Anna Holland - Ralph Tremmel - E-Book

Anna Holland E-Book

Ralph Tremmel

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Beschreibung

Die schöne, allseits geliebte Anna heiratet Bertram, das einzige Kind schwerreicher Eltern. Sie tötet die ganze Familie, einen nach dem anderen und alles ohne Blutvergießen, ohne Pistole, Messer etc., ja sogar ohne Gewalt. Klinisch reine Morde gewissermaßen. Wie Frauen eben töten. Und bei all dem bleibt sie die allseits geliebte Anna, die das Schicksal so ungerecht behandelt. Der Roman ist weder Thriller noch Krimi. Er ist eine böse Geschichte von einer bösen Frau, einem Todesengel, wie ihr Vater zum Schluss erkennt.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2017

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Ralph Tremmel

Anna Holland

 

Ein böser Frauenroman

 

Impressum:Autor: Ralph Tremmel69126 HeidelbergMombertplatz 84      Coverbild: AutorSchrift: Google Fonts: noto Korrektorat: Kerstin Thieme

tolino media ISBN: 97837394053532015, 2026

 

 

Einer

schönen Frau

glauben Männer alles

 

Prolog

Die schöne, allseits geliebte Anna heiratet Bertram, das einzige Kind schwerreicher Eltern. Sie tötet die ganze Familie, einen nach dem anderen und alles ohne Blutvergießen, ohne Pistole, Messer etc., ja sogar ohne Gewalt. Klinisch reine Morde gewissermaßen. Wie kluge Frauen eben töten. Und bei all dem bleibt sie die allseits geliebte Anna, die das Schicksal so ungerecht behandelt. Der Roman ist weder Thriller noch Krimi. Er ist eine böse Geschichte von einer bösen Frau, einem Todesengel, wie ihr Vater am Ende erkennt.

 

16. September, Nachmittag

„Anna, heiratest du mich?“

Anna

Anna war achtundzwanzig Jahre alt. Sie hatte in Heidelberg Englisch und Spanisch studiert. Vor einem halben Jahr war sie in Spanisch als Verhandlungsdolmetscherin vereidigt worden. Englisch sollte bald folgen. Sie war ihres offenen, fröhlichen und freundlichen Wesens wegen allgemein beliebt. Und man hätte noch mehr positive Eigenschaften anhängen können. Kurz: Wollte man alle Plus- und Minuspunkte Annas zusammenzählen, würde man eine stattliche Pluszahl erreichen, denn sie besaß keine Minuspunkte. Zumindest hätte niemand welche benennen können. Nicht einmal ihre Eltern, die sie doch am besten kennen mussten.

Als wären das nicht genug der Qualitäten, die man einem Menschen nachsagen kann, hatte die Natur sie auch noch mit einem bildschönen Äußeren versehen. Unter den männlichen Kommilitonen des Dolmetscherinstituts, die das Pech hatten, sie lediglich vom Sehen zu kennen, wurde sie nur als Die Schöne gehandelt. Dass sie Anna hieß, wusste jeder. Natürlich wusste auch Anna um ihre Schönheit. Aber, und das ist ein weiterer Pluspunkt, der erwähnt werden muss, sie zeigte nicht den geringsten Eitel. Immer blieb sie der gute Kumpel und bewies das gelegentlich durch eine erstaunliche Trinkfestigkeit. Unbedingt erwähnt werden muss in diesem Zusammenhang ihr leichter Silberblick. Außergewöhnliche Schönheit ist eine Sache. Ein leichter Silberblick als Dreingabe ist fast zu viel des Guten. Im Mittelalter wäre sie allein ob ihrer Schönheit der Hexerei verdächtigt worden. Dieser angedeutete Silberblick aber hätte den letzten Zweifler an ihrer satanischen Herkunft zum Schweigen gebracht. Im Mittelalter.

So viel zu Anna.

„Anna, heiratest du mich?“

Heidelberg

Wenn der Neckar Heidelberg passiert, liegt die Altstadt links und Neuenheim rechts. Die Alte Brücke markiert dem Fluss den Beginn der Altstadt, die Theodor-Heuss-Brücke ihr Ende. Rechts, also zur Neuenheimer Seite hin, beginnt nach der Brücke die Brückenstraße. Weniger als hundert Schritte weiter befindet sich eine Bäckerei. Sie hat einen Teil ihrer Räumlichkeit mit Tischen und Stühlen ausgestattet. Das Besondere an dieser Bäckerei sind die gewaltigen Fenster, die bis zum Boden reichen. Werden sie zur Seite geschoben, hat man das Gefühl, im Freien zu sitzen. Ein Schritt trennt von den Fußgängern, fünf Schritte vom Straßenverkehr und zehn Schritte von den Schienen der Straßenbahn, die alle drei Minuten summend und manchmal bimmelnd vorbeirollt. Wer das mag, der kann bei mildem Wetter und Sonnenschein bei einer Tasse Kaffee dem Treiben mediterranes Flair abgewinnen.

So viel zu Heidelberg.

Es war an einem sonnigen Septembernachmittag in diesem Café, als Bertram Anna diese Frage zum dritten Mal stellte.

„Anna? Hörst du mir überhaupt zu? Heiratest du mich?“

Bertram

Bertram war der Sohn schwerreicher Eltern. Ihr einziges Kind. Er hatte Betriebswirtschaft studiert und sich für die Branche seines Vaters entschieden. Gegen dessen Rat und ohne jede Unterstützung von ihm. Er besaß ein kleines Maklerbüro in Mannheim und nannte eine supermondäne Wohnung in den oberen Stockwerken des Collini-Centers sein Zuhause. Die Miete trugen seine Eltern. Auch wenn er es nicht zugeben wollte, so wusste doch jeder, dass er dem Erfolg seines Vaters nacheiferte. Aber wer ihn näher kannte, wusste auch, dass das vergebliche Mühe war. Ihm fehle der Biss und die Connections, so die Meinung seines Vaters, der ihn für das Geschäft des Immobilienmaklers einfach nicht gemacht hielt. Bertram hatte es Anna freimütig anvertraut. Seine Kundschaft entsprach dem. Sie bestand aus Menschen auf der Suche nach einer preisgünstigen Mietwohnung. Wie so viele Männer, die einfach ticken, fuhr er dennoch einen Wagen, den er sich besser nicht leisten sollte.

So viel zu Bertram.

Anna schaute gerade einer Frau mit Kinderwagen nach. Sie ließ sich Zeit mit der Antwort. „Warum willst du das?“

„Weil ich dich liebe.“

„Entschuldige, wenn ich jetzt damit komme, aber hast du nicht gesagt, du seist schwul?“

„Bi, Anna, nur bi. Und auch das ist Vergangenheit. Hast du schon vergessen? Ich bilde mir ein, ich war nicht schlechter als andere.“ Er lächelte linkisch, als ob er sich für die Worte schämte.

Sie sah ihn lange an. Nachdenklich. Sie überlegte, ob sie ihm etwas verraten sollte. Er spürte das und wartete. Umständlich zündete sie sich eine neue Zigarette an. Die beiden Bäckereimädchen hatten noch keinen Einwand erhoben. Immerhin saß sie am äußersten Rand des Ladens und hielt die Hand mit der Zigarette demonstrativ am ausgestreckten Arm nach draußen. Es qualmte deshalb mehr auf der Straße als drinnen. Es mochte aber auch sein, dass Annas Schönheit die Mädchen hinter der Theke einschüchterte, ein Attribut, von dem die beiden nur träumen konnten. Bertram warf einen kurzen Blick auf den Unterteller, den Anna als Ascher nutzte. Drei abgerauchte Kippen lagen da. Warum sie nicht selbst wie eine Kippe stank, sondern, im Gegenteil, immer wie eine Schale frischen Obsts duftete, wunderte ihn.

„Bertram, überrascht es dich, wenn ich dir verrate, dass du der zweite Mann in meinem Leben warst, mit dem ich das gemacht habe? Ich meine, mit dem ich geschlafen habe.“

„Oh, das überrascht mich allerdings. Bei deiner Schönheit.“

„Siehst du? Ja, alle erwarten etwas anderes. Das genaue Gegenteil. Tatsächlich bin ich nicht sonderlich scharf auf Sex. Ich glaube übrigens, das geht vielen Frauen so. Ohne Frage nach dem ersten Mal. Und damit du es weißt, mit dir hat es mir mehr Spaß gemacht. Auch wenn es nur ein Mal war und obwohl du schwul bist.“

„Vielleicht deshalb“, erwiderte er mit einem Augenzwinkern. „Im Übrigen war ich bi. Und damit du es weißt, darüber habe ich nie nachgedacht. Die Frage, wie oft du und so weiter, hat mich nie beschäftigt. Ich liebe dich, was, nur nebenbei bemerkt, allein doch schon beweist, dass ich nicht schwul sein kann. Für mich bist du ein ganz besonderer Mensch. Nein. Du bist ein ganz besonderer Mensch. Was ist jetzt? Heiratest du mich?“

„Geht es noch eine Spur romantischer? Und warum willst du das überhaupt? Ich verstehe es nicht.“

„Sagte ich das nicht bereits? Weil ich dich liebe. Ist dir das nicht genug?“

„Doch. Aber hast du mir nicht von einer Beziehung mit einem Mann erzählt? Über Jahre soll sie gedauert haben. Wann hat sie geendet? Vor zwei Jahren?“

„Vor drei. Anna, das habe ich dir doch schon alles erzählt.“ Sie ignorierte das.

„Du sagtest, ihr hättet euch geliebt.“

Bertram nickte. „Gut möglich, dass er mich heute noch liebt.“

„Du ihn nicht mehr?“

„Die Zeit mit ihm war sehr schön und ich bin ihm dankbar dafür. Aber es ist vorbei. Ja, es stimmt. Daran zu denken wärmt mein Herz. Aber sofort erschrecke ich auch. Vor mir erschrecke ich. Ich will nie mehr so sein. Nie mehr. Ich bin es nicht mehr und ich werde es nicht mehr.“

„Er war älter als du.“

„Ziemlich. Und er war schwul, nicht bi.“

„Das hat er dir gesagt?“

„Wir haben uns alles gesagt.“

„Warum habt ihr euch dann getrennt?“

„Uns war beiden klar, dass wir mit unserem Verhältnis nie an die Öffentlichkeit gehen konnten. Er vor allem. Eine angesehene Person in einer kleinen Gemeinde. Ein hoher Posten in einer Weltfirma. Die Familie. Nein, ganz ausgeschlossen für ihn, sich zu outen, wie es so idiotisch heißt.“

„Und für dich?“

„Für mich auch. Meine Eltern zum Beispiel. Sie sind die Letzten, die erfahren dürfen, was einmal war. Es ist vorbei, Anna. Ich weiß es. Ich habe kein Verlangen mehr nach einem Mann.“

„Warum bist du dir da so sicher?“

„Weil ich attraktiven Frauen nachschaue. Nie Männern. Anna, müssen wir weiter darüber sprechen? Siehst du nicht, wie mir das zu schaffen macht? All die Jahre musste ich diese verdammte Veranlagung verbergen. Und jetzt widersprich nicht! Ich sehe schon, du willst. Es stimmt einfach nicht, dass Schwulsein heute akzeptiert ist. Bi genauso wenig. Alle tun so, reden politisch korrekt, aber sie denken anders. Da ich mich nie erklärt habe, bekomme ich den versteckten Spott mit. Bin ja einer von ihnen, will sagen, von euch.“

„Ich habe nie über Schwule gespottet.“

„Ich weiß. Darum habe ich mich dir auch offenbart. Du bist anders. Dir kann man alles anvertrauen. Und du ahnst nicht, was es für mich bedeutet, wenigstens einen Menschen zu haben, mit dem ich darüber unbefangen reden kann.“

Anna war sehr ernst geworden. Ihre Augen hatten seine fixiert und nicht mehr freigegeben. Sie konnte das, sie musste das. Schon als Kind hatte sie damit Menschen in Verlegenheit gebracht, manchmal auch zur Weißglut. Ihr Vater hatte ihr erzählt, dass er irgendwann einmal und ganz plötzlich begriffen habe, dass dahinter gar keine Absicht lag, sondern tatsächlich ein Teil ihres Wesens, an dem sie so wenig etwas ändern konnte wie an ihrem leichten Silberblick. Von da an habe er diesen Blick genossen wie ihre Stimme und ihren Atem. Anna vergaß ihm diese Liebeserklärung nie. Bertram war noch nicht so weit.

„Anna, hör auf, mich so anzustarren. Ist mein Anliegen so anmaßend, womöglich lächerlich? Andererseits halte ich es für denkbar, dass du mit deinen Gedanken überhaupt nicht bei der Sache bist. Weißt du überhaupt noch, worum es mir geht?“

„Du hast mich gerade gefragt, ob ich heute Abend schon etwas vorhätte. Und ja, das habe ich. Bei Rudi Geburtstag feiern.“

„Hast du Geburtstag?“

„Nein, aber Rudi.“

„Den kenne ich nicht.“

„Da siehst du, wie wenig du von mir weißt. Rudi führt Das Eck. Eine kleine Kneipe in der Nähe meiner Wohnung.“

„Was ist jetzt, Anna, wirst du meine Frau?“

„Du bittest mich um meine Hand, einfach so, als ob es da um eine x-beliebige Sache ginge, und so nennst du sie ja auch: eine Sache. Bei der Sache handelt es sich aber um ein Bündnis bis zum Tod und darüber hinaus bis in alle Ewigkeit. Und das ist keineswegs etwas, um das man mal eben so bitten kann.“

„Was soll ich denn anderes tun, als dich fragen? Hinter der Frage steht natürlich eine Bitte. Die Bitte, mich zu heiraten.“

Anna unterzog die Tischplatte einer pingeligen Untersuchung. „Lass mich nachdenken. Deshalb wolltest du mich also unbedingt und möglichst sofort sehen. Hatte mich schon gewundert über diese Dringlichkeit. Übrigens muss Ingrid jeden Moment eintreffen. Ich hatte ihr vorgeschlagen, sich zu uns zu setzen. Ich ahnte ja nicht, worum es gehen würde.“

Bertram rollte mit den Augen. „Dann müssen wir uns beeilen. Sag doch einfach Ja. Das geht am schnellsten. Bei der Trauung musst du das doch auch.“

Anna stöhnte laut auf. Gäste schauten irritiert herüber. „Bertram, was ist das für eine Logik!“, flüsterte sie streng. „Und was ist das denn überhaupt für ein Heiratsantrag? Ich wette, einen so miserablen Antrag hat noch keine Frau erlebt. Aber gut, bleiben wir bei der Sache, die du einen Antrag nennst. Das ist ja auch ganz passend. Es ist dir eine Sache, kein Antrag. An eine Ehe mit irgendjemandem, nur weil da nichts dabei ist, habe ich bisher noch nicht gedacht. Mein Studium ist so gut wie zu Ende. Bei mehreren Firmen in der Umgebung stehe ich auf der Liste der Dolmetscher. Hebel ist darunter! Im Moment lebe ich so frei, wie ich es mir immer gewünscht habe. Und das Städtchen hier ist auch klasse. Warum sollte ich mich binden? Womöglich Mutter werden. Da kann ich ja gleich ins Gefängnis gehen.“

„Du weißt, meine Eltern sind vermögend. Ziemlich sogar. Du könntest so frei bleiben, wie du magst. Du weißt auch, dass ich keine Geschwister habe. Ich bin der einzige Erbe.“

„Du bietest mir den Tod deiner Eltern als Mitgift?“

„Quatsch. Ich wollte damit nur sagen, dass du auch weiterhin so frei sein kannst, wie du willst.“

„Bei dem Reichtum, den ich mit dir heirate, werde ich die Lust an ehrlicher Arbeit verlieren. Wozu habe ich studiert?“

„Du könntest shoppen gehen, so viel du Lust hast.“

Sie lachte hell auf. „Mensch, Bertram! Ja, das ist der Sinn des Lebens. Nur nicht meiner. Und was werden deine Eltern sagen, wenn du eine arme Maus wie mich heiratest? Die haben doch garantiert schon Pläne mit dir.“

„Nichts. Meine Eltern sind in Ordnung.“

„Lass mich drüber nachdenken. Bis morgen wenigstens. Ich mag dich auch, Bertram. Ich will nicht behaupten, ich würde dich lieben. Solche pathetischen Sätze liegen mir nicht. Und darum wirst du ihn vielleicht auch nie von mir hören.“

„Das ist ja schon eine halbe Zusage, Anna. Dann werde ich dich also um null Uhr eins anrufen.“

„Wenn du das tust, hast du’s verschissen.“

„Ich mag es, wenn du ordinär bist. Und ich mag es, wenn du säufst. Und ich mag es, wenn du Kette rauchst.“

„Und du willst mich trotzdem heiraten?“

„Genau darum.“

„Hör zu: Ich sage heute noch nicht Ja oder Nein. Aber eine Bedingung stelle ich, sonst wird es nichts. Vorläufig, sagen wir mal im ersten Jahr, behalte ich meine Wohnung hier in Heidelberg. Sie und die Stadt sind mein zweites Zuhause geworden. Ich brauche Zeit, das aufzugeben. Außerdem kann ich mich dort am besten auf die Dolmetscheraufträge vorbereiten. Und last, not least will ich es einfach so.“

„Das muss ich dann wohl akzeptieren. Wobei ich hoffe, dass du wenigstens gelegentlich in unserer gemeinsamen Wohnung übernachtest. Wie soll ich sonst beweisen, dass ich …“ Er hüstelte.

„Darauf bin ich gespannt.“

Ingrid

Ein Schatten fiel auf die Tischplatte. Ingrids Schatten, Annas bester Freundin. Resolut und direkt wie sie war, fiel sie überall auf. Ganz besonders in der Männerwelt. Sie war hübsch genug, um begehrt zu werden. Ihre frivole Schlagfertigkeit erhöhte die Temperatur jeder Party. Sie besaß die geachtete, aber unterbezahlte Ausbildung zur Kinderkrankenschwester und hatte eine Anstellung in der hiesigen Kinderklinik gehabt, für die sie seinerzeit aus Hamburg hergezogen war. Sie besaß nur drei Mängel: zwei kleine Kinder und keinen Mann dazu. Die Arbeitsstelle hatte sie aufgegeben. Sie lebten von der Stütze und dem Kindergeld. Letzteres ginge allerdings allein für die Windeln drauf, wie sie regelmäßig betonte. Doch im Grunde lebten sie gesund. Ihre Beine sähen wieder aus wie neu. Ihr kleiner Sohn könne schon mehr am Stück laufen als viele Erwachsene. Und es sei bildend. Sie kenne inzwischen jeden Winkel in Neuenheim und Handschuhsheim. Es klang aber ein wenig Verzweiflung darin mit, denn in Wahrheit war es ihre ewig knappe Kasse, die sie die öffentlichen Verkehrsmittel meiden ließ.

So viel zu Ingrid.

Sie stand noch auf dem Bürgersteig. Neben ihr der Kinderwagen und an der freien Hand Gavin, der schon die Stufe ins Café heraufgekraxelt war. Sein Kopf reichte gerade über die Tischkante, an der er bereits zu knabbern begonnen hatte, als wäre sie aus Schokolade. Seine Augen rollten wie Murmeln in kleinen Säckchen hin und her, abwechselnd Anna und Bertram diese unschuldigen Blicke zuwerfend, wie nur kleine Kinder sie zuwege bringen. Anna wollte Ingrid schon darauf aufmerksam machen, dass Gavin eben dabei war, den Tisch zu verspeisen, da fiel ihr wieder ein, dass ihre Freundin ihre eigene Meinung besaß, was die gesunde Ernährung ihrer Kinder betraf. Demnach konnte der kleine Körper nicht früh genug mit allem in Berührung kommen, was der Globus zu bieten hatte. Dann und nur dann würde er für den Rest seines Lebens ohne Arzt auskommen. Anna glaubte nicht, dass das der allgemeinen Lehre in der Kinderkrankenpflege entsprach. Fasziniert betrachtete sie, wie die kleinen Zähnchen sich abmühten, ein Stückchen von der Tischplatte abzubeißen. Da fiel ihr der Sabber auf, der rechts und links aus den Winkeln dieses kindlichen Mundes floss und über den Tischrand verschwand, so zäh wie Eiweiß über die Eierschale. Instinktiv zog sie die Füße zurück.

„Dürfen wir uns zu euch setzen? Wir sind auch ganz still und hören nur zu.“ Sie ließ den Kinderwagen draußen stehen.

„Sieh an, die Ingrid mit ihrer Familie. Ich gestehe es gleich, Ingrid. Ich habe den Namen dieses jungen Herrn, der eben dabei ist, unseren Tisch zu verzehren, vergessen.“

„Bertram, dein Gedächtnis macht mir Sorgen. Gavin ist sein Name.“

„Sehr hübsch. Und wie heißt die junge Dame hier, die so tut, als würde sie schlafen?“ Bertram war aufgestanden und hatte sich über den Kinderwagen gebeugt.

„Das ist die Schlafende namens Inna. Hast du alles vergessen? Dein Gedächtnis ist wirklich ein Sieb. Bist du mit deinem Geschäft eigentlich erfolgreich?“

„Ina, die schöne Schlafende.“

„Inna, mit zwei n.“

„Das ist es, was ich an den jungen Müttern mag. Die deutschen Namen tun’s nicht mehr, die große weite Welt muss her.“

„Ach Gott, Bertram, das reimt sich sogar.“

„Das ist kein Zufall. Es ist mein persönlicher Reim.“

„Du bist doch Immobilienfritze.“

„Immobilienhai“, korrigierte Bertram mit erhobenem Zeigefinger. „Wir wollen doch beim Vorurteil bleiben. Ich muss jetzt dringend los. Der Hai trifft sein nächstes Opfer. Eine junge Familie. Beide jobben. Vom Wohnungsamt zu mir geschickt. Tja, so was nenne ich Beziehungen. Tschüss Gavin und Ina.“

„Inna!“

„Verzeih mir. Aber ich bin zurzeit einfach supergut drauf.“ Bertram drehte sich nach einigen Schritten noch einmal um. Als er sah, dass ihm Ingrid den Rücken zukehrte, streckte er Anna die zum Gebet gefalteten Hände entgegen und formte mit den Lippen ein deutliches Bitte. Anna konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

„Was ist? Hat er mir den Mittelfinger gezeigt?“

„Quatsch. So was würde er nie tun. Bertram ist okay.“

Fasziniert betrachtete sie Gavin, aus dessen Mundwinkeln der Speichel wie Wasser floss. Warum war er noch nicht dehydriert? Ingrid bemerkte ihren Blick.

„Er zahnt noch“, erklärte sie. „Ich muss mal. Schau, dass Gavin keinen Unsinn macht. Gavin! Du gibst Ruhe, ja? Mama muss mal Pipi. Tante Anna gibt auf euch acht. Alles klar?“ Auf dem Weg zum Klo gab sie an der Theke eine Bestellung auf.

Gavin sah seine neue Tante an, die Tischplatte unverdrossen zwischen den Zähnen. Die kleinen Kiefer mahlten. Spucke strömte. Anna erwiderte seinen Blick mit einem sehr ernsten Gegenblick. Ihre Augen glänzten verdächtig. Erste Tränen füllten die Winkel, flossen, anfangs holpernd, an den Nasenflügeln herab, kullerten über die Oberlippe und zerplatzten auf dem Tisch. Gavin war schockiert. Augenblicklich gaben seine Zähne den Tisch frei. Er lehnte sich zurück und schaute in die Ferne. Ein Erwachsener, der weint! Sogar der Speichelfluss war versiegt. „Siehst du, es geht auch so“, sagte Anna mit ruhiger Stimme. Es klang wie eine Drohung. Mit dem Ärmel trocknete sie ihr Gesicht. Ingrid kam zurück.

„Was ist los?“

„Ich hatte was im Auge. Übrigens, Rudi hat Geburtstag. Heute Abend gibt er einen aus. Kommst du mit?“

Ingrid zog ein verzweifeltes Gesicht. „Mich hat er auch eingeladen. Aber wie denn?“

„Babysitter?“

„Selbst wenn ich einen wüsste, könnte ich ihn nicht bezahlen.“

Die Bedienung stellte eine Apfeltorte mit einer doppelten Portion Sahne vor Ingrid hin. Gavin durfte von der Sahne naschen. Er verzichtete fürs Erste auf die Tischplatte.

„Ich hätte auch gerne so was, aber ohne Kuchen“, wünschte Anna.

„Die Sahne ist doppelt.“

„Ich will ja nur die Sahne.“

„Ohne Kuchen?“

„Genau. Nur die Sahne.“

„Doppelt?“

„Herrgott ja! Einmal Sahne doppelt, sonst nichts!“

„Sieh an. Du kannst auch grob. Die Bedienung ist gekränkt. Schau wie sie abrauscht.“

„Die ist auch schwer von Begriff. Ich hätte da vielleicht einen Babysitter, Ingrid. Eine junge Studentin. Ganz lieb und zuverlässig. Und bezahlen würde ich sie. Natürlich nicht, um dir ein Geschenk zu machen. Du hast ja alles, was Frau sich wünscht. Nein, aus ganz egoistischen Gründen. Es ist doch allgemein bekannt, dass du jede Party aufmöbelst. Du würdest mir einen Gefallen tun. Ich bring dich als Geschenk mit. Rudi wird es mir danken.“

„Das mit Rudi glaube ich dir gerne. Bei ihm habe ich nämlich eine Anschreibliste, die reicht bis zum Boden. Er wird denken, ich komme, um sie zu begleichen.“

„Aber doch nicht heute auf seiner Geburtstagsparty! Pass auf. Sobald das mit der Babysitterin geklärt ist, rufe ich dich an. Wenn ich dich abhole, bringe ich sie mit. Alles klar?“

Ingrid umarmte sie spontan. „Eine Freundin wie dich und das Leben ist schön.“ Auch sie bekam jetzt tatsächlich feuchte Augen.

Anna schob sie sacht weg. „Ich habe dir doch gesagt, es ist nur wegen der Party.“

Nachdem sie sich noch eine Weile abwechselnd Belangloses und Neues erzählt hatten, wurde Anna plötzlich ernst: „Es geht mich nichts an und darum habe ich dich noch nie gefragt. Jetzt frage ich dich aber doch. Du musst es mir nicht sagen. Kannst mich auch anlügen.“

„Mein Gott, mach es nicht so spannend. Ich kann es mir aber schon denken. Du bist der einzige Mensch, der es noch nicht wissen wollte. Hat mich schon gewundert.“

„Du sagst, du kennst die Väter der beiden nicht. Ist das wirklich so?“

Ingrid lächelte. „Nein. Es ist nicht so. Ich kenne die Väter. Aber das bleibt unter uns! Das habe ich nämlich noch keinem verraten.“

„Ja, verdammt, warum klärst du das dann nicht? Weißt du, was dir an Geld entgeht?“

„Das weiß ich schon.“

„Warum dann?“

„Das liegt doch auf der Hand. Sie werden Mitsprache bekommen. Besuchsrechte. Lieber bleiben wir arm, als uns diesen verkommenen Subjekten auszuliefern, nicht wahr, meine Würmchen?“ Sie strich Gavin über den Kopf. Dem Kinderwagen versetzte sie einen zärtlichen Stoß. Das erwies sich als Fehler. Inna erwachte und begann augenblicklich mit einer jener Klagen an die Welt, die bekanntlich nicht enden wollen. Ingrid packte ihre Sachen zusammen. „Es sind zwei Klötze an meinem Bein. Zwei Nägel zu meinem Sarg. Aber schon komisch. Ich habe sie trotzdem lieb. Mutterliebe. So was kennst du natürlich nicht.“

„Mir kommen trotzdem die Tränen.“

„Einen Mann, der uns drei akzeptiert, werde ich allerdings auch nicht finden. So doof ist keiner.“

„Witwer ab sechzig vielleicht schon. Die sind einsam. Natürlich muss er Geld haben.“

„Kennst du einen?

Anna schüttelte den Kopf. „Bist du dir sicher bei den beiden?“

„Absolut. Rumgehurt habe ich nicht.“

„Es war meine Einladung. Ich übernehme das. In Ordnung?“

Ingrid steckte die Geldbörse wieder weg. „Aber klar doch.“

6. September, Abend

Auf dem Weg zum Eck sagte Anna: „Bertram hat heute um meine Hand angehalten.“

„Was?“

„Hat mich auch überrascht. Er ist nett und mir ein lieber Freund. Aber heiraten? Warum?“

„Na, wegen der Kohle natürlich.“

„Ich kann für mich selbst sorgen. Ich habe einen Beruf.“

„Den kannst du doch weiter betreiben. Oder verlangt er auch, dass du Hausfrau und Mutter wirst? Dann lässt du natürlich die Finger davon.“

„Sagst du nicht immer, du seist soo glücklich?“

„Natürlich bin ich glücklich. Aber mit Geld, ein wenig nur, wäre ich glücklicher. Ich habe da eine Idee! Heirate ihn, bring ihn unauffällig unter die Erde, dann bist du reich und heiratest mich. Das geht doch heutzutage. Dann leben wir beide glücklich bis an unser Ende. Und reich sind wir dazu.“

„Interessanter Gedanke. Mal in Ruhe drüber nachdenken.“

Ingrid klatschte in die Hände und stieß einen Schrei aus. „Wie wunderbar, einmal wieder richtig ausgehen zu dürfen. Anna, du kannst nicht ermessen, was das für mich bedeutet.“

„Ja, fast wie in alten Zeiten. Warum musstest du auch unbedingt Mutter werden? Du bist Krankenschwester. Was lernt ihr da? Heute weiß doch jedes Kind: Nach Bumm-Bumm macht’s Plopp.“ Untergehakt torkelten sie lachend über den Gehweg. Eine alte Frau musste ausweichen und zischte Unverständliches.

Ingrid drehte sich um. „Omi, Gebiss rausnehmen, wenn du mit uns sprichst“, nuschelte sie ihr nach. Lachend wie kleine Schulmädchen fielen sie durch die Tür ins Eck ein. Bis zur Theke warfen sie einen Stuhl um und kamen aus dem Lachen nicht heraus.

„Ihr seid ja schon besoffen, elendes Weibsvolk!“, rief Rudi über die Theke. „Ah, seht her, Leute! Anna hat Ingrid mitgebracht. Wie habe ich sie vermisst. Anna, das ist das schönste Geschenk, das ich heute bekommen habe. Begrüßt sie! Danke! Dreimal Dank!“ Ein Geheul wie im Zoo vor der Fütterung erklang zum Gruß.

„Er lügt“, flüsterte Ingrid. „Schau, seine Glatze blinkt rot.“ Anna wollte sich totlachen.

„Was flüstert ihr da über meine Glatze, Weibsvolk?“ Das ganze Eck lachte und keiner wusste worüber. „Seht ihr? Anna säuft alle unter den Tisch. Aber Ingrid ist die Stimmungskanone.“ Er knallte zwei Flaschen Weizen vor sie hin. „Das ist doch euer Gesöff für den Anfang? Oder wollt ihr gleich was Hartes? Heute geht alles auf meine Rechnung. Runder Geburtstag. Eintritt in ein neues Zeitalter.“

„Wie alt wirst du denn?“

„Dreißig.“

„Ich kann heute leider keinen unter den Tisch trinken. Muss die Stimmungskanone nach Hause fahren.“ Ingrid fiel ihr küssend um den Hals. Rudi brachte zwei Bier ans andere Ende der Theke. „In mir rotiert ein Karussell: Bertram – Ja oder Nein.“

„Zweiter Vorschlag: Noch mal Ja. Kohle rausholen, scheiden, gut leben und nebenbei deiner besten Freundin den Plan mit den Kitas finanzieren. Ich habe dir doch davon erzählt?“

„Mehr als einmal. Du besitzt ja die idealen Voraussetzungen zur Unternehmerin. Ausgebildete Kinderkrankenschwester mit zwei Kindern ohne Väter. Aber du sollst natürlich deine Kitas kriegen.“

„Eine würde für den Anfang reichen. Und wenn das läuft vielleicht noch eine oder zwei dazu.“

Rudi blieb vor ihnen stehen. „Mädchen. Heute ist kein Abend für ernsthafte Gespräche. Die Männer verlangen nach euch.“

„Warum sind so wenig Frauen hier? Mit uns sind es drei und geschätzte zwanzig Männer.“

„Weiß auch nicht, warum meine Gäste keine Frauen haben.“

„Ist das hier doch eine Schwulenbar? Den Verdacht hege ich schon länger.“

„Hast du was gegen Schwule?“

„Ich heirate einen.“

„Das nehme ich dir nicht ab. Außerdem war ausgemacht, dass du mich heiratest. Vergessen?“

„Rudi, du bist mein allerliebster Freund. Und darum kann ich dich nicht heiraten. Kinder sprengen die Ehe und die Ehe sprengt die Freundschaft. Nie gehört? Oder kennst du ein Ehepaar, das sich gut Freund ist?“

„Gleich nach deiner Schönheit bewundere ich deine Weisheit. Aber diesmal verfängt sie bei mir nicht. Wenn ich dein Gesicht betrachte und alles, was darunter folgt, passend hochrechne, wäre ich doch lieber dein Gatte als dein Freund. Mit allen ehelichen Rechten versteht sich.“

„Gib mir noch eine Flasche.“ Die Stimmungskanone hatte sich inzwischen unters Volk gemischt. „Noch was, Rudi. Ich übernehme die offene Liste, die sie noch bei dir hat. Es bleibt aber unter uns.“

„Unter zwei Bedingungen. Wir teilen uns das Ganze. Und ich fahre sie nach Hause. Ich muss nüchtern bleiben. Habe schon ein paar Typen versprochen, sie heimzufahren. Du und nüchtern bleiben heute Abend, das ertrag ich einfach nicht. Du wohnst doch gleich um die Ecke. Zeig den Jüngelchen, was du draufhast. Sonst kommt ja keine richtige Stimmung auf.“

„Einverstanden.“

Sie hatte für den nächsten Tag einen Dolmetscherauftrag, der anstrengend werden würde. Das wusste sie immerhin noch, als sie zum Bett torkelte. Sie verwünschte sich. In der richtigen Gesellschaft konnte sie sich einfach nicht zurückhalten. Der Magen tat ihr weh. Das mochte an den Zigaretten liegen. Das Kissen stank nach Nikotin, kaum dass sie zweimal ausgeatmet hatte. Sie hatte gerade eine Lage gefunden, die einigermaßen erträglich war, da summte das Handy die Ankunft einer SMS. Hoffentlich nicht Bertram, dachte sie und war erleichtert und belustigt zugleich, als sie auf das leuchtende Fensterchen sah. Eine Nachricht aus Speyer. Ihr Vater hatte es schließlich gelernt. Wann koMMST dU mal Wieder? Sie sah ihn förmlich mit der Tastatur kämpfen. Morgen Abend, eure Anna Es war ja so einfach, Eltern glücklich zu machen. Sie schaffte es noch, den Wecker zu stellen. Dann sackte sie weg wie der Anker im Meer.

7. September

Am darauffolgenden Vormittag verschwendete sie keinen einzigen Gedanken an ihren künftigen Ehemann. Gebettet in rehbraunem Leder schwebte sie über die Autobahn in einem Mercedes der Oberklasse. Dr. Rolf, ein Manager von Hebel aus dem oberen Management der Heidelberger Dependance, fuhr selbst. Sie waren unterwegs zum Flughafen Frankfurt. Die Kunden, um die es ging, kamen aus Spanien. Ein Dr. Costa und ein Herr Morales. Äußerst wichtige Kunden und alles musste in absoluter Freundlichkeit und natürlich in Perfektion über die Bühne gehen. Anna bildete sich ein, diesem Anspruch immer zu genügen. Dr. Rolf wiederholte diese Anweisungen auf der Fahrt mehrmals und das machte sie nervös. Überhaupt die Tatsache, dass die Gäste diesmal nicht mit dem Fahrdienst der Firma abgeholt wurden, sondern vom Gesprächspartner persönlich, war allein schon ungewöhnlich. Die Gäste mussten wirklich wichtig sein. Auf halber Strecke fiel Anna auf, dass Dr. Rolf ein anderes Thema für seine Gedanken gefunden hatte. Er schielte jetzt häufig nach halb rechts unten, wo sich ihre Beine befanden. Da wurde ihr klar, dass sie ein zu kurzes Kleid für den Tag ausgesucht hatte. Sitzend gab es die Knie frei. Nicht nur. Die Bewegungen des Autos hatten es bereits ein ganzes Stück weiter hochgeschoben. Sie hätte das Kleid gerne wieder runtergezogen, unterließ es aber. Es wäre zu deutlich ein Vorwurf an Dr. Rolf ob seiner Gedanken gewesen. Die Firma zahlte gut. Da durfte man nicht so zimperlich sein.

Gleich bei der Begrüßung stellte sich heraus, dass die beiden einen starken Akzent sprachen. Noch dazu jeder seinen eigenen. Ungeteilte Aufmerksamkeit und ständiges Beobachten der Lippen waren gefordert. Dennoch musste sie immer wieder nachfragen. Es ermüdete Anna bis zur Erschöpfung. In einer Kaffeepause während der Geschäftsgespräche nahm Dr. Rolf sie beiseite. „Heute klappt es aber nicht so doll.“

„Die sprechen starken Akzent.“ Er schien nicht zufrieden.

„Rauchen Sie schon in der Früh?“

„Aber die beiden sind doch Kettenraucher. Vermutlich riecht schon das halbe Haus nach diesem spanischen Kraut.“

„Mir schien aber schon auf der Fahrt zum Flughafen, dass Sie nach Nikotin riechen. Bemühen Sie sich. Sagen Sie, dieses Täschchen, das Sie da umgehängt haben, hat das eine Bedeutung für Sie?“

„Ein Geschenk von meinem Vater.“ Sie war müde und erschöpft und darum geschah noch etwas sehr Unangenehmes. Normalerweise schaltete sie ihr Handy während des Dolmetschens aus. Heute hatte sie es vergessen. Und so konnte es geschehen, dass mitten im Gespräch ihr Täschchen, das vor ihr auf dem Tisch lag, zu klingeln begann. Alle verstummten und schauten auf den lärmenden kleinen Sack aus kirschrotem Leder. Sie hatte tatsächlich in der Eile vergessen, ihre schwarze Dolmetschertasche mitzunehmen. Auch das war ihr noch nie passiert. Daran war diese verdammte Sauferei bei Rudi schuld. Und jetzt wurde ihr auch noch überdeutlich bewusst, dass ihre Handtasche eher zu einem Mädchen aus der Grundschule passte als zu einer Dolmetscherin, die auf die dreißig zuging. Max hatte sie ihr zum sechzehnten Geburtstag geschenkt. Schau rein hatte er sie mit einem spitzbübischen Lächeln aufgefordert. Vom Gewicht her hatte sie eigentlich nichts erwartet. Und dann lag darin eine Packung Zigaretten. Vaters Marke. Sie war aufgerissen und zwei Zigaretten ein Stück herausgezogen. Die ersten Zigaretten von Max! Nicht dass es ihre ersten Zigaretten gewesen wären. Aber die ersten von Max! Und die ersten, die sie gemeinsam rauchten. Ihr Vater, der Pädagoge, hatte sie die schöne Seite des Rauchens gelehrt, auf dem Balkon, Hand in Hand. Ein kurzer Blick zu Dr. Rolf zeigte ihr ein Gesicht, das vieles denken mochte, nur nichts Angenehmes. Verdammte Scheiße entglitt es ihr. Mehr gedacht als gesagt. An den Gesichtern der deutschen Teilnehmer konnte sie ablesen, dass ihr mit den Lippen geformter Fluch verstanden worden war.

Müde und erschöpft waren sie auf der Rückfahrt alle. Darum wurde auch wenig gesprochen. Und so passierte es, dass Anna einschlief. Der Kopf war leicht zurückgelehnt und der Mund offen. Der Nachbar steckte ihr einen Finger in den Mund. Noch bevor sie seine Hand wegschlagen konnte, hatte er sie bereits wieder zurückgezogen. Die beiden Spanier lachten aus vollem Hals. Dr. Rolf am Steuer verstand den Grund nicht, denn Anna saß hinter ihm. Zum Glück.

„Müde?“, fragte ihr Nachbar.

„Sehr. Es tut mir leid. Und verzeihen Sie, wenn ich das sage, aber Sie sprechen Dialekt. Ich war nicht darauf vorbereitet.“ Sie nickten verständnisvoll. Sie wussten es. Und dann geschah etwas, das sie noch nie erlebt hatte. Der Spanier schob ihr zusammengefaltete Geldscheine in die Hand. Beide gaben ihr mit den Augen zu verstehen, dass sie es nehmen solle.

Höfliche Verabschiedung von Dr. Rolf. Herzliche Verabschiedung von Anna. Dr. Costa sagte zu Dr. Rolf: „Ihre Dolmetscherin war sehr gut. Wir würden uns freuen, sie auch das nächste Mal dabeizuhaben.“ Anna zögerte einen Moment.

„Na, wieder nicht verstanden?“ Sie übersetzte und ließ ihn verwirrt zurück, während sie die beiden bis zum ersten Gate begleitete.

Auf der Rückfahrt achtete sie darauf, nicht wieder einzuschlafen. Plötzlich, sie hatten schon gute zwanzig Minuten in absolutem Schweigen verbracht, sagte Dr. Rolf: „Wie ich bereits zu verstehen gab, ging es heute nicht so gut. Dafür schulden Sie mir eigentlich etwas.“

So übertrieben leichthin, wie die Worte herausgekommen waren, spürte Anna eine Absicht dahinter. Aber welche konnte das sein? Sie tippte auf ein Abendessen. Obwohl sie sich nach ihren vier Wänden sehnte, würde sie zusagen. Immer an den nächsten Auftrag denken!

„Sie haben recht. Und was?“

Anstelle einer Antwort legte er seine Hand auf ihr Knie, nein, eigentlich bereits deutlich darüber. Denn wieder hatte sie ihr Kleid vergessen. Nach dem ersten Schock spielte sie in Gedanken blitzschnell mögliche Reaktionen durch. Den unmittelbaren Wunsch, die Hand wegzuschubsen, unterdrückte sie. Ja, sie erlaubte ihr sogar, einige Sekunden auf ihrem Schenkel liegen zu bleiben. Von der Unruhe des Fahrzeugs getrieben, verschob sie sich Millimeter um Millimeter, merkwürdigerweise immer nach oben.

„Wir werden zuerst zu Abend essen. Ich kenne bei Weinheim ein fantastisches Restaurant.“

„Ich heirate morgen.“

„Oh, tatsächlich?“ Er nahm die Hand weg.

„Ja. Und Sie werden sicher verstehen, dass ich nicht einen Tag vor der Hochzeit von einem anderen rangenommen werden will.“ Jetzt hatte sie sich doch nicht beherrschen können. Sie schätzte, sie würde es büßen müssen.

„Ja, natürlich“, murmelte er. Und nach einer Pause: „Wer ist denn der Glückliche?“

„Sie kennen ihn nicht. Beruflich spielt er nicht in Ihrer Klasse. Viel weiter unten.“ Vielleicht konnte sie ihm damit ein wenig schmeicheln. Der Rest der Fahrt verlief schweigend. An Weinheim ging es zügig vorbei. Von einem Abendessen war nicht mehr die Rede. Nächster Halt war der Firmenparkplatz, wo ihr alter Golf einsam herumstand. Der Abschied verlief kühl.

„Auf Wiedersehen, Herr Dr. Rolf. Einen schönen Abend noch.“

„Hm!“

Jetzt war sie sich sicher, einen Auftraggeber weniger zu haben. „Das ist mir so was von scheißegal!“, rief sie über den leeren Platz. Er hatte sie nicht einmal vor ihrem Auto abgesetzt. Erschöpft ließ sie sich in den Sitz fallen. Als Erstes schaltete sie ihr Handy wieder ein. Das Gepiepse entgangener Anrufe wollte kein Ende nehmen. Vier waren von Bertram. Der erste war mitten in die Verhandlung geplatzt. Sie würde ihm gehörig den Kopf waschen. Dann war da ein Anruf aus dem Büro von Dr. Peters. Das konnte einen neuen Auftrag bedeuten. Ihre erste Handlung morgen früh musste der Rückruf sein. Die beiden letzten Anrufe waren aus Speyer. O Gott! Die Eltern! Das Abendessen! Und es war bereits halb neun. Warum hatte sie gestern nicht daran gedacht? Sie suchte den Mama+Papa Eintrag.

„Hallo Anna.“

„Hallo Max. Bitte, bitte entschuldigt. Ich hatte einen Einsatz, der kein Ende nehmen wollte und ich konnte euch nicht anrufen. Ehrlich gesagt hatte ich das auch glatt vergessen.“

„Das macht doch nichts. Dann kommst du eben ein andermal. Ich wette, du bist jetzt sehr müde.“

Gab es einen verständnisvolleren Vater auf der Welt? „Stimmt. Ich bin wirklich kaputt. Es ist nicht so gut gelaufen. Schätze, ich habe einen guten Kunden verloren. Ich komme morgen, wenn es recht ist.“

„Natürlich. Und tut mir leid. Haben sie dich gerügt?“

„Nein, das nicht. Aber ich konnte ihre Unzufriedenheit spüren. Und das Schlimme: Sie war berechtigt. Ich erzähle euch alles. Ach so, das Essen. Mama ist sicher sauer.“

„Selbst wenn sie es wäre, was sie aber ganz sicher nicht ist, wird sie sofort Verständnis haben, wenn ich ihr von deinem unglücklichen Tag erzähle.“

„Danke, Max. Sag Paula liebe Grüße. Ich weiß ja nicht, was sie vorbereitet hat, aber ich mag auch Aufgewärmtes.“

„Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie dir so was anbieten würde. Dann esse ich heute eben die doppelte Portion.“

„Denk an deine Linie.“

„Wen interessiert die noch?“

„Mich.“

Sie hielt das Telefon noch eine Weile in der Hand, starrte unschlüssig auf den Platz hinaus. Ja oder Nein? Soll ich? Soll ich nicht? Mit einem lauten Fluch drückte sie Bertrams Nummer. Er meldete sich sofort.

„Anna!!“

„Wann heiraten wir?“

Langes Schweigen. „Oh, Anna! Danke! Danke! Mein heiliger Schwur, du wirst es nie bereuen.“

„Sollte es so weit kommen, wirst du dich über meine dunklen Seiten wundern.“

„Wenn du dunkle Seiten hast, bin ich ein Priester.“

„Ich bin hundemüde. Kann kaum noch das Handy halten. Gehe heute ohne Zähneputzen ins Bett. Morgen reden wir weiter. Und du bist ein Priester. Adios.“ Sie trennte das Gespräch, schaltete das Handy aus, fuhr in die Weststadt und machte sich auf ins Eck. Es gab keinen, der sie besser zurück ins Lot bringen konnte als Rudi. Später, zurück in der Wohnung, griff sie sich den Block mit den gelben Zetteln und schrieb Peters!! quer drüber. Den Zettel klebte sie auf die Eisschranktür, warf sich aufs Bett und fiel in einen traumlosen Schlaf, aus dem sie erst am nächsten Morgen um halb elf erwachte.

8. September

Das Erste, was sie erblickte, war der gelbe Zettel am Eisschrank. Was war es noch mal, das er ihr signalisieren sollte? Sie rieb die verklebten Lider, wickelte sich umständlich aus den verschwitzten Laken, richtete sich auf, stöhnend wie ein altes Weib, und schleppte sich hin. Peters!! Verdammt! Sie wählte und lauschte nervös dem Rufzeichen. Noch einen potenziellen Auftraggeber durfte sie nicht sausen lassen. Und wenn auch er ihr an die Wäsche wollte, würde sie eben die Zähne zusammenbeißen. Ihr fiel ein, dass Samstag war, Frau Ernst vermutlich im Wochenende. Da wurde der Anruf auch schon angenommen. Frau Ernst war dran. Freundlich wie immer dankte sie ihr für den Rückruf. Aber leider hätten sie nicht warten können und den Auftrag anderweitig vergeben müssen. Als sie die Enttäuschung in Annas Stimme vernahm, fand sie sogar tröstende Worte.

„Nicht traurig sein, Frau Werter. Der nächste Auftrag steht gewissermaßen vor der Tür und natürlich werde ich Sie zuerst anrufen. Ich verrate Ihnen etwas, aber Sie dürfen mich nicht verpetzen. Dr. Peters ist sehr von Ihrer Arbeit angetan. Nicht nur Ihrer Sprachgewandtheit wegen. Ihr ganzes Auftreten findet er so einnehmend. Und, wenn ich das noch sagen darf, ich auch.“ Anna stotterte ein Dankeschön. Die Sekretärin war doppelt so alt wie sie und in Dr. Peters’ Büro nicht nur die einzige Angestellte und offiziell auch die Chefsekretärin, sondern offenbar auch die Mutti vom Dienst. Anna war etwas beruhigt. Jetzt Bertram. Er legte augenblicklich los.

„Anna! Ich habe meine Eltern informiert. Wir MÜSSEN heute vorbeikommen.“

Das gehörte zu den Misslichkeiten, die sie mit der Vorstellung von einem festen Verhältnis in Verbindung brachte: die Schwiegereltern besuchen MÜSSEN. Warum hatte sie nur so schnell nachgegeben? Welcher Gedanke hatte sie dazu getrieben? Ihr fiel nur das Gespräch mit Ingrid und ihren Kitaplänen ein.

„Wann?“

„Um drei Uhr zum Kaffee.“

„Bertram, ich muss aber um sechs Uhr wieder frei sein. Auch ich MUSS!“

„In Ordnung. Ich verspreche es. Aber was …?“

„Bertram!“

„Schon gut.“

Jetzt Ingrid. „Wie geht es dir, Ingrid? Ich bin eben erst aufgewacht. Und du?“

„Oh, du glücklicher Mensch, der du keine Verantwortung trägst. Ich bin seit sechs Uhr auf den Beinen. Und vorher gab es schon mal die Brust.“

„Wie lange gibst du ihr denn noch die Brust?“

„Noch eine ganze Weile. Inna ist doch erst drei Monate.“

„War Rudi anständig auf der Heimfahrt?“

„Er hat mich geküsst.“

„Und? Ich meine, ist es beim Küssen geblieben oder bist du schon wieder schwanger?“

„Nix da. Natürlich hat seine Hand weitergefummelt. Ist ja ein natürlicher Reflex der Männer. Aber ich habe gesagt, erst muss er mich heiraten. Dann aber darf er so oft er will. Da wurde er nüchtern, trotz des Bonbons. Leider. Trotzdem bin ich in der Sache nicht ganz ohne Hoffnung. Er mag mich. So was spürt eine Frau. Und Kinder mag er auch. Das spürt eine Mutter. Ich bearbeite ihn weiter, aber so, dass er nichts merkt. Er ist nicht dumm, aber so klug auch wieder nicht. Und dann ist da was Komisches. Es würde auch zu meinem Gespür passen. Ich habe noch mal nachgedacht. Ich soll meine Schulden schon beglichen haben. Du hast es ja gehört. Aber das kann nicht sein. So weit ist es noch nicht mit mir. Weißt du was? Er hat mir die Schulden erlassen. Da bin ich jetzt ganz sicher. Ist doch süß, nicht?“

„Ich sag’s ja immer. Rudi ist ein feiner Kerl.“

8. September, Nachmittag

Sie wusste bereits, dass die Hollands im besten Viertel in vornehmster Hanglage die größte Villa besaßen. Bertram hatte sie vorbereitet. Aber als sie diesen Klotz und Protz von Eigenheim, das Bertram sein altes Zuhause nannte, dann sah, war sie deprimiert. Von Bertrams Vater erwartete sie nichts mehr, musste er doch für diesen Bau verantwortlich sein. Das Tor, ein glänzend schwarz lackiertes Eisengitter, wuchtig und schwer und gute zwei Meter hoch. Beiderseits schloss sich eine Mauer aus rotem Backstein an. Sie war nur knapp einen Meter hoch, aber bestückt mit bunten Glassplittern, die im Tageslicht böse funkelten. Dahinter wuchsen niedrige Büsche und Sträucher bis zur Villa hinauf, die über der Straße am Hang thronte. Sie entdeckte einen Pfad. Eingebettet zwischen Gebüsch und hüfthohen Tannenbäumchen führte er hügelan. An seinem Ende wartete eine schneeweiße Haustür. Sie war geschlossen. Bertram drückte einen unauffällig angebrachten Knopf.

„Besitzt du keinen Schlüssel?“

„Nein.“

„Es ist doch dein Elternhaus.“

„Du übersiehst, dass ich nicht mehr hier wohne.“ Nicht zu übersehen war auch die Nervosität, die Bertram ergriffen hatte. Der Toröffner summte.

Sie stieß ihn in die Seite: „Locker, Mann!“ Sie hatte das Gefühl, er brauche Unterstützung vor der Begegnung mit seinen Eltern und ergriff seine Hand. Als er versuchte, sich ihr wieder zu entziehen, umklammerte sie seinen Mittelfinger. „Berti!“, flüsterte sie streng. Er fügte sich. „Mir fällt aber ein, dass ich dich nie nach deiner Mutter gefragt habe. Name Kalinka. Warum?“

„Sie stammt aus Russland. Sie war damals meinem Vater als Dolmetscherin zugewiesen worden.“

„Oh, das wusste ich nicht.“

„Spielt das eine Rolle?“

„Das bedeutet doch, dass deine Gene zur Hälfte russisch sind. Und wenn ich den typischen Deutschen ausdeuten müsste, würde ich dich wählen. Dolmetscherin war sie auch? Und das alles erfahre ich erst jetzt?“

„Hast du mich danach gefragt?“

„Du hast mich auch nie nach Max und Paula gefragt.“

„Wer ist das?“

„Siehst du.“

Antrittsbesuch bei Schwiegereltern. Irgendwie hatte sie es sich manchmal ausgemalt, aber nie ernsthaft damit gerechnet, dass es je dazu kommen würde. Und jetzt war es doch so weit und noch dazu so plötzlich. Die wichtigste Entscheidung im Leben übers Knie gebrochen, ja, das hatte sie. Die schneeweiße Tür öffnete sich im allerletzten Moment. Eine hochgewachsene Frau stand vor ihnen. Sie mochte Annas Größe besitzen und sie musste einmal schlank und rank gewesen sein, denn sie besaß noch immer Statur. Nun jedoch überwog die Schwere, wie sie großen Frauen im Alter häufig eigen ist. Mandelaugen, hohe Wangenknochen und ein schmales Gesicht hätten Anna spätestens jetzt die Herkunft aus östlicher Fremde verraten.

„Sie sind also Anna. Ich müsste lügen, wollte ich sagen, ich hätte schon viel von Ihnen gehört. Heute Morgen zum ersten Mal.“ Die Stimme passte zu ihrem Wuchs. Wohlklingend, kräftig und fast etwas zu tief für eine Frau.

„Das überrascht mich nicht. Ich habe auch erst gestern von Bertram erfahren, dass er mich heiraten will.“

„Aha. Und darf man fragen warum, Bertram?“ Die Frage schien ihn aus der Fassung zu bringen. Anna übernahm die Antwort.

„Am Geld kann es nicht liegen. Ich besitze nämlich keins. Er liebt mich tatsächlich, nehme ich an.“

Kalinka schüttelte den Kopf. Ein schwaches Lächeln spielte um ihre Lippen. Sie reichte Anna die Hand. „Kommt rein!“ Es klang wie ein Befehl. Überhaupt lag in ihrer Art zu sprechen Strenge, als würde Widerspruch nicht geduldet. Eine schüchterne Braut mochte da leicht rot oder blass werden, je nach Naturell. Anna behielt ihre Farbe und ging voran, als wäre sie hier bereits zuhause. Ein breiter Flur, mit einer Toilette rechts und einer Garderobe links. Eine Treppe, die nach oben führte. Links, durch die halb offene Tür, sah sie in die Küche. Vor ihr eine breite Schiebetür. Sie war zugezogen. Bertram zog sie auf. Ihr Blick fiel zuerst auf das riesige Wandgemälde eines Parks. Geradezu beklemmend in seiner Detailtreue.

„Unser Wohnzimmer. Wir nennen es allerdings das große Zimmer.“ Da gab ihm Anna recht. Dieser Raum war nicht einfach groß, er war ungemütlich groß. Wenn sie da an das kleine, aber mit viel Liebe eingerichtete Wohnzimmer ihrer Eltern dachte, wurde ihr warm ums Herz. Wie sie sich auf den Abend freute. Aber jetzt galt es, den Nachmittag einigermaßen anständig zu überstehen. Auch im großen Zimmer nur spärliche Möblierung. Links ein Sekretär mit unglaublich vielen Schubladen, Türchen und offenen Fächern, die alle mit Papieren vollgestopft waren. Sie tippte auf ein Erbstück des Urgroßvaters. Daneben ein einfaches Regal. Seine Bretter bogen sich unter der Last der Bücher. Ohne Ordnung, viele mit Zettelchen zwischen den Seiten, füllten sie das Möbel. Hier wurde gelesen. Das gefiel Anna. Auch empfand sie eine gewisse Erleichterung beim Anblick des Regals, wie man sie verspüren mag, wenn man in fremder Gesellschaft eine vertraute Stimme hört. In der Mitte des Raums eine moderne Kombination aus schwerem Glas und funkelndem Metall – der Tisch. Dafür musste das Gedeck Generationen auf dem Buckel haben. Goldränder und Putten zierten das Porzellan. Tassen und Teller wirkten zerbrechlich wie Knäckebrot. Die Kanne auf dem Stövchen sah hübsch aus. Im Innern flackerte ein Licht und warf unruhige Schatten über das Glas, einem Wagenrad ähnlich, das sich nicht zwischen rund und eckig entscheiden konnte. Sie ließ den Blick schweifen und bemerkte erst jetzt die zwei gewaltigen Topfpflanzen an der Wand. Aus noch gewaltigeren Kübeln streckten sie sich gegen die Decke, wo sie bereits auf ewig ineinander verwoben waren. Nur die Säge würde sie noch trennen können. Zwischen ihnen stand ein Sessel mit einer hohen Rückenlehne, breiten Armstützen und einem Vorsatz, der den Beinen als Ruheplatz dienen mochte. Gewiss auch das ein Erbstück aus Großvaters Zeiten. Der Sessel war mit Zeitungsblättern bedeckt, als hätte sie ein Sturm dorthin getrieben. Auch das gefiel ihr. Dann die größte Überraschung: Das Parkgemälde vor ihr war gar keines. Das Gehirn hatte ihr einen Streich gespielt. Sie stand vor einer Wand aus Glas. Eine ganze Wand aus blitzblankem, streifen- und schlierenfreiem Glas! Linkerseits war es geteilt. Ein schwarzer Griff in Brusthöhe verriet eine Tür. Sie war eine Handbreit aufgeschoben. Als sie nähertrat, atmete sie frische Luft, Luft, die nach Natur roch. Sie konnte einen Ausruf des Erstaunens nicht unterdrücken. Das vermeintliche Wandgemälde eines Parks entpuppte sich als ein sehr kleiner Garten. Ein gärtnerisches Kunstwerk in Miniatur. Sie war sofort gefangen von dem, was sie sah. Ein winziger Teich lag da, still, wie schlafend, umrahmt von einem schmalen Streifen aus weißem Kies. Links wuchs ein Bambuswäldchen, ebenso winzig in der Fläche, aber gute zwei Meter hoch; rechts ein herrlich anzusehender Busch. Er war nicht ganz so hoch und von dichtem Grün, das sich sanft in der Luft bewegte. Hinter dem Teich wuchsen zwei Bäume kerzengrade den Wolken entgegen. Eine mannshohe Mauer aus rotem Backstein schloss den Garten ein. So klein er war, so wunderschön war er. Geradezu unwirklich.

Rüdiger

Rüdiger, Bertrams Vater, machte in Großimmobilien und hatte es zu seinem Vermögen durch Klugheit und einer gewissen Rücksichtslosigkeit gebracht. Aber, und das gestand ihm jeder zu, der ihn und seine Geschäfte kannte, er war immer fair geblieben. Unsaubere Geschäfte konnte ihm keiner nachsagen. Und weil er dafür bekannt war, suchte ihn gerne auf, wer sichergehen wollte, nicht reingelegt zu werden. Ein Erlebnis, das in dieser Branche bekanntlich nur allzu leicht möglich ist. Sein Beruf war allerdings Vergangenheit, seit er sich kürzlich ins Private zurückgezogen hatte. Er war ein Mann von natürlicher Vornehmheit, die von seiner stattlichen Erscheinung, dem schlanken, hohen Wuchs und dem strengen, aber freundlichen Gesicht, unterstrichen wurde.

So viel zu Rüdiger.

„Unser Garten gefällt dir. Unser Haus nicht. Du magst Bücher und Kerzenlicht.“

Eine fremde Stimme direkt hinter ihr. Den fremden Atem spürte sie auf ihrer Haut. Sie fuhr herum. Er war groß, schlank und sah einfach gut aus. Die Ähnlichkeit mit Bertram war unverkennbar. Aber er war größer. Selten, dass sie zu einem anderen Menschen aufschauen musste. Und doch war er kein tapsiger Riese. Er lächelte, trat einen Schritt zurück und streckte ihr eine Hand entgegen. Eine Zeitung hielt er zusammengeknüllt in der anderen. „Herzlich willkommen, Anna. Ich bin Rüdiger. Ich gebe zu, auch ich habe deinen Namen heute Morgen zum ersten Mal gehört (entweder besaß er das Gehör einer Maus oder er hatte hinter der Tür gelauscht). Doch jetzt, wo ich dich sehe, verstehe ich alles. Ein Mann, der dich nicht um deine Hand bittet, muss blind sein. Gratuliere, Bertram!“ Anna hasste Komplimente von der billigen Sorte. Dennoch mochte sie Bertrams Vater sofort. Und trotz seines Alters hielt sie es für möglich, dass auch er ihr einen Antrag gemacht hätte, wären die Umstände entsprechend gewesen. Ganz selbstverständlich verwendete er das Du. Sie würde es auch so machen. „Ich muss mich entschuldigen. Ich habe in dem Sessel gesessen und mich hinter der Zeitung versteckt. Ich bin von Natur aus ein gemeiner Mensch.“ Bertram hüstelte auffällig. Sein Vater grinste. „Siehst du. Diese Gemeinheit fehlt Bertram. Und darum wäre der Beruf des Seelsorgers für ihn geeigneter als der des Immobilienhändlers.“

„Oh, das war aber eben echt gemein“, platzte es aus Anna heraus. Bertram verzog das Gesicht, schwieg aber.

„Sag ich doch.“ Er boxte Bertram sacht in den Bauch. „Nimm es mir nicht übel. Du kennst meine Meinung dazu. Und wenn man es recht überlegt, habe ich doch etwas Gutes über dich gesagt.“

„Du bist so aufgekratzt. Kann es sein, dass Anna deine Lebensgeister geweckt hat?“

„Wessen Lebensgeister würde sie nicht wecken?“

Die Richtung der Unterhaltung gefiel Anna nicht. Kalinka auch nicht. „Nehmt Platz!“, befahl sie. Vielleicht konnte sie nicht anders, als in Befehlen zu sprechen. Schließlich war sie noch in der alten Sowjetunion erzogen worden.

Eltern und Kinder saßen sich gegenüber. Der Kaffee war sehr stark. Bertram vertrug starken Kaffee nicht, aber jetzt schluckte er tapfer. Die Unterhaltung begann mit langweiligem Geplänkel. Bertram war der verunsicherte Sohn. Rüdiger hielt sich zurück. Er sprach wenig, schien aber zuzuhören. Gelegentlich sah er Anna an. Sie hatte den Eindruck, seine Gedanken waren nicht bei Tisch. Kalinka stellte Fragen.

„Was haben Sie studiert?“

„Sprachen. Englisch und Spanisch. Ich arbeite bereits als Dolmetscher.“

„Ein interessanter Beruf. Und Ihr Vater?“

„Er ist inzwischen pensioniert. Er war Schulrektor.“

„Rektor? Na, wenn das kein interessanter Beruf ist. An welchem Gymnasium?“

„An keinem Gymnasium. An der Grundschule im Emmertsgrund.“ Anna verkündete das mit einem Stolz, als ginge es um die Universität der Stadt und nicht um den Stadtteil mit dem untersten Niveau im Mietspiegel und der größten Ethnienmischung im Umkreis von mindestens hundert Kilometern. Das Gesicht Kalinkas hätte nicht enttäuschter sein können.

„Aber Ihre Eltern wohnen doch in Speyer.“

„Das hat nicht viel zu bedeuten. Als Beamter konnte er im Land überallhin gesetzt werden, aber der Wohnort war seine Sache. Mein Vater hatte sich für diese Schule ganz bewusst beworben. Er arbeitet gerne mit Kindern zusammen und das umso mehr, wenn er denkt, dass sie Hilfe benötigen. Ich glaube, er war sehr beliebt.“

Kalinkas Gesicht blieb enttäuscht.

„Was verdient so ein Grundschulrektor?“, wollte Rüdiger wissen.

„Es mag komisch klingen, aber ich weiß es nicht. Ich habe meinen Vater nie nach seinem Verdienst gefragt. Es ging uns immer gut. Bestimmt hätten wir uns mit seinem gesamten Lebenseinkommen diesen Prachtbau hier nicht leisten können. Aber was man nicht kennt, vermisst man auch nicht.“

„Der Prachtbau geht auf meine Kappe. Er ist zwei Jahre älter als Bertram, also schon ziemlich alt. Den Garten hat Kalinka allein zu verantworten. Dafür bin ich ihr sehr dankbar. Ich stehe oft draußen. Obwohl er so klein ist, bietet er der Fantasie viel Raum.“

„Der Garten ist wunderschön. Ist es schlimm, wenn ich für eine Zigarette vor die Tür gehe? Eine Untugend von mir. Bertram hat mir das Versprechen abgenommen, damit aufzuhören. Leider hat er vergessen festzulegen bis wann.“

„Mein Vater hätte das bestimmt nicht vergessen. Seine Abmachungen sind immer wasserdicht.“

Der Genannte erhob sich ebenfalls. „Höre ich da Bewunderung? Ich komme mit, Anna, wenn es dir recht ist.“

„Aber Rüdiger. Wolltest du nicht aufhören?“ Er beachtete seine Frau nicht und ging Anna voraus.

„Ich habe allerdings keine Zigaretten bei mir. Du musst mir eine borgen.“

„Geschenkt.“ Es waren belanglose Dinge, über die sie sprachen. Über den Garten, mit dem er wenig zu tun hatte, den er aber nutzte, um zu träumen. Ein kleiner Koffer gehöre zum Traum und eine Reise um die Welt.

„Tu es doch.“

„Zu spät.“ Er zeigte auf das Bambuswäldchen, die Bäume und den Busch: „Bambus Fargesia. Da drüben schwarzer Knospenbambus. Mittlerweile über vier Meter hoch. Ich hoffe, sie werden irgendwann erwachsen. Sie verdecken eine kleine Tür in der Mauer. Wir nennen sie unsere Pforte. Durch sie kommt man auf einen Spazierweg hinter dem Haus. Unser Spazierweg. Der letzte gemeinsame Spaziergang dürfte allerdings schon eine Weile her sein. Ein paar Jahre. Und siehst du hier, ganz rechts, dieser gewaltige Busch, wieder Fargesia. Das ist aber auch alles, was ich von unserem Garten weiß. Wenn du mehr wissen willst, musst du Kalinka fragen. Mir stellst du am besten nur Fragen zum Geld und zu Immobilien.“

„Wie werde ich reich?“

„Du wirst es.“

Eine Antwort, die sie verwirrte. Sie meinte, es sei an der Zeit, wieder reinzugehen, aber er wollte weiterreden. Über ihr Studium zum Beispiel und seinen Respekt, wenn man zwei fremde Sprachen so perfekt erlernen konnte. Er habe genug Probleme mit der Muttersprache. Über ihre Wohnung und seinen Stadtteil, die Weststadt, in dem es einige Kneipen gab, die ihm noch allzu gut bekannt waren. Allerdings lag das doch schon viele Jahre zurück und vielleicht existierten sie schon längst nicht mehr. Sie tauschten Kneipennamen aus und alle existierten noch. Das Eck kannte er allerdings nicht. Es war nicht alt genug. Als sich gar herausstellte, dass Anna gelegentlich im Nashorn frühstückte, ging ihm das sichtlich an die Nieren. Er starrte den Teich an. Anna wechselte abrupt das Thema. Es fiel ihr nur nichts Kluges ein. „Also, du hast aufgehört mit dem Rauchen?“

„Was? Ach so. Ja. Im Grunde ja. Ich war starker Raucher. Mein Beruf brachte das mit sich. Ständig Druck.“

„Was hast du gemacht?“ Sie gab ihm Feuer. Es war die zweite Zigarette für beide.

„Hat Bertram nichts erzählt?“

„Ich habe nicht gefragt. Wir haben uns nie über unsere Eltern unterhalten. Ich weiß nur, dass ihr reich sein sollt.“

„Seltsam, wie ihr heute funktioniert. Ihr jungen Leute, meine ich. Aber vorgestern habt ihr euch doch schon gekannt?“

Anna lachte. „Da kann ich dich beruhigen. Wir kennen uns schon ziemlich lange. Ich fing mit dem Studium an und lief ihm am Tag meiner Immatrikulation buchstäblich über die Füße. Ich empfand damals großen Respekt vor dem Betriebswirt.“

„Hört sich interessant an. Aber das erzählst du mir ein andermal. Ich glaube, wir müssen doch rein. Ach, ich bin übermorgen im Nashorn. So am späten Vormittag rum. Kommst du auch?“

Sie war sprachlos. Und sie kam sich mit einem Mal klein vor, wie sie so nahe beieinanderstanden. Sie empfand seine Nähe als angenehm. Sie starrte auf die Hand. Eine schlanke Hand. Schlanke, lange Finger, gepflegte Nägel. Am Gelenk eine goldene Uhr. Das Gehäuse flach, das Zifferblatt schlicht. So sahen Uhren von Wert aus. Diese Hand hatte die Tür bereits einen Spalt aufgezogen und hielt jetzt inne. Sein Blick ruhte auf ihr. Das verriet ihr die Hand. Dazu musste sie nicht aufsehen. Und plötzlich war da die Gänsehaut auf den Armen. „Wenn ich es schaffe“, flüsterte sie und wusste doch schon, dass sie kommen würde.

Beim Abschied, Kalinka und Bertram waren vorausgegangen, küsste Rüdiger sie auf beide Wangen. Seine Lippen streiften dabei die ihren für den Bruchteil eines Augenblicks. Und dann flüsterte er etwas, das nur für ihr Ohr bestimmt war und das sie den Rest des Tages beschäftigen sollte. „Unterschätze Kalinka nicht.“

„Deinen Vater mag ich und ich glaube, das beruht auf Gegenseitigkeit. Wir haben uns prächtig unterhalten, draußen, im Garten.“

„Vielleicht macht er dir auch einen Antrag. Denkbar wäre es bei ihm.“

„Den würde ich sofort annehmen. Bei der Kohle, die er hat.“ Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter. „Ob ich deine Mutter mag, weiß ich nicht. Noch nicht. Und auch das beruht auf Gegenseitigkeit.“

„Mütter mögen es nun mal nicht, ihren Sohn herzugeben. Noch dazu ihr einziges Kind.“

„Und du hast Angst vor deiner Mutter.“

„Quatsch!“

„Kalinka, kalinka, kalinka moya! V sadu yagoda malinka, malinka moya!“

„Anna! Lass das! Aber woher kennst du den Text?“

„Aus dem Buch für Alphabeten.“

Den Rest der Fahrt alberten sie herum. Bertram kannte sich in den verwinkelten Einbahnstraßen der Weststadt nicht aus. Es war ihr ein Leichtes, ihn an eine ungünstig gelegene Kreuzung zu lotsen.

„Halt an, Bertram. Lass mich hier raus. Ich wohne dort hinten, aber das ist eine Einbahnstraße, wie du siehst.“

Er war enttäuscht. „Ich hatte gehofft …“

„Ein anderes Mal. Ich muss sowieso sofort los. Gib mir noch einen Kuss.“ Hinter ihnen störte anhaltendes Hupen. „Arschlöcher!“ Sie winkte ihm nach, bis er abgebogen war. In ihre Wohnung, ihr Nest, wollte sie ihn nicht führen. Noch nicht. Sie zog sich rasch um und machte sich auf den Weg. Auf der Fahrt nach Speyer schwankten ihre Gedanken zwischen Dur und Moll. Beim Dur träumte sie vom nahen Leben als erfolgreiche Dolmetscherin und einem Leben nach Gusto. Beim Moll sah sie ein Leben an Bertrams Seite. in einem Reichtum, der sie erdrückte. Noch war es Zeit, die Kurve wieder gerade zu biegen.

8. September, Abend

Sie war sogar eine Stunde vor der vereinbarten Zeit eingetroffen. „Ich bin da!“

„Hier, auf dem Balkon!“

Max und Paula Werter

Annas Eltern wohnten in Speyer und das seit dreißig Jahren und in derselben Wohnung. Anna war dort geboren und aufgewachsen. Wie Bertram war sie ein Einzelkind. Noch im Kindergarten hatte sie begonnen, die Eltern mit ihren Vornamen anzusprechen als Teil des Sprachtrainings gewissermaßen. Die waren anfangs belustigt darüber, wie der kleine Mensch vor ihnen stand, den großen Kopf in den Nacken gelegt, und ihre Namen quäkte. Später erkannten sie darin einen Ausdruck des Vertrauens, wie er vielleicht nicht vielen Eltern zuteilwurde, und sie empfanden Stolz.

Familie Werter gehörten zur gebildeten Mittelschicht. Der Vater war Grundschullehrer aus Passion gewesen und hatte die letzten zehn Jahre seines Berufslebens die Grundschule im Emmertsgrund geleitet, einem wenig angesehenen Stadtteil in Heidelberg. Zu Unrecht, wie jene fanden, die dort wohnten. Die Mutter war seit Annas Geburt Hausfrau. Ein Beruf, den Menschen, die keine Kinder haben, gerne mit einem nur versehen. Sie war auch diplomierte Sportpädagogin und spielte recht gut Klavier. Natürlich hatte sie auch Anna unterrichtet. Und Anna spielte ebenfalls ganz gut. Irgendwann hatte sie begonnen, sich sozial zu engagieren, indem sie Bewegungstraining mit älteren Menschen organisierte. Menschen, die ihr dafür dankbar sein sollten, es aber nicht waren und sie regelmäßig zur Verzweiflung brachten.

So viel zu Max und Paula.

Flur und Küche rochen nach Paulas Spezialrezept: Rouladen und polnische Klöße. Anna lief das Wasser im Mund zusammen. Ihr Vater stand in der Balkontür und rauchte. Ein Anblick, den sie über alles liebte. Sie ließ sich eine Zigarette geben. Eine Weile rauchten sie schweigend. Sie hatten sich untergehakt und lächelten verstohlen, als ob sie sich ein Geheimnis teilten.

„Übrigens, die Wohnung riecht nach polnischen Klößen“, entschuldigte er den Geruch.

„Ach, das ist mir neu.“

Er kniff sie in die Seite. „Paula hat alles vorbereitet. Jetzt ist sie bei ihrer Gymnastik. Ich soll sie heute abholen. Kommst du mit?“

„Kann man polnische Klöße vorbereiten?“

„Paula kann das.“

„Klöße riechen nicht“, erklärte ihm Anna. „Es ist Paulas Sauce, die den himmlischen Duft verbreitet.“