Eine Nachricht von Maria - Ralph Tremmel - E-Book

Eine Nachricht von Maria E-Book

Ralph Tremmel

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Beschreibung

Hannes und Annemarie sind seit sechsundzwanzig Jahren regelmäßig Gäste in der Pension von Maria und Florian in Saibling. Jetzt erhalten sie von Maria die Nachricht vom Tod ihres Mannes. Kurz entschlossen fahren sie hin. Hannes hat Krebs. Maximal vier Monate sind ihm noch gegeben und Annemarie weiß noch nichts davon. Hannes traut sich nicht, es ihr zu sagen. Erst der nahende Tod hat ihm bewusst gemacht, wie sehr er Annemarie noch liebt. Er hat sich fest vorgenommen, auf der Reise damit herauszurücken. Leider wartet in Saibling ein böses Geheimnis, das zu gestehen Hannes unmöglich ist. Doch alles kommt anders. Überschuldet und enttäuscht vom Leben, begeht Maria Selbstmord. Nur Hannes weiß, dass er daran nicht unschuldig ist. Zugleich ist er ihr unendlich dankbar, hat sie doch, wie es scheint, das böse Geheimnis mitgenommen. Auf der Rückfahrt will er endlich von seinem Krebs berichten, doch Annemarie kommt ihm mit einer eigenen Nachricht zuvor. Bei der Ankunft aber wartet eine Überraschung und alles wird anders sein. 137 Norm-Druckseiten

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ralph Tremmel

Eine Nachrichtvon Maria

Ein Liebesroman

 

Impressum:Autor: Ralph Tremmel      69126 Heidelberg      Mombertplatz 84      Coverbild: AutorSchrift: Google Fonts: notoKorrektorat: Kerstin Thiemetolino media ISBN: 97837592543442016, 2024

 

 

Wann? Sie hat ein Recht darauf!

Unterwegs.

Versprochen?

Versprochen!

 

Prolog

Hannes und Annemarie sind seit sechsundzwanzig Jahren regelmäßig Gäste in der Pension von Maria und Florian in Saibling. Jetzt erhalten sie von Maria die Nachricht vom Tod ihres Mannes. Kurz entschlossen fahren sie hin. Hannes hat Krebs. Maximal vier Monate sind ihm noch gegeben und Annemarie weiß noch nichts davon. Hannes traut sich nicht, es ihr zu sagen. Erst der nahende Tod hat ihm bewusst gemacht, wie sehr er Annemarie noch liebt. Er hat sich fest vorgenommen, auf der Reise damit herauszurücken. Leider wartet in Saibling ein böses Geheimnis, das zu gestehen Hannes unmöglich ist. Doch alles kommt anders. Überschuldet und enttäuscht vom Leben, begeht Maria Selbstmord. Nur Hannes weiß, dass er daran nicht unschuldig ist. Zugleich ist er ihr unendlich dankbar, hat sie doch, wie es scheint, das böse Geheimnis mitgenommen. Auf der Rückfahrt will er endlich von seinem Krebs berichten, doch Annemarie kommt ihm mit einer eigenen Nachricht zuvor. Bei der Ankunft aber wartet eine Überraschung und alles wird anders sein.

 

Eine Nachricht von Maria

Der schwarze Rand auf weißem Papier sprang sofort ins Auge. Wen hatte es erwischt? Dann sah er die angedeutete Kontur der Pension links oben auf dem Umschlag, den Stempel der österreichischen Post rechts oben. Also Maria oder Florian. Bis in die Wohnung stellte er sich die Frage: Maria oder Florian? Er tippte auf Florian. Er hoffte Maria. Er legte den Brief vor Annemarie auf den Tisch. Sie schaute kurz drauf.

„Oh! Maria oderFlorian? Du hast noch nicht geöffnet?“ Ohne Umstände riss sie das Kuvert auf.

Mein geliebter Florian wurde ganz plötzlich aus dem Leben gerissen. Ich bin sehr traurig.      Maria

 

Zwei

Sie knallte die Wagentür zu. Viel zu viel Schwung. Der Knall stach in die Ohren. Sie konnte einfach kein Gefühl dafür entwickeln. Es ärgerte ihn. Und nun beschwerte sie sich auch noch.

„Du fährst schon wieder los und ich bin noch dabei, mich anzuschnallen.“

„Aber wir sind doch noch gar nicht auf der Straße. Und ich fahre ganz langsam. Noch langsamer und ich würge den Motor ab.“

„Du hast so oft versprochen, du fährst erst los, wenn mein Gurt klickt.“ Sie wandte den Kopf nach hinten. „Das Fenster hinter dir ist halb unten. Deshalb hat meine Tür so geknallt. Ich weiß, du magst das nicht.“

Das Fenster schnurrte hoch. Er fuhr auf die Straße hinaus. Immer dasselbe. Anspannung bei der Abfahrt. Warum hatten sie das nach so vielen Reisen noch nicht im Griff? „Maria hätte wenigstens mitteilen können, wann die Beerdigung stattfindet.“

„Das hast du schon gesagt. Diese kurze Mitteilung sieht nach einem eigenen Entwurf aus. Vermutlich hatte sie anderes im Sinn als vollständige Daten. Sie wird uns noch nicht einmal erwarten. Und spielt es überhaupt eine Rolle? Wichtig ist, dass wir es uns nicht nehmen lassen zu kommen. Und ich tue das gerne. Sie waren uns echte Freunde.“

Sie hatte recht. Und im Grunde war er auch froh über die Abwechslung. Raus aus der Wohnung und dem ewigen Trott, der schon lange aus nichts bestand als Zeit totzuschlagen. Und dann war da noch etwas, das rausmusste. Die Autofahrt bot die Gelegenheit. Fünf Stunden nebeneinander, da gab es keine Ausrede mehr. Fünf Monate blieben ihm noch. Fortgeschrittener Krebs. Vor fünf Wochen der erste Verdacht, seit drei Wochen war es gewiss. Auf irgendeine Behandlung – Chemo, Bestrahlung – verzichtete er. Dahinsiechen um ein halbes Jahr lohnte das Leben nicht. Das Problem war, sie wusste es noch nicht. Es musste endlich raus. Und er musste sich abgewöhnen, noch fünf Monate zu denken. Bald waren es nur noch vier. Er würde es ihr gleich sagen. Er hatte es ihm versprochen. Aber die Worte! Die richtigen Worte! Er hatte sie noch immer nicht gefunden.

Drei

Vor Ulm war sie eingeschlafen. Nach Ulm wurde sie wach. „Geht’s noch?“

„Klar.“

Sie trällerte los. „Auf der schwäbsche Eisebahne …“ Er wollte begleiten, hatte bereits Luft geholt. Abrupt brach sie ab. „Memmingen? Fährst du wieder diese Strecke?“

„Habe mich kurzfristig entschieden. Du weißt doch, wie ich die Umgehung München hasse und danach wird es auch nicht besser.“

„Die Beerdigung können wir vergessen.“

„Wir wissen ja noch nicht mal, wann sie stattfindet. Und im Ernst. Wolltest du wirklich dabei sein? Unser Besuch ist Kondolenz genug. Hast du selbst gesagt. Wir werden das Grab besuchen und Maria. Ich bin sicher, Florian wird zufrieden sein, falls er uns von oben zuschauen sollte.“

„Ich hoffe, das ist jetzt nicht dein Ernst.“

„Nein. Aber du weißt doch, wie gern ich jedes Mal hier in die Berge reinfahre.“

„Diesen kurvigen Fernpass?“

„Sind wir doch schon unzählige Male gefahren. Nach dieser Raserei geradeaus freue ich mich auf die Abwechslung. Die Kurven sind Massage für meine Arme. Und die Gegend ist so schön.“

„Und die Autokarawane über den Pass auch?“

„Die Autokarawane wirst du vergeblich suchen. Es ist tiefste Nebensaison. Und denke an die Erbsensuppe mit Bockwurst.“

„Ach ja! Glatt vergessen. Ja, doch, der Umweg lohnt sich. Was ist eigentlich mit der Pause? Ich muss mal und ich habe Hunger. Ich schätze, du hast du schon vor der Abfahrt Illertal eingeplant.“

„Richtig. Ich muss auch mal und ich habe auch Hunger und bald kommt Illertal.“

Vier

Es war ziemlich viel los. Erst weit hinten gab es freie Parkplätze.

„So sieht also die Nichtreisezeit aus. Ich bin gespannt auf die Nichtkarawane.“

„Jammerliese!“

Auf dem Weg zum Restaurant hielten sie sich an den Händen. Eine Gewohnheit, die sie längst nicht mehr wahrnahmen, aber nach der Raserei war die Berührung purer Baldrian für ihre Seelen. Gewöhnlich schob sie Zeige- und Mittelfinger in seine Faust. Auch das war Teil der Gewohnheit und geschah so nebenbei, dass er das ältere Paar, das auch Händchen haltend vor ihnen her spazierte, mitleidig betrachtete: Zwei in der Fremde eingeschüchterte Alte, die aneinander Halt suchen, ging es ihm durch den Sinn. Er lächelte. Als er dann das eigene Spiegelbild in der Glastür und seine Hand in der ihren sah, ließ er erschreckt los.

„Was hast du?“

„Ach nichts.“

Essen für ein kleines Picknick hatten sie im Auto. Sie wollten nur pinkeln und gleich wieder raus aus dem Gebäude. Das Geschrei und die Hektik, die man in solchen Raststätten fand, war das Gegenteil von dem, was sie jetzt suchten: Ruhe. Als sie die Schlange vor den Damentoiletten bemerkte, fluchte sie ganz unfraulich. Er grinste. Männer kannten das Problem nicht. Er brachte es schnell hinter sich. Im Speiseraum herrschte das Chaos. Er wartete vor dem Zeitungsstand. Aus der Fülle an Zeitungen drängten sich zwei Sportzeitungen mit überfetten Schlagzeilen hervor. Alle Details zum nächsten Bundesligaspiel am Wochenende und eine der Mannschaften war Annemaries. Welche es war, konnte er sich einfach nicht merken. Fußball interessierte ihn nicht. Sport interessierte ihn nicht. Er kaufte beide. Sie kaufte nie Sportzeitungen. Ihren Sport fand sie im Fernsehen. Aber auf Reisen war alles anders. Als sie zurückkam, konnte er den Stolz über seine Aufmerksamkeit nicht verbergen. Sie fiel ihm um den Hals, in der Öffentlichkeit! Er hatte einen echten Treffer gelandet, gab sie sich doch normalerweise vor anderen Menschen äußerst reserviert. Sie spazierten zum Wagen, Hand in Hand.

„Schau, dass wir rechtzeitig im Hotel sind. Ich habe Lesestoff fürs fremde Bett, dank deiner Fürsorge.“ Sie küsste seine Wange. Was hatte er da nur angerichtet? Auf der Wiese waren fast alle Bänke frei, aber es war ihr nicht sauber genug. Sie aßen im Auto bei geöffneten Türen. Die Beine draußen. Sie saß hinten, er vorne. Er verlangte und sie reichte über den Sitz herüber. Sie hatte an alles gedacht. Tomaten, Gurken, halbierte Sandwiches mit Corned Beef, verschiedene Käse, Leberwurst, Schinken, Marmelade. Zwei Thermoskannen. Kaffee für ihn, Tee für sie. Drei Mal hatte er bereits Anlauf genommen und drei Mal verschoben. Gleich nach dem Essen würde er reden. Er schwor es sich und ihm.

„Ich muss übrigens anmerken“, sie redete mit vollen Backen, „dass du in letzter Zeit irgendwie verändert wirkst. So liebenswürdig. Nicht dass du je unhöflich gewesen wärst und lieblos schon gar nicht. Aber über die Jahre schläft nun mal alles ein und über die Jahrzehnte erst recht. Unweigerlich. Bist du frisch verliebt? In mich womöglich?“ Sie grinste ihn über das Wurstbrötchen an und da wusste er, dass er jetzt nicht davon reden konnte. Nicht auf der Hinfahrt und nicht in Saibling. Was wäre das für eine Reise! Besuch am Grab eines Freundes mit einem Ehemann, der in fünf Monaten selbst unter der Erde liegen würde. Oder in vier? Das war unmöglich. Nein, die Rückfahrt war der richtige Zeitpunkt, das war ihm plötzlich sonnenklar. Er atmete auf. Mit einem Mal sah alles so leicht aus. Er würde die Fahrt wieder genießen. Leider war der Himmel jetzt zu.

‚Das ist doch nicht zu fassen! Wir hatten eine Abmachung und du änderst sie einfach, ohne mich zu fragen? Wenigstens bitten hättest du müssen.‘ ‚Es ist mein Leben. Ich entscheide darüber.‘ ‚Dein Leben? Dein Leben? Ich habe dein Leben in der Hand! Dein Leben ist mein Leben! Ich könnte ihm auf der Stelle den Saft abdrehen.‘ ‚Der Arzt hat gesagt …‘ ‚Der Arzt hat gesagt! Sag mal, bist du blöde, oder was? Was der Arzt gesagt hat, interessiert mich einen Scheißdreck! Kapier das doch endlich!‘ ‚Ok, war ein Fehler. Ich bitte dich, noch einmal Nachsicht zu üben. Dafür wirst du jetzt auch die Alpen sehen. Oder hast du bereits?‘ ‚Nein, natürlich nicht.‘ ‚Dann ergreife die Gelegenheit. Es lohnt sich.‘ ‚Du bringst mich zum Lachen, wie du hörst. Ein Lachen der Verzweiflung. Ich wusste nicht, dass du so blöde bist, sonst hätte ich mir einen anderen ausgesucht. Vorläufig halte ich mich zurück. Aber wundere dich nicht, wenn du plötzlich tot bist.‘

„Es wird nicht regnen“, sagte sie, als sie seinen Blick zum Himmel bemerkte.

„Wir waren vor sechsundzwanzig Jahren zum ersten Mal in Saibling. Das ist jedenfalls die älteste Rechnung, die ich gefunden habe. Und danach jeden Sommer.“

„Nicht ganz, mein Lieber. Ich erinnere mich an einen, da waren wir fast einen ganzen Sommer lang krank, abwechselnd. Erst du, dann ich, dann du. Fieber und Durchfall. Ziemlich peinliche Momente gab es da.“

„Sprich nicht davon. Ist mir heute noch unangenehm.“

„Ob solche Erlebnisse eine Partnerschaft stärken oder sprengen?“

„Wir sind jedenfalls noch zusammen.“

„Ich meine, wenn der Partner, der sich bisher so unmenschlich kultiviert gab, mit einem Mal beweist, dass er doch ein Mensch ist, mit allen profanen Menschlichkeiten.“

„He, Annemarie! Was ist denn in dich gefahren?“

„Entschuldige. Ich wusste nicht, dass es dich nach all der Zeit noch so berührt. Ich wollte uns zum Lachen bringen. Komm, jetzt lächle wenigstens.“ Sie beugte sich herüber und zog ihn am Ohr. Er lachte.

„Und als wir in England waren?“, fiel es ihm ein.

„Dein Gedächtnis macht mir Sorgen. Da waren wir im Herbst in Saibling. Hast du vergessen, dass wir uns nach jeder anderen Reise wie Betrüger vorkamen? Als ob wir die Holzers hintergangen hätten. Du selbst hast damals diese Reisen unsere Seitensprünge genannt. Wir sind dann jedes Mal noch im gleichen Jahr hin. Von unseren Seitensprüngen haben wir ihnen nie etwas verraten.“

„Mein Gott, ist das lange her. Wir sind alt geworden und um uns gab es Scheidung und Tod.“

„Rede nicht so gestelzt, Hannes! Ich weiß von einer Scheidung und zwei Todesfällen. Nein, jetzt sind es drei.“

„Lisa meinte einmal, wir seien der Fels in der Brandung. Woran mag das liegen?“

„Ich würde sagen: Auf Liebe folgt Gewohnheit folgt Faulheit.“

„Du warst noch nie romantisch.“ Er ergriff ihre Hand und küsste sie. „Vielleicht ist das der Grund.“

„Die Liebe am Anfang kann man sowieso vergessen. Aber dich mögen, das tue ich immer noch. Und das zählt doch. Und jetzt sag bloß, du liebst mich noch immer.“

„Na gut. Wenn ich es mir recht überlege, mag ich dich auch immer noch, aber dafür sehr.“ Er lächelte sie triumphierend an und da fiel es ihm wieder ein. Sein Geheimnis, das rausmusste. Aber erst auf der Rückfahrt! Er hätte jetzt gerne gejubelt aus Freude über die gewonnene Frist. „Wie lange sind wir jetzt verheiratet? Vierzig oder einundvierzig Jahre?“

„Einundvierzig.“

„Und ich habe das Gefühl, wir haben die letzten zwanzig Jahre kaum noch miteinander geredet.“

„Wie bitte? Den Eindruck habe ich nicht. Ich kann mich an keinen Tag erinnern, an dem wir nicht miteinander geredet hätten. Höchstens, wenn du am nächsten Morgen noch immer die Laus auf deiner Leber gepflegt hast. Ja, dann herrschte Schweigen. Passiert dir gelegentlich noch heute.“

„Aber nur noch ganz selten. Trotzdem, wir hätten mehr miteinander reden sollen.“

„Was ist denn das plötzlich für eine Jammerei? Was könnte es denn gewesen sein, das wir vierzig Jahre lang täglich gewälzt haben sollten? Eine Hypothek aufs Haus? Das ist es doch, was viele Ehen vierzig Jahre lang täglich beschäftigt, bis sie endlich schuldenfrei sterben. Ja, das Thema fehlte uns tatsächlich.“

„Doch, jetzt weiß ich es wieder, ich liebe dich noch immer.“

„Mein Gott. Jetzt küss mich schon. Aber dann fahren wir los.“ Er war schon ausgestiegen. Jetzt beugte er sich zu ihr herunter und gab ihr einen verliebten Kuss.

‚Jetzt! Jetzt! Der richtige Zeitpunkt ist da! Nutz ihn!‘ ‚Doch nicht jetzt! Küssen und vom Tod reden. Man merkt, vom Leben verstehst du nichts.‘

„Fahre nicht so schnell. Wir hatten uns auf hundertvierzig als absolute Grenze geeinigt.“

„Da, die Berge! Warum haben wir eigentlich geheiratet?“

„Hannes, ist die Frage jetzt ernst gemeint? Und was haben die Berge damit zu tun?“

„Ich habe es nun mal vergessen. Also, warum eigentlich? War es einfach nur Jugendliebe?“

„Nur? Ist dir das nicht genug? Wir sind mehr Jahrzehnte verheiratet, als manche Leute leben durften. Und du fragst?“

„Ich frage!“

„Wir haben endlos diskutiert, Vor- und Nachteile abgewogen, die Entscheidung gründlich bedacht. Sollen wir? Sollen wir nicht? Nach drei Jahren Zusammenleben überwogen für uns dann die Gründe: Steuer, Wohnung, Reise. Die Wohnungssuche war Scheiße. Entschuldige, das ist mir so rausgerutscht. Damals war es aber das häufigste Wort im Zusammenhang mit gemeinsamem Bett. Es galt noch der Kuppelparagraph. Das hast du doch nicht auch vergessen? Und verreisen war ein Problem, weil die Hotels eigentlich nur an Ehepaare Zimmer vergeben durften. Alles klar?“

„Also überwog der Gewinn und nicht die Liebe.“

„Natürlich. Früher war es ja auch so. Und darum sind wir noch immer verheiratet. Also schwanger war ich jedenfalls nicht, obwohl wir doch nie Vorsorge getroffen hatten. Einer von uns kann nicht. Aber wer?“

„Hat mich noch nie interessiert und interessiert mich auch heute nicht. Ich glaube mich zu erinnern, dass ich damals noch keine Gedanken ans Kinderkriegen verschwendet habe. Es war mir jedenfalls nie wichtig.“

„Ich würde sagen, dir war nichts so richtig wichtig. Du warst damals noch recht unreif für dein Alter.“

„Ach! Und das hast du natürlich damals auch schon so gesehen. Wenn ich meinerseits an deine, na wie heißt sie doch gleich?“

„Connie Francis.“

„Ja, genau. Wenn ich also an deine Connie Francis-Frisur denke und deine Vorliebe für gelbe Petticoats, fotografische Beweise existieren in diversen Schubladen, wüsste ich nicht zu entscheiden, wer von uns den anderen an Reife unterboten hat.“

„Ich schäme mich. Aber du kannst auch nicht besser gewesen sein. Du hast mich genommen.“

„Weil du mir leidgetan hast.“

„Ich dir leidgetan? Warum denn?“

„Weil du wie Connie Francis aussehen wolltest, hast aber wie Annemarie im gelben Petticoat ausgesehen.“

„Ich besaß auch einen roten Petticoat.“

„Eben. Du hast mir so leidgetan und ich war überzeugt, keiner heiratet dich. Da habe ich dich eben genommen.“

„Mir ist das ganz anders in Erinnerung.“

„Ach ja? Wie?“

„Sag ich nicht, denn es wäre dir nicht recht. Ist dir nicht auch etwas unwohl vor der Begegnung mit Maria?“

„Warum?“

„Hast du die richtigen Worte für die Begrüßung parat?“

„Eigentlich nicht.“

„Was sagt man da?“

„Uns wird schon was einfallen.“

Eine halbe Stunde fuhren sie schweigend dahin. Jeder in eigene Gedanken versunken. Hannes in nicht ganz so gute, wovon Annemarie aber nichts wusste und es sich darum erlauben konnte, guter Laune zu sein. Gelegentlich streichelte sie seine Wange oder summte eine Melodie und manchmal tat sie beides. Sie passierten Obsteig und Barwies. Winzige Ortschaften, deren ganzes Leben in Nachbarschaft zur Autostraße über die Bühne ging. In Mieming legten sie eine Pause ein. Es gab dort diesen Laden, der Bäckerei und Metzgerei in einem war. In einer Nische, vom Licht etwas vernachlässigt, hatte man eine bescheidene Essecke eingerichtet. Zwei Tische und einfache Stühle standen da. Tischdecken mit Blumenmuster, die den Boden berührten, und kleine Blumenvasen mit hübschen Sträußen, die allerdings nicht echt waren, verliehen dem unscheinbaren Ort dann doch einen Hauch von Gemütlichkeit. Hier hatte sich in all den Jahren nichts verändert. Sie hatten auch noch nie erlebt, dass einer der Tische belegt war und darum begannen sie irgendwann, die Essecke als ihnen gehörig zu betrachten. Auf diesen von der Zeit und den Menschen ignorierten Tischen wurde alles serviert, was Metzger und Bäcker hergaben. Die Erbsensuppe mit Bockwurst gehörte einfach zum Pflichtprogramm, wann immer sie diese Route nahmen. Da hockten sie in dieser Nische neben der Bäckertheke und lauschten dem Geplauder im Kundenraum. Sie mochten das Österreichische und die Herzlichkeit, mit der man miteinander umging, wärmte ihre Herzen. Man kannte sich. Alle waren per Du. Kein Einkauf ohne ausführlichen Tratsch. Gesundheit, die alten Eltern und die kleinen Kinder waren das Thema. Gelegentlich noch die Heranwachsenden. Sehr selten der Ehemann. Zweimal kamen Mütter mit kleinen Kindern herein. Lautes Hallo, als hätte man sich ein Jahr lang nicht gesehen. Natürlich lag auch immer eine Wegzehrung für die kleinen Menschen bereit. Das eine, das bereits laufen konnte, aber noch wacklig auf den Beinen war, durfte in eine Dose voller Gummibären greifen. Die prall gefüllte Faust – die Bären quollen zwischen den pummeligen Fingern hervor –, auch sie wurde mit lautem Hallo begrüßt. Das kleine Geschwister auf dem Arm der Mutter bekam eine Scheibe Salami. Die Augen der Frauen glänzten. Unbeeindruckt verdrückte das Kind die Wurst. Nur wenn das Thema auf die älteren Kinder kam, wurden die Frauen wortkarg und nicht selten verdüsterten sich die Mienen. Dann sahen sich die beiden Gäste an. Ein Lächeln spielte um ihre Lippen und Alles richtig gemacht! stand in ihren Augen.

Diesmal hatten sie sich in der Zeit vertan. Es dämmerte bereits, als sie wieder ins Freie traten. Es war merklich kühler geworden. Er drehte die Heizung hoch. Sie merkte an, dass es vielleicht doch geraten sei, die Autobahn zu benutzen, aber er beharrte auf der Bundesstraße. Ja, es dämmere, aber es sei einfach zu schön, durch diese Städtchen zu fahren. Wie oft hätten sie das bereits getan und doch seien sie ihnen gänzlich fremd geblieben. Und dann diese Luft, die so ganz anders schmecke als die ihrer Stadt. Auf der Autobahn wären sie viel zu schnell, um ein Fenster zu öffnen.

„Das Fenster bleibt zu!“ Er nahm den Finger vom Kippschalter. „Bedauerst du eigentlich manchmal, nur eine Frau im Leben gehabt zu haben?“

Er brauchte Zeit, ihre Frage zu verstehen. Bei einer Aussprache mit ernstem Hintergrund wäre sie ein Schuss aus dem Hinterhalt gewesen, dabei war Annemarie nur an Small Talk interessiert. Und eigentlich war es auch nicht ihre Art, verpasste Gelegenheiten zu hinterfragen.

„Sagst du nicht gerne: Vorbei ist vorbei?“

Sie ließ nicht locker. „Ab welchem Alter ist für dich eine Frau interessant?“

„Ab jedem Alter unter sechzig.“

Sie lachte. „O Mann!“

„Und ab welchem Alter ist für dich ein Mann interessant?“

„Ab jedem Alter unter dreißig.“

Fünf

Von der schönen Gegend sahen sie bald nichts mehr. Es wurde richtig dunkel. Nebel kam auf. Die Straße verschwand über große Strecken hinter dichten, weißen Schwaden, die so plötzlich begannen, wie sie endeten. Schneckentempo war angesagt. Gegenverkehr verriet sich erst auf den letzten Metern als weißgelber Schleier. Von den Ortschaften blieben rechts und links nur diffuse Flecken. Sie kamen spät an. Merkwürdigerweise hatte der Nebel um Saibling eine Kurve gemacht. Die Sicht war glasklar und Saibling schlief. Der Parkplatz hinter dem Hotel war leer. Annemarie war eingeschlafen und wollte nicht aufwachen. Draußen war die Luft saukalt und roch nach Berg. Schwarz und massiv, kalt und drohend umstanden die Riesen Saibling in einem halben Kreis. Zum Greifen nah ob ihrer Größe. Die Luft roch nach Kuh und Weide, nach der Bäckerei Brunner und der Gischt des Bachs. Und dann war da noch der Geruch eines weiblichen Körpers. Er war es, der ihm Angst machte.

„Da hast du sie, deine Bergluft! Glücklich?“ Sie war wach geworden.

„Ob Bergluft wirklich gesund macht?“

„Bleibe sitzen und probiere es aus. Dann bist du morgen gesund erfroren.“

„Du bist der herzloseste Miesmacher, den ich kenne.“

„Pst! Horch mal! Die Stille!“ Sie hob einen Finger vor die Lippen und hielt die andere Hand zur Muschel gekrümmt hinters Ohr.

Ja, diese Stille. Sie erschreckte. Da war nichts, das dem Ohr Halt gab. Plötzliche Taubheit, Hörsturz ohne Tinnitus. Das Geräusch von Nichts. Und dann diese schweigenden Riesen im Halbkreis um Saibling. Wie Schattenrisse hob sich ihre gewaltige Masse gegen die funkelnden Sterne ab. Es war die Stille, die dieser Masse das Übergewaltige verlieh. Das war es, das er über alles liebte, wonach er sich zu Hause sehnte, wovon er träumte. Und jetzt stand er da unten in Saibling, so winzig klein, und staunte – zum letzten Mal. Ein Schuss knallte durch die Nacht. Annemarie hatte die Wagentür zugeschlagen und Saibling geweckt. Der Rollkoffer donnerte durch die Nacht. Er folgte ihr. Das Hotel hatte bereits geschlossen. Sie mussten klingeln. Aus dem Halbdunkel schlurfte ein hagerer Mensch auf die Glastür zu. Jackett und Hose schlotterten um ihn herum. Er gähnte ausführlich, bevor er den Schlüssel drehte.

„Guten Abend und herzlich willkommen im Hotel Wilder Mann.“ Sein Dialekt war extrem. „Wir sind leider ausgebucht.“ Das verwunderte, war der Parkplatz doch leer gewesen.

„Wir haben reserviert.“ Am Tresen blätterte er umständlich im Gästebuch. „Wörner, sagten Sie? Ach ja, richtig. Wir glaubten, Sie kommen nicht mehr und haben Ihr Zimmer vergeben.“

„Was?“

Der Alte lachte. „War nur ein Scherz, um den späten Gast aufzuwecken. Und Sie sind doch jetzt wach? Sie sind die einzigen Gäste zurzeit. Verraten Sie mich nicht beim Wirt. Er hat mir garantiert, mich das nächste Mal rauszuwerfen. Aber ich kann es nicht lassen. Macht zu viel Spaß. Hier ist der Schlüssel.“

„Was ist denn das für ein Idiot?“ Sie war richtig sauer und musste das erst einmal loswerden.

---ENDE DER LESEPROBE---