Hugo und Helene - Ralph Tremmel - E-Book

Hugo und Helene E-Book

Ralph Tremmel

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Beschreibung

Hugo von Gaußens, ehemals Kriminalhauptkommissar, ist seit einem Jahr Witwer. Auf Drängen seiner Tochter Anna zieht er in ein Altenheim in seiner Stadt. Er soll wieder unter Menschen kommen, Kontakte knüpfen und vielleicht auch wieder eine neue Liebe finden. Er zieht im Dezember ein. Er lernt seltsame Menschen kennen und die neue Welt hat für ihn auch ihren Reiz. Aber die Menschen bleiben ihm fremd. Alle sind alt. Und dann sind da die Erinnerungen, die wie Gespenster hinter jeder Ecke lauern. So wie sich junge Menschen eine Zukunft erträumen, verliert sich von Gaußens in der Vergangenheit. Und er entscheidet sich. 245 Norm-Buchseiten

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Ralph Tremmel

Hugo und Helene

undAnnaundEmmaund v. a.

Ein Liebesroman

Impressum:Autor: Ralph Tremmel69126 HeidelbergMombertplatz 84      Coverbild: AutorSchrift: Google Fonts: notoKorrektorat: Mona Dertingertolino media ISBN: 97837592560892022, 2024 

 

 

Hinweis:

Wer meint, sich in einer der Personen wiederzuerkennen, der irrt. Alle Personen des Romans sind der Fantasie entsprungen. Ähnlichkeiten mit existierenden Personen sind dennoch nicht ausgeschlossen.

 

Als Helene starb,

geschah das so still, so unauffällig. So völlig ohne Geräusch. Sie wartete einfach darauf, dass das Sterben vorüberging, als wäre es nicht ihr eigenes. Dann war sie tot.

Prolog

Hugo von Gaußens, ehemals Kriminalhauptkommissar, ist seit einem Jahr Witwer. Auf Drängen seiner Tochter Anna zieht er in ein Altenheim in seiner Stadt. Er soll wieder unter Menschen kommen, Kontakte knüpfen und vielleicht auch wieder eine neue Liebe finden. Er zieht im Dezember ein. Er lernt Menschen kennen und die neue Welt hat für ihn auch ihren Reiz. Aber die Menschen bleiben ihm fremd. Alle sind alt. Und dann sind da die Erinnerungen, die wie Gespenster hinter jeder Ecke lauern.

1 (30. November)

Endstation!, klang ihm das Geräusch der sich schließenden Tür so deutlich in den Ohren, als hätte die Tür zu ihm gesprochen. Dabei hatte der Hausservice, eine Dame von beträchtlichem Umfang, die Tür sanft geschlossen, fast geräuschlos, als läge da einer todkrank auf der Intensivstation. Er jedoch stand mitten im Raum und drehte sich ganz, ganz langsam auf der Stelle, das Wohnzimmer seiner Zweizimmerwohnung in Augenschein zu nehmen. Geräuschlos, aber eben nicht stumm, erinnerte ihn das Reiben der Tür über den Teppichboden – vielleicht entsprang es auch nur der Einbildung – an das alte Zuhause. Das gute, alte Zuhause! Die letzte Handlung des Tages, der Blick ins Kinderzimmer. Auch da rieb die Tür über den Teppichboden. Alles war damals noch frisch in der Wohnung gewesen. Der Teppichboden hatte aufrecht gestanden wie ein Dreitagebart. Jahre später lag er dann abgetreten danieder wie ein Fußballrasen in der Kreisliga. Der schmale Lichtstrahl auf den Betten. Die kleinen Gesichter, die da lagen, als könnten sie kein Wässerchen trüben. Dabei tankten sie nur auf, um ihn und Helene am Tag in Atem zu halten. Er lächelte. Seine Helene. Miau!, hatten Anna und Emma die Mutter gerufen, als sie lernten, dass das die Sprache der Katzen war. Und Helene war selig. Sie empfände Mama jetzt wie das fremdelnde Sie, während ihr Miau zum Du unter Freunden geworden sei, verriet sie ihm. Da hatte er sie auch Miau gerufen. Es gab Abendessen, da wurde am Tisch nur miaut. Ganze Gespräche wurden mit Mia und Mio geführt. Die Mündchen zum A und zum O gebogen. Er hatte sie gerne geküsst. Alle drei. Er hätte sie gerne jetzt geküsst! „Miau – Miau“, flüsterte er sich zu und bog seine Lippen zum U. Wie lang war das her und warum war es das Alte, das ihm in der neuen Wohnung zuerst einfiel, wo sie doch seine letzte sein würde. Es klopfte an der Tür. Ein höfliches Klopfen, also nicht laut. „Ja?“ Die Tür wurde höflich geöffnet, also bedächtig, wie wohlerzogene Besucher ein fremdes Zimmer betreten. Aber das Reiben der Tür über den Teppichboden hörte er doch. Er bildete es sich nicht ein. Es war real, es kam und ging mit einer kurzen Pause dazwischen. Hilm trat ein. Ein schlanker, großgewachsener Mann, der mit seinem aufrechten Gang noch einen Kopf größer wirkte. Er hatte die Stelle des Kulturreferenten im Hause inne. Sie kannten sich bereits. Er war eine der Personen, die kontaktierte, wer sich von dem gesellschaftlichen Leben im Haus ein Bild machen wollte, bevor er sich entschied. Ein äußerst wichtiger Aspekt. Schließlich war hier Endstation. Wer hier einzog, würde bleiben bis zum Tod. Im Allgemeinen jedenfalls. Auch er hatte das geplant. Nein! Geplant war nicht das richtige Wort. Er hatte sich Annas Drängen ergeben.

„Herr von Gaußens! Ich komme nur vorbei, um zu schauen, ob mit dem Einzug soweit alles klappt. Ich verriet Ihnen ja bereits, dass ich hauptberuflich Mädchen für alles bin, was das Gesellschaftliche im Haus betrifft, und das Kulturreferat nur nebenbei betreibe. Offiziell ist das natürlich andersrum.“ Er lächelte. „Was mir ehrlich am Herzen liegt, ist das Wohlsein jedes Einzelnen unserer kleinen Gemeinde – obwohl, so klein ist sie ja nicht. Wissen Sie um die Bevölkerungszahl bei uns?“

„Sie pendelt um dreihundertvierzig. Damals, als Sie mich in Ihre Gemeinde einführten – obwohl, ich muss jetzt auch von unserer Gemeinde sprechen –, betrug sie dreihundertsechsundvierzig.“

„Tatsächlich … Fast hätte ich eben angehängt: Gut aufgepasst! Haben Sie es bemerkt? Dabei, es wäre unhöflich gewesen, wo ich doch so viel jünger bin. Das junge Gemüse in unserer Gemeinde, gewissermaßen. Dreihundertfünfundvierzig sind wir aktuell.“

„Womöglich wollen Sie sich für Ihre jungen Jahre noch entschuldigen. Dabei sind es wir, die Alten, die den Jungen die Zukunft wegfressen und ihnen deshalb eine Entschuldigung schulden.“

Hilm schüttelte den Kopf. „Aber Herr von Gaußens! Wäre ich mir jetzt ganz sicher, Sie scherzten, würde ich aus vollem Halse lachen. So aber weiß ich nicht recht, was ich sagen soll. Man kann Ihre Worte auch makaber nennen. Und im Übrigen zählen Sie selbst zu den jungen Heimbewohnern. Da fressen Sie noch niemandem die Zukunft weg.“

„Noch! Herr Hilm. In zehn Jahren sieht es anders aus. Dann ist jeder Tag, den ich überlebe, einer zu viel.“

„Aber Herr von Gaußens!“ Hilm stand die Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben. Er konnte sich nicht entscheiden, ob Empörung, Verlegenheit oder Belustigung angebracht war. Von Gaußens, mit der Erfahrung unzähliger Vernehmungen, sah es ihm an und klopfte Hilm väterlich auf eine Hand.

„Nehmen Sie nicht allzu ernst, was ich sage. Viel Sarkasmus aus Gewohnheit. Sarkasmus ist eine Berufskrankheit in der Branche, aus der ich komme. Auch wer in bester Absicht eingestiegen ist, verlässt sie am Ende mit mehr Sarkasmus in den Adern als roten Blutkörperchen. Es tut mir leid, Sie irritiert zu haben. Dabei sind Sie doch vermutlich in bester Absicht vorbeigekommen. Ich darf auch nicht vergessen, mich zu bedanken. Mir wurde gesagt, Sie hätten es möglich gemacht, dass ich bereits heute einziehen durfte. Formlos, wo doch erst morgen der Dezember beginnt. Das hat es mir erleichtert, die Wohnung dem Nachfolger sauber zu übergeben und nicht eine Nacht auf der letzten Matratze in einem leeren Zimmer zu liegen.“

Hilm winkte ab. „Das war doch eine Selbstverständlichkeit. Wenn ich mir aber den Hinweis erlauben darf: Sarkasmus und Verbitterung sind einander unangenehme Geschwister. Sie schaffen nur schlechte Laune – da drinnen.“ Er klopfte sich auf die Brust. „Doch lassen wir das. Es ist wahr. Ich bin in guter Absicht gekommen. Ich bin im Haus immer in guter Absicht unterwegs. Ganz besonders gilt sie den Neuankömmlingen in den ersten Tagen. Da kann man sich sehr einsam fühlen. Alleine. Verlassen. Es ist, als hätte man sich verirrt und sucht jetzt den Weg nach dem Zuhause, das es so nicht mehr gibt. Da ist es gut, dass die Wohnung so klein ist. Stellen Sie sich vor, da wären noch fünf Zimmer und eines so fremd wie das andere. Sie haben sich entschieden, an einem Nachmittag einzuziehen. Und das auch noch Ende Spätherbst. Es dämmert bald. Eine ganz schlechte Zeit für Ortswechsel. So ein Einzug in eine noch fremde Gemeinschaft kann wie ein Rausschmiss aus der alten Welt empfunden werden. Hier ist alles noch so fremd für Sie. Und jetzt kommt das Gute, wo ich bis eben nur vom Schlechten gesprochen habe: Glauben Sie mir, das ändert sich schneller, als Sie es für möglich halten. Ich habe gesehen, Sie haben sich fürs Mittagessen eingetragen. Ich empfehle Ihnen, in den ersten Tagen an jedem Essen teilzunehmen. Sie werden schnell Anschluss finden. Wir haben so viele Gruppen hier. Schach, Dame, Wandern, sogar eine Bridgegruppe. Sie finden garantiert einen Kreis, in dem Sie sich wohlfühlen. Natürlich, persönlichen Kummer kann niemand wegzaubern. Ich hoffe, das trifft nicht auf Sie zu.“ Sein Lächeln war einem vorsichtigen Fragezeichen gewichen.

Von Gaußens neigte den Kopf. „Herr Hilm, Sie sind noch zu jung, von meiner Warte aus gesehen, um aus eigener Erfahrung zu wissen, dass Altsein ein Zustand ist, der nichts Gutes bedeutet. Daran kann man so wenig etwas ändern wie am altersbedingten Haarausfall. Es soll Menschen geben, die diesen Kummer weglachen können. Ich kann das nicht. Ich wäre lieber jung geblieben. So um die fünfzig würde mir schon reichen. Jünger wollte ich gar nicht sein. Aber älter auch nicht. Immerhin weiß ich mich abzulenken und ich halte mich an Ihren Rat und werde die erste Woche morgens, mittags und abends im Speisesaal sitzen. Nur heute Abend gönne ich mir zur Begrüßung einen Besuch im La Belle.“

„Bella Vista“, korrigierte Hilm. „Ein gemütliches Plätzchen. Aber zu zweit sitzt es sich besser. Und wir haben so viele weibliche Singles.“ Er lächelte wieder verschmitzt.

Von Gaußens bekam so eine Ahnung, was Hilm hauptberuflich im Hause umtrieb. „So, jetzt mache ich mich weiter mit meinem neuen Heim vertraut“, sagte er und ließ wieder einmal den Blick durchs Zimmer schweifen. „Wir sehen uns ja jetzt häufig.“ Er lächelte mit einem Augenzwinkern, um den unausgesprochenen Rauswurf abzumildern.

Hilm verstand sofort und zog sich rückwärtsgehend zur Tür zurück. „Ein Hinweis noch“, sagte er: „Ihr neues Zuhause endet nicht an dieser Tür. Ach! – Und da ist noch etwas. Ihre Wohnungsnummer ist drei-acht-elf. In der Hausordnung ist erklärt, wie sie zu lesen ist. Ich erkläre sie jedem Neueinzug noch einmal, denn wir haben schon die tollsten Sachen erlebt. Menschen, die nachts durch die Gänge wandern und nie ankommen, bis sie zufällig dem Nachtdienst begegnen. Bei Ihnen glaube ich das natürlich nicht.“ Er lächelte entschuldigend und verriet damit, dass er es doch für möglich hielt und von Gaußens einmal nachts durch die Flure stolpern könnte. „Die erste Ziffer meint das Haus“, erklärte Hilm mit erhobenem Finger. „Die zweite das Stockwerk. Der Rest die Tür zur Wohnung. Die kann ein- und zweistellig sein. Wir sind jetzt also im Haus drei, Stockwerk acht, Wohnung elf. Der Vorteil von Haus drei ist, dass sich hier die Zentrale befindet. Die Rezeption, die Kapelle, das Theater, der große Speisesaal und natürlich unsere Lobby nicht zu vergessen. Auf die bin ich besonders stolz.“ Hilm wartete auf eine Reaktion.

„Danke“, sagte von Gaußens. Hilm hatte die Tür fast zugezogen, da fiel von Gaußens noch etwas ein. „Warten Sie!“, rief er. „Sie sagten etwas von einer Bridgegruppe. Die gibt es tatsächlich?“

„Ja. Bridgeclub nennen sie sich allerdings und wollen auch so genannt werden.“ Er lächelte wieder, als amüsierte ihn das.

„Wie finde ich den Club? Glauben Sie, die nehmen noch jemanden auf?“

„Sie spielen Bridge? Das ist ja fantastisch! Es waren nur vier, also genau die richtige Zahl. Und jetzt ist Frau Bräuer vor zehn Tagen von uns gegangen. Das ist die Zahl, um die Sie vorhin daneben lagen. Sie kämen wie gerufen. Ich habe einmal bereits als Ersatzmann mitgespielt, nur um die Herrschaften aus dem Tief herauszuholen, in das sie der Tod von Frau Bräuer gestoßen hatte. Dabei wissen wir doch, dass dieser letzte Akt im Leben an einem Ort wie diesem zum Alltag gehört.“ Er erschrak. „Das hätte ich jetzt nicht sagen sollen. Verzeihen Sie, Herr von Gaußens!“

Von Gaußens machte eine abschätzige Handbewegung. „Ach! Der Tod hat für mich doch längst seinen Schrecken verloren. Vermutlich geht das vielen so, die noch leben, obwohl sie längst gestorben sein sollten.“

„Aber Herr von Gaußens! Das ist mir dann doch zu morbide gedacht. Und vor allem: Lassen Sie solches bitte nicht im Beisein anderer aus dem Haus verlauten. Wenn Sie wüssten, wie die Menschen am Leben hängen, je älter sie werden. Deshalb spricht hier niemand vom Sterben oder gar vom Tod. Und ist man gezwungen, von Verstorbenen zu sprechen, dann in einer Form, als wären sie noch am Leben.“

„Ja, wenn das hier so ist, muss ich es zur Kenntnis nehmen. Ich habe den Tod in jeder Ausführung erlebt. Nur friedliches Entschlafen war nicht darunter. Das härtet nicht ab. Es macht nur gleichgültig.“

„Das kann ich mir denken. Ich wünsche Ihnen dennoch ein friedliches Ende – vielleicht in zwanzig Jahren?“ Hilm lächelte wieder verschmitzt. Das konnte er gut und es sah aus wie echt.

„Zwanzig Jahre? So weit reichen meine Ersparnisse nicht. Da müssen Sie mit dem Preis für Kost und Logis runtergehen.“

„Leider liegt das nicht in meiner Zuständigkeit. Aber so viel darf ich Ihnen verraten: Wir schwimmen nicht im Geld.“

„Sie spielen also auch Bridge, Herr Hilm? Ich dachte, Bridge kennen und können nur noch die Sterbenden.“

„Na! Na! Sagen Sie das bitte nicht unten am Tisch. Ich habe das Spiel nur so weit gelernt, dass ich einspringen kann, wenn Not am Mann ist. Auch Schach spiele ich nur etwas über Anfängerniveau. Es folgen Dame, Monopoly, Mensch ärgere dich nicht. Im Memory bin ich sehr gut, finde aber absichtlich nichts. Das freut die alten Herrschaften und je älter, umso diebischer ist die Freude, es dem jungen Spund gezeigt zu haben! Er lächelte wieder verschmitzt. Das konnte er gewissermaßen mit links. „Ich mache Sie morgen beim Frühstück bekannt. Einen schönen Abend noch.“ Er zog die Tür zu. Endgültig.

Die Tür reibt über den Teppichboden, obwohl er sie supervorsichtig nur eine Handbreit aufgezogen hat. Aber die Wohnung, die sie erst vor zwei Wochen bezogen haben, ist noch widerspenstig. Eine Tür klemmt und eine andere knarzt, obwohl er die Angeln mit Kriechöl eingesprüht hat. Dann tropft da noch ein Wasserhahn. In den letzten Tagen aber immer weniger. Helene weiß den Grund. Es seien die Geister, die sich in jeder leeren Wohnung breitmachen wie Staub. Die müssen erst mal verschwinden. Das täten sie auch, wenn sie merken, dass sich die neuen Bewohner nicht mehr vertreiben ließen, verspricht sie den Mädchen beim Abendessen. Das war keine so gute Idee, wo Helene doch sonst nur die besten Ideen hat. Die beiden schauen mit Augen über den Tisch, groß und rund und glänzend wie schwarze Knöpfe auf weißem Tuch. Anna geht in die erste Klasse und Emma noch in den Kindergarten. Da sieht man noch Geister hinter jeder Ecke. Und wenn es schon die Mutter sagt! Obwohl die Tür nur eine Handbreit geöffnet ist, fällt das Licht vom Flur in einem schmalen Streifen über Annas Gesicht. Ihre Augen hat sie weit geöffnet. Er weiß, dass sie auf das Reiben der Tür gewartet hat und darauf, dass er nickt. Sie schlüpft aus dem Bett und huscht an ihm vorbei. Er sieht noch ihr Lächeln. Dann ist sie bei Helene und hört mit ihr Musik. Emma schläft. Er drückt ihr einen Kuss auf die Schläfe, denn sie liegt auf der Seite.

Er zieht das Memory aus der Umzugskiste. Es scheint ihm ein passender Beginn.

2

Die Küchenzeile enthielt nur das Nötigste. Für einen Witwer völlig ausreichend. Für eine Witwe eher nicht, war sie doch gewohnt, vom Sahnequirl bis zu Löffeln in fünf Größen alles in Griffweite parat zu haben. Da stand er nun und bereitete sich seinen ersten Kaffee in der neuen Küche. Wie viele Kaffees mochte er sich in seinem Leben zubereitet haben? Keine Frage von Vernunft, wenn man Kaffeetrinker war. Aber die Frage war gestellt und stand jetzt im Weg wie oben und unten angenagelt. Er kannte sich und wusste, dass es klüger war nachzugeben. Also versuchte er sich an der Zahl, die rückwärts gezählt unlesbar wurde. Als Junggeselle hatte er eigentlich nie Kaffee zubereitet. Die Mutter hatte immer für Kaffee gesorgt. „Machst du mir einen Kaffee?“, hatte er durch die geschlossene Tür seines Zimmers gerufen, wenn die Mutter draußen vorbeiging. Und ihre Antwort war „Kommt gleich!“ gewesen, als wäre das eine Selbstverständlichkeit. Waren alle Mütter so? Die erste Vermieterin, Frau Dinkel oder so ähnlich, eine Witwe mit schlohweißem Haar, brachte ihm nachmittags einen Pott sehr starken Kaffee, als wäre das im Mietvertrag so vereinbart worden. Er hörte ihre Schritte auf der Treppe. Sie war eine Frau von beträchtlichem Umfang, aber geringer Größe gewesen. Er hörte ihr Schnaufen. Acht Stufen. Oben hin knarrten zwei. Gleich würde sie klopfen. Es klopfte. Ja bitte? – Ihr Kaffee, Herr von Gaußens. – Vielen Dank. Das wäre doch nicht nötig gewesen. – Aber ich mach das doch gerne. Abwärts ging sie langsamer als aufwärts. Er verstand: Hohe Stufen aufwärts strengten an. Abwärts machten sie schwindelig. Ihr Gesicht war oft verschwitzt. Sie war der schwitzende Typ. Eines Tages, sie schnaufte sich gerade die Stufen herauf, sah er ganz deutlich ihren Schweiß von Stirn und Nasenspitze in seinen Kaffee tropfen. Er hörte sogar die Tropfen auf der schwarzen Oberfläche zerplatzen. Von da an trank er den Kaffee nicht mehr, nahm ihn aber dankend entgegen. Er besorgte sich einen Trichter, durch den er den Kaffee in eine große Coca-Cola-Flasche kippte. Er leerte sie in einen Gully, wenn sie voll war. Auch den Blumenkasten vor dem Fenster wässerte er damit. Gelbe Blumen. Blumennamen hatte er sich nie merken können. Blumen sortierte er nach Farben. Rosen waren rot. Tulpen weiß oder gelb, obwohl, da war die Grenze schon fließend. Frau Dinkel bedankte sich für das Gießen der Blumen. Warum so plötzlich, wollte sie wissen. Weil er fand, es sei an der Zeit, sich für den Kaffee zu bedanken. Frau Dinkel war gerührt. Für ihren Mann sei jede ihrer Haushaltsleistungen eine Selbstverständlichkeit gewesen. Eine Bringschuld wofür auch immer, so sei ihr manchmal zumute gewesen. Na ja. Nun sei er ja tot. Anke Otto, die zweite Vermieterin, war ihm gut im Gedächtnis geblieben, nicht nur was den Kaffee anging. Sie war mindestens doppelt so alt wie er, bevorzugte aber Röcke, wie sie Mädchen trugen. Ihre Beine waren gerade, aber stämmig. Wenn er am Morgen die Küche betrat, sah er die Waden dieser Beine und er dachte an umgedrehte Baseballschläger. Aber da waren oben drüber noch die unteren Hälften der Oberschenkel sichtbar. Auch sie strotzend vor Kraft. Jeden Morgen stand sie vor der ratternden Kaffeemaschine und wartete. „Guten Morgen!“, grüßte er und sie antwortete freundlich, doch ohne sich umzudrehen. Gewöhnlich stellte er sich neben sie und wartete gemeinsam mit ihr auf das letzte Röcheln. Das konnte dauern und schien oft open end. Dem vermeintlich letzten Röcheln folgte dann gewöhnlich – aber wann? – ein letztes Paff. Manchmal von einer Dampfblase begleitet. Oft zog sich dieses unbestimmte Warten eine Weile hin. Die Frage drängte sich auf, warum sie da standen und worauf sie warteten. Der Kaffee war längst durch. Sie hätte abschalten können, außer Blasen kam da nichts mehr raus. Aber sie wartete geduldig und er mit. Irgendwann kam es ihm in den Sinn, sie wartete auf ihn. Aber das schien ihm wieder doch zu unwahrscheinlich. Sie füllte ihm dann einen Pott. Er dankte und zog damit wieder hoch in sein Zimmer. Nun war er noch in dem Alter, das seine Wirtin bereits weit hinter sich gelassen hatte, und eines Morgens geschah dann das Unvermeidliche. Er setzte sich auf den Stuhl schräg hinter ihr. Schon das war ungewöhnlich, doch sie ließ sich nicht beirren, lauschte dem Röcheln und zählte die Dampfblasen, als stünde er wie immer neben ihr. Er zögerte. Aber über die vergangenen Morgen mit den umgedrehten Baseballschlägern und den unteren Hälften der Oberschenkel, darüber der Rock für kleine Mädchen, wo sie doch doppelt so alt war wie er, hatte sich so viel aufgestaut – nicht im Herzen, denn dort staut sich die Liebe. Aber wo staut sich die Begierde? Da gab es kein Zurück. Er legte eine Hand in die Kehle ihres rechten Knies. Sie war zum Greifen nah. Sein Unterbewusstsein musste die Aktion bereits geplant haben, bevor sie sein Bewusstsein erreichte, denn er staunte über seine Hand, als er sie in dieser Kniekehle sah. Als hätte sich die Hand aus eigenem Entschluss auf die helle Haut gelegt und das muskulöse Fleisch darunter in ihren festen Griff genommen, so schien es ihm, denn plötzlich war sie dort. Auch der Stuhl hatte sich näher herangeschoben, ohne dass es ihm aufgefallen wäre. So nah war er diesem Körper noch nie gewesen. Sie verwendete kein Parfüm und Körpergeruch ging von ihr auch nicht aus. Das wusste er längst. Sie wäre ihm als die geruchlose Frau in Erinnerung geblieben. Jetzt aber, wo kein Blatt mehr zwischen seine Hand und ihre Kniekehle passte, nahm er die Wärme wahr, die ihr Körper wie ein gemütlicher Kachelofen abstrahlte. Die Hand stärkte den Griff um Haut und Fleisch und alles geschah ohne eigenes Zutun. Frau Otto hatte ihm noch immer den Rücken zugewendet und er hätte gewettet, sie hatte bisher nicht mit der Wimper gezuckt. Sie stand einfach da und wartete auf das letzte Röcheln. Seine Hand strich auf und ab in immer größeren Amplituden, bis sie zwischen Ferse und Damm ihr natürliches Maximum erreichte. Sie hätten jetzt hoch in sein Zimmer oder in das ihre gehen können. Aber es gab ein drittes Zimmer. Das lag dazwischen und mit ihm die alte, kranke Mutter. An ihr funktioniert nichts mehr so richtig bis auf die Ohren. Die sind noch immer wie frisch wie aus der Petrischale, hatte ihm einmal die Tochter über die Mutter verraten. Er möge deshalb Musik immer leise hören, war ihre Bitte gewesen. Und jetzt drehte sich Frau Otto um und ließ ihn machen. Später dann, die Maschine hatte längst ausgeröchelt, der Kaffee eine moderate Temperatur angenommen, bekam er seinen Pott. So war das jetzt morgens, wenn er seinen Kaffee holte. Ob fünf Minuten früher oder später, sie stand da mit dem Rücken voraus – zuerst – und ließ ihn machen. Manchmal drehte sie sich um und manchmal wieder zurück. Dann lernte er seine Helene kennen, und als dann die Liebe dazu kam, kündigte er. In den ersten beiden Jahren ihrer Ehe bereitete Helene seinen Kaffee, wie er es von den Frauen gewohnt war. Dann, im dritten Jahr, so Anfang zweites Drittel, war sie der Meinung, er sei jetzt alt genug, sich den Kaffee selbst zuzubereiten. Aber ihre Ehe war völlig intakt. Mehr als das: Sie blieb es noch vierundvierzig Jahre. Dann starb Helene. Und wie oft hatte er jetzt seinen Kaffee selbst zubereitet? Er kapitulierte vor der Berechnung. Und die Frage stand auch nicht mehr im Wege.

3

Am Abend machte er sich auf ins Bella Vista. Der Weg führte am Speisesaal des Heims vorbei. Eine Glaswand trennte ihn vom Flur. Es sah gemütlich aus da drin. Zwei saßen allein an kleinen Tischen. Ein Mann und eine Frau. Er hatte eine Zeitung neben seinem Teller passend gefaltet liegen. Sie tippte auf ihrem Handy. Ein Fall für Hilm? An den anderen Tischen war mehr los. Eine größere Gesellschaft an einer Tafel war bester Stimmung. Gelächter drang gedämpft zu ihm heraus. Der Tisch für zwei war frei. Den würde er sich morgen schnappen. Da fiel ihm ein, dass keine Sitzordnung bestand. Er hatte bereits zweimal hier gegessen. Als Gast. Das Haus gab Interessenten Gelegenheit, die Angebote auszuprobieren. Auch das Theater hatte er bereits einmal besucht.

Im Bella Vista war nicht viel los. Das konnte sich aber noch ändern. Selten, dass sich mehr als die Hälfte der Bewohner für die Hausküche entschied. Die anderen besuchten das Bella Vista oder fuhren in die Stadt oder bereiteten sich ihr eigenes Essen. Das taten die meisten. Schließlich kostete alles Geld. Er wusste das von Hilm, der ihm günstige Restaurants in der Stadt nennen wollte. Von Gaußens erinnerte ihn, dass er schon Jahrzehnte hier wohne und selbst einen Reiseführer schreiben könne, wenn er schreiben könnte. Hier hatte Hilm gelacht über die Bescheidenheit, die er dahinter vermutete. Auch Helene und er hatten gelegentlich im Bella Vista gegessen. Das Restaurant war zwar im selben Gebäude untergebracht, war aber eine eigene Einrichtung. Sie hatten immer denselben Tisch gewählt, hinten in der Ecke, wo Schummer die Helle überdeckte. Es war der einzige Tisch, über dem keine Lampe hing. Anfang Dezember aßen sie hier ihre Martinsgans. Nach einem spontanen Entschluss in einem November war es Tradition geworden. Er konnte sich beim besten Willen nicht an das Jahr jenes ersten Novembers erinnern. Helene hätte es bestimmt gewusst. Sie freute sich schon ab Herbst auf den Abend und drängte ihn spätestens ab Mitte Oktober, zum Telefon zu greifen.

Unsere Martinsgans! Vergiss nicht, den Tisch in der Schummerecke zu reservieren!

Die wenigen Gäste waren gehobenen Alters, freundlich formuliert, und verloren sich in dem großen Raum. Ihr Tisch in der Schummerecke war frei. Da hinten am Rand, als einziger Tisch ohne Licht von der Decke, war er ihm immer wie die Eselsbank in der Schulklasse gewesen. Freiwillig nahm niemand dort Platz, denn alte Leute suchen das Licht, nicht den Schummer. Da war Helene ganz anders gewesen. Er hatte später einmal das Wort im Duden nachgeschlagen. Tatsächlich, Schummer gab es. Deutsch sei ihre Muttersprache, erklärte sie. Bei ihm sei sie sich da nicht so sicher. Er liebte Helene und ihre Sprüche. Umgekehrt war er sich bei ihr da nicht so sicher. Aber warum hatte sie es dann bei ihm ausgehalten, länger als ein halbes Jahrhundert? Darauf konnte es nur eine Antwort geben. Er lächelte wie so oft, wenn er an seine Helene dachte. Unbewusst war dieses Lächeln und wie mit Wasserfarbe und weichem Pinsel nur hingetupft. Hätte man ihn nach dem Grund des Lächelns gefragt, hätte er sich über die Frage gewundert. Zuerst setzte er sich auf ihren Stuhl und gab sich dem Gefühl hin, mit ihr eins zu sein. Dann wechselte er den Platz und schaute sie an.

Sie schiebt ihm einen Knödel zu. Es ist der eine von den zweien, die auf dem Teller liegen. Er isst ihn auf. Es ist sein dritter Knödel. Dann noch die Reste ihrer Gänsekeule. Jetzt tut ihm der Bauch weh. Er weiß, dass das die Folge ist, und kann es dennoch nicht lassen. Sie hat es erwartet und zieht die Schachtel mit den Rennie hervor. Sie drückt zwei davon aus dem Blister und reicht sie ihm. Er zieht die Schachtel mit den Pall Mall aus der Tasche und tut, als rauche er. Er nimmt tiefe Züge und bläst durch die Nase aus. Kindertheater, aber sein Körper reagiert auf die äußeren Signale und antwortet mit einem Gefühl der Erleichterung. Die Gäste am Nachbartisch schauen her. Sie wundern sich natürlich. Er und Helene tun, als sei alles normal. Der junge Mann fragt, ob das neuartige Zigaretten seien. Also Zigaretten für drinnen. Kein Geruch und der blaue Qualm fehle auch. Er hält dem jungen Mann die Schachtel auffordernd hin. Der nimmt sich eine und raucht, wie man eben so raucht ohne Feuer. Er blickt unsicher herüber. Da lacht Helene und erklärt es ihm. Es gebe doch Menschen, die würden von Placebos gesund, sagt sie. Hier sitze so einer. Der Fremde ist Arzt. Allerdings ist es erst drei Monate her, dass er sich Dr. X nennen darf. Die Frau neben ihm, seine Frau, ist bereits seit zwei Jahren Ärztin, obwohl sie beide zur selben Zeit mit dem Studium begonnen haben. An ihnen könne er sehen, dass Frauen die Männer in den Senkel stellen würden, wenn sie nur wollten. Aber sie wollen oft nicht, erklärt er und scheint doch stolz auf seine Frau zu sein. Seine Frau korrigiert, die Männer ließen sie nicht. Sie schieben die Tische zusammen. Man tauscht Erfahrungen aus über das Leben von ‚gerade noch jung‘ und ‚beinahe schon alt‘. Die Erfahrungen wechseln über den Tisch wie ein Ping-Pong-Ball. Man duzt sich beinahe unbemerkt.

Es gab nur eine Bedienung für das Lokal. Grund sei die Unberechenbarkeit der Gäste, hatten sie vom Wirt erfahren. Es gebe Abende, da könne er schon um acht Uhr den Laden schließen. Ein andermal wieder sei noch die Hälfte der Tische besetzt, wenn er um elf Uhr die Glocke läute. Nur wann so und wann so, das wisse er nicht. Die Bedienung war eine neue, auch wenn sie vielleicht schon länger da war. Aber er und Helene waren dann eben noch länger nicht da gewesen. Die Neue konnte deshalb nicht wissen, dass es eine Helene gegeben hatte, und fragte nicht nach ihrem Verbleib. Er bestellte die Martinsgans und einen Rotwein. Von den Preiselbeeren bitte die doppelte Portion. Flasche oder Glas? Glas natürlich, oder wolle sie, dass er die Nacht mit dem Kopf hintenüber auf dem Stuhl verbringe? Mit der deutschen Sprache stand sie auf Kriegsfuß. Auch Humor schien nicht ihre Stärke zu sein. Sie verstand den Witz nicht und gab ein Nein zur Antwort mit der Tendenz zum Ja. Bald kam der Wirt mit dem Rotwein. Er begrüßte ihn wie einen alten Freund. Sie hatten noch nie die Namen getauscht und zum Du war es auch nicht gekommen. Doppelte Portion Preiselbeeren zur Martinsgans! Da fiele ihm nur ein Gast ein. Er wollte sich nicht setzen. Zu tun! Zu tun! In einer halben Stunde komme eine Gruppe. Jetzt solle er nicht lachen: ein Kaninchenzüchterverein! Der Wirt war Grieche, lebte aber lang genug im Land, um von dem Spott zu wissen, mit dem sich das Wort verband. Dann gäbe es also heute Hasenbraten im Angebot, fragte von Gaußens. Der Wirt lachte aus vollem Hals. Gäste schauten her. Aus Rohrbach kämen sie hoch, erklärte der Wirt. Zu Fuß und mit Kohldampf beladen. Er müsse deshalb los. In der Küche stapelten sich die Schnitzel. Fantasie hätten sie nicht, die Kaninchenzüchter. Er grinste wieder. Wo übrigens die Dame sei? Er zeigte auf den leeren Stuhl. Tot? Gestorben? Das glaube er nicht. Er sank auf den Platz, der Helene gehörte. Kurz nach der letzten Martinsgans, aber noch vor Weihnachten? Nein, das glaube er nicht! Seine Hand, eine ziemliche Pranke, legte sich auf von Gaußens’ Hand. Die war auch nicht die Hand eines Damencoiffeurs, aber zuckenden Karpfen hatte er noch nie den Kopf abgetrennt und auch nicht Gulasch durch den Fleischwolf gedreht.

„Lass mal“, sagte von Gaußens. „Ich bin drüber weg. Ich habe mich hier gerade eingekauft. Wir sehen uns jetzt öfters.“ So waren sie zum Du gekommen, fast unbemerkt. Schade, dass Helene davon nichts mehr weiß, dachte er. Obwohl …? Die Bedienung stand vor dem Tisch. Da seien noch zwei Schnitzel in der Pfanne, sagte sie in einem Ton, als sei sie die Chefin und er der Koch. Der Wirt sprang auf. Wo ihr Grab sei, wollte er noch wissen. Demnächst. Er käme wieder, versprach von Gaußens. Er wohne doch jetzt hier. Der Kaninchenzüchterverein trudelte ein. Zwanzig Minuten vor der Zeit.

Seine Gedanken wanderten noch einmal zurück zu Dr. X und Frau Dr. Y. Man hatte damals vereinbart, in genau einem Jahr hier, an diesen beiden Tischen, wieder zusammenzukommen. Aber man sah sich nie wieder. Als ein Jahr vergangen war und die Zeit kam, den Tisch zu bestellen, erinnerten sie sich an die Doktoren X und Y. Die Namen hatten sie vergessen. Den Tag konnten sie im Kalender vom letzten Jahr nachschlagen. Das taten sie auch und wählten einen anderen. Das war das Wunder mit Helene: Gemeinsam waren sie die richtige Mischung. Einer mehr oder weniger und die Mischung stimmte nicht mehr.

 

4 (1. Dezember)

Das Frühstück zu später Stunde war ihm zur Gewohnheit geworden. Manchmal hatte er es einfach ausfallen lassen. Seit Helenes Tod sah er wenig Sinn in einem geregelten Tag. Die Stunden vergingen und nichts geschah. Es hätte ihrer nicht gebraucht und doch waren sie da. Er konnte sehen, wie sie kamen und gingen, die Stunden. Als stünde er am Straßenrand und die Autos passierten. Fremde Autos. Er sitzt nicht drin, weiß nicht woher und wohin. Ein Strom ohne Anfang und ohne Ende. So vergingen für ihn die Stunden, seit seine Helene gestorben war. Die Genauigkeit in seinem früheren Leben war seit der Pensionierung so peu à peu davon und mit jedem peu schien ihm das Leben leichter, wie dem Wanderer der Weg, wenn er sich der Dinge an seinem Körper entledigt, vom Rucksack über die Hose bis zur Socke. Er hatte sogar Verständnis für Menschen gefunden, die im Nacktwandern Erfüllung suchten. Es wäre ihm allerdings nie in den Sinn gekommen mitzuwandern. Und Helene hätte sich sowieso nur an die Stirn getippt. Andererseits war sie ein toleranter, offener Mensch gewesen, der zum Unsinn neigte. Auch im Alter war sie jung geblieben. Er lächelte die ganze Zeit, wie er immer lächelte, wenn er an seine Helene dachte.

Heute wollte er es anders machen. Die neue Umgebung. Der Beginn im letzten Abschnitt seines Lebens. Er war es wert, mit sich auf ein gutes Gelingen anzustoßen. Früher hätten natürlich Helene und er die Gläser klingen lassen. Jetzt musste er mit sich selbst vorliebnehmen. Einen Piccolo, daran hätte er denken müssen! Unten, im Speisesaal, würde er danach fragen. Das erste Frühstück im Haus und er war früh auf den Beinen. Der kleine Tisch für zwei Personen, den galt es zu ergattern. Er hatte sich vorgenommen, Hilm nicht zu enttäuschen und Anschluss finden. Eigentlich war es ihm egal, was andere von ihm dachten. Aber er war nun mal hier und hatte eine Stange Geld dafür ausgegeben, wieder in der Gesellschaft Fuß zu fassen. Draußen gelang es ihm nicht. Vielleicht hier drinnen, unter dem Dach mit anderen. Nur dass es alles Alte waren und viele älter als er, den Punkt hatte er nicht bedacht. Andererseits war er auch den Töchtern zuliebe hier eingezogen. Genau genommen Annas wegen. Vielleicht wäre es ihr sonst gelungen, ihn zu sich zu holen. Sie sorgte sich ernsthaft um seinen Zustand. Die kleine Einliegerwohnung, halb unter der Erde, war wirklich hübsch. Er und Helene hatten sich dort immer wohlgefühlt. Zweimal hatte er jetzt bereits alleine in der kleinen Wohnung übernachtet und jedes Mal mit dem Gefühl, hier ließe es sich leben. Und dann hatte er doch immer – freundlichst – abgelehnt. Anna war ihm böse gewesen. Sie war die Tochter, die sich um den Vater kümmerte. Das älteste Kind. Dabei hatte sie Familie, selbst zwei Töchter und einen Mann, die ihre ganze Aufmerksamkeit verlangten. Und sie, die Ärztin, hatte dafür ihren Beruf aufgegeben und war die klassische Mutter geworden. Warum sollte sie sich da noch um den Vater kümmern? Auch Helene hätte es nicht verstanden. Wenn sie nur nicht alle so alt wären diese Menschen im Seniorenheim. Am Ende der Welt war er gelandet, in zeitlicher Richtung gesehen. Strandgut, mit der letzten Welle an Land geworfen. Hinter ihm rauschte das Leben und vor ihm trocknete der Sand. Helene wäre nicht einverstanden gewesen, dafür auch noch zu bezahlen. Sie war nicht geizig gewesen. Noch nicht einmal sparsam. Aber immer hatte es eines guten Grunds bedurft, Geld auszugeben. Und dann noch so viel! Mit Helene an seiner Seite hätte es keinen Grund gegeben, in dieses Haus für alte Leute zu ziehen, nur um Gesellschaft zu finden. Sie wussten ein Leben zu zweit zu führen, als wären sie eine Großfamilie. Sie waren sich Gesellschaft zu zweit gewesen und vermissten – niemanden. Jetzt stand er in Unterhose mitten im Zimmer und lächelte, in dem Versuch, vor Helene die Entscheidung zu begründen. Er lauschte seinem Gemurmel.

5

Er hatte falsch gedacht. Er war nicht unter den Ersten, er war unter den Letzten. Das Frühstück war bereits in vollem Gang. Trubel herrschte. Die Stimmung war heiter. Rufe wechselten über die Tische. Lachen antwortete. Das ganze Seniorenheim war auf den Beinen. Aber sein Tisch war frei! Er hatte sich eben hingesetzt und sich zum ersten Mal seit Langem wieder auf ein Frühstück gefreut, bei dem alles vorbereitet war und er den Kaffee nicht selbst zubereiten musste, da nahm ein Mann den Platz gegenüber ein, als hätte er auf Hugo gewartet. Er fragte nicht einmal, ob es erlaubt sei. Er schien davon auszugehen, er sei erwünscht.

„Guten Morgen!“, rief der Unbekannte in bester Laune, als wären sie alte Klassenkameraden. Er war noch damit beschäftigt, den Stuhl passend zurechtzurücken, weshalb ihm von Gaußens’ missmutiger Blick entging. Er hatte einen Schnurrbart, weiß wie frische Sahne. Die Augen waren grau mit einem Stich ins Grüne und die Haare auf dem Kopf ließen sich mühelos zählen, bestünde dafür Interesse. Sein Kopf war nach oben und nach unten hin etwas zu lang geraten und nach rechts und nach links etwas zu kurz. Die dünnen Lippen hatten Mühe, die Zähne zu überdecken, die kräftig und kantig waren wie zurechtgehauene Kieselsteine. Sein Körper musste sehr dürr sein. Seine Handgelenke verrieten das. Auch war sein Körper proportional zum Gesicht in die Länge gezogen. Obwohl er saß, musste von Gaußens zu ihm aufsehen. Dabei war er selbst auch nicht klein. Er musste Hilm um einen Kopf überragen, wo Hilm doch selbst schon Größe besaß – körperlich. Die Ohren des Unbekannten schienen mit dem Kopf verwachsen, so eng lagen sie an. Sie unterstrichen das Windschnittige der dürren Gestalt. Von Gaußens musste an einen Windhund auf der Rennbahn denken. Um den Hals hatte er einen roten Schal gewickelt, vorne verknotet.

„Sind Sie erkältet?“, fragte von Gaußens spontan.

„Keine Sorge! Der Schal ist mein Markenzeichen. Er hebt mich ab von all den Alten um mich herum. Ich trage ihn auch im Sommer.“

„Wenn es Ihnen um Markenzeichen geht, bedarf es des Schals nicht. Ich könnte gleich mehrere benennen, obwohl Sie sich erst vor einer Minute ungefragt an meinen Tisch setzten“, sagte von Gaußens. Ein wenig war er verärgert über die Aufdringlichkeit.

Der dürre Riese mit abzählbaren Haaren, einem Schnurrbart wie Schnee, grauen Augen mit grünen Tupfern und einer Haut wie Pergament lachte wie ein Bub. Es passte nicht zu seiner vertrockneten Erscheinung und hörte sich doch an wie von Herzen gekommen.

„Sie sind neu in dem Laden und setzen sich an den kleinen Tisch. Sie wollen allein sein. Warum sind Sie dann hier eingezogen und nicht gleich in ein Hospiz? Ich heiße übrigens Walter Riester. Das ist jetzt kein Witz. Trauriger Ernst. Wenn Sie wüssten, wie oft ich erklären muss, dass ich’s nicht bin. Ich meine der Riester-Renten-Mann. Und doch ist das der Ruf, der mich begleitet.“

Walter Riester hielt ihm über den Tisch die Hand entgegen. Auch die war dürr und schmal und jeder Finger langgezogen wie ein Mikadostäbchen.

„Gaußen“, stellte von Gaußens sich vor.

Walter Riester runzelte die Stirn. „Gaußen? Hilm sagte, Sie seien der von Gaußens. Wer irrt sich jetzt?“

„Ich“, gestand von Gaußens. „Das von war mir schon immer aus der Zeit gefallen. Es macht mich älter, gefühlt so hundert Jahre. Sind Sie nicht auch der Meinung? Und das s am Ende finde ich irritierend, als ob ich von mir im Genetiv spräche. Ich lasse beide nach Möglichkeit weg.“

Walter Riester schien über von Gaußens Empfinden nachzudenken und von Gaußens wartete auf einen Kommentar. Stattdessen überraschte er ihn mit der Nachricht:

„Ich weiß übrigens einiges über Sie.“

„Ach ja? Sind Sie der Hausdetektiv?“

Walter Riester lachte gern. Laut und breit und unbekümmert wie ein Mensch vom entgegengesetzten Ende der Altersskala. Niemand sah her. Man kannte sich im Haus und jedermanns Absonderlichkeiten. „Ich habe mich gut mit Hilm gestellt. Das kann von Vorteil sein. Ich weiß darum, dass Sie Polizist sind, sogar von der Mordkommission. Allein das Wort jagt dem Unschuldigen Schauer über den Rücken.

---ENDE DER LESEPROBE---