Topografie aus Megakonzernen und lockeren Verbänden, in denen sich die vielen Start-ups und Einzelfirmen organisieren. Der heutige Mittelstand ist hoch spezialisierten Hightechunternehmen gewichen. Was den Arbeitsmarkt der Zukunft anbelangt, segelt A. T. Kearney im Fahrwasser der Oxford-Studie. Aus Mangel an anderen Quellen reicht die Prognose auch hier genau zwanzig Jahre voraus. Insgesamt 45 Prozent der in Deutschland beschäftigten Menschen könnten demnach bis 2034 arbeitslos werden. Besonders hoch sei die Wahrscheinlichkeit bei den 2,7 Millionen Büroangestellten und Sekretariatskräften, den 1,1 Millionen Verkaufsberufen, den eine Million Menschen, die in der Gastronomie arbeiten, und bei den 0,9 Million Beschäftigten der kaufmännischen und technischen Betriebswirtschaft. Auch die 0,7 Million Menschen, die Post- und Zustelldienste leisten, die 0,7 Million Köche, die halbe Million Bankkaufleute sowie die vielen hunderttausend Lagerarbeiter, Metallbearbeiter und Buchhalter könnten sich ihrer Jobs nicht mehr sicher sein.

Gesichert dagegen seien die 0,8 Million Kinderbetreuer und Kindererzieher, die 0,7 Million Gesundheits- und Krankenpfleger und die halbe Million Aufsichts- und Führungskräfte. Erstaunlich optimistisch fällt der Blick auf die 0,4 Million Berufe in der Kraftfahrzeugtechnik aus; der Arbeitsplatzverlust durch den Umstieg von der beschäftigungsintensiven Produktion von Verbrennungsmotoren auf weit weniger beschäftigungsintensive Elektrofahrzeuge war 2015 in der Glaskugel noch überraschend dunkel.

Besonders inspiriert von der Oxford-Studie zeigten sich auch die anderen Beratungsunternehmen, allen voran McKinsey. Als Stratege mit kühner Voraussicht in die Zukunft malt man nicht frei von Eigennutz die neue Arbeitslandschaft in grellen Farben an die Wand.8 2017 stellte McKinsey dar, dass 18 Prozent der gesamten Arbeitszeit in den USA auf körperliche Tätigkeit, insbesondere das routinemäßige Führen von Maschinen, entfällt – Beschäftigungen mit einer mutmaßlichen Automatisierungswahrscheinlichkeit von 81 Prozent. Nicht viel besser sähe es für die 16 Prozent aller US-Beschäftigten aus, deren Beruf etwas mit Datenverarbeitung zu tun hat. Hier liege die Wahrscheinlichkeit, durch einen Computer ersetzt zu werden, bei 69 Prozent. Ähnlich steht es um die 17 Prozent, deren Beruf mit Datenerhebung zu tun hat. Sie träfe die Automation mit einer Wahrscheinlichkeit von 64 Prozent. In absoluten Zahlen bedeutet dies: 60,6 Millionen der in den USA beschäftigten Menschen führen berufliche Tätigkeiten mit hohem Automatisierungspotenzial aus. In Spanien seien dies 8,7 Millionen, in Frankreich 9,7 Millionen, in Großbritannien 11,9 Millionen und in Deutschland ganze 20,5 Millionen; bei rund fünfundvierzig Millionen Beschäftigten also fast jeder Zweite! Weit übertroffen werden die Deutschen allerdings noch von Indien mit 235,1 Millionen und China mit 395,3 Millionen hoch automatisierbaren Jobs.

Vier Jahre später hat sich an diesen Aussichten nicht viel geändert. Die Studie »The future of work after COVID-19« des McKinsey Global Institute aus dem Jahr 2021 sieht die Tendenz zur Automatisierung bestärkt. Nur komme sie, beflügelt durch die Pandemie, noch viel schneller.9 Bis 2030 müssten sich 10,5 Millionen Arbeitnehmer in Deutschland – das wäre etwa jeder Vierte – auf massive Veränderungen gefasst machen. Vier Millionen Menschen würden an ihrer bisherigen Stelle nicht mehr gebraucht und müssten sich einen neuen Arbeitsplatz suchen, für 6,5 Millionen stehen umfangreiche Weiterbildungen an. Ausgeweitet auf die Länder USA, China, Indien, Japan, Frankreich, Spanien und Großbritannien ist von über hundert Millionen betroffenen Arbeitnehmern die Rede. Gemäß der Studie liegt dies an drei Faktoren: Da ist einmal die rasantere Ausbreitung des E-Commerce auf Kosten des stationären Handels. Dazu kommt die nun immer schneller voranschreitende Automatisierung der Produktion, der Verfahren und der Logistik in der Industrie mit erhöhten KI-Anwendungen; eine Verschiebung, die das hochindustrialisierte Deutschland stärker träfe als alle anderen untersuchten Länder. Direkte Kunden- und Kollegenkontakte werden immer unwichtiger, sei es in der Fabrik, in Banken, Versicherungen und Verwaltungen. Der Trend, mobiler zu arbeiten, ändere zudem den herkömmlichen Büroalltag. Dies führt, nach Ansicht von McKinsey, zu großem Büroflächenleerstand und senkt dauerhaft die Anzahl der Geschäftsreisen mit entsprechenden Auswirkungen auf die Immobilienbranche und den Luftverkehr. Betroffen vom Jobverlust seien vor allem Frauen, verhältnismäßig viele jüngere Arbeitnehmer unter vierundzwanzig und überdurchschnittlich viele Beschäftigte ohne höheren Bildungsabschluss, insbesondere solche mit Migrationshintergrund. Allerdings stehen sie nicht allein da. Nach einer Prognose des Unternehmensberaters und Wirtschaftsprüfers Deloitte aus dem Jahr 2017 trifft die digitale Revolution im Bankwesen nicht nur die Geringverdiener.10 Auf die Sachbearbeiter und Kassierer folgen die Steuerberater und Banker. Nach Ansicht von Deloitte droht zum Beispiel der britischen Finanzindustrie auf absehbare Zeit ein Verlust von einer halben Million Arbeitsplätzen.

Dass Unternehmensberater zu düsteren Prognosen neigen und dramatische Umbrüche ankündigen, mag natürlich Teil ihres Geschäfts sein. Je größer der prognostizierte Umbruch, umso höher der Umstrukturierungs- und folglich der Beratungsbedarf. Doch die Mahner der Beraterszene stehen nicht allein da. Daron Acemoglu und Pascual Restrepo, zwei Ökonomen am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Boston, gehören ohne Zweifel zu den renommiertesten Vertretern ihrer Zunft. Vor allem Acemoglu ist ein Großkaliber, vielfach ausgezeichnet und Mitglied der American Academy of Arts and Sciences. 2015 ermittelten ihn die Research Papers in Economics als den meistzitierten Ökonomen der letzten Dekade im Alter unter sechzig.11 Acemoglu und Restrepo legten in den vergangenen Jahren eine ganze Reihe von Studien vor, die sich allesamt um Fragen der Automatisierung und den Einsatz von KI in den USA drehen. 2017 dokumentierten sie ausführlich, dass jeder Mehrzweckroboter in den USA im Durchschnitt etwa 3,3 Arbeitsplätze ersetzt hat.12 In der Folge war es hier tatsächlich zu den befürchteten Massenentlassungen gekommen. Andere Arbeiter mussten zusehen, wie ihre Löhne im Zuge neuer Beschäftigungen gesenkt wurden. Anders als in der Oxford-Studie und vielen weiteren Prognosen waren hier nicht Potenziale und Wahrscheinlichkeiten gemessen worden, sondern es wurden ganz reale Vorgänge der Arbeitswelt dokumentiert, mit gravierenden Folgen für die Beschäftigten.

Allein die US-amerikanische Öl- und Gasindustrie verlor im Zeitraum von 2014 bis 2019 zwischen 50 000 und 80 000 qualifizierte Jobs durch externe voll automatisierte Steuerung. Was für die USA gilt, könnte in ähnlicher Form auch für Deutschland gelten. Zu diesem Ergebnis kam 2018 eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), die Forschungseinrichtung der Bundesagentur für Arbeit.13 Nach Ansicht der Autorinnen sei der Anteil jener Berufe, die künftig durch Maschinen ersetzt werden könnten, in der deutschen Wirtschaft stark gestiegen. Ausführlich untersucht wurden dabei einzelne Branchen wie auch die Bundesländer, in denen sie unterschiedlich stark vertreten sind. Ein Viertel aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Deutschland arbeitete demnach bereits 2018 in einem Beruf, der nach aktuellem Stand der Technik mit mehr als siebzigprozentiger Wahrscheinlichkeit von Computern oder computergesteuerten Maschinen ersetzt werden könnte.

Allerdings stellt sich die Lage von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich dar. Wo, wie in Berlin, wenig verarbeitendes Gewerbe ist, ist sie mit 15 Prozent nur halb so hoch wie im Saarland mit 30 Prozent. Entgegen der klassischen Beschäftigungsstruktur seien nicht die strukturschwächeren Länder in Ostdeutschland die mutmaßlich Hauptleidtragenden, sondern die hochindustrialisierten Länder wie etwa Baden-Württemberg. Anders als manche andere Studie gehen die Autorinnen davon aus, dass nicht etwa Banken, Versicherungen und ähnliche Dienstleistungen am schwersten durch die Digitalisierung erschüttert werden, sondern das verarbeitende Gewerbe. Im Ranking der Untersuchung steht es mit einem Ersetzbarkeitspotenzial von 54 Prozent vor dem Bergbau (48 Prozent), den Finanzdienstleistungen (48 Prozent), der Energieversorgung (32 Prozent), der Wasserversorgung (28 Prozent), wissenschaftlich-technischen Dienstleistungen (24 Prozent), dem Handel (22 Prozent), Verkehr und Logistik und dem Bau (je 21 Prozent).

Wie die Oxford-Studie, so spricht auch die des IAB nicht von realer Arbeitslosigkeit, sondern von »Ersetzungspotenzialen«. Wie viele Arbeitsplätze gingen verloren, wenn alles das, was gegenwärtig technisch möglich ist, tatsächlich umgesetzt würde? Von der Oxford-Untersuchung unterscheidet sich die des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung auch dadurch, dass sie keine weiteren technischen Entwicklungen oder Sprünge einkalkuliert, die durch den massenhaften Einsatz von Machine Learning und anderer KI-Programme möglich sein könnten. Doch selbst ohne die zukünftig erwartbaren Sprünge der Technik ist das Ergebnis der Untersuchung dramatisch. Sie legt, nicht anders als die Oxford-Studie, nahe, dass allein in Deutschland alles in allem Millionen Arbeitende in der Fertigung und in der Energieversorgung, Buchhalter, Finanzbeamte, Verwaltungsfachleute, Juristen, Steuerberater, Lkw-, Bus- und Taxifahrer, Verkäufer, Bankangestellte, Finanzanalysten, Versicherungsagenten und so weiter schon bald nicht mehr gebraucht werden. Beschäftigungen, bei denen jemand auf der Rückseite eines Flachbildschirms etwas bearbeitet, das der Kunde nicht sieht, also »Flachbildschirmrückseitenberatung«, wie der Mathematiker und ehemalige IBM-Manager Gunter Dueck sie nennt, sterben aus. Und mit ihr ungezählte Tätigkeiten in den Industriehallen, auf den Straßen und hinter den Türen von Behörden, Ämtern und Versicherungen.

Was folgt daraus? Sollte auch nur die Hälfte dessen, was hier von Universitäten, Forschungseinrichtungen und Unternehmensberatungsfirmen prognostiziert wurde, eintreffen, wäre das Chaos in allen Industrieländern programmiert. An der Börse schäumt der Champagner, die Aktionäre reiben sich die Hände – und die Zahl der Unterbeschäftigten und Arbeitslosen explodiert. Massenarbeitslosigkeit ist gemeinhin eines der größten Bedrohungsszenarien in der Politik und oft genug der Vorbote oder Auslöser politisch unruhiger Zeiten. Versorgungs- und Verteilungsfragen treten dann dringlicher hervor und werden um ein Vielfaches schärfer diskutiert. Wenn die Zahl der Jobs sinkt, erhöht sich der Lohndruck nach unten, die Unzufriedenheit der Unbeschäftigten und ohne eigenes Verschulden schlechter Bezahlten wächst. Bröckelt der soziale Kitt, der in den Industrieländern untrennbar mit der Arbeitsgesellschaft zusammenhängt, nimmt die gesellschaftliche Stabilität ab.

Ein erschreckendes Szenario – aber trifft es tatsächlich ein? Gibt es nicht auch zahlreiche Ökonomen mit eigenen Studien, die die Prognosen der Oxford-Studie und manche andere Untersuchung mit gleicher Aussage und Tendenz stark anzweifeln? Sie gibt es – und dies fast nirgendwo in der Welt so häufig wie in Deutschland.

Die große Entwarnung Ökonomen futurisieren die Vergangenheit

Kein Jahr nach der Veröffentlichung der Oxford-Studie, im August 2014, gab das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung eine Presseinformation heraus. Das langfristige Ziel der deutschen Politik sei »Vollbeschäftigung«. Schaffe man die notwendigen Voraussetzungen, insbesondere im Bildungssystem, so IAB-Forschungsbereichsleiter Enzo Weber, dann könnte die Arbeitslosigkeit irgendwann nur noch zwei bis drei Prozent betragen, die Zahl der Arbeitslosen läge dann bei einer Million.1

Vier Jahre später, das IAB hatte inzwischen seinen Bericht über massenhafte Ersetzungspotenziale in der deutschen Wirtschaft veröffentlicht, sprach auch die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung weiterhin seelenruhig von Vollbeschäftigung: »All das, was wir uns für die Verbesserung der Lebensbedingungen in unserem Land vorgenommen haben, wird letztlich nur gelingen, wenn noch mehr Menschen als heute Arbeit haben. Deshalb wollen wir bis zum Jahre 2025 Vollbeschäftigung erreichen.«2

Während auf der einen Seite eine Flut internationaler Studien die hohen Automatisierungspotenziale vieler Arbeitsplätze in den Industrieländern auflistet und den wohl größten Umbruch seit mehr als hundert Jahren beschreibt, einen Umbruch, dessen Turbulenzen schier unabsehbar sind, sprechen deutsche Arbeitsmarktforscher und die Bundeskanzlerin, von all dem völlig unberührt, vom Ziel der Vollbeschäftigung. Wie ist das möglich? Liegen all diese Untersuchungen dermaßen falsch? Übersahen sie etwas, was die Kanzlerin und mit ihr die Bundesregierung viel besser wusste?

Immerhin, die Aussicht vom Berggipfel der Konjunktur schien 2018 klar, heiter und beruhigend. Von einem Sturmtief nichts zu sehen. Die Wirtschaftslage war bestens und die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland mit rund fünfundvierzig Millionen Menschen auf einem Rekordhoch. »Fachkräftemangel« und nicht »Massenarbeitslosigkeit« war die Sorge der Stunde. Erst die COVID-19-Pandemie verdunkelte den Himmel, schwächte die Wirtschaft und kostete ungezählten Menschen den Job. Aber die Pandemie wird eines Tages enden – wird dann auf dem Arbeitsmarkt alles wieder mehr oder weniger sein wie früher? Und werden wir dann weiterhin Vollbeschäftigung als vermeintlich realistisches Ziel anstreben?