zum Schluss Daumenkino - Ralph Tremmel - E-Book

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Ralph Tremmel

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Beschreibung

Es heißt, in der letzten Minute zieht noch einmal das ganze Leben vorüber. Gustav verunglückt, aber die Zeit, die ihm bleibt, zieht sich hin. Schnipsel aus seinem Leben folgen wie zufällig aufeinander. Manchmal nur ein Satz, dann wieder ein Moment voller Details. Nachher und Vorher wechseln sich ab, wie Konfetti aus dem Fenster geworfen. Über diese Schnipsel lernt der Leser Gustav kennen und was ihm wichtig war. Denn natürlich kann in der letzten Minute, auch wenn sie Stunden dauert, nicht das ganze Leben vorüberziehen, wo doch nur dies und das lohnt, vom Kopf notiert zu werden. Dazwischen, der Alltag, ist das, was der Leser selbst kennt und dem Kopf zu notieren nicht lohnte. Was sonst noch bleibt, die winzigen Schnipsel aus seinem Leben, sie reichen hin, ein ganzes Buch zu füllen mit seiner Liebe zu Laura. 223 Norm-Druckseiten

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Ralph Tremmel

Zum Schluss Daumenkino

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Ein ganzes Leben 

Ein Liebesroman

Impressum:Autor: Ralph Tremmel69126 HeidelbergMombertplatz 84      Coverbild: AutorSchrift: Google Fonts: notoKorrektorat: Kerstin Thieme tolino media ISBN: 9783759280749

2020, 2025 

Ich wollte kein Kindund sie brauchte eins!

Prolog

Es heißt, in der letzten Minute zieht noch einmal das ganze Leben vorüber. Gustav verunglückt, aber die Zeit, die ihm bleibt, zieht sich hin. Schnipsel aus seinem Leben folgen wie zufällig aufeinander. Manchmal nur ein Satz, dann wieder ein Moment voller Details. Nachher und Vorher wechseln sich ab, wie Konfetti aus dem Fenster geworfen. Über diese Schnipsel lernt der Leser Gustav kennen und was ihm wichtig war. Denn natürlich kann in der letzten Minute, auch wenn sie Stunden dauert, nicht das ganze Leben vorüberziehen, wo doch nur dies und das lohnt, vom Kopf notiert zu werden. Dazwischen, der Alltag, ist das, was der Leser selbst kennt und dem Kopf zu notieren nicht lohnte. Was sonst noch bleibt, die winzigen Schnipsel aus seinem Leben, sie reichen hin, ein ganzes Buch zu füllen mit seiner Liebe zu Laura.

Der Traum

Gustav erwachte und fühlte den Schweiß auf seiner Haut, noch bevor er die Stirn berührte. Er wusste, es war nicht das Fieber.

„Ich hatte einen idiotischen Traum!“, rief er.

Ein Ruf, fast ein Schrei, in der Absicht, Laura zu rufen. Er hatte Angst und wollte nicht allein sein. Es war der Traum. Wie ein Mahr lag er auf seiner Brust, obwohl es heller Tag war, graues Hell nur, der Jahreszeit angemessen, aber immerhin. Er sah auf die Uhr. Halb drei. Eine volle Stunde hatte er geschlafen! Ganz ohne Absicht. Mittagsschlaf war nicht seine Sache. Noch nicht.

„Du hast deinen Tomatensaft vergessen. Er stand noch auf dem Tisch.“ Sie reichte ihm das Glas. Er leerte es, ohne abzusetzen. „Erzähle mir von dem Traum“, bat sie. Sie hatte sich ans Bett gesetzt und seine Hand ergriffen. „Du schwitzt ja! Ich hole das Thermometer.“

„Nein!“ Er sank wieder ins Kissen zurück, aber er ließ sie nicht gehen. „Es ist der Traum, den ich hatte. Zu unangenehm. Ich weiß nicht. Noch nie bin ich schweißgebadet aus einem Traum aufgewacht. Obwohl …“, er lächelte verlegen, „schweißgebadet! Wie sich das anhört und übertrieben ist es auch.“

„Nein, ist es nicht. Deine Stirn ist nass. Ich muss sie nicht berühren. Ich sehe es. Soll ich nicht doch das Thermometer …?“

„Nein. Bleib hier. Es ist nur dieser Traum. Und jetzt bin ich so froh, wach zu sein, dich zu sehen, deine Hand in meiner zu spüren. Draußen, vor dem Fenster, ist zwar mieses Wetter, aber es ist Tag. Und Autos fahren. Da ist Verkehr unten, Verkehrslärm! Ein angenehmes Geräusch, finde ich. Stell dir mal vor, wie es sein wird, wenn irgendwann nur noch E-Autos unterwegs sind, oder schlimmer, Fahrräder den Verkehr bestimmen. Wie stellst du dann zuverlässig fest, dass du aufgewacht bist und nicht auf einem Friedhof liegst?“

„Was redest du da für einen Unsinn. Du machst mir Angst. Was hast du denn geträumt?“

Er dachte nach. „Ich kann es dir nicht sagen. Zu unangenehm. Skurril, aber von der bösen Sorte.“

„Natürlich musst du mir von deinem Traum erzählen! Jetzt gerade! Es ist nur ein Traum. Wenn du davon erzählst, wird dir das Skurrile lächerlich erscheinen. Das haben Träume so an sich. Wir haben uns doch schon so oft Träume erzählt und immer gelacht über den Unsinn, den wir da zusammenreimen. Da passt doch vorne und hinten nichts zueinander. Wie moderne Kunst als Kurzgeschichte.“

Er nickte und lächelte dabei. „Ich sollte es eigentlich nicht sagen: Gerade du neigst dazu, mir morgens gleich mit den ersten Worten von deinem Traum zu erzählen. Du schlägst die Augen auf, siehst mich an, als sähst du mich zum ersten Mal, und sagst: komischer Traum gehabt. Ich korrigiere dich regelmäßig: komischen Traum gehabt, heißt das, und dann erzählst du mir davon. Und das zieht sich manchmal ziemlich hin. Mir kommt es dann vor, du versuchst, das Ungenaue genau zu formulieren, das Krumme geradezubiegen, das Oval zum Kreis und die zerquetschte Schuhschachtel zum fabrikneuen Karton. Ich denke dann: Hoffentlich ist es ein kurzer Traum.“ Er sah ihr enttäuschtes Gesicht. „Nein! Nein! Trotzdem höre ich dir gerne zu. Es amüsiert mich – im positiven Sinn, meine ich. Manchmal denke ich dann den Tag über an deinen aufgeregten Bericht von der Nacht und von dem, was doch nur ein Traum war. Du hast es eben selbst gesagt.“

„Und dein Traum eben? Ich will ihn hören. Immerhin hat er dich zum Schwitzen gebracht.“

Der Schalk verschwand aus seinen Augen. Sie stieß ihn an. „Er wird dir nicht gefallen“, warnte er und schwieg dann eine Weile, wie auf der Suche nach dem Traum und als ob er sich plötzlich dessen nicht mehr erinnern könne. Es war aber umgekehrt: „Ich erinnere mich genau, als hätte ich es erst kürzlich tatsächlich so erlebt …“ Die Worte waren geradezu herausgesprudelt, als wollten sie das Zögern zuvor wieder wettmachen. Dann aber schwieg er wieder und sie sah sich genötigt, ihm einen weiteren Stoß zu versetzen. Er zuckte mit den Schultern, nachgebend in einer Sache, die sich offenbar nicht vermeiden ließ. „Es war Nacht und ich bin aufgestanden, um zur Toilette zu gehen. In der Diele sah ich aus dem Augenwinkel eine Gestalt. Komischerweise bin ich nicht erschrocken und nicht nur das. Ich wusste sofort, dass es der Tod war.“ Laura schüttelte unwillig den Kopf. Das Pathetische lag ihr nicht so wie ihm, dem Experten für Perspektiven und Winkel. Nach einem Moment der Verlegenheit fuhr er fort: „Zu mir?, fragte ich ihn, so gar nicht verwundert. Eher wie um eine Auskunft bittend. Und der Tod sagte: Ja, zu dir, und ich sagte: Laura! Dass ich sterben soll, ist mir wurscht. Ich habe wirklich wurscht gesagt. Ich höre das jetzt noch. Aber gehen, ohne Laura Adieu zu sagen? Bitte nicht! Gib mir noch einen Tag, damit ich sie vorbereiten kann. Und überhaupt vorbereiten: Den Müll raustragen. Die Bankverbindungen. Wo die Passwörter liegen. Die E-Mails. Um alles kümmere ich mich. Gib mir einen Tag. Damit ich mich verabschieden kann und das Nötigste für sie vorbereiten und zurechtlegen. Bitte! Einen Tag! Ohne Abschied – nein, das kann ich nicht! Morgen Nacht bin ich wieder hier. Das habe ich gesagt und das hat er gesagt, genau so. Und seine Antwort klingt mir noch in den Ohren, Wort für Wort, wie Hall, der nicht vergeht …“ Er schien dem Hall zu lauschen und sie musste ihn wieder schubsen, aber das Amüsierte in ihrem Blick war verschwunden. „Die Bitte höre ich oft, sagte der Tod.“

„Sag nicht der Tod!“, fuhr sie dazwischen. „Das klingt so dramatisch gewöhnlich. Sag die Gestalt oder der schwarze Mann oder einfach nur er.“

„Aber das ist es ja, was mir den Traum zum Albtraum macht! Noch immer, obwohl es taghell ist und unten der Lärm vom Verkehr. Gott sei Dank! Denn in diesem Traum passt vorne und hinten und alles dazwischen zusammen. Wenn ich nicht wüsste, dass es ein Traum war, hielte ich ihn für eine Erinnerung an zwei Minuten aus meinem Leben, so wie die Minuten, die du an meinem Bett sitzt und meine Hand hältst. Aber du willst ihn ja hören, den Traum. Mir wäre es lieber, wir beließen es dabei.“

„Nein! Erzähle weiter! Deine Bitte um eine Gnadenfrist hat er, der Fremde, der schwarze Mann, also oft gehört. Kein Wunder. Und?“ Wieder musste sie ihn stupsen. Zweimal sogar.

„Sag nicht Gnadenfrist.“

„Du schwitzt wieder.“

„Das ist deine Schuld. Er sagte: Kein Problem. Dann sehen wir uns also morgen. Ich wollte schon weitergehen und dachte: Entweder träume ich wach oder ich bin verrückt geworden. Aber da sagte er: Umsonst bekommst du den Aufschub natürlich nicht. Und ich fragte: Was willst du dafür?Deine Frau, Laura, sagte er. Ich hole sie einen Tag später. Darum nutze den Tag für den Abschied. Vergiss das mit dem Müll und den Passwörtern. Lächerlich! Was ich mir da schon alles an Gründen anhören musste. Ich bin kein Krämer: Die Tochter in den Kindergarten bringen; den schwindsüchtigen Vater in die Klinik fahren; Endspiel in der Champions League. Einer bot an, sein Festgeldkonto auf die Kindernothilfe umzuschreiben. Dafür wollte er allerdings ein ganzes Jahr rausschinden. Also was ist? Jetzt und sie bleibt. Wie lange, weiß ich nicht. Das liegt nicht in meiner Hand. Oder in vierundzwanzig Stunden. Dann ist sie einen Tag später dran.

Das heißt, nach einem Tag sehen wir uns wieder? Laura und ich?, wollte ich wissen. Denn dann wäre doch alles gut gewesen – aus meiner Sicht.“ Gustav stutzte. Auf den Wangen erschienen rote Flecken, wie von einem weichen Pinsel hingetupft. „Wie egoistisch gedacht. Jetzt, wo ich mich höre, fällt es mir selbst auf. Bist du mir böse?“

„Quatsch! Es ist ein Traum. Im richtigen Leben wärst du natürlich mit ihm gegangen, schweren Herzens und doch, um mir das Leben zu lassen.“ Sie lächelte kurz, bestand aber augenblicklich und derb auf einem: „Weiter!“

„Er sagte – ich glaube, er lachte dabei –: Unwahrscheinlich. Dass zwei sich finden, dort, wohin ich sie bringe, ist weniger wahrscheinlich, als zweimal hintereinander im Lotto einen Sechser zu holen.“

„Das hat er gesagt? Ich meine, so erinnerst du dich?“

„Wortwörtlich. Ich weiß nicht, warum. Aber ich weiß es wortwörtlich.“

„Das ist aber banal: Einen Sechser im Lotto! Das sagt der Tod? Es hört sich nach Hinz und Kunz an. Aber – wie hast du dich entschieden?“

„Für den Aufschub. Sterben – das war mir egal. Aber nicht ohne Abschied zu nehmen – von dir. Ich konnte es nicht.“

Eine Weile schwiegen beide. Dann sagte Laura: „Ein unangenehmer Traum. Da hast du recht. Aber irgendwie auch verrückt. Du solltest ihn aufschreiben. Etwas ausschmücken und als Kurzgeschichte an eine Zeitung schicken. Mal was anderes als immer nur Hannibal und Cannae. Du musst dich aber ranhalten, denn dir bleiben vielleicht nur noch …“, sie sah auf die Uhr, „dreiundzwanzig Stunden. Vorher trag noch den Müll raus. Ich meine, nur für den Fall, dass …“ Sie grinste schelmisch. „Da fällt mir etwas ein. Gesetzt, der Fall tritt ein …“

„Du meinst, der Fall, dass ich in dreiundzwanzig Stunden sterbe?“

„So direkt wollte ich es nicht aussprechen. Aber wenn du es selbst sagst. Ja, dann folge ich dir vierundzwanzig Stunden später nach. Und weißt du was?“ Sie wartete, bis sein schüttelnder Kopf gestand, dass er die Antwort nicht wusste. „Dann kann mir der Müll gestohlen bleiben und die Passwörter, et cetera, auch. Vergiss dein Boule nicht. Heute ist Dienstag.“

Mit einem Ruck war er hoch. „Danke! Andererseits … jetzt ist es bewölkt. Ziemlich grau da draußen. Bevor ich einschlief, schien noch die Sonne.“

„Von Regen spricht der Wetterbericht nicht. Und eigentlich trefft ihr euch des Schwätzens wegen. Die Kugeln schmeißt ihr, damit das nicht auffällt. Deine Worte.“

Willst du nicht mal wieder mitkommen?, formulierte er die Frage im Kopf und ließ sie dort. Seit er Annemarie gefragt hatte, ängstigte ihn der Gedanke an die beiden Frauen im Gespräch miteinander. Und beim Boule war viel Zeit für Gespräche. Dabei war es ihm nur um die Gesundheit gegangen.

Sie erhob sich. „Schlaf nicht wieder ein. Und putze dir die Zähne, bevor du gehst. Selbst der Teufel frisst in der Not kein Zwiebelbrot.“ Jetzt roch er es selbst, das Zwiebelbrot.

„Du hast dir heute Morgen keinen Burger gebraten. Hast du ihn überbekommen?“

„Der Ahornsirup ist ausgegangen.“

Sie tätschelte sein Kinn. „Aufschreiben was zu Ende geht“, mahnte sie.

Sie hatte das Zimmer verlassen. Er entschied sich spontan für eine Einundzwanzigerübung. Mentales Krafttraining pur. Klimmzüge für die grauen Zellen. Dann Blutdruck messen. Hundertzweiunddreißig zu zweiundachtzig. Daran war der Traum schuld. Bevor der innere Schweinehund anschlagen konnte, begann er mit der Fünf-Minuten-Gymnastik und zog sie durch. Sport war ihm lästig, Gymnastik lächerlich. Aber für die Gesundheit waren sie unerlässlich und in kleinen Dosen verteilt über den Tag erträglich.

Im Bad wurde ihm bewusst, dass er sich seit mindestens zwei Minuten das Gesicht wusch. Die Hände fuhren in immer gleicher Bewegung über Wangen, Nase und Kinn. Eine Weile beobachtete er sie dabei, auf ihrem Weg über Wangen, Nase, Kinn. Er sah sich als Roboter, der sich selbst in einer Schleife gefangen hatte und nun so lange in dieser immer gleichen Bewegung verharrte, bis einer den Stecker zog. Eigentlich wollte er nur die Zähne putzen. Er griff zur Zahnbürste. Wo hatten sich seine Gedanken in den zwei Minuten herumgetrieben? Natürlich. Bei dem Traum. Zurück im Zimmer entschloss er sich spontan, die Fünf-Minuten-Gymnastik noch einmal runterzureißen. Unwillig machte er sich daran, die Matte wieder auszurollen. Richtig runterreißen würde er die Übung. Sein Körper sollte spüren, dass sie ihm nur eine lästige Pflicht war.

Er zog den Stopper vom Metronom, kontrollierte die Einstellung – zwei Schläge pro Sekunde – eigentlich überflüssig, er hatte nie etwas an der Einstellung geändert –, stupste den Zeiger an – Klack-Klack-Klack –, stellte die Eieruhr auf fünf Minuten und lief los. Knie-hoch! Knie-hoch! Alles Routine. Knie-hoch! Knie-hoch! Noch immer halb im Schlaf. Knie-hoch! Knie-hoch! Sport war kein Spaß und heute war Dienstag. Knie-hoch! Knie-hoch!

Unter dem linken Fuß rutschte die Matte weg. Nach vorn. Er spürte es. Er wusste es, noch bevor die Matte zu rutschen begonnen hatte. Dieser Schlenker mit dem Fuß nach vorne, da hatte er übertrieben. Und jetzt rutschte die Matte weg. Er hätte Ludwigs Rat annehmen sollen. Nimm eine größere. Kleine Matten rutschen leicht weg. Aber dieser Ludwig, der aussah wie Softeis in der Sonne, was wusste der von Laufmatten? Der war doch garantiert nach zehn Schritten, zwei pro Sekunde, erledigt. Sein Körper – er bemerkte es eben – war bereits in die Horizontale gekippt und schwebte jetzt im Raum wie Antimaterie. Ganz ungewöhnlich die Perspektive für den Augenblick, in dem sein Körper in der Horizontalen schwebte. Vor sich sah er die Decke, hinter sich wusste er den Fußboden, bevor nach dem Bruchteil einer Sekunde der beschleunigte Fall begann, einen Meter hinab, großzügig geschätzt. Ach, da war noch die Matte, aber die war weniger als einen Zentimeter dick und aus Bast geflochten, der Fußsohlen wegen. Im Standlauf die Fußsohlen massieren. Zwei Fliegen mit einer Klappe! Seine Erfindung. Und jetzt machte er selbst die Fliege. Er lächelte, als ihm der Gedanke kam. Er wusste um seine Fähigkeit, in kurzen Augenblicken viel zu denken. Er sah da ein reziprokes Verhältnis. Je kürzer die Zeit, die ihm blieb, umso reicher an Details die Gedanken. Die Sätze sprudelten dann nur so durch seinen Kopf. Die Zahl der Worte verdoppelte sich mit jeder Sekunde weniger, die ihm blieb. Wie war das mit dem Fallgesetz? In der ersten Sekunde fällt ein Stein zehn Meter – grob. Aber beschleunigt. Also wäre der Schluss falsch, den ersten Meter in einer zehntel Sekunde zu schaffen. Eher etwas länger würde es dauern. Vielleicht eine achtel Sekunde – grob. Das war auch so etwas Komisches: Reziprok mussten die Zahlen kleiner werden, damit der Bruch größer wurde. Die Mathematik war bekannt für ihre Paradoxien. Was hatte sie zur Paradoxie des Reziproken zu sagen? Er würde es nachher sofort eruieren. Aber zuerst musste er auf der Bastmatte ankommen. Ach so, die war ja weggerutscht. Die Decke entfernte sich jetzt gefährlich schnell, fiel ihm auf. Hoffentlich war der Aufprall nicht zu schmerzhaft. Er würde sich sofort in sitzende Position begeben, um sich zu beweisen, dass er noch heil war und damit sie nicht erschrak, wenn sie ihn liegen sah. Sie würde den Schlag natürlich hören und sofort kommen. Und wenn er versuchen würde, sich noch zu drehen? Um die Längsachse, um mit den Händen den Aufprall abzufedern und den Schlag zu dämpfen? Aber jeder Versuch war eine Bewegung ins Leere. Dabei brauste die Luft an ihm vorüber, als würde er bei hundert Sachen das Fenster runterfahren. Zum Greifen war die Luft, nur greifen ließ sie sich nicht. Wie lange dauerte das eigentlich mit dem einen Meter?

 

Daumenkino

~~~~~~

„Für eine Stange Zigaretten organisierte ich uns beiden einen Platz im Zug nach Dresden. Es gibt schon lange keinen regulären Zugverkehr mehr. Kein Schaffner, der Ein- und Ausstieg kontrolliert. Züge fahren nur mit beginnender Dunkelheit und ohne Licht, der Fliegerangriffe wegen. Die russische Front kommt immer näher und das immer schneller und nicht auf einer Linie, die berechenbar wäre. Plötzlich sind sie da, obwohl im Nachbarort der Frontdonner nur schwach zu hören ist. Im Zug, drei Waggons sind es nur, tiefschwarz gestrichen, mit Zweigen auf den Dächern der Tarnung vor Fliegern wegen – eigentlich überflüssig. Der Ruß der Lok machte sowieso alles schwarz, uns inbegriffen –, in diesen Waggons herrscht nur deshalb kein Chaos, weil der Platz dafür fehlt und es gibt kein Geschrei, bis auf den mit den Zähnen, weil Angst und Kälte uns lähmen. Die Reisenden, fast alles Frauen mit Wickelkindern, wie ich eine bin. Auch Männer darunter. Alles Kriegsversehrte, denen ein Bein fehlt oder ein Arm, die Augen geblendet durch Splitter und Blendgranaten. Blendgranaten scheinen bei den Russen sehr beliebt zu sein. Einem waren die Zähne ausgeschossen worden, der schreit den ganzen Tag, und einem anderen fehlen tatsächlich nur drei Finger der linken Hand. Einäugiger unter den Blinden wird er genannt. Da ist einer ohne Augen, der redet die ganze Zeit von einem Arzt in Dresden, der ihn wieder heilt. Dann werde er zwar nicht mehr wie ein Adler sehen, aber dafür gäbe es ja Brillen. Davon hat er bestimmt jedem von uns in persönlicher Ansprache erzählt und gelegentlich dabei gelacht. Ich bin mir sicher, er glaubt selbst daran. Auf der Lok sitzen der Lokführer und sein Heizer. Keiner versteht, warum. Keiner versteht, warum die beiden die drei Waggons nicht längst abgekoppelt haben und mit Lok und Tender davongedampft sind. Immer wieder bleiben wir in Schneewehen stecken. Dann müssen die beiden raus und schaufeln. Von uns Passagieren würde keiner auch nur eine Schippe schaffen. Wie auch mit einem Arm, einem Bein, blind? Vielleicht noch der ohne Zähne, aber der ist nicht mehr ganz bei Sinnen. Und wir Frauen? Wir haben Durchfall, abgefrorene Finger und Wickelkinder in den Armen. Dann geht die Kohle aus und die beiden ziehen mit einem Schlitten ab. Sie hätten sich ja davonmachen können, aber sie kommen zurück mit zwei, drei, vier Säcken Kohle. Immer wieder. Warum sie jedes Mal zurückkommen, weiß keiner. Warum sie sich opfern für die Frauen, von denen keine die ihre ist, weiß ebenfalls keiner. Nichts zu essen, Schnee zum Trinken. Keine Milch in den Brüsten. Immer wieder fliegt ein weißes Bündel aus einem Fenster. Nicht alle sind tot. In dem Schnee fällt das gar nicht weiter auf. Der Lokführer stellt die Weichen nach Gefühl. Immer nach Westen. Und mit der organisierten Kohle geht es wieder ein Stück weiter. Dann greift das Schicksal ein. Kurz vor Dresden gehen die Kohlen wieder aus. Der Zug steht in der Nacht. Schwarz und festgefroren. Dann kommen die Bomber. Von Westen. Die Bomber kommen immer von Westen. Auch wenn sie von Norden kommen, kommen sie eigentlich von Westen. Man weiß das und doch wollen alle nach Westen. Bloß weg vom Osten. Von dort kommen die Russen. Bis unter die eisernen Räder bebt die Erde; rüttelt Lok und Wägen. Lose Metalle klimpern wie Glöckchen. Alle sind ausgestiegen. Mütter und Babys sehen dem Feuer in der Ferne zu. Der mit den Zähnen schweigt zum ersten Mal. Der Blinde, der mit dem Verband um den Kopf und der Erwartung darin auf neue Augen, schaut wie die anderen gebannt zum flackernden Dresden hin und erklärt allen, was es da zu sehen gibt. Mit monotoner Stimme beschreibt er erstaunlich genau. Er könnte Frontberichterstatter sein, dem das Mikrofon abhandenkam. In deinen Augen spiegelt sich das Feuer. Und zum ersten Mal sind alle Babys still. Dresden brennt, flüstere ich dir zu. Immer wieder. Hörst du mich noch?“

~~~~~~

Die Bäume vor dem Fenster bewegen sich sanft im Wind. Wenn sich jetzt, wo er vor dem Fenster steht, die Sekunden ums Zehnfache dehnten, er würde nichts bemerken, denn alles wäre wie immer. Im Umkehrschluss bedeutet das natürlich, die Sekunden könnten bereits ums Zehnfache gedehnt sein, nur bemerkt er es nicht, wo doch alles wie immer ist. Er entschließt sich, rasch – er musste sich immer rasch entschließen, bevor der innere Schweinehund erwacht – noch eine Einundzwanzigerübung einzuschieben. Es geht ganz leicht. Er wundert sich. Dann Blutdruck messen. Aber die Zahlen? Sie bleiben ungenau.

~~~~~~

Die Boulebahn hier ist Allgemeingut. Teil einer zertrampelten Wiese mit Freiluftsportgeräten und einem riesigen Sandkasten. Er steht auf der Wiese und dreht sich langsam im Kreis. Wieder einmal bewundert er die Parkanlage. Parkanlage! Ein viel zu großes Wort für einen Park nicht viel größer als ein Fußballfeld. Aber hübsch eingepasst in die Stadt drum herum. An den Längsseiten grenzen ihn hochgewachsene Bäume gegen die Straßen ab. Nach Westen hin endet er vor den gewaltigen Fenstern der Stadtbibliothek. Entfernt, am östlichen Ende, spritzt eine Fontäne aus der Mitte eines kleinen Teichs in die Höhe. Dahinter erhebt sich der moderne Kasten eines Altenheims, dem aber das Monströse moderner Bauten irgendwie fehlt. Dafür, dass sich der Platz inmitten der Stadt befindet, an den Längsseiten zwischen verkehrsreiche Autostraßen geklemmt, werden ihm auch Miesepeter eine gewisse Idylle nicht absprechen können. Im Sandkasten ist wieder viel los. Kinder mit Kindern, Mütter mit Kindern, Mütter mit Müttern. Ein Kind weint. Bei der Boulebahn stehen Berthold, Ludwig und Annemarie. Gerade wirft Ludwig eine Kugel. Annemarie sieht her und winkt. Sie ruft etwas. Die Boulebahn liegt zu nah am Sandkasten. Manchmal rennen Kinder einfach quer drüber. Regelmäßig müssen die Ersten vom Bouleklub Schaufeln, Ausstechformen und Eimer wegräumen, Kuchenformen niedertrampeln und mit Sand aus dem Sandkasten ihre Boulebahn auffüllen, weil Kinder mal wieder Sand geklaut haben. Sie haben auch schon mal ein Kind – zugegeben, ein kleines – dabei erwischt, wie es in die Bahn pinkelte. Die Bahn, ein schmales, sehr langes Rechteck, ist von kräftigen Balken aus knorrigem Holz eingerahmt, als solche also vom Sandkasten deutlich abgegrenzt. Es gibt aber Mütter, die das ignorieren, vielleicht in ihrer städtischen Fantasie in der Boulebahn einen Abenteuerspielplatz sehen, oder einfach, weil sie sich und ihr Kind für den Nabel der Welt halten. Über diesen Punkt kommt es aber mit Annemarie zur Diskussion, weshalb Berthold, Ludwig und er nur noch in ihrer Abwesenheit den Punkt diskutieren. Meistens aber gibt es Streit bei der Bitte an die Mütter, die Kinder aus der Bahn zu holen. Er kommt deshalb gerne etwas später. Sie sind auch kein richtiger Klub. Eine Frau und drei Männer, die sich Dienstag und Donnerstag zum Boule treffen. Es hat sich einfach so ergeben. Alle über sechzig und Annemarie ist die Jüngste. Ludwig sieht einem ehemaligen Arbeitsminister zum Verwechseln ähnlich, der wiederum Erdbeersofteis in der Sonne frappierend ähnelt. Das ist Annemarie aufgefallen. Ludwig hat am lautesten darüber gelacht. Berthold ist tatsächlich Schuhmacher wie aus dem Bilderbuch für ausgestorbene Berufe. Seinen kleinen Laden in einer Seitenstraße in der Altstadt hat sein Großvater gegründet und Berthold sitzt noch immer drin und fertigt Schuhe nach Maß und auf Bestellung. Leben? Nein, das könne er davon natürlich nicht. Zwei bis drei Bestellungen pro Jahr seien drin. Es gebe immer noch Leute, die auf das Solide vergangener Zeiten schwören. Aber die stürben jetzt auch alle weg. Dann seien da noch die regelmäßigen Fertigungen fürs Stadttheater. Die Schuhe sähen zwar aus, als könne man damit über glühende Kohlen laufen und den Mont Blanc besteigen. Aber alles Attrappe! Auf der Straße damit laufen und man ginge nach einer Stunde auf Socken. An denen verdiene er nichts. Es sei seine verstorbene Frau gewesen, die es ihm ermögliche, das Leben seines Großvaters und das seines Vaters fortzuführen. Genauer gesagt, das Geld seiner Schwiegereltern. Sein Vater, der alte Schuhmacher, hat ihm den Laden hinterlassen. Ein schon damals aus der Zeit gefallener Ort. Nur dem Geld der Schwiegereltern sei es zu verdanken, dass er noch drin sitze. Einmal im Jahr besuche er deshalb ihr Grab. Gustav staunt wieder. Was ihm nicht alles durch den Kopf geht in der kurzen Zeit, die es braucht, sich langsam im Kreis zu drehen. Ob auch Berthold und Ludwig diese Fähigkeit besitzen? Eher nicht. In Ludwigs Kopf dürften die Gedanken so stochastisch wie Elmsfeuer aufflackern und verglühen. Bei Berthold sieht er im Kopf ein Mühlrad, das von einem trägen Fluss getrieben, Eimer um Eimer voll Gedanken nach oben schaufelt. Als der Älteste ist er so was wie der Vorstand in ihrem kleinen Klub, wenn auch unausgesprochen und ohne offizielle Wahl. Nur Ludwig, in seiner Flatterhaftigkeit, respektiert das nicht. Ohne Bosheit. Die Ordnung liegt nur außerhalb seines Horizonts. Und Annemarie? Schwierig. Sachlich bleiben!, scheint ihr Motto zu sein, in dem, was sie sagt und tut. Auch wenn es meist nur ums Kugelschmeißen und Pausenbrotverteilen geht. In ihrem Kopf hat ein Heer von Schleusen den mäandernden Strom der Gedanken in einen Kanal kürzester Verbindung gezwungen. So seine Theorie. Er dreht sich noch einmal. Eigentlich lässt er sich drehen. Er scheint den richtigen Dreh gefunden zu haben. Tanzen kann er nicht, aber drehen scheint ihm im Blut zu liegen. Eine späte Entdeckung! Und was gibt es dabei nicht alles zu sehen! Im Westen das Intellektuelle, die Bildung, der junge Leser. Im Osten der Sandkasten, der Teich, die Fontäne, dahinter die Wartehalle zum Tod. Kann es eine treffendere Allegorie des Lebens geben? Er freut sich noch einmal darüber, wie hübsch der kleine Park in diese alltägliche Stadt eingepasst war. Ein gelber Müllwagen rumpelt vorüber.

~~~~~~

„Die Mutti ist heute Morgen gestorben.“

Die Stimme hätte er auch so erkannt. Sein Blut will gefrieren. Oder übertreibt er jetzt?

„Beerdigung ist in drei Tagen. Sie haben ja ein Doppelgrab. Ich organisiere alles.“

Er beendet die Verbindung.

~~~~~~

Frau Hasemer ist nicht Frau Hasemer. Frau Hasemer ist die Hexe mit der krummen Nase und dem lockenden Finger.

~~~~~~

Da sitzt er schon wieder in diesem kleinen Laden in der Mühltalstraße und löffelt eine Kartoffelsuppe ohne Würstchen. Schlecht ist sie nicht, aber er hat schon bessere Kartoffelsuppen gegessen. So ist es auch mit den gefüllten Nudeln, den Tagliatellen, der Wurstsuppe aus Geflügelfleisch, dem Blechkuchen aus dem eigenen Backofen. Er ist dennoch regelmäßiger Gast geworden, wird inzwischen herzlich gegrüßt wie ein alter Freund. Manchmal versucht die blonde Frau, die immer gegenwärtig ist, ihn in ein Gespräch zu verwickeln, aber er bleibt wortkarg. Sie muss so um sein Alter sein, sieht passabel aus und spricht den örtlichen Dialekt so ungehemmt, dass es schon wieder melodisch klingt. Sie hat ihr strohblondes Haar streng nach hinten gekämmt und den Knoten mit einer bunten Schleife gezähmt. Über der nackten Stirn spannt sich eine makellose Haut. Wangen, Nase, Kinn sind frei von jedem Schönheitsmal. Sommersprossen und Muttermal sucht man vergebens. Was aber seinen Blick auf sie zieht, so zwingend wie der gestreckte Finger des Hypnotiseurs, das sind ihre Augen. Fast schon unnatürlich groß und rund und von einem strahlenden Blau, als würden sie von innen beleuchtet. Die Augen haben einen Weg in seine Träume gefunden, sich dort breitgemacht, sind gewachsen, viel größer geworden als in der realen Welt. Regelmäßig sind sie jetzt da, warten darauf, dass er schläft. Selbst am Tag blicken sie in seine offenen Augen. Er beginnt, sich Sorgen um seine Gesundheit zu machen – die im Kopf. Auch von der Größe her scheint diese Frau für ihn gemacht. Die hohe Stirn mit eingerechnet, erreicht sie sein Kinn. Schlank und flink in der Bewegung ist sie. Sie muss einen Sport betreiben, der das verlangt. Tennis oder Handball vielleicht. Nein, für Letzteres ist sie zu klein. Vielleicht tanzt sie mit Leidenschaft. Er verfiele ihr auf der Stelle, hielte sie ihren Mund. Sie redet aber gerne und das mit lieblicher Stimme, unterbrochen von fröhlichem Lachen aus weit geöffneten Lippen. Leider besitzt sie abstehende Zähne. Man konnte meinen, ihr fehle ein Zahn und die übrigen hätten sich schmal gemacht. Das ist dann doch nicht sein Geschmack. Zunächst. Er hat da so ein Gefühl, als könne er in die Zukunft blicken.

~~~~~~

„Frau Hornung ist gestorben!“, ruft Laura ihm entgegen. Dabei hat er die Wohnungstür noch nicht geschlossen. Jetzt ist das Fahrrad zur Hälfte eingeklemmt, denn ihm ist die Tür entglitten. Das Hinterrad steht noch auf dem Flur und Frau Hornung ist gestorben.

„Was ist passiert?“, will er später in der Küche wissen. „Ein Unfall?“

„Einfach so. Im Schlaf. Vermutlich schon gestern. Die Tochter hat sie gefunden.“

Gustav ist erschüttert. Nicht weil die Nachbarin vom Stockwerk drunter gestorben ist. Eine alte Frau. Aber rüstig für ihr Alter, findet er im Rückblick. „Wie alt war sie eigentlich?“ Laura zuckt die Schulter. „Zehn Jahre älter mindestens, denke ich“, schlägt er selbst vor und Laura nickt. Es ist Lauras Traurigkeit, die ihn erschüttert. Seine Laura! Die fröhliche, offene, heitere Laura sitzt am Küchentisch und schaut, als wäre – ja, wer eigentlich? – gestorben. Es will ihm jetzt niemand einfallen, der mit seinem Versterben dieser Traurigkeit seiner Laura wert wäre. Gute Laune auf zwei Beinen, hat sie der Schuster einmal beschrieben. Der Schuster!

~~~~~~

Wissenschaftler an einer Universität in Nevada haben hervorgehoben, dass der Schlaf vor Mitternacht gesünder sei, als der hinterher.

~~~~~~

„Mutti, wusstest du, dass die Straße genauso heißt?“

„Welche Straße?“

„Die bei der Schule.“

„Ja und?“

„Ist doch komisch. Derselbe Name wie unsere Schule, aber die Straße ist doch nicht die Schule. Geht das? Oder sind die auch dasselbe?“

„Gustav! Jetzt gehst du schon in die zweite Klasse und stellst so dumme Fragen! Wie heißt du?“

„Gustav.“

„Nein, der Nachname.“

„Gmeiner.“

„Und wie heiße ich?“

„Mutti.“

„Gustav! Mein Nachname!“

„… Gmeiner?“

„Mein Gott, ja! Und? Sind du und ich dieselben?“

„… Nein.“ Er grinst.

~~~~~~

Er starrt auf ihren Oberschenkel.

~~~~~~

Ludwig trampelt quer durch den Sandkasten heran. Empörte Rufe der Mütter folgen ihm wie der Schall dem Jet im Überschall.

„Er hat sich umgebracht!“, ruft er noch im Lauf. Jetzt steht er auf einem Bein, hält sich mit einer Hand an Annemarie fest und klopft Sand aus einem Schuh.

„Das überrascht mich jetzt, Ludwig. Pleite?“

„Kummer, Annemarie. Liebeskummer.“

„In seinem Alter?“

„Sie hat ihn betrogen. Und ich glaubte immer, sie liebe ihn.“

„Das glaubte ich auch. Wie?“

„Ertränkt.“

„Das ist unmöglich, Ludwig! Du musst dich irren. Er schwamm doch wie ein Fisch. Er ist uns allen davongeschwommen.“

„Um uns hinterher eine halbe Stunde wohlwollend auf die Schultern zu klopfen und uns allen damit auf den Sack zu gehen. Du selbst hast mir einmal auf der Heimfahrt angekündigt, irgendwann trittst du ihm genau dort rein. Erinnerst du dich, Annemarie?“

„Hätte ich es doch nur getan! Jetzt ist er mir zuvorgekommen! Dieser Angeber! Ich habe mir schon vorgenommen, an einem anderen Tag schwimmen zu gehen.“

„Annemarie! So kenne ich dich gar nicht.“

„Berthold! Nicht jedem ist Geduld in die Wiege gelegt wie dir.“

„Lerne Schuhmacher oder Pferde beschlagen. Irgendwas mit einem Hammer und vielen Nägeln.“

„Du kennst nur sterbende Berufe.“

„Und wie lange gedenkst du noch zu leben, Annemarie? Verzeihung. War nicht so gemeint. Wir drei jungen Burschen hier müssen uns auch dieser Frage stellen.“

„Aber nicht jetzt. Und wenn ich die Antwort einmal kenne, bin ich schon tot. Dann brauche ich sie nicht mehr.“

„Wie hat er es überhaupt geschafft, sich zu ertränken? Der schwebte doch an der Oberfläche wie ein Luftballon. Ich bin gespannt.“

„Danke, Gustav. Ich dachte schon, das interessiert keinen. Kurze Antwort: Schwimmbad.“

„Was? In unserem Schwimmbad?“

„Nein. Das Schwimmbad in Baiertal. So viel Pietät besaß er noch. Aber dann hört sie auf. Dort wurde neulich eine Mauer renoviert. Er ist nachts rein, hat eins der Betonstücke, die da rumlagen, an den Rand des großen Becken gerollt, ein Seil drumgewickelt, das andere Ende an einen Fuß gebunden, den rechten glaube ich, und das Stück ins Wasser geschubst. Es hat ihn mitgezogen und ihm dabei gleich ein Stück vom Fuß abgerissen. Ob ertrunken oder verblutet, ist noch nicht geklärt. Das Becken sah jedenfalls saumäßig aus. Der Bademeister, der das am nächsten Morgen entdeckte, liegt noch immer mit einem Schock in der Klinik, soviel ich weiß. Er hat immerhin eine Nachricht hinterlassen.“

„Der Bademeister?“

„Quatsch! Er natürlich.“

„Und?“

„Ich liebe dich, mein Dornröschen, aber ich kann nicht mehr.“

Die drei anderen stutzen. Es braucht einen Moment, um zu begreifen, dann lachen sie aus vollem Hals.

„So ein Kitsch?“, ruft Annemarie.

„Merkwürdig, Annemarie. Genau das soll Roswitta auch die Polizisten gefragt haben. Große Augen gemacht, laut gelacht und dann gerufen: So ein Kitsch?“

„Woher weißt du das alles?“

Ludwig wirft Annemarie einen verschmitzten Blick zu, als wolle er sie anmachen. Er hat es schon zweimal versucht. Vergeblich. „Ich weiß es halt.“

„Ein Leck bei der Kripo, Abteilung: Blut und Schwerstkriminalität. Ich sagte es ja bereits“, brummt der Schuster.

„Warum nicht den Hals?“

„Wie warum nicht den Hals, Annemarie?“

„Warum hat er das Seil nicht um den Hals gelegt? Dann hätte es ihm den Kopf abgerissen. Es wäre schneller gegangen. Ich meine, mit abgerissenem Fuß im Wasser verbluten, ist auch nicht das Gelbe vom Ei.“

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„Muttersprach“, beginnt sie und nur dieses eine Wort genügt ihm, um mit geschlossenen Augen seine Mutter vor sich zu sehen. Denn das kann Laura besser als das Original: Die Stimme der Mutter nachzuahmen.

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„Gustav Gans!“

„Und der Alfred darf abschreiben.“

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Im Flur begegnet er Frau Hornung. Die ältere Dame ist ihm sympathisch. Laura ist mit ihr befreundet und das ist ihm Grund genug, denn Laura kennt nur sympathische Menschen, die anderen kennt sie nicht. Neuerdings sind Laura und Frau Hornung sogar per Du. Und jetzt steht er vor der Frage, ob er ihr auch das Du anbieten soll. Seit über zwanzig Jahren lebt man im selben Haus, nur durch ein Stockwerk getrennt, hat sich bereits tausend Mal begrüßt – mindestens –, Floskeln ausgetauscht, Wetter und so, und jetzt, wo das Ende absehbar ist, bietet man das Du an. Ist das angebracht? Außerdem, liegt es nicht an der Frau, das Du anzubieten? Würde er den ersten Schritt machen, sähe sie sich ihrer Höflichkeit wegen gezwungen, darauf einzugehen. Noch dazu freudig! Dabei läge für sie die Frage auf der Hand: Warum kommst du nach zwanzig Jahren – mindestens – damit? Oder vielmehr: Warum kommen Sie nach zwanzig Jahren damit?

„Haben Sie schon davon gehört, Herr Gmeiner?“

„Was denn? Vermutlich nicht.“

„Da unten, im ersten Stock, das junge Ehepaar Klamm, die mit dem Kleinkind.“

„Ja und?“ Offenbar ist etwas Unerfreuliches geschehen, aber keine Katastrophe, denn Frau Hornung sieht nur betrübt aus. Freundlichen, älteren Damen sieht man die Katastrophe an. Da brauchen sie gar nicht erst den Mund aufzumachen. Das sagt ihm die Lebenserfahrung. Nur Laura macht da eine Ausnahme. Sie scheint durch nichts zu erschüttern. Die Ruhe selbst, zu der auch die muntere Fröhlichkeit zählt, die ihr selbst in dunklen Momenten eigen ist, wie ihre strahlend blauen Augen, die auch im Dunkeln leuchten. Von Laura also hat er gelernt, auch Ruhe kann munter sein. Frau Hornung sieht aber nur betrübt aus.

„Ihr Kinderwagen ist gestohlen worden!

---ENDE DER LESEPROBE---