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Wolf lebt seit über 40 Jahren mit Susanne, seiner ersten Liebe aus der Studentenzeit, in einer Ehe. Er ist, vielleicht wie viele ältere Männer, fasziniert vom Anblick junger Frauen, die für ihn unerreichbar geworden sind, und zunehmend besessen von dem Wunsch, noch einmal ihre körperliche Liebe zu erfahren. Er behilft sich mit Sarah, einem Produkt seiner Fantasie, das ihm zur realen Gestalt geworden scheint. Dann geschieht, was er selbst in seinen kühnsten Träumen nicht mehr für möglich gehalten hatte: Die junge Maggi, Bedienung in einem Café, geht mit ihm eine Beziehung ein, über deren Warum Wolf oft sinniert. Er verliebt sich in die junge Frau mit der Heftigkeit eines jungen Mannes und hegt Träume von einer Zukunft, die selbst ihm in nüchternen Momenten lächerlich erscheinen. Die Treffen mit Maggi werden zur Routine, und wie er meint, gelingt es ihm auch, sie geheim zu halten. Er vergisst, dass eine Liebe zwischen einem alten Mann und einer jungen Frau nicht von Dauer sein kann. 225 Norm-Druckseiten
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Ralph Tremmel
Komm!Ich zeig dir was
Ein Liebesroman
Impressum:Autor: Ralph Tremmel69126 HeidelbergMombertplatz 84
Coverbild: AutorSchrift: Google Fonts: noto Korrektorat: Kerstin Thieme
tolino media ISBN: 97837592557162014, 2025
Du zeigst mir was?
Aber ja. Das weißt du doch.
Komm! Ich zeig dir was.
Prolog
Wolf lebt seit über 40 Jahren mit Susanne, seiner ersten Liebe aus der Studentenzeit, in einer Ehe. Er ist, vielleicht wie viele ältere Männer, fasziniert vom Anblick junger Frauen, die für ihn unerreichbar geworden sind, und zunehmend besessen von dem Wunsch, noch einmal ihre körperliche Liebe zu erfahren. Er behilft sich mit Sarah, einem Produkt seiner Fantasie, das ihm zur realen Gestalt geworden scheint. Dann geschieht, was er selbst in seinen kühnsten Träumen nicht mehr für möglich gehalten hatte: Die junge Maggi, Bedienung in einem Café, geht mit ihm eine Beziehung ein, über deren Warum Wolf oft sinniert. Er verliebt sich in die junge Frau mit der Heftigkeit eines jungen Mannes und hegt Träume von einer Zukunft, deren Lächerlichkeit selbst er in nüchternen Momenten erkennt. Die Treffen mit Maggi werden zur Routine, und wie er meint, gelingt es ihm auch, sie geheim zu halten. Er vergisst, dass eine Liebe zwischen einem alten Mann und einer jungen Frau nicht von Dauer sein kann.
29. Mai
‚Komm! Ich zeig dir was.‘ ‚Du zeigst mir was?‘ ‚Aber ja. Das weißt du doch. Komm! Ich zeig dir was.‘
„Wolf, du murmelst wieder und du stöhnst. Ist dir nicht wohl?“
Er schlug die Augen auf. Susanne blickte auf ihn herab. Es war halb neun und er lag noch im Bett. Er musste wieder eingenickt sein. „Schlecht geträumt.“
Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen. „Erzähl.“
„Ach, lieber nicht. Will nicht dran denken.“
Um neun saß er vor dem kleinen Schreibtisch. Das Bett, das direkt daneben stand, war nur notdürftig gemacht. Auf dem Schreibtisch herrschte Unordnung, denn der Zweck, dem er einmal gedient hatte, bestand längst nicht mehr. Er frühstückte. Es war Samstag. Das hatte nichts zu bedeuten. Seit der Rente war jeder Tag Wochenende. Die Beine lagen quer über dem Tisch. Die Tageszeitung bedeckte ihn vom Bauch bis zu den Knien. In den Knitterfalten des Papiers kullerten Brotkrümel mit jedem Atemzug vor und zurück. Er beobachtete sie. In der Diele klingelte das Telefon. Susannes Stimme drang gedämpft heran. Ein kurzes Gespräch. Die Tür ging auf.
„Traudel ruft an. Sie hat mich zum Kaffee eingeladen. Sam hofft, dass du auch mitkommst.“
Sein Gesicht verzog sich. „Sage ihr, dass ich leider schon eine Verabredung mit einem Freund habe.“
„Hast du Freunde?“
Sie lächelten sich an. Die Frage war berechtigt, aber das musste Traudel ja nicht wissen. Er widmete sich wieder den kullernden Brotkrümeln. Als er noch eine Tasse Kaffee holte, stand sie in der Küche.
„Was machst du jetzt?“
„Hier mein Programm: Ich lese noch etwas zu Ende. Dann fahre ich mal wieder in die Bibliothek. Anschließend gehe ich eine Runde. Brauchst du den Wagen?“
„Nein. Aber dein wunderschönes Programm musst du um diese Einkaufsliste ergänzen. Und steck sie nicht wieder in die falsche Hosentasche.“
**
Kurz vor der Abzweigung zur Innenstadt entschied er sich spontan anders und fuhr vorbei. Zehn Minuten später quälte er sich durch das Nadelöhr vor dem Schwetzinger Schlosspark. Samstag war die Zeit der Schlossparkbesucher. Busse aus allen Himmelsrichtungen verstopften die Straßen. Hinter Schwetzingen war die Straße fast leer. Eine diebische Heiterkeit ergriff ihn, wie sie ein Kind empfindet, das ein Stück Schokolade stibitzt hatte und sich sicher wähnte, nicht erwischt zu werden. Statt seine Runde zu gehen, war er auf dem Weg nach Speyer. Die lachende Sonne, der blaue Himmel, die Straße, die sanft zwischen den Feldern dahinschwang. Kleegrüne und goldgelbe Flecken huschten rechts und links vorbei. Und gelegentlich tauchte die Silhouette des Doms in der Ferne auf. All das versprach Freiheit, wenn auch nur für wenige Stunden. Maximal zwei, genau genommen. Aber immerhin, Freiheit, in der ein Abenteuer verborgen sein konnte. Kindskopf! – schalt er sich sogleich selbst, aber das Gefühl des Abenteurers blieb und ließ sein Herz ein wenig schneller schlagen als sonst. Er lächelte und wusste nichts davon. Diese Heiterkeit und die Tatsache, dass außer ihm niemand unterwegs war, veranlassten ihn unbewusst, zu rasen, was sonst nicht seiner Art entsprach. Er hatte das Schiebedach zurückgefahren. Der Fahrtwind zerrte wild an seinen Haaren. Eine weiße Mähne, die nach fünf Wochen dringend eines Schnitts bedurfte. Felder und Wiesen flogen nur so vorbei. Gelegentlich blitzten Kirchtürme im Sonnenlicht auf wie Sternschnuppen vor dem Aufprall.
Sie hatte eine Hand in seinen Nacken gelegt und streichelte ihn sanft. ‚Hier bleiben wir‘. Sie warf die Picknicktasche über die Schulter und stapfte vor ihm her in das hochgewachsene Gras hinein. Sie sah so süß aus. Ihre schlanken Beine unter dem kurzen Röckchen wichen geschickt Klatschmohn und Löwenzahn aus. Und trat sie doch einmal eines um, entfuhr ihr ein erschrecktes Oh! Er wusste um ihre Friedfertigkeit. Jedes Arg war ihr fremd. Jedes Leben heilig. Wie er sie liebte! Bis zum Horizont reichte das aufgewachsene Gras und darin immer wieder der Klatschmohn und der Löwenzahn wie Pfützen von Blut und dem Gelben vom Ei. Da und dort ein Baum, der Schatten spendete. Unter einem stellte sie die Tasche ab und ließ sich nieder. Sie sah zu ihm hoch. ‚Komm! Ich zeig dir was.‘ Als sie später beisammensaßen und sich gegenseitig mit Minitomaten, Cornichon und Schokolade fütterten und gemeinsam die Baguetteschnittchen abknabberten, fühlte er sich so glücklich, dass es schmerzte. Die Sonne würde bald unterzugehen und langsam wurde es kühl. Sie packten zusammen. ‚Zeigst du mir noch mal was?‘ ‚Wann immer du willst. Das weißt du doch. Komm! Ich zeig dir was.‘
Nach der Salierbrücke fuhr er rechts ab und lenkte auf die weite Parkfläche. Vom Verkehr schwebte nur noch dünnes Summen herüber. Die Sonne hatte den sandigen Boden getrocknet. Er zog eine Staubwolke hinter sich her, während er etwas planlos über den Platz kurvte. Nur wenige Autos standen herum und mindestens eintausend Plätze waren frei. Das machte ihm eine Entscheidung schwer und er fuhr noch einmal einen vollen Kreis, um dann im Schatten einer der gewaltigen Platanen zu parken. Sein Plan stand jetzt fest. Ein zweites Frühstück im Café Maximilian an einem Tisch in der Sonne. Und er würde rauchen! In seinem Rucksack steckte immer eine Notration. Er rauchte zwar nicht mehr, aber eben nicht hundertprozentig. Eine Zigarette zum Frühstück im Sonnenschein und dabei die fremden Menschen um sich herum beobachten und sie in kleine Geschichten einspinnen. Das war sein ganz privates Hobby. Selbst Susanne wusste nichts davon.
Ein buntes Gewirr von Worten und Lachen verriet schon von weitem heitere Stimmung. Mindestens zehn Tische standen draußen. Riesige Sonnenschirme spendeten Schatten. Zu seiner Enttäuschung waren alle Tische besetzt. Er ging hinein. Das Dunkel und die Stille erschreckten ihn zuerst und er überlegte, was er tun sollte. Innen und außen unterschieden sich heute wie das Schiff einer Kirche von einem Jahrmarkt. Das Café war sehr groß und der ausgedehnte Innenraum bot mindestens zwanzig Tischen Platz. Zwei waren belegt. Er entschied sich für den Tisch bei den Zeitungen.
‚Sarah, weißt du eigentlich um die Herkunft deines Namens?‘ ‚Ja natürlich. Er geht auf die Frau Abrahams zurück. Die Stammmutter Israels. Ursprünglich hieß sie Sarai. Gott selbst hat sie in Sarah umbenannt.‘ ‚Oh, das mit Gott wusste ich wieder nicht. Aber es passt zu dir. Wenn wir tatsächlich Gottes Geschöpfe sind, dann bist du sein liebstes.‘ Sie lachte, und er meinte, so müsste der Petersdom zur Christmette klingen. Seinen Blick wusste sie zu deuten: ‚Komm! Ich zeig dir was.‘
„Ist etwas nicht in Ordnung?“
Er schreckte auf. Die Bedienung stand vor ihm. Er wusste schon, sie war ein hübsches Mädchen in viel zu kurzem Rock für diese wunderbaren Beine, die seine Augen anzogen wie ein Hufeisenmagnet die Reißzwecke. Beine, die gebräunt waren und seidenmatt. Was hätte er dafür gegeben, sie einmal berühren zu dürfen. Er riss sich los. Hellblaue Augen lachten zu ihm herunter. Wie jung sie noch waren! Er lächelte zurück. „Alles in Ordnung. Noch einen Cappuccino, bitte.“
„Noch einen? Hatten Sie denn schon einen?“ Sie schaute irritiert auf ihre Notizen.
„Entschuldigung! Nein. Natürlich nicht. Ich war in Gedanken. Wird nicht wieder vorkommen.“ Er zog eine Schnute, von der er zu wissen glaubte, dass sie bei jungen Frauen noch immer gut ankam, trotz seines Alters.
Sie lachte glockenhell. „Aber das macht doch nichts!“ Und schon war sie weg.
Die Küche befand sich in seinem Rücken und er musste sich umdrehen, um den wunderbaren Beinen nachzuschauen, wie sie in flachen Schuhen über die Steinplatten davonschwebten. Sie waren nicht ganz so schlank, wie er geglaubt hatte. Doch diese Andeutung von Fülle machten sie ihm sogar begehrenswerter. Als sie den Cappuccino hinstellte – er widerstand der Versuchung und verzichtete auf ein Gespräch –, purzelten gewaltige Ohrringe aus ihrem dichten Haarschopf. Dicke Rohre, die zu Kreisen gebogen waren. Ihr Inneres schmückten mayaähnliche Gottheiten. Alles in mattgrauem Silber. Er musste sofort an Radkappen denken. So gewaltig sie waren, so billig mussten sie sein. Er fand sie sehr schön. Außer einem „Bitte sehr“ fiel kein weiteres Wort. Er wollte später beim Bezahlen noch ein wenig mit ihr plaudern. Aber als es so weit war, wurde daraus nichts. Ein Gast schnippte unüberhörbar mehrmals mit dem Finger, während sie sein Geld entgegennahm. „Ich komme!“, rief sie hinüber und leise hängte sie an: „Idiot!“ Dabei warf sie ihm einen verschwörerischen Blick zu, den er sofort mit einem nicht minder verschwörerischen Blick beantwortete. Für einen kurzen Augenblick bildeten das Mädchen und er eine verschworene Gemeinschaft. Leider war ihr dabei das großzügige Trinkgeld entgangen, das er ihr überlassen hatte. Als er am Tisch des Schnippers vorbeikam, bedachte er ihn mit einem strengen Blick und mit einem stummen: Idiot!
Die Einkäufe hatte er natürlich vergessen. Er ließ diverse Bemerkungen über sich ergehen und fuhr noch einmal los.
Ihre gemeinsamen Abendessen fanden zur Nachrichtenzeit vor dem Fernseher statt. Selten, dass sie sich noch etwas Nennenswertes zu erzählen hatten, und die Stimmen aus dem Apparat waren dem Kratzen von Besteck auf Teller in jedem Fall vorzuziehen. Deshalb überraschte es ihn, als sie zur Fernbedienung griff, die Lautstärke absenkte und ihn ansprach. „Du solltest wieder häufiger deine Spaziergänge unternehmen. Ich finde, sie hellen auch dein Gemüt auf.“
„Willst du damit sagen, ich sei depressiv?“
„Depressiv ist ein schweres Wort. Jedenfalls ist nicht zu übersehen, dass du dich immer mehr zurückziehst.“
„Sich zurückziehen von. Von was ziehe ich mich zurück, deiner Beobachtung nach?“
„Du könntest auch fragen: Von wem ziehe ich mich zurück?“
„Also gut: Von wem ziehe ich mich zurück – deiner Beobachtung nach?“
„Von uns. Von mir, meinetwegen. Wir begegnen uns bei den Vorbereitungen fürs Frühstück in der Küche, manchmal. Regelmäßig bei den Vorbereitungen fürs Mittagessen. Aber nur deshalb, weil du dabei die Pressestimmen im Radio hören willst. Am Abend dann hier. Den Rest verbringst du in deinem Zimmer. Und wenn wir uns auf dem Gang begegnen, weil wir beide zufällig gleichzeitig müssen, werden wir fast verlegen und viel fehlt nicht, dann grüßen wir uns.“
„Du übertreibst und du übersiehst: Wo sitzt du, wenn du frühstückst? Vor dem Computer. Wo sitzt du beim Mittagessen? Vor der Glotze.“
„Du vertauscht Ursache und Wirkung.“
Auch darauf hätte er eine Antwort gehabt. Übrigens war der Wortwechsel bisher von sachlicher Ruhe geprägt. Dafür konnte es nur zwei Erklärungen geben. Entweder sie nahmen ihn beide nicht sonderlich ernst oder sie nahmen ihn außerordentlich ernst. Ob die sachliche Ruhe weiter angehalten hätte, konnte jedoch nicht geklärt werden, denn das vertraute (und rettende) Gesicht der Nachrichtensprecherin begann mit dem Verlesen der alltäglichen Schrecken. Sie fuhr die Lautstärke wieder hoch. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Die stibitzte Schokolade – sein Freigang – war nicht bemerkt worden.
3. Juni I
Donnerstag – ein weiterer Sonnentag. Die Sonne meinte es gut. Es schien ihm an der Zeit, dem Philosophenweg einen Besuch abzustatten. Eine Runde, die er noch ganz gut bestand. Oben angekommen war er so in Schwung, dass er auf Trampelpfaden zwischen den winzigen Gärten ein Stück weiter bergauf kraxelte. Irgendwo dazwischen hatte er vor einiger Zeit ein Plätzchen entdeckt, das versteckt lag und doch freie Sicht auf die Altstadt bot. Dort saß er im Gras, kaute an der Brezel, nahm gelegentlich einen Schluck aus der Wasserflasche und lauschte den Schlägen seines Herzens. Ziemlich heftig, wie es schlug. Er drückte eine Hand gegen die Brust und bildete sich ein, sie hüpfe im Rhythmus mit. Immerhin schlug sein Herz regelmäßig und zuverlässig und beständig unter der Brust. Wie einer Atomuhr entnommen, dieses Gewerk da drinnen. Das beruhigte ihn regelmäßig. Einer aus seiner alten Abteilung hatte ein Herzschlag dahingerafft. Ein anderer trug einen Herzschrittmacher. Sie waren deutlich jünger gewesen. Na ja, der eine lebte ja noch. Sein Blick schweifte über die Dächer, die engen Gassen, den Fluss. Autos rollten dicht an dicht über die Uferstraße. Zwei Schiffe schwebten lautlos flussauf.
‚Wir sind schon zweimal hier oben gewesen. Ich freue mich jedes Mal. Es ist so friedlich. Erinnerst du dich? Beim ersten Mal haben wir versucht, die Dächer zu zählen. Weißt du noch, bei welcher Zahl wir aufgegeben haben?‘ ‚Bei dreiundvierzig!‘ Ihr Lachen! Warum berührte es ihn so? Er hätte weinen können vor Glück. Seine Hände hatten sie von hinten umfasst. Sie glitten tiefer. ‚Heute scheinen wir ganz allein hier oben zu sein. Oder sind wir auf dem Weg herauf einer Menschenseele begegnet?‘ Sie legte ihre Hände auf die seinen und drückten sie fest an sich: ‚Nein. Komm! Ich zeig dir was.‘
Der Spaziergang hatte ihn ins Schwitzen gebracht und nun, beim Durchwandern der Hauptstraße, fröstelte ihn und er hatte den Pullover von der Hüfte gelöst und über die Schulter gehängt. Allein bis zum Universitätsplatz war er an drei Musikanten vorbeigekommen, von denen keiner die Bezeichnung verdiente. Ohne Scham fiedelten, tröteten und jammerten sie den Passanten ihr klägliches Können um die Ohren. Am Theaterplatz spielte eine Band. Auch sie Terroristen in ihrem Beruf. Warum war das erlaubt? Durfte jetzt jeder Krach machen? Und wenn er sich auch hinhockte und auf einen umgedrehten Kochtopf einschlug? Würde man ihm dann auch Münzen zuwerfen? Solchen wirren Gedanken nachhängend steuerte er sein Café an, Treffpunkt der jüngeren Generation, in der Mehrzahl Studenten und Schulschwänzer. Aber immer auch sah man da und dort Grauschöpfe sitzen. Vermutlich ging es ihnen so wie ihm: Die Wehmut trieb sie her – wenn schon nicht mehr dazugehören, so doch wenigstens dabei sein. Er nippte an seinem Milchkaffee und betrachtete die Menschen um sich herum in ihrem Glück, so jung zu sein und nicht zu wissen, dass das Leben auf sie zuraste wie eine Lokomotive ohne Bremse. Die Kakofonie dieser jungen Stimmen war Musik in seinen Ohren. Er suhlte sich in ihrer Gesellschaft und wusste doch, dass er für sie schon lange nicht mehr existierte. Ein anonymer Gast nur, ein Spion der gerne übergelaufen wäre, hätten sie ihn aufgenommen. An einem entfernten Tisch entdeckte er eine Frau mit Kopftuch. Sie saß allein und betrachtete die Wand. Hals und Arme bedeckte ein grauer Stoff. Vermutlich trug sie einen dieser Kaftane, die den weiblichen Körper bis hinunter zu den Knöcheln verbarg. An den Füßen würde sie bunte, abgetragene Sportschuhe tragen. An den Füßen war Farbe offenbar erlaubt. Vielleicht waren Füße unrein. Was trieb sie an diesen Ort frivol gekleideter Altersgenossinnen, die sich schamlos mit Männern unterhielten, als wären sie von gleichem Rang? Ein Rätsel, über das er häufig grübelte. Ein kleines Kind wuselte zwischen den Beinen herum. Eine Mutter stolperte hinterher. Ihr Blick war nicht fröhlich. Eine halbe Stunde später zwängte er sich zwischen den Tischen zum Ausgang. Er betrachtete es nüchtern und das machte ihn traurig.
3. Juni II
Die Türglocke läutete. Im Gang standen zwei Frauen. Die kleinere schätzte er so um die fünfundzwanzig, die größere, eindeutig reifere, Mitte vierzig. Von ihrer Aufmachung her hätte man sie für eineiige Zwillinge halten können. Schlicht gekleidet, Mode 1955. Frisur Pony. Hellgraue Strumpfhosen oder vielleicht doch nur Kniestrümpfe? Schuhe ausgetreten. Unterwäsche vermutlich Nachkriegszeit. Beide standen sie da wie zwei Kerzen. Die Schuhspitzen parallel nach vorne. Die Arme hingen eng an ihren Körpern herab. Es fehlte nur noch der militärische Gruß. Der alles entscheidende Unterschied war im Gesicht zu finden. Die Ältere war tatsächlich hübsch. Nein, geradezu schön! Er musste zweimal hinschauen. Augen wasserblau und riesengroß. Er stand auf so was. Wimpern schwarz und schon unnatürlich lang, aber doch Natur! Nasenform griechische Klassik. Volle Lippen, weinrot. Reine Haut. Gerötete Wangen. Vom Treppe steigen? Kein Puder, keine Schminke, keine Plastikwimpern, kein Lippenstift! Für die jüngere genügte ein kurzer Blick. Hilflose Froschaugen. Die Nase breit und stirnwärts gewölbt. Darunter flaumiger Damenbart, um die Mundwinkel rasiert. Akne. Manche Frauen hatten eben Glück und manche hatten Pech. Und die meisten hatten nichts. Da sollte sich die Kleine doch schon wieder glücklich schätzen. Er wandte seinen Blick erneut den weinroten Lippen zu. Denn kaum hatte er die Tür geöffnet, hatten diese begonnen, ihr Anliegen vorzutragen. Und bereits nach dem ersten Satz war klar, worum es ging. Er konnte sich deshalb Zeit lassen, sie erneut zu mustern. Nachdem er sich sattgesehen hatte, sah er aufdringlich tief in diese wasserblauen, riesengroßen Augen. Er wollte sie verunsichern. Aber die schienen das gewohnt und konterten mit einem Blick höherer Qualität, der ihn zwang, seine Schuhe zu mustern. Er stellte fest, dass er keine trug. Er stand in Socken da und der rechte hatte ein Loch. Entgegen seiner Gewohnheit im Umgang mit solchen Quälgeistern ließ er sie reden. Erstaunlich. Sogar die Stimme passte zu diesen Lippen. Weich, voll, Alt. Er schüttelte leicht den Kopf. Was macht diese Frau bei so einem Verein?
Schließlich unterbrach er sie doch mit einer Handbewegung und versprach den wasserblauen Augen mittels eines Blicks, der es in sich haben sollte: „Sie dürfen wiederkommen und ich werde Ihnen dann aufmerksam zuhören und werde sogar ernsthaft bereit sein, mich auf eine Diskussion einzulassen. Aber ich stelle eine Bedingung. Sie müssen vorher gründlich darüber nachgedacht haben, warum Sie sich einbilden, besser als andere, noch dazu Ihnen wildfremde Menschen, zu wissen, was der wahre Glaube ist.“ Er hatte Sie und Ihnen und Sie und Sie und noch einmal Ihnen überbetont, um klarzustellen, wen von beiden er als Diskussionspartner dann erwartete.
Aber ihr Blick blieb unerschütterlich und er war kühl: „Warum glauben Sie, wir hätten darüber nicht gründlich nachgedacht?“ Auch sie hob das Sie hervor.
„Weil das, was Sie bisher gesagt haben, wie aus dem Buch ‚Tausend unschlagbare Argumente für meinen Glauben’ klang. Und das hat doch garantiert jedes Mitglied Ihrer Glaubensgemeinde in der Nachttischschublade liegen.“
Sie kaute auf der Unterlippe und ihre Augenbrauen kräuselten sich leicht. Wellen in einem dunklen Teich unter einer schwachen Brise. Das war es, was er sah. Er lächelte. Er hatte einen Stein in diesen wundervollen Teich geworfen. Ihr Blick schien ihm nachdenklich – bis sie sprach. „Ich weiß nicht, ob wir an einer Diskussion mit Ihnen interessiert sein sollen.“ Das Ihnen hatte sie wieder überdeutlich betont. Ließ das bereits auf Rechthaberei schließen?
„Bitte?“
„Was Sie eben sagten, war kindisch. Ich vermute, es sollte zynisch klingen, uns verunsichern, in Verlegenheit bringen. Aber nein. Es war nur kindisch. Und eitel. Wir dürfen wiederkommen.“ Sie hatte dürfen betont. „Vielleicht wollen wir aber nicht wiederkommen.“ Sie hatte wollen betont. „Was meinst du, Miranda?“ Miranda hauchte ein Nein. „Aber offenbar haben Sie meinen Worten zugehört. Vielleicht denken Sie ja einmal gründlich darüber nach.“ Beide Sie betont. „Und wenn Sie das getan haben, können Sie sich ja einmal bei uns melden.“ Betonung auf wenn und Sie und Sie. „Wir werden dann auch ernsthaft bereit sein, mit Ihnen zu diskutieren.“ Betonung auf Ihnen. „Gott sei bei Ihnen.“ Hier hatte sie allerdings Gott betont.
Der Kampf um das Sie war beendet. Sie hatte eindeutig gewonnen. Mit routiniertem Griff zog sie aus ihrer Manteltasche ein Kärtchen hervor, drückte es ihm in die Hand und marschierte davon. Eine geübte Handbewegung zum Abschied, mit der es ihr bereits gelungen sein dürfte, diese Kärtchen in eintausend fremde Hände zu zaubern. Die Tür des Nachbarn war das Ziel. Miranda war ihr wie ein Schatten gefolgt. Schon hatte die Schöne geklingelt und als der Nachbar öffnete, standen beide wieder in Habachtstellung bereit. Ihre weiche Altstimme wehte gedämpft heran. Leise schloss er die Tür. Was er in der Hand hielt, war ein unscheinbares Visitenkärtchen. Weiß. Eine Seite war leer. Auf der anderen stand Wir glauben an Christus, was er nun wahrlich nicht überraschend fand. Darunter, kleiner: Danteplatz. Am unteren Rand, mit dünnem Tintenstrich und von einer Person, die geübt war, auch in Ameisenschrift noch lesbar zu schreiben, stand ein Name: Erika Schön. Das konnte nur ihr Name sein. Es gibt Zufälle, die sind so treffend, dass sie schon wieder folgerichtig scheinen.
12. Juni I
Es war Samstag und er durchblätterte die lokale Zeitung, von der er nur ein Wochenendabonnement besaß. Die Traueranzeigen las er nie. Es genügte ihm, dass er irgendwann selbst darin auftauchen würde. So blätterte er auch diesmal diese Seite der schwarzen Ränder und der Texte von Trauer und Leid nur um. Dennoch war seinem Auge der Name aufgefallen, etwas verspätet, und er blätterte zurück. Rainer Striez, ein Kollege aus seiner alten Firma, schwarz umrahmt. Der geliebte Ehemann und Vater war viel zu früh davongegangen. Das stand da schwarz auf weiß. Der Schwätzer war ihm nie genehm gewesen. Die Beerdigung würde am Mittwoch, vierzehn Uhr, auf dem Friedhof Pfaffengrund stattfinden. Er würde die Trauernden am Grab Rainer Striez jedenfalls nicht mit seiner Gegenwart beehren.
**
Die Hauptstraße hatte längst ihren alten Charme verloren. Als Mensch wäre sie Hinz oder Kunz gewesen. Die meisten alteingesessenen Geschäfte hatten dichtgemacht. An ihre Stelle waren billiger Schmuck und billige Schuhe getreten und Sonderangebote ohne Ende (3 Schlüppies zum Preis von 2). Die kamen und gingen im Rhythmus von Sommer und Winter und mit ihnen im Schlepptau die Bettler und diese Personen, die sich frech Musikanten nannten. Er nahm sich vor, in Zukunft die Seitenstraßen zu nutzen. In seinem Missmut wäre er beinahe in drei junge Frauen gerannt. Er entschuldigte sich spontan und sie antworteten auf Türkisch. Die Sprache war ihm fremd, ihr Klang war ihm bekannt und dieser hatte nicht freundlich geklungen. Es blieb ihm nur ein Augenblick, sie anzuschauen. Er sah in hübsche, etwas zu kräftig geschminkte Gesichter und auf schlanke Körper in hautenger Kleidung, die Brust und Hüfte kaum Platz ließen. Da waren sie auch schon vorbei. Er sah ihnen nach. Zwei trugen Kopftuch. Er schüttelte den Kopf. Das würde er nie verstehen: Oben Kopftuch und unten hauteng, ja, geradezu unzüchtig gekleidet. Was für ein Widerspruch! Er sah das häufig und verstand es nicht. Der mittleren fiel das schwarze Haar schwer über die Schulter. Sie war ihm sofort sympathisch. Da fiel ihm ein, dass sie es war, die künstliche Wimpern trug, und mit der Sympathie war es vorbei. Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Martin!
„Na, überrascht? Lange nicht mehr gesehen, was?“
„Stimmt.“
„Ärgerst du dich über etwas?“
„Warum?“
„Weil du eben vor dich hin gemeckert hast wie ein altes Weib.“ Wolf entgegnete nichts. „Wie geht’s dir? Hast du Zeit? Lass uns einen Kaffee trinken. Wie wäre es mit dem Schafheutle?“ Er wartete Wolfs Zustimmung nicht ab, sie schien ihm selbstverständlich, legte einen Arm um ihn, als wären sie beste Freunde, und nahm ihn einfach mit.
Martin war ein Kopf größer und doppelt im Gewicht. Wolf hatte keine Chance. Ein altes Paar gleichen Geschlechts, das würde jeder denken, der sie sah. Üblich war das ja heute. Grauhaarige Männer, die plötzlich die Liebe zu ihresgleichen entdeckt hatten. Frauen taten das wenigstens in jungen Jahren. Er schämte sich. Er verspürte nicht die geringste Lust, mit Martin in dieses Café für einsame Alte zu spazieren, aber dieser bestimmenden Umarmung konnte er nichts entgegensetzen, das nicht unhöflich erschienen wäre. Er hatte Martin als Langweiler in Erinnerung, der vor allem über seine Kinder und Enkelkinder sprechen konnte. Ihn graute vor der nächsten Stunde. Im Café steuerte Martin den kleinsten Tisch an, der frei war. Unter seinem Hosengürtel schien das Möbel wie aus dem Kinderzimmer entwendet.
„Fühlst du dich auch alt geworden, seit wir aufgehört haben?“
„Du denkst an die Nachricht mit dem schwarzen Rand?“
Martin sah plötzlich sehr ernst aus. Er nickte. „Du gehst natürlich auch auf die Beerdigung?“
„Nein. Friedhöfe meide ich. Sie haben so etwas Mahnendes an sich. Du hast nicht ewig Zeit, mahnen sie.“
„Du und ich, wir haben nicht mehr viel Zeit. Darum hören wir die Mahnung. Junge Menschen hören sie nicht.“
Wolf sah sich Martin genauer an. Eigentlich war er in den wenigen Jahren der Pensionierung nicht gealtert. Die Haare waren noch dünner geworden. Den kümmerlichen Rest kämmte er immer noch zu einem akkuraten Scheitel. Ergraut waren sie schon lange vorher gewesen. Jetzt lag da reinstes Weiß auf einem kahlen Kopf. Stirn und Wangen waren faltenfrei geblieben. Die Wangen hatten allerdings Halt verloren und hingen herab. Mit etwas Fantasie gaben sie Martin das Aussehen eines friedlichen Bernhardiners. Die breiten Hände ruhten auf der Tischplatte. Ihre Rücken zeigten keine Äderchen und die fleischigen Arme keine Falten auf der alternden Haut bis hinauf zu den kurzen Hemdärmeln. Seine Augen blickten in dieser ruhigen Aufmerksamkeit, die ihm damals das Prädikat Langweiler eingebracht hatte. Ein kleiner Mensch mit diesem Umfang an Hüfte, Bauch, Armen und Hals wäre einfach fett gewesen. Martins Größe machten daraus jedoch eine sehr stattliche Erscheinung. Was ihr fehlte, war die sportliche Kantigkeit. Auch sein Gesicht war zu weich, um schön zu sein. Solide schien ihm die treffende Bezeichnung. „Sport?“ Die Frage war ihm spontan herausgerutscht.
„Um Gottes willen! Hast du schon mal einen Elefanten Sport treiben sehen?“
„Ich treibe auch keinen Sport. Ich unternehme aber regelmäßig ausgedehnte Spaziergänge.“
„In einem Wanderverein?“
„Gott, nein! Mit den Jungen kann ich nicht mehr mithalten und die Alten können mir gestohlen bleiben. Mir reicht’s, mich täglich im Spiegel zu sehen.“
„Siehst doch noch ganz passabel aus.“
„Danke. Ich bin gerne allein. Kombiniert zweierlei: Bewegung und Zeit zum Nachdenken.“
„Nachdenken, hm, das tue ich mehr als genug.“
„Vielleicht mehr, als dir guttut, Martin. Scheint mir jedenfalls so. Kann es sein, dass es dir wie so vielen geht, die sich nicht aufs Arbeitsende vorbereitet haben? Dass du in ein Loch gefallen bist und jetzt da unten liegst und nur schwarzsiehst?“
„Ganz klar, es war ein Fehler, dass ich so früh mein Ausscheiden angekündigt habe. Ich war gerne Jurist. Wie gerne, habe ich erst hinterher gemerkt. Immerhin war ich der Chefjurist der Firma.“ Aus den Worten klang Wehmut. Verständlich. Martins Spezialgebiet war US-amerikanisches Vertragsrecht. Sie hatten beide etwa zur gleichen Zeit in der Firma begonnen und ihr gesamtes Berufsleben dort verbracht.
„Warum hast du dich eigentlich immer an unseren Frühstückstisch gesetzt?“
„Ich hatte doch keine Lust, mich beim Frühstück über die Fälle zu unterhalten, über die wir den ganzen Tag debattierten. Und ihr wart so ein lustiges Völkchen.“
Dass Martin mit ein Grund für ihre Belustigungen gewesen war, ahnte er natürlich nicht. Im Büro hatte man ihn den Kanal genannt. Gemeint war der Kanal für die Nachrichten von gestern. Wenn er sich an den Frühstückstisch setzte, wurden wissende Blicke getauscht. Augen rollten im Kreis. Im Allgemeinen lief dann folgende Posse ab: Erst brachte er seinen Schwerpunkt über der Stuhlfläche in sichere Lage. Dann weckte er die verstummte Runde mit einem fröhlichen: „Einen wunderschönen guten Morgen, die Herren!“ Begleitet von einem aufmunternden Blick in alle Gesichter, eins nach dem anderen. Dass auch seit Längerem zwei Damen unter den Gesichtern weilten, wollte ihm irgendwie nicht auffallen. Auf die Begrüßung folgte ein mehrstimmiges „Guten Morgen, Martin.“ Man war belustigt, nur Martin schien das jedes Mal als Applaus für eine Zugabe zu verstehen und die kam dann auch: „Na, was sagt ihr zu der Sache?“ „Welche Sache, Martin?“ „Ja, lest ihr denn keine Zeitung? Hört ihr keine Nachrichten?“ Und dann breitete er seine Meinung zur dicksten Schlagzeile des Tages aus und er tat es mit einer Ruhe und Selbstgewissheit, als säßen Kinder vor ihm, denen man die Handhabung von Schnürsenkeln erklären müsse. Das war Martin, der Chefjurist.
Wolf schaute sich die Gäste im Café genauer an. Wie erwartet, saßen da nur Seniorinnen und Senioren. Aber kein Händchen hielt ein anderes auf der Suche nach einem späten Glück. Wo einer sprach, hörte der andere schweigend zu. Es war überhaupt sehr leise hier. Am Nebentisch kämpfte ein alter Herr mit der Tücke, eine Zeitung umzublättern, ohne sie zu beschädigen. Am Tisch dahinter las ein Herr, der noch älter sein musste, ein Buch. Jedes Mal, wenn er die Tasse an seine Lippen führte, legte er es zuvor sorgfältig beiseite. Die anwesenden Herren trugen durchweg Krawatte. Martin und er selbst ausgenommen. An einem Tisch am Fenster saß eine Dame und schaute einfach nur auf die Straße und die vorbeiziehenden Menschen hinaus. Auffällig an ihr war ihr schneeweißes Haar, das zu einem dicken Zopf gedreht, einen eleganten Schlenker über die linke Schulter machte, dann der Form ihrer Brust folgte und von dort schnurgerade bis zum Schoß hinunterfiel. Die Finger drehten gedankenverloren Zöpfchen in die Haarspitzen. Rapunzel, schoss es ihm durch den Sinn. In ihrem hellgrauen Kostüm mit den wasserblauen Längsstreifen kam ihre schlanke Gestalt zur Geltung. Es reichte ihr bis knapp vors Knie. Kein Nachteil, wie ihm schien, trotz ihres vermutlich rüstigen Alters. Denn schwarze Seidenstrümpfe – oder waren sie dunkelblau? – verliehen ihren Beinen eine stramme, schlanke Form. Er hätte gerne mehr von ihnen gesehen, doch musste er sich mit seiner Fantasie begnügen. Sie saß sehr gerade und durfte größer sein als er. Und all die Zeit saß sie reglos da und schaute durch das Fenster. Bestimmt erwartete sie jemanden. Ganz klar: Mit der alten Generation würde auch die Noblesse sterben. So gesehen passten Martin und er nicht an diesen Platz. Während er so wenig Wert auf sein Äußeres legte, dass er Susanne damit zur Verzweiflung trieb, stand Martin einfach nichts. Unverständlich. War doch seine hünenhafte Erscheinung geradezu Humus für anspruchsvolle Kleidung. Er trug sie auch. Aber irgendwie fehlte seinem Körper die Form. In seinen Anzügen sah er aus wie ein Privatdetektiv aus einem alten amerikanischen Film. Das war schon in der Firma so gewesen. Selbst die Haare auf dem Kopf standen im krassen Widerspruch zu seinem breiten Schädel. Eine Glatze hätte sich da besser gemacht. Da wiederum konnte er, Wolf, trumpfen. Sein Haar war noch so voll, dass ihn selbst manch junger Mann darum beneiden musste. Eine Frisur im eigentlichen Sinne pflegte er aber nicht. Susanne schnitt sie gelegentlich. Ansonsten ließ er sie liegen, wie sie fielen.
Als hätte Martin einige seiner Gedanken gelesen, sagte er mit verschmitztem Lächeln: „An einem leidest du jedenfalls nicht: an Haarausfall. Ich sehe einige Männer hier, die dir gerne etwas von der Pracht abkaufen würden. Mich eingeschlossen.“ Er fuhr mit einer Hand über sein Haupt und glättete, was noch dalag. „Verwendest du ein spezielles Mittel?“
„Es gibt keins. Was ist mit Anne? So heißt doch deine Frau. Habt ihr keine Pläne für danach gemacht? Mir geht noch immer deine Lebenskrise durch den Kopf.“
„Lebenskrise! Habe ich das gesagt? Setze kein Gerücht in die Welt, das womöglich Anne erreicht.“
„Verzeih.“
„Und Pläne? Doch. Und sie sind der Grund für meine Entscheidung zur Altersteilzeit. Kaum war die Pensionierung erfolgt, platzten die Pläne. Nein, sie lösten sich einfach auf mangels Willen zur Umsetzung. Dafür habe ich dann einen Ersatz gefunden, an den ich zuvor nie gedacht hatte, der mich aber inzwischen ausfüllt, sogar zufrieden macht. Es überrascht mich heute noch, wenn ich es bedenke. Ich war also eben nicht ganz ehrlich zu dir.“
„Nun mach es mal nicht so spannend. Was treibst du denn?“
„Ich schreibe. Ja, ich sehe deinen fragenden Blick. Ich bin Autor geworden. Zwölf Romane habe ich inzwischen geschrieben. Runterschrieben, genauer gesagt.“ Er lächelte Wolf an.
„Zwölf Romane? In der kurzen Zeit? Willst du mich auf den Arm nehmen? Das ist doch Quatsch.“
„Zwölf Groschenromane. Ich bin Groschenromanautor geworden. Du kennst doch die Reihe ‚Der Tote …‘? Nicht, dass ich dir unterstellen will, du würdest das Zeug lesen. Aber an den Kiosken stehen sie mittlerweile in vorderster Reihe. Ja, ich komme gut an.“
„Nein, noch nie bemerkt. Der Tote was? Gärtner?“
Martin lachte. „Der Gärtner ist doch immer der Täter. Das ist doch die Nummer. Jedes Mal ein anderer Ort, eine andere Person.“ Er griff in die Gesäßtasche und zog ein Heftchen hervor. Es musste einmal gerollt gewesen sein. Jetzt lag es da, wie von einer Dampfwalze platt gepresst. Martin zog es mehrfach über die Tischkante, bis es einigermaßen Form behielt. Der Tote im Gefrierfach. Wolfs Lippen lasen mit. Man sah ihm den Unglauben an. „Das ist mein letztes Produkt. Nimm es mit. Lies es. Und um das zu klären, es ist mir schon klar, welcher Kategorie Autor ich angehöre. Bin mein Leben lang einem ernsten Geschäft nachgegangen. Jetzt lass ich die Sau raus, wenn du so willst.“
„Seid ihr knapp bei Kasse?“ Das konnte natürlich nicht sein. Er, der Chefjurist, hatte mindestens doppelt so viel verdient wie Wolf, der Chef der EDV-Abteilung. Und wer weiß, was so ein Jurist noch nebenbei anschaffte.
„Ganz bestimmt nicht. Ich mache es aus Spaß. Übrigens unter Pseudonym wie jeder aus der Branche, der bei Verstand ist. Es beschäftigt mich prächtig. Und was ist mit dir?“
Hatte sich Wolf zuerst überlegen gefühlt in seinem selbst gewählten Müßiggang, so war da jetzt eine gewisse Beschämung nicht zu ignorieren. Er versuchte, stolz zu bleiben. „Ich habe vorher keine Pläne gemacht und habe jetzt auch keine. Ich lebe die ganze Woche so, wie ich vorher nur an den Wochenenden gelebt habe. Ich lese, gehe spazieren, treibe mich in Cafés rum, die von jungen Menschen bevölkert werden und beobachte sie, neidisch, meinetwegen. Doch! Das tue ich regelmäßig. Manchmal schaue ich mir einen Film an. Ich langweile mich nicht, habe keine Depressionen und fühle mich sauwohl. Diese Anspruchslosigkeit hat auch was für sich. Das Leben liegt hinter mir, da gibt es nichts dran zu deuteln. Pläne für morgen oder den nächsten Urlaub? Ja. Für ein zweites Leben? Nein. Lächerlich und überdies anstrengend.“
„Jedem Tierchen sein Pläsierchen. Und was ist mit deiner Frau? Tut mir leid, ihren Namen habe ich vergessen.“
„Susanne. Für sie hat sich auch nichts geändert, außer dass ich ihr jetzt zu häufig begegne. Hat sie geklagt. Wir gehen uns im Allgemeinen aus dem Weg, haben aber nichts gegeneinander. Was machen deine Kinder?“
„Verschiedenes.