Anna nicht vergessen - Arno Geiger - E-Book + Hörbuch

Anna nicht vergessen E-Book und Hörbuch

Arno Geiger

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Beschreibung

Lukas nimmt Abschied von Berlin. Dort ist einiges schiefgelaufen, und so verbringt er auch die letzte Nacht vor der Rückkehr nach Wien auf der Gästecouch einer todmüden Kellnerin. Am Morgen ist sie nicht wach zu kriegen, und als der Klempner klingelt, findet der junge Mann plötzlich einen Zuhörer, dem er ein ganz anderes Leben erzählen kann, das Leben, das er sich wünschen würde und eine große glückliche Liebe.Arno Geiger, der 2005 für seinen Roman "Es geht uns gut" den Deutschen Buchpreis erhielt, erzählt in seinem neuen Buch von Liebesdesastern und Lebensträumen und von Menschen, die nicht vergessen werden wollen - leicht, sprachlich brillant und mit großer Komik.

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Seitenzahl: 294

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Zeit:3 Std. 55 min

Sprecher:Ulli Maier

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Über das Buch

Lukas nimmt Abschied von Berlin. Dort ist einiges schiefgelaufen, und so verbringt er auch die letzte Nacht vor der Rückkehr nach Wien auf der Gästecouch einer todmüden Kellnerin. Am Morgen ist sie nicht wach zu kriegen, und als der Klempner klingelt, findet der junge Mann plötzlich einen Zuhörer, dem er ein ganz anderes Leben erzählen kann, das Leben, das er sich wünschen würde und eine große glückliche Liebe.Arno Geiger, der 2005 für seinen Roman »Es geht uns gut« den Deutschen Buchpreis erhielt, erzählt in seinem neuen Buch von Liebesdesastern und Lebensträumen und von Menschen, die nicht vergessen werden wollen — leicht, sprachlich brillant und mit großer Komik.

Arno Geiger

Anna nicht vergessen

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Tage

Anna nicht vergessen

Abschied von Berlin

Der Untermieter

Samstagshunde

Jahre

Also, das wär’s so ziemlich

Es rührt sich nichts

Neuigkeiten aus Hokkaido

Das Gedächtnisprotokoll

Leben

Feindesland

Koffer mit Inhalt

Natürliche Schwankungserscheinung

Doppelte Buchführung

Tage

Anna nicht vergessen

Mit einem Ruck richtet sie sich auf. Sie greift neben das Bett nach dem Slip vom Vortag und tappt, halb taumelnd vor Müdigkeit, in den dunklen Flur, wo ihre Füße auf dem Linoleum ein kraftloses Schmatzen erzeugen.

»Aufstehen, häßliches Entlein!« ruft sie ins Dunkel des Kinderzimmers hinein, etwas, das ihre Mutter manchmal gesagt hat und das Ella nur wiederholt, weil sich Anna ans erste Wecken ohnehin nie erinnert.

Nachdem Ella geduscht und sich angezogen hat, macht sie auch im Kinderzimmer Licht. Der Raum tritt aus dem Dunkel hervor. Ella setzt sich an den Bettrand; dabei spürt sie, welch ungeheure Kraftanstrengung allein das Ertragen des Gedankens kostet, daß es gleich wieder losgehen wird. Schlaftrunken umarmt Anna Ellas Hüften und tastet nach den weichsten Stellen. Ihre Hände sind heiß und feucht und blaß mit Tinte befleckt. Sie blinzelt aus ihren dicken Lidern und setzt zum Reden an. Doch Ella zieht es vor, das Mädchen nicht zu Wort kommen zu lassen.

»Vielleicht willst du schauen, ob es geschneit hat«, sagt Ella. Sie wuschelt Anna durchs Haar und verzieht sich rasch, hinüber in die Küche. Nachdem sie dort am Herd das Gas aufgedreht hat, bleibt sie eine Weile zwischen Spüle und Küchentisch stehen, ziemlich niedergeschlagen, und starrt gedankenverloren auf die Pokahontas-Pantoffeln, die Anna am Vorabend unter dem Tisch zurückgelassen hat.

Ella ist jetzt dreißig Jahre alt, eine schlanke, attraktive Frau, die mit der Zeit nüchtern geworden ist, obwohl sie mit zwanzig als jemand gegolten hat, der nicht zu bremsen ist. Wenn sie erschöpft auf dem Sofa liegt oder sich für eine Viertelstunde im Klo einriegelt, packt sie manchmal die Angst, daß sie mit jedem Jahr an Lebensfreude verliert, während andere immer glücklicher werden. Alle ihre Klientinnen sind so, so wie sie selbst, auf der stimmungsmäßigen Talfahrt. Das gilt auch für die Frau, die sie am Vormittag treffen wird; das hat Ella schon am Telefon erkannt. »Ich tue das nur, weil ich ihn liebe«, hat die Frau mit gedämpfter Stimme gesagt, und daran denkt Ella, während sie den Kakao in die Milch rührt und probiert, ob die Milch nicht zu heiß ist. Sie gießt einen Schluck kalter Milch nach, dann stellt sie die Tasse vor das Mädchen, das sich Augenblicke zuvor auf seinen Stuhl geschoben hat.

Es ist schwer, Anna nicht gern zu haben mit ihren verschlafenen Zügen, den verklebten Lidern und dem nur unvollständig weggewischten Zahnpastaschaum um die Lippen. Trotzdem empfindet Ella eine bedrückende Distanz zu diesem Kind, das ihr bisher auf eine seltsame Art fremd geblieben ist. Sie versteht Anna nicht wirklich. Allein wie das Mädchen am Tisch sitzt, ein Smacks nach dem anderen auf die rechte Handfläche legt und mit der Linken von unten gegen den Handrücken schlägt, so daß das Smacks in ihren aufgerissenen Mund fliegt —. Ella hat keine Ahnung, ob Anna es aus reiner Gedankenlosigkeit tut oder als Rache dafür, daß von Schnee weiterhin keine Rede sein kann. Draußen ist es noch genauso trostlos und grau wie schon seit Mitte November. Anna katapultiert das nächste Smacks in ihren Mund. Ella tritt der Schweiß auf die Stirn, so sehr muß sie sich zusammenreißen, damit sie nicht die Beherrschung verliert. Sie wendet dem Kind den Rücken zu und sagt lediglich:

»Trödel nicht herum, komm schon, in fünf Minuten müssen wir los.«

Schon zweimal ist Ella in die Schule zitiert worden, weil sich Anna regelmäßig verspätet. Ella hat der Lehrerin gesagt, daß sie nicht bereit sei, um Mitternacht aufzustehen, nur damit Anna rechtzeitig zum Unterricht kommt. Die Lehrerin solle zusehen, daß Anna eine Freundin oder sonstwie Spaß an der Sache finde, dann müsse nicht ständig jemand wie mit der Peitsche hinter ihr hersein.

Anna läßt einem Smacks eine Reihe kieferverrenkender Gähner folgen, die ihren ganzen Körper zum Schlottern bringen. Sie beschließt das letzte Gähnen mit einem langgedehnten »Ahh«. Anna streckt sich. Nach einem weiteren gänsehaften Schütteln will sie nach dem nächsten Smacks greifen. Doch Ella kommt ihr zuvor. Sie zieht die Frühstücksschale vom Tisch und stellt sie auf die Arbeitsfläche zwischen Herd und Spülbecken.

»Jetzt schau, daß du in dein Zeug hineinkommst, aber husch.«

»Mama, ich will zu Hause bleiben. Bitte. Ich will nicht in die Schule.«

Noch am Vortag hat Anna versprochen, wegen der Schule nicht mehr herumzuquengeln (zur Abwechslung hatte sie behauptet, daß ihr das Kreischen der Kreide Angst einjage). Doch jetzt, da Ella sie an das Versprechen erinnert, schaut Anna, als habe sie keinen blassen Schimmer, wovon ihre Mutter redet. Ella schlürft den Kaffee, sie betrachtet ihre Tochter, die trotzig, fast reglos, auf dem Stuhl sitzt. Die Füße reichen noch lange nicht bis zum Boden. Anna lächelt zaghaft, ganz so, als habe sie die Hoffnung, Ella werde sich doch noch mit ihr gegen die Schule verbünden, nicht ganz aufgegeben. Aber Ella wiederholt nur ihr »Husch, in die Schuhe!« in einem Ton, der nicht zum Nachfragen ermuntert.

Anna gähnt nochmals, entschließt sich dann aber, vom Tisch aufzustehen und in die Diele zu zotteln, wo der Schuhkasten steht. Bevor sie den Schuhkasten erreicht, schreckt sie mit einem Schrei zurück, sie tut, als wäre ihr jemand mit einem nassen Waschlappen unter den Pullover gefahren. Dann springt sie Ella ans rechte Bein, krallt sich in den Stoff der Jeans und ruft:

»Auf dem Schuhkasten sitzt ein Kobold. Der darf nicht gestört werden.«

Ella zieht das Kind am Bein hinter sich her, öffnet den Kasten und nimmt die neuen Winterstiefel heraus, die Anna von ihrem Vater bekommen hat, diesem Vollidioten. Sie hebt Anna hoch, so daß das Mädchen jetzt selbst auf dem Schuhkasten zu sitzen kommt. Ohne Platz für weitere Ablenkungsmanöver zu lassen, packt Ella die höckerigen Kinderknie und stellt so den Widerstand her, der nötig ist, damit sie dem Mädchen die Stiefel anziehen kann.

Um neun hat Ella das Treffen mit der Kundin. Die Frau ist wie alle, nervös, ganz fahrig, unglücklich; eine mittelgroße, bleichgesichtige Frau um die Vierzig mit rötlichem Haar und ziemlich starken Formen. Das Treffen findet im Burggarten statt, weil sich manche Dinge besser im Gehen besprechen. Im dünnen Vormittagslicht wirken die Sommersprossen auf dem Nasensattel der Frau wie die letzten Konzentrationen von Lebensfreude in einem ansonsten müden Gesicht.

Die Frau spricht gewählt, fast manierlich leise, als lebe sie in einem von Unzufriedenheit luftverdünnten Raum, der ihre Atmung einschränkt. Auch die Mimik ist sparsam, wird aber hie und da von abrupten Handbewegungen flankiert, so auch, als Ella nach den Gründen für das Mißtrauen der Frau fragt und von ihr die Antwort erhält, sie finde in den Taschen ihres Mannes Lokalrechnungen, die so hoch seien, daß sie nicht glauben könne, er trinke das alles alleine.

Seit gut zwei Jahren arbeitet Ella für eine Sicherheitsagentur und stellt im Auftrag von Frauen deren Ehemänner auf die Probe, ob sie für amouröse Abstecher zu haben sind. Früher hätte sie nie gedacht, daß sie je einen Job ergattern wird, der ihr Spaß macht — da hat sie immer alles nur deshalb getan, damit sie es irgendwann nicht mehr tun muß. Mit der Arbeit für die Sicherheitsagentur ist es zum Glück etwas anderes, wenn auch bestimmt nicht wegen der Verdienstmöglichkeiten. Ella mag die Anforderungen, die dieser Job an sie stellt, und sie mag das Ausgeflippte daran. Aus ihrer Sicht erzielt sie sogar gute Ergebnisse, wenn auch genaugenommen jedes Ergebnis zählt; es ist, als schickte man sie zum Autozählen an eine Kreuzung. Trotzdem fährt Ella besser, wenn die Männer auf ihr Angebot eingehen, dann braucht sie sich nicht gegen Verdächtigungen zu rechtfertigen, sie habe keinen Charme, kenne die nötigen Kniffe nicht oder lege sich zu wenig ins Zeug.

Ella zählt die Geschäftsbedingungen auf. Dabei betrachtet sie die Fotos, die sie von der Frau erhalten hat und die einen Mann zeigen, der lässig wirken will, aber eher einer dieser farblosen Typen ist, die niemandem auffallen. Kann gut sein, daß er ein Leben lang kein eindeutiges Angebot erhält oder besser, erhalten würde. Ella kündigt an, daß sie sich beim Flirten nicht zurückhalten werde, und weil sie mit den Spielregeln durch ist und die Frau nichts erwidert, sagt sie aufs Geratewohl:

»Er ist am Abend wohl oft weg.«

»Das kann man so sagen.«

Die Frau lacht. Für einen Moment ist sie richtig gut gelaunt, wohl bei dem Gedanken, daß sie sich nichts mehr gefallen lassen will und endlich eine Entscheidung gefunden hat oder wenigstens einen Ersatz für diese Entscheidung. Kurz strahlt ihr Gesicht etwas Herausforderndes aus, von dem man meinen könnte, es sei stark genug, um anzudauern. Da ist der Augenblick wieder vorbei. Sie sagt:

»Ich muß die Möbelpacker kommen lassen, wenn ich ein Sofa verstellen will, so selten ist er zu Hause.«

Die Frau macht wieder eine dieser abrupten Handbewegungen, von denen nicht ganz klar ist, was dahintersteckt. Aber Ella weiß ohnehin, daß die Auskünfte der Frau mit mindestens zehn Fragezeichen versehen sind. Die übliche Geschichte halt — mit Eifersucht und Mißtrauen, aber nicht uninteressant. Daß die Veränderung am Kilometerzähler selten mit dem Weg zur Arbeit und zurück übereinstimme, und daß die Frau ihrem Mann zwar traue, wenn auch immer weniger, und ganz sicher könne man nie sein, wie einer reagiere, wenn sich ihm eine hübsche Frau an den Hals werfe.

»Meine Seelenruhe ist mir das Geld wert«, sagt die Frau; dabei wird sie vermutlich einen neuerlichen Rückschlag mit teurem Geld bezahlen müssen, die nächste Etappe auf dem Weg von einem Fehlschlag zum anderen.

Aber zweifellos läßt sich auch darüber hinwegkommen.

Einige leichte Regentropfen fallen. Ella blickt hoch. Es wäre angenehmer, wenn es schneien würde. Aber die hellen Flechten, die sich von der harten, irgendwie verkrusteten Wolkendecke lösen, versprechen mehr, als sie halten. Bei genauem Hinsehen erweisen sie sich als eine Art feuchter Nebel, der langsam auf die Stadt sinkt.

»Wird ihr Mann alleine dort sein?« fragt Ella.

»Er vertraut sich mir in diesen Dingen nicht unbedingt an. Und was er mir sonst noch alles verheimlicht … ich weiß es nicht.«

Noch einmal holt die Frau aus, sagt aber lediglich mit anderen Worten, was sie schon einmal gesagt hat. Ella nickt ein paarmal an den passenden Stellen, aber sie hakt nicht nach und gibt schon gar nicht ihre Meinung dazu ab, das hat sich so bewährt.

»Dann schaue ich einmal, daß ich weiterkomme«, sagt sie nach einer Weile, schüttelt der Frau die Hand und geht.

An einem der ersten Schultage hat sich Ella mittags um zehn Minuten verspätet, aus einem triftigen Grund, es war nicht so, daß sie nicht versucht hatte, pünktlich zu sein. Trotzdem hat sie noch am selben Tag unter Annas Anleitung Zettel in der Wohnung aufhängen müssen, in der Küche am Kühlschrank, im Bad am Spiegel und an der Innenseite der Wohnungstür:

Anna nicht vergessen!

Auf allen Zetteln dieselbe Ermahnung, damit Annas Angst nicht Wirklichkeit wird, sie könnte eines Tages wie von Zauberhand aus dem Gedächtnis ihrer Mutter verschwinden.

Ella erledigt ihre Einkäufe im Laufschritt, sie gibt die Weihnachtspost nach Übersee auf. Die restliche Zeit reicht gerade noch für eine schnelle Tasse Kaffee und ein Telefonat, das sie mit Maria, ihrer Schwester, führt, schon auf dem Weg zur Schule. Dort stürmt Anna keine Minute nach dem letzten Klingeln hinter einigen Buben, die es noch eiliger haben, aus dem Tor, sie kommt strahlend zum Auto gelaufen, reißt eine der hinteren Türen auf und wirft sich ins Wageninnere. Nachdem sie die Schultasche auf ihren Schoß gestellt hat, schnallt sie sich mitsamt der Schultasche an, und noch während sie mit dem Gurt beschäftigt ist, beginnt sie in ungewohnter Ausführlichkeit von einem Jungen zu erzählen, der eine Wüstenrennmaus mit in den Unterricht gebracht habe.

Ella kann sich nicht daran erinnern, von ihrer Tochter je einen vergleichbar langen Bericht aus der Schule erhalten zu haben, er dauert die ganze Fahrt nach Hause, Anna fällt sich ständig selbst ins Wort, verhaspelt sich und plappert weiter. Zuletzt schildert sie allerhand Kunststücke, die die Wüstenrennmaus vorgeführt habe, durch Klorollen rennen und auf den Vorderbeinen gehen.

»Auf den Vorderbeinen?« fragt Ella. »Vielleicht, wenn man das arme Vieh am Schwanz hochhält.«

»Nein, schwöre, Mama! Wenn ich auch eine Maus habe, zeige ich es dir.«

Ella streift ihre Tochter mit einem kurzen Blick in den Rückspiegel. Sie schaut Sekunden später ein zweites Mal und sieht, daß Anna errötet.

»Ich darf eine Maus geschenkt haben.«

Während Ella den Wagen in die Tiefgarage steuert, überlegt sie, ob es den Jungen mit den Wüstenrennmäusen gibt, ganz sicher ist sie nicht, da sich Annas Phantasie meistens an Dingen festfährt, die sie im Fernsehen gesehen hat. Andererseits will sie das Risiko, die Erlaubnis in der Hoffnung zu geben, daß die Geschichte in Annas Kopf folgenlos verpufft, nicht eingehen, denn die Begeisterung des Kindes klingt ehrlich.

»Mama, bitte! Sie haben Nachwuchs, acht Mäusekinder. Moritz hat eines bekommen und Aurelia auch.«

Das Tor der Garage fährt tutend zu. Ella manövriert den Wagen auf den Abstellplatz.

»Was heißt bekommen?« Ella fixiert das Kind neuerlich im Rückspiegel. Bei den vielen Talenten, die Anna besitzt, geht ihr dasjenige, die Unschuldige zu spielen, glücklicherweise ab.

»Moritz und Aurelia haben eine Maus mit nach Hause genommen.«

»Und du?« fragt Ella.

Nach einem kurzen Zögern löst Anna den Sicherheitsgurt, sie dreht die Schultasche zu sich her. Die Schnappverschlüsse klicken, der Deckel klappt hoch, und der Geruch nach Spitzabfällen breitet sich im Wagen aus. Anna zögert nochmals, als ihre Hand bereits in der Tasche ist, dann hebt sie eine Klorolle heraus, die vorne und hinten mit liniertem Heftpapier zugeklebt ist.

»Ich habe gedacht, damit du sie ansehen kannst.«

Anna hält die Klorolle hoch, und trotz der Unsicherheit über Ellas Reaktion überwiegt die Freude, Besitzerin einer Wüstenrennmaus zu sein. Annas lächelnder Mund steht halb offen, die Zunge hängt ihr über die Unterlippe, Zeichen der Anspannung.

»Du weißt doch, daß wir keine Haustiere haben dürfen. Die Hausordnung läßt es nicht zu.«

Ella steigt aus dem Wagen, hievt die Einkäufe aus dem Kofferraum und ärgert sich währenddessen über die Lehrerin, die die Weitergabe der Mäuse erlaubt hat. Dieser Gedanke bringt sie auf und gibt den Ausschlag, daß sie das Mädchen schroffer als beabsichtigt anfährt:

»Ein Haustier kommt nicht in Frage, das weißt du.«

Sie blickt durch das Seitenfenster ins Wageninnere, wo Anna zu weinen anfängt, aber nicht mit dem erwarteten übertriebenen Geheul, sondern beinahe lautlos, vom Kopf bis zu den Füßen, in wahnwitzig kleinen Atemzügen.

»Bitte«, ruft sie zwischen zwei Schluchzern, »sie ist doch so klein!«

Aber Ella zieht erst recht die Brauen zusammen, zu oft schon hat sie spontane Zugeständnisse gemacht, die ihr hinterher, nach einer teuer erkauften Frist, mit dem doppelten Zores auf den Kopf gefallen sind. Als alleinerziehende Mutter mit ständig bedrohter Autorität kann sie sich taktische Vertröstungen und leere Versprechen nicht leisten. Daran hält sie sich, so schwer es zuweilen fällt. Also setzt sie ein betont strenges Gesicht auf. Sie redet auf das Mädchen ein: Daß vormittags niemand zu Hause sei und die Maus an Einsamkeit eingehen werde, daß man nie wieder, wie im vergangenen Sommer, nach Italien in den Urlaub fahren könne und so weiter und so weiter.

Aber jedes Wort ist umsonst.

»Klick«, macht es. Das Licht in der Tiefgarage verlöscht. Der kahle, von Betonstelen zu Quadraten segmentierte Raum liegt jetzt öd in dem Schimmer, der durch zwei vertikal verlaufende Fensterschlitze rechts der Einfahrt fällt. Die zähe Betonluft hat einen Beigeschmack von Gummi.

»Steig jetzt bitte aus«, sagt Ella. Aber sie weiß, noch während sie redet, daß Anna sich weigern wird. Das Mädchen sieht weit an Ella vorbei, ein Gesicht, kalt und abweisend, wie man es einem sechsjährigen Kind kaum zutrauen würde. Ella spürt, daß nur mehr eine Kleinigkeit fehlt, bis sie die Geduld verliert. Und weil sie von diesem Moment mehr zu befürchten hat als Anna, die dann gewonnen hat, will sie die Situation retten, indem sie der Maus ein Besuchsrecht für diesen Tag gewährt. Doch auch darauf kommt keine Reaktion. Anna scheint hin und her gerissen zwischen den Möglichkeiten aufzuheulen, die Klorolle an den Bauch zu pressen oder sich die Ohren zuzuhalten. Langsam rückt sie von der Wagenseite weg, an der Ella steht.

»Wie soll’s jetzt weitergehen?« fragt Ella.

»Anna, wie es weitergehen soll, habe ich dich gefragt!«

Ella lauscht auf das Ticken und Knacken des abkühlenden Motors. Endlich hebt Anna den Blick, irgendwie verdutzt. Sie schaut Ella unschlüssig von der Seite an, dann scheint sie einen Entschluß zu fassen. Sie richtet sich auf. Ella denkt, Annas Widerstand sei erschöpft. Aber das Kind hält sich die Kartonrolle ans Ohr und sagt mit der unbefangensten Miene von der Welt, ohne dabei etwa verlegen die Augen zu senken:

»Meine richtige Mutter wird mich bestimmt bald abholen.«

Vor Schreck kommt Ella beinahe der Kaffee hoch, ein gleichzeitiger Zornkrampf, der ihr die Kehle zudrückt, hebt den Effekt auf. Selbst wenn Ella irgend etwas zu erwidern wüßte, im ersten Moment ist sie unfähig, etwas herauszubringen. Ihr Selbstwertgefühl als Mutter ist ohnehin ständig drauf und dran, sie im Stich zu lassen — aber das hier, das gibt ihr den Rest.

Nach einer kurzen Aufmerksamkeit für die Klorolle hebt Anna erneut den Kopf und blickt Ella an, um zu sehen, was für einen Eindruck das Gesagte macht. Ellas Unsicherheit überrascht das Mädchen, und wie um ihrer Ankündigung endgültig das Gewicht einer Tatsache zu geben, fügt sie hinzu:

»In drei Wochen holt sie mich ab.«

»Gut«, erwidert Ella, »wenn du dir da so sicher bist, gibst du die Maus morgen zurück, und sowie dich deine richtige Mutter zu sich genommen hat, machst du die Sache mit ihr aus. Ich fühle mich nicht mehr zuständig. — — Und jetzt raus aus meinem Auto oder ich bringe dich für die letzten drei Wochen ins Heim. Sollen sie dort deine Erziehung übernehmen, die sind im Gegensatz zu mir professionell geschult. Ich möchte mir zu dem ganzen Ärger mit dir nicht auch noch von deiner Mutter Vorwürfe einfangen. Du gehorchst mir ja ohnehin nicht, und ich habe mir das bisher nur deshalb gefallen lassen, weil ich dachte, du bist meine Tochter.«

Mit pochenden Schläfen horcht Ella dem eigenen Wortschwall hinterher. Sie kann es nicht ausstehen, wenn ihre Stimme in die Höhe geht. Außerdem bereut sie, was ihr da alles rausgerutscht ist. Na ja, gesagt ist gesagt. Sie tröstet sich damit, daß Anna ruhig spüren soll, daß sie wieder einmal zu weit gegangen ist.

Anna sitzt stumm auf der Rückbank, sie scheint alles noch einmal zu überdenken, doch offenbar hat der Hinweis auf das Heim und die professionelle Erziehung angeschlagen. Endlich steigt das Mädchen aus und folgt Ella im Aufblitzen der Blinkleuchten, das den Vorgang der Zentralverriegelung begleitet, zum Lift.

Während Ella das Mittagessen kocht, orgelt Anna in ihrem Zimmer herum und führt Gespräche mit der Wüstenrennmaus.

»Wie gut du auf den Vorderbeinen laufen kannst. Bravo! Du bist eine tüchtige Maus. Nicht alle können so gut auf den Vorderbeinen laufen.«

Beim Mittagessen hingegen, als habe sich Anna in dem einseitigen Gespräch mit der Maus völlig verausgabt, herrscht Funkstille. Sie nörgelt nicht einmal am Essen herum. Statt dessen lächelt sie ein Lächeln, von dem nicht ganz klar ist, ob aus Mitleid, daß Ella als Mutter nur vorübergehender Ersatz ist, oder als Zeichen eines schlechten Gewissens. Unmöglich, das festzustellen. Doch da Ella in versöhnlicher Stimmung ist, dreht sie sich nach dem Essen auf ihrem Stuhl zur Seite, sie öffnet die Beine, damit Anna zu ihr kommen und sich umarmen lassen kann. Anna geht darauf ein, sie wirkt ruhig, als habe sie die Aufregung schon wieder vergessen.

»Du kannst einem manchmal wirklich auf die Nerven gehen«, sagt Ella. Aber das kommt irgendwie schief heraus und ist nichts, womit eine Sechsjährige etwas anfangen kann. Im Radio läuft Iggy Pop. Annas Körper wiegt sich leicht im Takt des Liedes, den Blick auf Ella gerichtet, als erwarte sie etwas, das noch kommt.

»Jetzt reißen wir uns zusammen, ja? Wir haben uns den Tag schon genug versalzen, und für die Zukunft verspreche ich dir, daß ich nicht wegen jedem Dreck ausflippe. Und du sagst dafür nicht mehr so dumme Sachen wie das mit der erfundenen Mutter.«

Anna nimmt den Vorschlag mit vollkommen offenem Blick auf, doch dieser offene Blick ist nichts anderes als das schiere Erstaunen darüber, daß Ellas Begriff von dem, was sie Zukunft nennt, völlig unzulänglich ist.

»Aber in drei Wochen holt sie mich doch ab«, sagt Anna.

Ella mustert den ruhigen Gesichtsausdruck ihrer Tochter, für einen Augenblick denkt sie, daß sie sich etwas vom trotzigen Mut dieses Mädchens auch für sich selber wünschen würde. Sie hält Anna mit den Schenkeln an der Taille fest. Sie sagt:

»Hör einmal, hör mich zwei Minuten an.«

Sie will dem Mädchen erklären, daß die erfundene Mutter nicht kommt, wenn Anna nachts aufwacht und Angst vor der Dunkelheit hat. Aber im selben Moment spürt Ella, daß es zwecklos ist. Die Kraft, die das Kind aufwendet, um sich der Umklammerung von Ellas Schenkeln zu entziehen, wird größer. Ehe die Situation ein weiteres Mal eskaliert, läßt Ella ihre Tochter lieber aus.

»Bestimmt, in drei Wochen. Das ist dann deine große Zeit«, sagt Ella. Da ist Anna schon auf und davon, hinüber in ihr Zimmer. Den Rest des Nachmittags geht es dort weiter wie vor dem Essen, die ganze Zeit. Anna nennt die Wüstenrennmaus bei einem ellenlangen Phantasienamen und überschüttet das Tier mit wild ausschweifenden Erzählungen, wie es kommen kann, daß Kinder verwechselt, verloren oder weggegeben werden. Die Stimme des Mädchens hebt und senkt sich, ist manchmal sanft, dann wieder streng und immer eindringlich, als versuche Anna, die Glaubwürdigkeit ihrer Behauptungen an der Wüstenrennmaus zu erproben. Ella steht eine Zeitlang vor der Tür des Kinderzimmers, irgendwie stumpf vor Erschöpfung, wie nicht da, wie schon halb eingetauscht. Sie hört ihrer Tochter zu, bis ein glückliches Jauchzen des Mädchens sie aufschreckt. Daraufhin geht Ella ins Klo, sie sperrt sich dort ein und dreht den Wasserhahn auf, um nichts anderes zu hören. Gewöhnlich hilft das. So sitzt sie auf der geschlossenen Kloschüssel. Das Geräusch des Wassers hüllt sie ein. Das Gefühl von Einsamkeit legt sich langsam, und ihre Gedanken lösen sich in dem Plätschern irgendwann auf.

Es ist kurz nach halb acht. Ella ist mit Anna im Badezimmer und bohrt ihr mit dem Zeigefinger den Waschlappen in die Ohren, was Anna erstaunlich bereitwillig über sich ergehen läßt. Als es klingelt und Ella zur Tür geht, hat sie Hoffnung, daß Anna die abendliche Wäsche allein fortsetzen wird. Aber noch während Maria, Ellas um zwei Jahre ältere Schwester, aus ihren Schuhen schlüpft, sieht man Anna mit Keksen für die Maus scheu von der Küche in ihr Zimmer laufen.

»Sie sieht heute ein bißchen gedrückt aus«, sagt Maria.

Maria kommt vom Squashen, und obwohl in ihrer Stimme keinerlei Vorwurf mitschwingt, nur der übliche rauhe, atemlose Tonfall nach dem Sport, der jeden Satz nach einer Frage klingen läßt, verklemmt sich etwas in Ellas Gehirn, und sie erwidert, daß sie das Kind am liebsten zum Fenster hinausschmeißen würde. Anschließend gibt sie einen kurzen Überblick über die ruhmlose Situation: Daß Anna die Ankunft ihrer richtigen Mutter erwarte und sich in der Zwischenzeit mit der Gesellschaft einer Wüstenrennmaus tröste.

Maria zupft verlegen an ihrer Nase. Mit schweifendem Blick sagt sie, daß sie Annas Verhalten für eine Phase halte, die vorübergehen werde. Womit Maria weiß Gott nicht unrecht hat. Nur vergißt sie, daß bei Anna jede schwierige Phase von einer neuen abgelöst wird, jedes schwierige Alter vom nächsten.

Maria schenkt sich von dem Wein ein, den sie mitgebracht hat, eine schon offene Flasche mit wieder eingestöpseltem Korken.

»Erlaube ihr doch die Maus. Sei nicht so verbissen.«

»Ich verbissen? Ich bin nicht verbissen. Ich gebe Anna schon viel zu lange und viel zu oft nach, eigentlich in allem, wo mir der Gesetzgeber freie Hand läßt. Außerdem erinnere ich dich an den Hamster, den wir in unserer Kindheit hatten und von dem wir tagelang nicht gemerkt haben, daß er tot war. Oder besser: Von dem wir es tagelang nicht merken wollten, daß er tot war, wo doch sein Laufrad immer so gequietscht hat.«

»Deshalb dieses Trara?«

»Weil unser Interesse an dem Hamster nach einem Monat erschöpft war. Und weil Anna ganz nach ihrer Mutter schlägt, zum Glück, muß man sagen, denn wenn ich an ihren Vater denke — — mein Gott, sie kann auf Knien dankbar sein, daß sie mir wie aus dem Gesicht gespuckt ist. Da mag sie noch zehnmal das Gegenteil behaupten.«

Anna steckt den Kopf aus dem Kinderzimmer und ruft:

»Es schneit.«

Ella und Maria drehen sich zum großen Fenster und zur Balkontür, dort sieht man nur die Gardinen und die Nacht hinter dem Licht der Stehlampe. Mit der Maus auf der flachen Hand, mit fast übertrieben unschuldsvoller Miene, tappt Anna barfuß zu Maria. Maria sucht Ellas Blick, irgend etwas blitzt zwischen den Schwestern auf, das die Situation mildert, ein Stück gemeinsam verbrachter Kindheit mit Hamsterdressur und Gummihüpfen. Ella schüttelt den Kopf, andeutungsweise und doch fest genug, so daß Maria Bescheid weiß.

»Ich habe gehört, du willst eine neue Familie gründen«, sagt Maria zu ihrer Nichte und lacht.

Ella, verlegen, weil sie selbst unfähig ist, die Sache leichtzunehmen, geht hinaus in den Flur und telefoniert ein weiteres Mal mit der Ich-tue-es-nur-weil-ich-ihn-liebe-Klientin. Es ist ein kurzes Telefonat, es klingt, als würden flüsternd kodierte Botschaften ausgetauscht, schnell und effizient. Ella fährt mit dem Zeigefinger in die Windungen der Hörerschnur.

»Er wird dort sein«, sagt die Klientin.

»Ich werde alle Register ziehen.«

»Ja«, sagt die Klientin.

»Dann treffen wir uns morgen um halb neun am selben Ort.«

»Gut, morgen um halb neun am selben Ort.«

Ella drückt die Verbindungstaste, wählt neu und bestellt ein Taxi auf zwanzig nach acht. Sie geht ins Schlafzimmer, um sich etwas Nettes anzuziehen — was Männer halt so anspricht. Sie wechselt vom Schlafzimmer ins Bad. Dorthin kommt nach einiger Zeit auch Maria mit den Weingläsern und berichtet, daß sie Anna angewiesen habe, eine alte Zeitung in kleine Stücke zu zerreißen und in einen Schuhkarton zu geben, ein Mäusebett für die bevorstehende Nacht.

»Möchtest du dir nicht wenigstens einen BH anziehen?« fragt sie.

»Den Teufel werd ich.«

Ella nimmt einen Schluck vom Wein. Mit dem Lippenstift in der Hand wendet sie sich wieder dem Spiegel zu, hinter den einer der Zettel gesteckt ist, Anna nicht vergessen. Auch ein paar Postkarten helfen, den Spiegel zu rahmen, von Freunden aus dem Urlaub und von deren ausländischen Arbeitsplätzen. Ella betrachtet sich, umrahmt von Tankstellen, moderner Kunst und schroffen Felsen, die aus Reisfeldern ragen. Sie hat einen schmalen, gut proportionierten Hals, schöne Brüste, eine große, dunkelhaarige Frau, in deren Gesicht sich in letzter Zeit ein paar Muskeln verspannt haben. Aber das sieht man gerade nicht, weil sich Ella über Marias kleinbürgerliche Reflexe amüsiert. Im Winter ohne BH ausgehen und Männer für Geld fragen, ob sie mit einem schlafen wollen, wer hätte sich das träumen lassen. Ella mag den Gedanken, daß sie ihrer Schwester die Fähigkeit voraus hat, realistisch zu denken. Sie entsinnt sich, daß Maria bei anderer Gelegenheit gesagt hat, daß sie lieber losziehen und Kaugummiautomaten knacken würde, als das zu tun, was Ella tut.

Ella schiebt ihr Haar zurecht, verwuschelt es wieder, dann öffnet sie ihre Handtasche und wirft einen raschen Blick auf die Fotos, die sie am Vormittag erhalten hat. Ehe sie sich dem Mikrofon widmet und es am Träger der Handtasche befestigt, reicht sie die Fotos Maria. Anschließend überprüft sie das Aufnahmegerät.

»Wie sehe ich aus?« fragt sie in Richtung des Mikrofons, geht in den Flur, schlüpft in ihre Vinylimitation eines Ozelotmantels und wiederholt die Frage mit einem herausfordernden Blick zu Maria, die ihr gefolgt ist:

»Na, sag schon, wie sehe ich aus?«

Maria heftet einen strengen Blick auf Ella und folgt den Bewegungen ihrer Schwester mit dem fertigen Satz auf den Lippen:

»Wie eine, die mit jedem ins Bett springt.«

Ella spult das Band zurück und drückt die Stop-Taste, dann Wiedergabe, worauf Marias Einschätzung ein zweites Mal ertönt, in einem rauhen, gedrungenen Partikelgemisch, als hätte sich der Abrieb früherer Bänder auf Marias Stimme gelegt:

»Wie eine, die mit jedem ins Bett springt.«

Ella findet, daß Maria übertreibt; und nicht nur in diesem Punkt.

Während Maria die Fotos in ein besseres Licht hält, sagt sie:

»Das ist doch absurd, da kann einer fünf Kinder zu Hause haben und eine Frau und eine Ex-Frau und vier Schwiegereltern und Bankbeamter sein und Prostataprobleme haben — wenn er von dir gesagt bekommt, daß du von ihm gefickt werden willst, geht ihm doch automatisch der Verstand durch, es sei denn, er ist ein Waschlappen, mit dem niemand verheiratet sein will.«

Ella spult das Band zurück auf die Anfangsposition.

»Ich brauche das Geld, und ich mach mir nicht den ganzen Streß mit der Schminke, um dann moralische Bedenken zu haben.«

Jetzt tritt Anna in die Tür zwischen Wohnzimmer und Flur, ruhig, an einem Keks nagend, als ob das Gespräch zwischen Ella und Maria sie aus mangelnder Alternative interessiere. Woanders könnte sie es besser haben und glücklicher sein, denkt Ella, aber jeder könnte das, woanders glücklicher sein, hinter den sieben Bergen, ich auch. Die Maus klettert den rechten Ärmel von Annas Pyjama hoch. Maria redet weiter, sie tut ihr möglichstes, ihre Vorwürfe aus Rücksicht auf das Kind zu verklausulieren.

»Als drückte dir jemand den Tresorschlüssel in die Hand und sagte, die Alarmanlage ist abgestellt, das Sicherheitspersonal hat freibekommen und nachgezählt wird wieder in fünfundzwanzigtausend Jahren.«

Ella schenkt dem Gesagten keine besondere Beachtung mehr. In ihren Augen ist das Thema erschöpft, und wenn nicht erschöpft, so will sie nicht zynisch erscheinen, indem sie sagt, daß sie dem Paar zu einem handfesten Anlaß zur Trennung verhilft; ihrer Meinung nach kann eine Beziehung kaum das richtige sein, wenn einer dem anderen mißtraut.

Mit ein paar Anweisungen für Maria, die nicht nötig sind, aber Ellas Ansprüche auf das Erziehungsrecht bei Anna unterstreichen, schlüpft Ella in ihre Schuhe, sie deckt im Kinderzimmer das Bett auf und rauscht zur Wohnungstür.

»Jetzt machen wir es uns einmal so richtig gemütlich«, sagt Maria und geht vor Anna in die Knie, um sich bei dem Mädchen einen Kuß abzuholen.

Es schneit tatsächlich, Ella hat es nicht ganz geglaubt. Es schneit sehr leicht, und die Stadt erscheint so schön wie schon lange nicht mehr, obwohl der Schnee nur an wenigen Stellen liegenbleibt. Ella blickt durch die Windschutzscheibe des Taxis nach draußen, und während sie versucht, sich mit dem Gedanken anzufreunden, daß Anna eines Tages nicht mehr dasein wird, sind die heranfliegenden Flocken wie eine Spirale, die alles in sausender Geschwindigkeit verschlingt.

Früher ist Ella jede Woche zweimal in die Disco gefahren und hat ständig neue Leute kennengelernt, für die sie ihr Leben von heute auf morgen umgekrempelt hat. Mittlerweile ist sie davon meilenweit entfernt, sie sieht lediglich, wie den Männern, denen sie bei der Arbeit die Hand aufs Knie legt, etwas Ähnliches beinahe passiert. Mit wenigen Ausnahmen glauben alle, daß mit Ella eine neue Zeitrechnung beginnt, als gingen von jetzt an alle Wünsche und Vorsätze in Erfüllung, die sie als Jugendliche hatten: Daß sie mindestens einsfünfundachtzig groß und erfolgreich sein werden, und daß sie zu denen gehören, die ein Leben lang nie auskneifen.

Auch Ella hatte solche Vorstellungen, Mädchenvorstellungen: Daß sie bei einem Zirkus arbeiten und die ganze Welt bereisen wird, und daß sie tanzen geht, sooft sie will, die ganze Nacht hindurch. Nach einer solchen Nacht sehnt sie sich wieder, als sie das Aufnahmegerät einschaltet und das angegebene Lokal betritt. Wenn sie sich den Mann möglichst schnell kauft, erspart sie sich nicht nur sein blödes Gerede, sondern es bleiben ihr auch zwei Stunden Zeit, um noch woanders hinzugehen.

An solchen Abenden wird immer alles ein bißchen weniger real. Ella bewegt sich zwischen den Menschen wie zwischen Gespenstern, weil auch sie selbst sich hinter all den Lügen, die sie gebraucht, vage und verschwommen fühlt — ein wenig ist es, als gehe sie über schwankenden Moorboden. Die Männer erfahren nichts über sie, absolut nichts, weder den richtigen Vornamen noch das richtige Alter oder den Beruf, den sie erlernt hat, das Studium, bei dem sie über die Hälfte nicht hinausgekommen ist. Sie denkt sich ständig neue Konstellationen für ihr Leben aus, hauptsächlich zur eigenen Unterhaltung, der letzte Abend, bevor sie für ein Jahr nach Kanada gehe, oder daß sie für eine Wertpapier-Schulung in der Stadt sei und im Hotel wohne. »Passing by«, sagt sie gerne. Solche Verschiebungen gefallen ihr.

»Rück ein Stück«, fordert sie den Mann auf und zwängt sich, eine Hand auf seiner Schulter, zwischen zwei Barhockern an die Theke, wo sie einige Zeit warten muß, bis sie ihre Bestellung anbringt. Das Lokal ist brechend voll, mit Jubeltrubelheiterkeit, genau das richtige für eine Annäherung. Die Luft riecht öde, nach zu hoch gedrehtem Heizkörper und abgestandenen Ausdünstungen. Die aufgereihten Flaschen hinter der Theke stechen grell von der schwarz gestrichenen Wand ab.

Ella bezahlt ihren Wein, dann legt sie dem Mann die freie Hand auf den Unterarm.

»Gehen wir nach hinten, dort ist es ruhiger, ja?«

Sie sagt es mit sorgfältig kalkulierter Unverschämtheit, fängt den überraschten Blick des Mannes, und während er sie weiter direkt betrachtet, fügt sie beiläufig hinzu:

»Ich lerne halt gerne ein neues Gesicht kennen.«

Der Mann sieht ziemlich zahm aus, augenscheinlich ist er kein ganz so leichtfertiger Vogel, wie seine Frau glauben machen will. Er ist nicht unattraktiv, gepflegt, im gebügelten Hemd, er macht auf Ella den Eindruck, als führe er ein geregeltes Leben. Zögernd rutscht er von seinem Barhocker und folgt Ella ans untere Ende der Theke, wo nicht weniger Gedränge ist als anderswo, von wo man aber weder den Gang zur Toilette einsehen kann noch die Tür nach draußen.

Sie stößt mit dem Mann an und fragt ihn nach seinem Namen. Sie findet, sein Name ist ähnlich blöd wie der der meisten Männer, mit denen sie zu tun bekommt. Aber vielleicht bildet sie sich das lediglich ein, weil sie auf Männer im Moment ganz allgemein nicht sonderlich gut zu sprechen ist, Schwachköpfe einer wie der andere. Der Mann bietet ihr eine Zigarette an, sie kramt ihre eigenen hervor, und während sie sich die Tasche wieder so umhängt, daß das Mikrofon auf den Mann zeigt, läßt sie sich Feuer geben.

»Wie gut das tut«, sagt sie beim ersten Zug und lacht dabei ein einigermaßen überzeugendes Lachen. Sie ist mit den Abläufen seit zwei Jahren vertraut, spürt aber nach wie vor eine irritierende, nervöse Spannung, die sich erst legt, wenn sie einen Mann fragt, ob er mit ihr schlafen will. Da wird sie ganz ruhig und ihr Bewußtsein ganz klar, so klar wie sonst nie.

»Bist du verheiratet?« fragt sie.

Der Mann schaut auf und tut die Frage mit einer wegwerfenden Handbewegung ab. Damit kann Ella nichts anfangen. Sie hakt nach, bis der Mann sagt:

»Gott behüte, ich werde doch nicht ein Leben lang die Revolution predigen und dann heiraten. Ich könnte diese ständige Bevormundung nicht ertragen.«