Alles über Sally - Arno Geiger - E-Book

Alles über Sally E-Book

Arno Geiger

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Beschreibung

Alfred und Sally sind schon reichlich lange verheiratet. Das Leben geht seinen Gang, allzu ruhig, wenn man Sally fragt. Als Einbrecher ihr Vorstadthaus in Wien heimsuchen, ist plötzlich nicht nur die häusliche Ordnung dahin: In einem Anfall von trotzigem Lebenshunger beginnt Sally ein Verhältnis mit Alfreds bestem Freund. Und Alfred stellt sich endlich die entscheidende Frage: Was weiß ich von dieser Frau, nach dreißig gemeinsamen Jahren? Arno Geiger, der international gefeierte Buchpreisträger aus Österreich, schreibt noch einmal den großen Roman vom Liebesverrat. Eine Geschichte von Ehe und Liebe in unserer Zeit.

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Arno Geiger

Alles über Sally

Roman

Carl Hanser Verlag

eBook ISBN 978-3-446-23528-1

© Carl Hanser Verlag München 2010

Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch

www.hanser-literaturverlage.de

www.arno-geiger.de

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt digital, Hamburg

Man macht einen Roman aus der Sünde,

so wie einen Tisch aus Holz.

                                              Julien Green

1

Hinter einem Bitte-nicht-stören-Schild steht Sally am Fenster, Alfred liegt auf dem Bett, er blickt vom Tagebuch auf, in das er seine morgendlichen Notate schreibt. Träge schaut er zum Fernseher, wo die Nachrichten nichts Neues bringen, seit unzähligen Jahren dieselben Ereignisse, mit Variationen nur bei den Zwischennummern – über die wird aber nicht berichtet.

Hart geführter Wahlkampf um die

Präsidentschaft der Vereinigten Staaten.

WANDERURLAUB EINES GEWISSEN ALFRED

UND EINER GEWISSEN SALLY.

BLUTIGE SCHLACHT IN AFGHANISTAN.

Auch die Nachricht, dass mancherorts noch immer gesteinigt wird, ist nichts Neues. Sally dreht sich ebenfalls hin, sie findet es irritierend, wie schlecht das Gerät ist – Bild und Ton, als würde man sich Bilder am Grund eines Eimers mit Dreckwasser ansehen. Die dumpf klingende Stimme des Nachrichtensprechers teilt mit, dass vor allem Frauen betroffen seien, wegen Ehebruchs, was an den meisten Orten der Welt kein Vergehen sei. Ein verwackeltes Video geistert über den Bildschirm. Eine weiß verschleierte Frau, die bis unter die Brust eingegraben ist, wird von Zeugen und Schaulustigen mit Steinen beworfen, eine Stimme sagt, dass die Steine nicht zu groß und nicht zu klein sein dürften, nach den Maßstäben der dortigen Theologie. Sally stellt sich eine staubige Welt vor, und wie das ist, wenn der erste Stein den Kopf trifft, und während das Gehirn noch zittert, gleich der nächste, und die Schmerzen ganz durcheinander, welcher Schmerz wo? Von der Vorstellung wird ihr beinahe schlecht, und dass die Leute auch von hinten werfen, das ist ungeheuerlich, sie kann’s beim besten Willen nicht verstehen, ihre Brauen sind ganz finster gerückt vor Zorn.

»Es ist schon unheimlich, was für Spinnweben in manchen Köpfen herumwehen«, sagt sie.

Alfred biegt sich seinem Tagebuch entgegen. Ohne aufzublicken, murmelt er »Aha«, »Ja« und »Uuhh«, ganz in seinem schneckenhaften Element, versunken in die Vermessung seiner kleinen Erfolge und Niederlagen. Manchmal kratzt er sich mit dem hinteren Ende des Tintenrollers an der Schläfe, als versuche er, in der Ereignislosigkeit des Vortages fündig zu werden, dann kritzelt er wieder drauflos, als wäre in den Stift ein Dämon gefahren.

Sally findet es mit einem Mal anstrengend, wie Alfred auf ältliche Weise im Bett sitzt, ein überzeugender Beitrag zur Trostlosigkeit dieses Zimmers, Alfred, in seiner weichen Korpulenz, zwei Kissen im Rücken. Während des Schuljahres wäre Sally froh über die Ruhe, die ihr Alfreds Faulenzen lässt, aber jetzt, in den Ferien, sollte man meinen, ist es selbst für einen Mann in Alfreds Alter eine unnatürliche Sache, so viel herumzuliegen. Sally spürt einen Stich des Alarms, gleichzeitig hat sie Alfred vor Augen, sein träges Gehen, gestern, als er mit Hängeschultern über das Hochmoor stapfte, den kleinen Rucksack nach Schulbubenart auf dem Rücken, im vorwurfsvollen Zwiegespräch mit seinen Schuhen, die längst nicht mehr neu sind, aber offenbar nicht alt genug, um ihm sympathisch zu sein. Als sie am Abend in der Pension die Treppe hochstiegen, knickten ihm die Beine vor Müdigkeit fast ein. Er duschte, fiel aufs Bett, und während er fernsah, aß er mehrere Sandwichs und eine ganze Tafel Schokolade. Anschließend schlief er zehn Stunden, vergaß aber selbst im Tiefschlaf nicht, fordernd und verlangend zu sein. Die halbe Nacht grabschte er nach Sallys Hüften oder ihrem Hintern, die meiste Zeit lag er auf ihr. Sie selber wachte einige Male in Schweiß gebadet auf, so dass sie sich jetzt fragt: Was ist das? Ist es Alfred oder seelische Armut oder eine Krankheit? Sind es die Hormone oder ist es Angst?

Während Sally mit gewölbter Oberlippe Luft ausstößt, streicht sie sich über das morgendlich gealterte Gesicht, dann legt sie die Hand wieder ans Fensterbrett, den Ballen an der Kante, wo der Lack abblättert, die Finger gespreizt. Sie blickt in eine Straße mit Arbeiterwohnhäusern und dahinter auf den bauchigen Kamin einer ehemaligen Baumwollmühle und ein Stück weiter, hinter dem Kamin, auf weitere Kamine, auf der anderen Seite des Flusses und des Kanals. Von dort dringt Straßenmusik zu ihr her. Sie denkt, wenn sie wegen Alfreds Beinen nichts Großes unternehmen können, so doch wenigstens den Spaziergang hinauf nach Heptonstall, wo sie das Grab von Sylvia Plath vor fünfzehn Jahren nicht gefunden haben. Es wäre schade um das schöne Wetter, das draußen verlorengeht. Sally schließt die Augen, ein leichter Schauer überläuft sie, es kommt ihr vor, als werde die Sommerhitze das große Fenster im nächsten Moment eindrücken.

»Was sind das für Blumen auf den Tapeten?« fragt Alfred.

»Hyazinthen«, sagt Sally.

Sogleich kehrt Alfred zu seiner chronischen und chronistischen Tätigkeit zurück, schreibt murmelnd einige Sätze unter dem Datum des aktuellen Tages, er ist bemüht, dem vorangegangenen Tag Zusammenhang und Bedeutung zu geben. Er rekapituliert die Merkwürdigkeiten, denen er in der Eile seines Lebensgeschäfts nicht ausreichend Aufmerksamkeit widmen konnte, er erwähnt, dass Sally mitten im Hochmoor stehen geblieben ist und gesagt hat:

»In den Ferien wird alles ein bisschen weniger real, sogar die Zeit. Sogar mein Mann.«

Alfred kritzelt, setzt ab. Jetzt richtet er den Blick auf Sally, die ihm den Rücken kehrt, ihre Körperhaltung, die Art, wie sie am Fenster steht, mit nichts als einem alten Hemd von ihm, das gefällt ihm. Er findet, sie ist sehr real, sehr schön, trotz der drei Kinder, die sie geboren hat, sie besitzt noch immer einen Körper, auf den sie stolz sein kann, der Rücken gerade, ihr Hintern nicht zu groß. Nur ihre Schenkel haben aufgehört, beeindruckend zu sein, die allzu eiligen Schenkel, die einen Schritt voraus sind, zu üppig und allzu strukturiert von Dellen und kleinen Adern. In den seitlichen Hemdschlitzen locken sie dennoch, diese Alfred seit dreißig Jahren vertrauten Flanken, er wäre nicht abgeneigt, jetzt mit seiner Frau zu schlafen, das käme auch seinen Aufzeichnungen zugute, seine Ansicht ist, es wäre absolut zuträglich, wenn darin mehr Sex Erwähnung fände.

Man merkt, wir sind beide über fünfzig, aber Sally eindeutig auf der guten Seite des Jahrzehnts, ich schon eher auf der schlechten.

Nachdem er diesen Satz nochmals gelesen hat, berührt er verstohlen seine Genitalien, lockert sie, da seine Hoden an den Schenkeln im Schweiß liegen. Weil ihm zu heiß ist, strampelt er die Decke von den Beinen. Sally schaut herüber, sie sieht, dass Alfred den Kompressionsstrumpf am rechten Unterschenkel auch in der Nacht getragen hat, er präsentiert ihr diese Nummer kombiniert mit einer weißen Unterhose, die Fußsohlen geradeaus auf Sally gerichtet, rechts der grau verschmutzte, ursprünglich hautfarbene Stoff, links die nackte, verhornte Haut des breiten Kuratorenfußes. Obwohl es immer etwas Anrührendes hat, ein verbundenes Bein zu sehen, dreht sich Sally frontal zu Alfred hin, mit dem Hintern am Fensterbrett, in herausfordernder Körperhaltung, die Arme verschränkt.

»So sieht kein heimlicher Futurist aus«, sagt sie.

Alfreds Miene spannt sich und erschlafft gleich wieder. Auch solche Pfeile von Seiten seiner Frau sind für ihn nichts Neues. Er lächelt gutmütig, in seiner triefäugigen Art, nimmt eine andere Stellung ein, als ob er unbequem sitze, verdreht die Augen und bringt die Beine wieder in die vorherige Position. Er presst die Lippen aufeinander, und während die Bettfedern ein singendes und zuletzt zischelndes Geräusch hören lassen, denkt er, dass es hilfreich wäre, wenn ihm jemand sagen würde, warum die Menschen in seiner Gegenwart so angriffslustig sind.

»Was ist mit mir? Wieso denn?« fragt er.

»Weil du schon wieder den Strumpf trägst, plus Unterhose.«

In einem versonnenen Moment kratzt er sich mit dem Tintenroller in der linken Achselhöhle. Der Ausdruck seines Gesichts zeigt nicht Verdruss, sondern Nachdenklichkeit. Sally kennt diesen Ausdruck, da haben wir ihn, den Stempel des Tiefsinns, die Gedanken wichtig und schwer, und auch der Mann wichtig und schwer, altmodisch und bequem wie die Queen, ständig begleitet von seinen Kammerdienern: Ritus und Wiederholung.

Sie sagt:

»Wenn es stimmt, dass es keine Thrombose war, ist es ein Blödsinn, dass du den Strumpf auch nachts trägst und wenn du die ganze Zeit vor dem Fernseher liegst.«

»Es ist einfach so«, versucht er zu erklären, »dass ich meinen Beinen gestern zu viel zugemutet habe.«

»Du hast den Strumpf vorgestern getragen und vorvorgestern und am Tag davor, und so sieht er auch aus.«

Vielleicht meint sie es nett, denkt er. Gerade eine Lehrerin hat manchmal seltsame Motive, wenn sie kritisiert, besonders eine mit rotblonden Haaren. Erst vor wenigen Tagen hat sie gesagt, der einfache Teil liegt immer hinter dir, der schwierige immer vor dir.

Wieder schaut Alfred auf seine Frau, auf diese früher so ungezügelte, heute ernsthafte Schönheit, er befürchtet, eheliche Berührungen seinerseits würden im Moment nicht erwidert. Seine Hände zittern, es durchläuft ihn, dann kommt ihm wieder sein Bein in den Sinn, sein besonderer Schützling, der Anblick macht ihn so melancholisch, dass er den Kopf schüttelt, als verblüffe der Strumpf auch ihn, diese künstliche, für keine Gänsehaut zu gewinnende Außenseite.

»Der Strumpf ist angenehm«, sagt er kleinlaut. »Außerdem bin ich es leid, die Krampfadern zu sehen.«

»Und ich bin es leid, den Strumpf zu sehen«, gibt Sally zurück. »Er bedeutet alt und krank und irritiert mich. Der Besuch bei Mama hat mir gereicht. Mein Bedarf an körperlichem Verfall ist für den Rest der Ferien gedeckt.«

»Wie du redest!« empört sich Alfred. »Man fühlt sich wie ein Invalide.«

»Ich fühl’ mich wie neben einem Invaliden«, sagt sie.

»Wäre das ein Problem?«

»Nicht wenn du tatsächlich invalid wärst«, gibt sie zur Antwort.

Alfred philosophiert darüber, dass im Englischen das Wort »invalid« auf der einen Seite den Versehrten meint, andererseits wertlos bedeutet, minderwertig. Da Sally diejenige ist, die Englisch studiert hat, lässt sie ihn reden. Und während Alfred so vor sich hin schwafelt, versucht sie, alle Erinnerungen an den kürzlichen Besuch in dem Pflegeheim bei London, in dem ihre Mutter untergebracht ist, zu verbannen, das hervorstehende Brustbein, die Medikamentenschachteln, die lähmende Atmosphäre. Eindringlich sagt sie sich, ich bin in den Ferien, ich brauche meine Ferien zur Erholung, ich will Dinge erleben, die mich fürs kommende Schuljahr aufbauen.

Durch das einfache, in sechzehn Segmente unterteilte Fenster dringen Stimmen. Sally ist dankbar für die Ablenkung und schaut hinaus. Auf der Straße kommen drei junge Frauen heran, optisch sind sie auf den ersten Blick verschieden, doch mit demselben Gang und mit demselben trüben Ausdruck in den Gesichtern, wie Mondkälber. Die Frau in der Mitte trägt in reflektierenden Lackfarben den Union Jack auf der Brust. Sally fragt sich, was sie über Engländerinnen weiß, nicht viel, obwohl sie selber zur Hälfte Engländerin ist. Pünktlich sollen sie sein, das bezweifelt sie, und kalt wird ihnen nie, sie stehen auch im Winter in knapper Kleidung und ohne Strumpfhosen vor Tanzlokalen Schlange. Und angeblich weinen auf der Insel die Männer mehr als die Frauen, so gesehen ist an Alfred ein Engländer verlorengegangen, dafür spricht auch seine Neigung, im Zweifelsfall lieber etwas Originelles zu sagen als etwas Kluges.

»Eigentlich korrespondieren meine Krampfadern ganz hübsch mit den Tapetenmotiven«, sagt er.

»Ein wenig überladen«, entgegnet Sally spöttisch. »Du solltest sie dir operieren lassen.«

Alfred gibt keine Antwort, er ist in die Betrachtung der Mysterien versunken, die rechts vom Strumpf verdeckt, am linken Bein jedoch sichtbar sind, wenn auch weniger ausgeprägt. Es ist, als wolle er seinen Varizen sagen: Seht her, was für einen Ärger ihr mir macht! So sinnlos! – Er kratzt sich dort, wo der einschnürende Bund des Strumpfes ansetzt. Mit den Fingerspitzen ertastet er Blutbahnen, die reliefartig aufgeworfen sind, ausgebuchtet, urwüchsige Landschaften, wo ein strenges Kanalwesen zweckmäßiger wäre zum Transport der trägen, trübroten Masse Flüssigkeit.

»Du sollst dich operieren lassen, hörst du!«

»Es sind doch nur Krampfäderchen«, gibt er zur Antwort.

Dann zieht er seine zottigen Brauen bedauernd in die Höhe, rums, fließt das Blut, so stellt er es sich vor, von einem Schlagloch ins andere, ein Wunder, dass sein Blut nicht schäumt vor lauter Holterdiepolter.

Um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben, sagt er:

»Vor dreihundert Jahren hat man Transfusionen zum Ausgleich zwischen Eheleuten empfohlen, dem melancholischen Mann hat man Blut der lebensfrohen Gattin verabreicht, nur dass die Patienten die Behandlung selten überlebt haben, das erklärt, warum die Prozedur nie recht in Mode gekommen ist. Erst um 1900 hat Landsteiner in Wien die Blutgruppen entdeckt.«

Diese Art von sinnlosem Wissen flößt Alfred Vertrauen ein. Angeregt widmet er sich wieder seinem Tagebuch, um ausschweifend und langatmig festzuhalten, was er gerade gesagt hat. Er ist von der Sache völlig absorbiert, vergisst nicht, das Kälberblut zu erwähnen, das bei rabiaten Menschen zum Einsatz kam, er teilt seine eigene und Sallys Blutgruppe mit, verweilt bei allerlei Assoziationen und lacht in sich hinein, dass die geräumige Liegestatt quietscht. Für einige Momente ist er glücklich, ganz in seinem Element, mit dem quasselnden Fernseher in der Nähe, wo die nächsten Nachrichten mit der nächsten Steinigung nicht weit sein können, im Einverständnis sogar mit den Tapetenblumen, von denen der menschliche Geist doch eigentlich, wenn man Sally fragt, nur eine begrenzte Dosis ertragen kann. Sally ist jetzt eindeutig verärgert, Alfreds seltsame Mischung aus Ichbezogenheit und Behaglichkeit bringt sie so in Rage, dass sie fast ein bisschen gelb unter den Augen wird. Was soll ich mit so einem Mann anfangen? Mit einem Mann, der das Leben fürchtet und ein lebender Beweis dafür ist, dass allzu viel Museumsluft träge und weltfremd macht.

Um Alfred ein wenig zu reizen, sagt sie, dass er offensichtlich gerne bemitleidet werde und den Strumpf demonstrativ trage, um zu zeigen, wie arm er sei.

»Zumindest willst du dich selber bemitleiden«, fügt sie nach einer Nachdenkpause hinzu. »Ich finde es abstoßend, wie du jetzt ausschaust.«

Mit gleichsam schuldbewusster Verwirrtheit stiert Alfred den Strumpf an, vielleicht hat Sally recht, vielleicht liebt er die Verletzlichkeit, die er empfindet, wenn er den Strumpf trägt, vielleicht braucht er diese sichtbare Versehrtheit, damit er sich selber mag. Dennoch legt er seinen Stift in das Tagebuch, zwängt Zeige- und Mittelfinger in den Bund des Strumpfs und schiebt ihn langsam nach unten. Schon nach den ersten Zentimetern kommen die verdrechselten und verknoteten Ranken zum Vorschein, die mit dem Nachschießen des Blutes ihren teils hellblauen, teils lilafarbenen Glanz entfalten. Er denkt über diese Erscheinungen nach. Er sieht die Blumen auf den Tapeten des Zimmers und auf den Sesselbezügen, ihm ist seltsam zumute, er hat Angst, auch die Tapetenblumen könnten weiter wachsen. Mit einem letzten Ruck zieht er den Strumpf vom Bein und wirft ihn neben das Bett.

»Abstoßend? Mein Gott, wie schroff du bist, Sally!«

Sie zuckt die Achseln.

»Ganz so meine ich es nicht.«

»Dann ist ja gut«, sagt er.

Sie sind lange genug zusammen, dreißig Jahre, und weil diese dreißig Jahre in jedem Satz nachhallen, weiß Alfred, dass er in Sallys Antwort mit etwas gutem Willen eine Entschuldigung erkennen darf. Sie regt sich zu sehr auf, sie ist ein wenig aufbrausend, früher haben es die Kinder zu spüren bekommen. Seine Meinung ist, Sally will einfach zu viel, vielleicht hängt das mit der Art zusammen, wie sie aufgewachsen ist, ohne Vater, bei der Großmutter und bei einem Großvater, der ein bisschen plemplem war.

»Kannst du mich nicht in Ruhe lassen, Sally?« fragt er. »Wenn’s unbedingt sein muss, nagel mich ans Kreuz, wenn wir wieder zu Hause sind.«

Sie hat sich schon wieder weggedreht. Verlegen steht sie, verlegen sitzt er, sie schauen hierhin und dorthin, er beobachtet sie, sie lässt sich von der Vormittagssonne anscheinen und vertreibt sich die Zeit, indem sie verdrossen mit den Fingern Linien ins Fenster zeichnet. Doch als die Kennmelodie der Nachrichten ertönt, ruckt sie auf. Sie schlägt nochmals vor, gemeinsam nach Heptonstall zu gehen und das Grab von Sylvia Plath zu suchen. Aber Alfred winkt ab, er wolle sich schonen.

»Dann geh ich halt allein.«

Sie tappt zum Waschbecken, und nachdem sie ihr Aussehen im Spiegel geprüft hat, zieht sie das Hemd über den Kopf und beginnt sich zu schminken, flüchtig, ungenau, von einem Gefühl nervöser Erwartung getrieben, das sie nicht zuordnen kann. Alfred schaut ihr zu, es kommt ihm noch immer wie ein Wunder vor, dass er sie in diesen alltäglichen Momenten nackt sehen darf, ohne ihr Misstrauen zu erregen. Sie steht vor ihm, nur mit einer Unterhose bekleidet, sie macht Anstalten, sich den BH anzuziehen, er bewundert ihre Brüste mit den dichter werdenden Falten in der Grube, das kommt ihm alles so arglos vor, während seine Gedanken nach wie vor die gleichen sind, die er schon als Bub gehabt hat und von denen seine Mutter und der Pfarrer gesagt haben, dass sie schmutzig seien.

Schon gesehene Bilder von Krisenherden und von wichtigem Geschehen auf dem Bildschirm. Sally zieht sich eine Hose an, vertraute Vorgänge, vertraute Bewegungen, vertraute Anblicke, die fremde und staubige Welt der Steinigung. Sally wirft einige Dinge in ihre Umhängetasche, schlüpft in leichte Schuhe, dann geht sie Richtung Tür, Richtung Bett, wo der Strumpf am Boden liegt, eine leere Hülle, leer wie ein Totenkopf, hohl wie ein Knochen ohne Mark. Sally passiert die Stelle zögernd, und weil sie weiß, wie schwer es Alfred fällt, mit ihr in Unfrieden zu sein, tut sie es mit ausgestrecktem Arm, damit er den Streit per Handschlag beenden kann. Zum wievielten Mal in all den Jahren? Alfred klapst ihre Hand ab, gleichzeitig fasst er danach, zieht sie ein wenig zu sich heran und küsst die Innenseite, Sallys salzige Lebenslinie.

»Überall auf der Welt gibt es Leute wie uns«, sagt er seufzend.

»Hoffentlich nicht!« erwidert sie.

Ihre lockigen Haare bewegen sich, als sie lachend den Kopf schüttelt. Sie zieht die Hand zurück, und nachdem sie die aus weißem und schwarzem Plastik gepresste Sonnenbrille auf ihre Nase geschoben hat, geht sie davon, eine Frau, eine sportliche Frau, attraktiv, aber doch verschwommen, diffus zwischen hübsch und eindeutig nicht mehr jung, auf rätselhafte Weise unscharf. Alfred hört ihre Schritte eine halbe Minute lang im Flur und auf der Treppe und nach einer kurzen Pause draußen auf dem Plattenweg bis zum Gartentor zwischen den Linden. Die Fallklinke des Gartentors klappert mehrmals. Mit einem Ausdruck der Verblüffung bleibt Alfred zurück.

2

Sally ist immer wieder beeindruckt vom Wechsel der Offen- und Geschlossen-Perioden in ihrem Leben. Es scheint Zeiten zu geben, in denen das Glück keine größere Anstrengung verlangt als das Aufdrücken einer angelehnten Tür, dann wieder geht alles, was sie anfängt, schief, und sie könnte genauso gut Winterschlaf halten, bis das Schicksal jemand anderen gefunden hat, den es zum Narren halten kann. Die zweite Hälfte des vergangenen Schuljahres war eine Geschlossen-Periode, überall Wiederholungen und Stagnation. Überraschungen gab es nur, wenn ihr etwas nach den Fersen schnappte. Manchmal hatte sie ihre Schülerinnen und Schüler so satt, dass sie in den Gesichtern nur einfältige oder impertinente Gedanken las. Das Gefühl, sie müsse diese jungen Menschen nicht nur für das lieben, was sie sind, sondern auch für das, was sie im besten Fall sein werden, war manchmal tagelang weg. Sally empfand sich als unzulänglich und bloßgestellt, aus dem Wunsch, es besser machen zu wollen, entstand ein Gefühl von Zwang, und aus dem Gefühl von Zwang entstanden Wut und Erschöpfung. Im April wurde ein Kollege wegen des Vorwurfs, sich an eine Schülerin herangemacht zu haben, suspendiert. Sally musste einen Teil seiner Stunden übernehmen, und von da an bediente sie sich regelmäßig unerlaubter Mittel, um einschlafen zu können. Trotzdem zeigte ihr Energiepegel im Mai keine Reserven mehr an, und erst im Juni gab es wieder Lichtblicke, das war, als die großen Prüfungen losgingen. Während dieser Zeit musste Sally stundenlang Aufsicht halten. Die großen Räume zu durchschreiten, in denen die Prüfungen stattfinden, zwischen den langen Reihen aus Bänken, eine hinter der andern, stellt eine anspruchslose Aufgabe dar, bei der die einzige Verpflichtung darin besteht, zu gewährleisten, dass die Regeln der Prüfungskommission nicht verletzt werden. Wenn Sally sich aus der Langeweile der Situation in ihren Gedankenfundus zurückzog, konnte es passieren, dass ihr Körper über die knarrenden Holzböden des Prüfungssaales schritt, während ihre Vorstellung eine Nilbrücke in Kairo überquerte. In den ersten Jahren ihrer Lehrerkarriere hatte ihr geistiger Abbau gegen Ende des Schuljahres dazu geführt, dass sie während der Aufsichten im Kopf Listen erstellte von weiblichen Nobelpreisträgern, von Redewendungen mit Körperteilen oder von Liebhabern, die schon anfingen, sich in den Nebel der Zeit zurückzuziehen. Was sich in all den Jahren aber nie geändert hat, war, dass die Trockenheit des Moments immer wieder aufgelockert wurde von Händen, die hochgingen zum beinahe sicheren Zeichen, dass frisches Schreibpapier benötigt wird. Dann nahm Sally den Weg durch den Prüfungssaal in Angriff, im Wettbewerb mit einem ähnlich gelangweilten Kollegen oder einer Kollegin, für die eine Papierzulieferung ebenfalls eine willkommene Abwechslung bedeutete angesichts der öden und gestohlenen Zeit. Und manchmal, ohne direkte Verabredung, in einer unausgesprochenen Abmachung, wurde ein regelrechter Wettkampf daraus, unter Aufwendung aller erdenklichen Tricks – wer mit dem Papier schneller zur Stelle ist. Bei Begegnungen in den Bankreihen flüsterten sie einander leise »8 zu 5« oder sonst einen Zwischenstand zu, das alles, um die Langeweile des Moments zu lindern.

In diesem Jahr hatte Sally während der Prüfungsaufsichten ihre Konkurrenten fünf von sieben Mal geschlagen und sich auch dank dieser kleinen Erfolge aufrechten Gangs zu den Ferien hingestöhnt. Nach langen Wochen hatte sie endlich wieder geahnt, was es heißt, im Herzen zu wissen, das Glück ist mit dir.

Ihr erster Gedanke, nachdem der Anruf gekommen war, war deshalb auch, die Offen-Periode ist wieder vorbei. Sie dachte: Jetzt landen auch diese Ferien auf dem Friedhof.

»Bei euch ist eingebrochen worden«, sagte Nadja, die Freundin, die sich bereit erklärt hatte, Sallys Schildkröten zu versorgen und die Blumen zu gießen. Nadja überbrachte die Nachricht in ihrer direkten Art, zu der Erik, ihr Mann, nicht fähig gewesen wäre; vermutlich war die Pflicht, anzurufen, deshalb auf sie gefallen.

Und Sally: Als wäre sie mitten in der Bewegung verwandelt worden, eben noch ein Augenblick ohne Bedrückung, das vergangene Schuljahr und Wien und die Familie und Alfred schienen von ihr gewichen, plötzlich fegte ein Windzug heran, von dem sie Gänsehaut bekam.

Verwirrt, auf der Basis der wenigen Details, die Nadja berichtet hatte, beschloss Sally, sofort nach Hause zu fahren. Die Ironie der Ereignisse war, dass Alfred sich zum ersten Mal in fünfzehn Jahren England-Ferien allein von der Szene abgesetzt hatte, er war in der Früh nach Leeds gefahren, um ein Kricket-Match zu besuchen. Obwohl Sally die Nachricht mittags erhalten hatte und für das Kofferpacken nur wenige Minuten brauchte, musste sie am Bahnhof bis halb vier auf Alfreds Rückkehr warten. Es fehlte eine Richtung für die herausdrängende Energie, Sally saß fest, am liebsten wäre sie ohne Alfred abgefahren, nur um der peinigenden Tatenlosigkeit zu entkommen. Alles, was sie tun konnte, war, Nadja anzurufen und zu sagen, dass sie und Alfred die Rückreise schnellstmöglich in Angriff nehmen würden, Nadja solle im Haus bleiben, bis sie zurück seien. Dazu zwanghaft und selbstzerfleischend Fragen nach Dingen, die gestohlen oder kaputt gemacht sein könnten.

»Sind die Fotoalben noch da?«

»Wer soll sich für eure Fotoalben interessieren?«

»Weiß ich, was das für Leute sind, die einbrechen gehen?«

»In diesem Punkt kann ich dich absolut beruhigen.«

Auf gepackten Koffern telefonierte Sally mit den Kindern. Gustav erreichte sie beim ersten Versuch, ihm musste gesagt werden, dass sein Computer und die Computerspiele, die er in den vergangenen Jahren von seinem eigenen Geld gekauft hatte, weg sind, nur der Anfang für ihn, zur Probe, zur Einstimmung. Den Mädchen redete sie aufs Band mit der Bitte um Rückruf, von Alice kein Zeichen, Emma hingegen meldete sich nach wenigen Minuten, manche Dinge ändern sich nie. Als heraus war, dass es nichts Gutes zu berichten gab und das Cello noch da war, aber zerschlagen, brach Emma in Tränen aus. Sally steuerte einige Seufzer und Geräusche der Beruhigung bei, zuletzt sagte sie, das einzige, was zähle, sei die Familie und dass sie wunderbare Kinder seien. Sally meinte es so, wie sie es sagte, solche Zauberformeln beschützen trotzdem nur ungenügend vor den Attacken, die man erleidet, wenn Dinge verlorengehen, die man liebt.

Dann stieg Alfred aus dem Zug. Er sah verträumt aus, mit einem stillen, bubenhaften Gesichtsausdruck, er schaute erst auf, nachdem Sally seinen Namen zum zweiten Mal gerufen hatte.

Er stutzte, zögerte und kam ängstlich heran.

»Bei uns ist eingebrochen worden«, sagte sie.

Das Bubenhafte verstärkte sich im ersten Schreck. Und als sie bereits am Flughafen waren, kam Alfred auf diesen Moment zurück, mit einer Stimme, in der sich Niedergeschlagenheit und Verstörung mischten.

»Ich werde immer wissen, wie es war, als ich dich auf den Koffern sitzen gesehen habe. Ich werde es immer wissen, auch ohne dass ich es mir aufschreibe.«

Sie gingen vom Check-in durch die Passkontrolle und von dort Richtung Sicherheitsschleuse. Alfred hatte im Gesicht den Ausdruck von jemandem, der sich abmüht, die nächsten Minuten zu überstehen. Das harte Neonlicht unterstrich die Fahlheit seiner Haut, seine Haltung war gebeugt, als würde sein Körper vor Ungeduld schmerzen oder sich krümmen unter den Anfällen seiner blühenden Phantasie. Alle Augenblicke schaute er auf die Uhr, Alfredo, der Leider-nein-Futurist, er reckte den Kopf nach vorn, gleichzeitig gab er seinem Handgepäck Fußtritte und folgte so der schrittweisen Bewegung, mit der die Masse der Passagiere gegen die Sicherheitsschleuse vorrückte. Als bei einem Hinweisschild, auf dem das Mitführen von Flüssigkeiten untersagt wurde, das Ende der Schlange erreicht war, hatte Alfred bereits seinen Gürtel ausgezogen und alle metallenen Gegenstände in die Taschen seiner Jacke gestopft. Ein dunkelhäutiger Wachmann wies die Fluggäste entsprechend ihres Geschlechts verschiedenen Schaltern zu. Sally durchschritt die Schranke, ein Signal ertönte, sie wurde gründlich abgetastet. Trotzdem war sie schneller fertig als Alfred. Er wartete neben dem Förderband, Tasche und Jacke hatte er bereits wieder an sich genommen, aber seine Wanderschuhe mussten noch durchleuchtet werden. Er stand unbeholfen da, Sally sah, dass er den Gummistrumpf wieder trug, den Strumpf, der ihr vor zwei Tagen noch als Sinnbild der Urlaubssabotage erschienen war. Jetzt empfand sie bei seinem Anblick ein leises Gefühl der Zärtlichkeit, dieser nutzlose Schutz für ein Bein auf dem unangenehmen Heimweg.

»Ich hoffe immer noch, dass es nur ein Spuk ist«, sagte Alfred erschöpft. Er nahm die Schuhe vom Förderband, schlüpfte hinein. Er dachte einen Augenblick nach, ehe er hinzufügte:

»Ich bin ernstlich gewarnt.«

Dann trottete er hinter Sally zum Gate. Sie ergatterten zwei freie Plätze, gelochte Schalen, die auf einen Balken aus Stahl geschraubt waren. Neben Alfreds Sitz befand sich eine freie Ablagefläche, auf die er seine Reisetasche stellte. Er legte den Arm um die Tasche und drückte sie, wie um sich zu vergewissern, dass sie noch da war. Von Zeit zu Zeit brummte er mürrische Einsilber.

Nach einer Weile nahm er den Arm von der Tasche wieder weg.

»Wie seltsam, dass ich nur lauter ersetzbare Dinge mit mir herumschleppe«, sagte er.

Die ein wenig als Frage geäußerte Feststellung machte Sally betroffen. Sie dachte an das, was sie beide dargestellt hatten, als sie jung gewesen waren. Sie war Alfred gegenüber so beschützerisch gewesen, und das keineswegs, weil sie von Natur aus beschützerisch war.

»Nimm’s dir nicht zu sehr zu Herzen«, sagte sie jetzt.

»Na, nicht?« fragte er.

Seine Züge durchliefen eine Reihe rascher Verwandlungen, von Gereiztheit zu Verdrossenheit zu Qual. Zu viele Dinge, von denen er befürchtete, sie verloren zu haben, drängten sich von den Rändern seiner Ängste ins Zentrum. Er fühlte sich vollkommen einsam, und diese Einsamkeit wurde nicht gelindert, als Sally sagte:

»Jetzt brauche ich einen Kaffee.«

Sie bot Alfred an, ihm ebenfalls einen Becher zu bringen. Oder Wasser? Er wollte weder das eine noch das andere, es störte ihn, dass Sally wegging, und es störte ihn der Grund, weshalb sie wegging. Er fand, sein Leben war nicht harmlos genug für Kaffeetrinken, er fand, wenn jemand das Opfer eines Einbruchs geworden war, hatte er mehr Aufmerksamkeit verdient. Sein Kopf war vollgestopft mit Ängsten und Mutmaßungen. In halbtaubem Zustand kommt das Gehirn auf keine guten Ideen.

»Es gibt immer solche, die picknicken, während anderswo Katastrophen passieren.«

Hat er das laut gesagt? Er spürte, wie ungerecht sein Vorwurf war, er wusste, das Gesagte gehörte genau in die Kategorie hochtrabenderÄußerungen, die Sally nicht mochte. Aber es empörte ihn so sehr, dass die Welt imstande war, einem friedlichen Menschen wie ihm mit solcher Härte zuzusetzen, dass er wie benebelt war. Außerdem hatte er im Stillen gehofft, dass sie zusammenrücken würden und Sally ihren Arm um seine Schultern legte. Bislang war nichts dergleichen passiert.

In selbstquälerischer Verwunderung knetete Alfred seine Hände. Sally indes hatte Mühe, ihre Erwiderung in einem normalen Tonfall vorzubringen.

»Ich kann die Reise nicht beschleunigen, indem ich aufhöre zu trinken. Ich muss trinken. Du musst auch trinken. Rück deine Pfundmünzen raus, dann bist du sie los.«

»Jetzt soll ich es auch noch finanzieren«, sagte er mürrisch.

Sally zog mit den Münzen ab, ein verwirrendes Gefühl blieb haften, sie war nicht verärgert, sondern irritiert, solange sie nach etwas suchte, an das Alfreds Vorwurf sie erinnerte. Etwas Ähnliches, eine ähnliche Rechtfertigung wie die, dass sie trinken musste, hatte sie schon einmal vorgebracht. Was war es? Wann? Irgendein Ereignis, das partisanenhaft in ihr hauste und im Unterirdischen sein Unwesen trieb.

Beim Anstehen vor einer Imbissbar kam ihr seit sie weiß nicht wie langer Zeit zum ersten Mal wieder die kurze und enttäuschende Freundschaft zu einem jungen Mann aus der Nachbarschaft in den Sinn. Ihr Großvater in Wien, bei dem sie aufgewachsen war, hatte ihn gehasst. Sally war damals achtzehn, sie wollte duschen, da sagte der Großvater:

»Du bist wohl wieder so geil, dass du dich duschen musst.«

Antwort:

»Ich muss mich einmal wöchentlich waschen, auch ohne jede Geilheit.«

Weil ihr vor Zorn die Tränen in die Augen schossen, sagte der Großvater, was er oft gesagt hatte, als Sally ein Kind gewesen war, sehr oft, aber diesmal mit einem bösen Unterton:

»Das Feuchte ist offenbar dein britisches Erbe.«

Sally gab den Kontakt zu dem jungen Mann auf, sie mochte sich die Bemerkungen über ihr britisches Erbe in diesem Zusammenhang nicht anhören. Sie hatte schon genug zu kämpfen, sie hatte sogar mit ihrem Vornamen zu kämpfen, weil ihre Großeltern fanden, ihr Vorname allein beweise die Unreife der nach England ausgewanderten Tochter.

Zwei Jahre später bot sich Sally die Möglichkeit, für einige Monate nach Kairo zu gehen, als Schreibkraft am Kulturinstitut. Sie dachte, großartig, dort komme ich mit der Welt in Berührung.

In Kairo traf sie Alfred. Es ist immer Zufall, wenn zwei sich verlieben, erst recht bei jungen Menschen, die von einer Welle gesellschaftlicher Veränderungen in den Orient gespült werden, ein junger Ethnologe und ein Familienflüchtling. – Für Sally begann damals ein neues Leben. Lange unterdrückte Wünsche gingen jetzt in Erfüllung, Abenteuer, Reisen, Leichtsinn. Die klar linierte Zukunft, die ihr der Großvater vorgezeichnet hatte, war mit einem Schlag vom Tisch, obwohl sich Sally ihre ganze Kindheit hindurch an diesen Entwurf gebunden gefühlt hatte. Strikteste Moralvorstellungen, nur ein einziger Mann im Leben, Treue, kein Wortbruch, keine Negermusik, nur klassische, und auch beim Lesen nur die Klassiker in den Ausgaben des Großvaters. Noch immer, wenn Sally in der Auslage eines Antiquars eine dieser Klassikerausgaben sah, bekam sie Zustände und musste rasch weitergehen. Simone de Beauvoir hatte sie nur heimlich gelesen, nachts unter der Bettdecke mit Taschenlampe, wegen der beengten Wohnverhältnisse. Vielleicht war sie deshalb an Klassikern und klassischer Musik bis heute nicht so interessiert wie Alfred, der in seiner Jugend Zugang zu allem hatte, was aktuell war. Ihr Großvater hatte sie ständig kontrolliert und mit seiner Eifersucht verfolgt. Wenn Sally nur mit einem Mitschüler oder Kommilitonen telefoniert hatte, war ihm das widerwärtig gewesen. Das Telefon war auf seinem Schreibtisch gestanden, man kann sich seine zynischen Bemerkungen nicht vorstellen. Sallys Reaktion den Bekannten gegenüber war daher meistens:

»Nein.«

In Kairo war die Zukunft plötzlich unvorhersehbar. Und weil ihr diese Unvorhersehbarkeit das Gefühl vermittelte, die Zukunft werde endlos sein oder wenigstens länger dauern als das zunächst Vorherbestimmte, war Sally glücklich. Ein muffiges Leben als Hausfrau und Mutter unter dem Begriff Zukunft zusammenzufassen, war ihr schon mit vierzehn absurd erschienen. Standen Zukunft und Stagnation nicht in unversöhnlichem Widerspruch? Durfte es nicht etwas Lebendigeres sein? Dank Alfred konnte sie in Kairo bleiben und dort vier Semester studieren. Ihre Sucht, alles zu sehen und kennenzulernen, war so manisch groß, dieser gewaltige Hunger, den sie spätestens seit ihrem zwölften Lebensjahr verspürt hatte, dass keine Gefahr sie abschrecken konnte. Sie kletterte auf die Mykenos-Pyramide, während die vom Ramadan erschöpften Wächter dem Sonnenuntergang entgegenschnarchten. Sie lernte reiten und war nachts in der Wüste unterwegs, wo sie um ein Haar entführt worden wäre. Mit derselben Leichtfertigkeit ging sie schnorcheln und tauchen. Kairo war für sie die Rettung.

Als sie in Ägypten eintraf, war sie zwanzig, zwei Jahre jünger als Emma jetzt und sechs Jahre jünger als Alice. Am Flughafen von Kairo hatte sie ihre blaue Jacke getragen. – Normalerweise kamen ihr solche Dinge nur im Traum oder in den Ferien, aber erst, wenn die Ferien zu einer leeren Fläche geworden waren, auf der alles mögliche erschien. Dinge wurden dann wieder wichtig, die fast ein Jahr lang auf ihre Chance gewartet hatten, still, geduldig, wie jetzt. Sally fühlte sich für einige Momente gut, sie staunte, wie so oft, über das Schöne, das ihr das Leben geschenkt hatte. Wäre der Einbruch nicht gewesen, hätte sie jetzt anfangen können, die Ferien zu genießen.

Bedrückt leerte sie ihren Kaffeebecher, und mit dem Wasser, das sie für Alfred gekauft hatte, ging sie zurück zum Gate.

Am Gate wurden zwei alte Menschen in Rollstühlen abgeholt, damit man sie vor den anderen Passagieren ins Flugzeug bringen konnte. Alfred stand mit dem Gepäck im dichten Pulk von Menschen, die zum Boarding drängten. Keuchend schlürfte er die dicke, körperliche Luft seiner Mitreisenden.

Sally gesellte sich zu ihm, sie stieß ihren Kaffee auf, vom Frühstück war ebenfalls noch etwas dabei, es roch nach Rührei.

»Es wird dunkel sein, wenn wir ankommen«, stellte sie fest. Sie räusperte sich. Und weil zur selben Zeit eine resignierte Frauenstimme bekanntgab, mit welchen Sitzplatznummern das Boarding beginnen konnte, geriet Alfred in Wut.

»Jetzt habe ich nichts verstanden!« schnauzte er. »Du besitzt ein besonderes Talent, immer dann zu reden, wenn eine Durchsage gemacht wird.«

Er ging zum Schalter und erkundigte sich.

»Eins bis sechzehn«, sagte er enttäuscht.

»Zu früh gefreut«, sagte Sally. »Dann können wir uns ja wieder hinsetzen.«

In Ermangelung jedweder Möglichkeit, die Reise zu beschleunigen, räumte Sally eine Zeitung beiseite und plumpste in die freigemachte Schale. Die Schenkel eng übereinandergeschlagen, den Oberkörper über die Beine gebeugt, stierte sie auf ihre Schuhe. Sie fand, dass etwas unglaublich Ermüdendes in Alfreds Hektik lag, der Druck, den seine Ungeduld erzeugte, brachte keinerlei Zeitgewinn, und auch die Beziehungen zwischen den Menschen besserten sich dadurch nicht. Das leere Getriebe zerstreute nicht einmal Sallys bange Gedanken, die sie nicht haben wollte. Überfallartig, wie angespornt von dem unruhigen Treiben, schossen Bilder von zu Hause heran. Sally versuchte sie wegzudrängen, aber sie sprangen wie an elastischen Fäden zurück und brachten neue Bilder mit, wie in einem Kinderspiel, Phantasie weckt Phantasie. Und auch der Versuch, die Ferienstimmung zurückzurufen, die sie beim Kaffeetrinken gehabt hatte, schlug fehl. Ihr fiel wieder ein, dass man in den Ferien erst angekommen ist, wenn man sich der Zeit überlegen fühlt. Die Ferien fingen immer erst an, wenn man wusste, dass man mehr Ausdauer haben würde als der Tag.

»Hoffentlich geraten die Einbrecher beim Aufteilen der Beute in Streit und schlagen sich gegenseitig die Köpfe ein«, sagte Alfred.

Er hatte sich wieder neben Sally gesetzt und beobachtete von hier aus die Abfertigung der Passagiere, die ihm kränkenderweise vorgezogen wurden. Die Welt war unfassbar rücksichtslos. Visionen von beutebeladenen Dieben, die in Leintücher verknotet davontrugen, wozu sie kräftemäßig imstande waren, bedrängten ihn.

Die Flugtickets rasselten durch ein Registriergerät. Vor der großen Glasfront schossen Fahrzeuge vorbei, die keine Nummernschilder trugen. Dann endlich wurde das Boarding auch für die hinteren Reihen freigegeben. Sally hielt Pass und Ticket bereit, schon wieder trat sie zu jemandem hin, der sie mit sachlicher Aufmerksamkeit musterte, ohne dass etwas hängenblieb. Diesmal eine Frau in blauer Uniform mit weißer Bluse. Und Sally, Sally Fink? In lindgrünem Rock über einer schwarzen Hose, schwarzes T-Shirt, eine Frau in mittleren Jahren. Sie war im Zeitalter der Psychologie und Atombombe geboren und hatte von geregelten Familien- und Lebensverhältnissen in ihrer Kindheit nur ärmliche Begriffe vermittelt bekommen – rückblickend war das vielleicht ein Glück, denn so fiel es ihr leichter, die momentane Unordnung zu ertragen. Leichter als ihrem Mann. Alfred reckte sich unmittelbar vor ihr eine Steifheit aus dem Rücken und ging in den verwaschenen Lieblingshosen, die er nur noch im Urlaub trug, mit je einem großen Halbmond aus Schweiß in den Achseln den Schlauchgang hinunter. Seine Schritte machten doppelt so viel Lärm wie die der anderen Passagiere, so unglücklich war er.

»Willst du keine Zeitung?« fragte Sally, als sie im Flugzeug waren.

»Ich wüsste nicht, was mich interessieren könnte«, sagte er bitter.

»Die Befreiung von Ingrid Betancourt zum Beispiel.«

»Ich pfeif drauf«, gab er zur Antwort. »Um mein Interesse zu gewinnen, hätte man sie noch zwei oder drei Tage behalten müssen.«

Sie nahmen ihre Plätze ein. Die Luft an Bord war trocken und kühl, trotzdem fühlten sich die kunstledernen Sitze, wenn man sie mit der Hand berührte, klebrig an. Sally saß am Fenster, draußen sah sie bunte Tanklastwagen fahren. Ein riesiger Airbus dockte am Nachbargate an und warf im Sonnenlicht seifenschmierig wabernde Abgase aus den Turbinen. Ein Passagier, der weiter vorne im Gang stand, schaltete sein Handy aus. Sally holte ihres aus der Tasche, es war kurz nach halb acht, sie stellte die Uhr eine Stunde vor, es war, als bringe diese Maßnahme den Moment der Heimkehr näher. In drei Stunden würden sie in Wien sein, Umsteigen in Düsseldorf. Sally schickte eine SMS an Nadja: Ankunft um halb zwölf, wir nehmen ein Taxi. Dann schaltete sie ihr Telefon aus. Kurz darauf ruckte das Flugzeug an, es setzte rückwärts raus und fuhr rangierend in Richtung Startbahn.

Sally blickte hinaus auf das Gewirr aus gelben Markierungen. Das Flugzeug blieb für einige Augenblicke stehen, dann erbebte es, nahm rasch Fahrt auf, mit einem Geräusch ähnlich dem der Espressomaschine zu Hause. Seltsamer Gedanke. Aber nicht seltsamer als andere Gedanken. Alfreds wundgescheuertes Gehirn erinnerte ihn an eine Tante, die mit ihnen im Elternhaus gewohnt hatte. Wenn Alfred mit dem Moped weggefahren war, hatte sie ihn regelmäßig vom Fenster aus mit Weihwasser besprengt gegen die Unbill der Welt.

Hoffentlich ist die Espressomaschine noch da, dachte Sally.

Als das Vibrieren der Maschine zunahm und man glauben konnte, das Flugzeug befinde sich kurz vor dem Auseinanderfallen, erwies sich die Luft mit einmal als tragfähig für die kleinen Flügel, erstaunlicherweise, und das Flugzeug stieß über einige Puppenhausreihen hinweg zum Himmel empor, in Richtung der tiefstehenden Sonne. Im Abdrehen durchkreuzte es eine Wolkengruppe, schoss wieder ins Licht und setzte dort oben den Weg fort in die Endlichkeit des Tages hinein.

»Ziemliches Pech, was?« sagte Sally.

»Ich habe es immer befürchtet« antwortete Alfred.

»Befürchtet habe ich es auch schon oft«, sagte sie. »Aber das tut vermutlich jeder.«

»Dann frage ich mich, warum wir nicht zu Hause bleiben?« sagte er. »Warum schaffen wir uns all die vielen Dinge an, wenn wir nicht imstande sind, zu Hause zu bleiben?«

»Weil Dinge nicht alles sind«, sagte sie.

»Warum also?« fragte er verzweifelt.

Aber das Gespräch blieb einfach stecken.

Wegen der steigenden Thrombosegefahr in der trockenen Flugzeugluft begann Alfred seine Wadenmuskulatur in Bewegung zu halten. Er wechselte rhythmisch zwischen Anspannen und Lockern, so wie es ihm der Arzt empfohlen hatte, damit das Blut aus den Krampfadern besser abfloss. Sally beobachtete ihn für einige Momente, sie fragte ihn, ob mit ihm alles in Ordnung sei, er bejahte. Also wandte sie sich ab und schaute zum Fenster hinaus.

Unter ihr lag, so weit man sah, die Erde, die sie an den Vortagen durchwandert hatten. Aus einer Höhe von 30000 Fuß war der Anblick fremd, das parzellierte Land, das mit seinen vielen Feldsteinmauern beim Wandern schön gewesen war, glich von hier oben einem räudigen Narrenpelz. Und das Leben darin war unsichtbar wie Flöhe.

Und als sich das Licht schon ein wenig rötete, eine halbe Stunde später, sah Sally zum ersten Mal in ihrem Leben einen Offshore-Park mit Windkraftanlagen. Die Windräder waren in geometrischer Ordnung ins Blau des Meeres gestellt, kleine weiße Kreuze, die im doppelten Dutzend einem Soldatenfriedhof nicht ganz unähnlich waren. Sally vermittelten sie ein Gefühl der Gleichmut. Was kümmerten die Windräder Sallys Verluste.

Seufzend lehnte sie sich zurück. Sie schloss die Augen. Für einige Augenblicke fühlte sie sich geborgen im mahlenden Rumoren der Turbinen. Und auch Alfred schien jetzt ein wenig beruhigt. Er trank die Wasserflasche, die Sally ihm gebracht hatte, zu zwei Dritteln leer, dann offerierte er Sally den Rest.

Es war ein schöner Moment gegenseitigen Kümmerns. Sally spürte, dass die Feindseligkeit, die von der schlechten Nachricht angefacht worden war, jetzt wieder abklang. Ihre Ellbogen berührten einander.

3

Es war das einzige Haus, in dem alle Lichter brannten, eins dieser langweiligen, weiß verputzten Ziegelhäuser mit den Fenstern genau dort, wo ein Kind mit Sinn für Symmetrie seine Rechtecke in eine Zeichnung malen würde. Während der Taxifahrer das Gepäck auslud, blickte Sally die Straße hinunter, die Nacht war sanft mit einer warmen Luftströmung von Ungarn her. Die Nachbarhäuser standen weitgehend finster, nur manche, im Einflussbereich der städtischen Laternen, waren überzogen von einem schwachen Schein. Haus neben Haus, Korpus neben Korpus, lauter solide Gebäude, in denen Menschen glücklich sein konnten. Und die Bewohner schliefen in ihren Betten, müde und unbedeutend, zwischen ihren Besitztümern.

Gegen diesen scheinbaren Frieden protestierte nur das voll beleuchtete Haus mit der Nummer 17. Das hätte etwas Unwirkliches haben können, doch so empfand es Sally nicht. Es bedrückte sie nur das Nebeneinander, das ihr den Zufall als etwas Ungerechtes vor Augen führte. Wie traurig, dass sie stellvertretend für alle Nachbarn, die mithalfen, die Gegend wohlhabend zu machen, die Kröte schlucken mussten. Warum gerade wir? Warum passiert das ausgerechnet uns? Wie ist das möglich?

Alfred folgte Sallys Sehlinie, er schüttelte den Kopf, als sei er imstande, ihre Gedanken zu lesen. Dann rollte er seinen Koffer zum Gartentor.

»Na komm schon«, sagte er. »So etwas hat man lieber hinter sich als vor sich.«

»Lass mich bitte noch einen Moment hier stehen.«

Sie hatten das Haus zu einem guten Zeitpunkt gekauft. Wien lag damals im toten Winkel Europas, und nicht nur Alfred und Sally hatten gedacht, dass der Eiserne Vorhang zur Geographie gehört wie die Pyrenäen und der Ural. Einige Jahre später befand sich Wien plötzlich wieder im Zentrum des Kontinents, und mit dem Leben, das in die Stadt kam, rührte sich auch der Immobilienmarkt. Die Dynamik wurde angeschoben von einem soliden wirtschaftlichen Aufschwung nach dem Beitritt Österreichs zur Europäischen Union und nach deren Osterweiterung. Dazu kam das Geld der russischen Oligarchen, die sich in Wien nach Investitionsmöglichkeiten und Zweitwohnsitzen umsahen. Wenn Alfred und Sally jung wären und ihr Haus heute kaufen müssten, wäre fraglich, ob sie es sich nochmals leisten könnten.

1985 hatten sie es mit einer überschaubaren Situation zu tun gehabt. Sally hatte die Anzeige in der Zeitung so euphorisch eingekreist, dass der Kugelschreiber das Papier aufriss. Das Angebot verhieß genau das Richtige, ein Objekt mit Garten hinter der Vorortelinie, nicht zu groß und nicht zu klein und nicht sonderlich teuer. Da Alfred seine Sammlung von Siwa-Fingerringen und die restlichen Sinai-Kleider verkauft hatte, besaßen sie etwas Geld. Sally vereinbarte einen Besichtigungstermin, und gleich beim ersten Betreten strömte das Haus eine insulare Atmosphäre aus, die Sally das Gefühl gab, hier nie wieder auszuziehen. Wie das kam, konnte sie sich nicht erklären, bis heute nicht, denn eigentlich machte das Haus nicht viel her. Als sie noch an der Straße gestanden waren, hatte Sally gesagt, vielleicht würde eine Begrünung helfen, das Erscheinungsbild der Fassade weicher zu machen.

Die Besitzerin erwies sich als freundliche alte Frau, die ganz kindersüchtig war, sie grabschte dauernd in Richtung der damals dreijährigen Alice. Einmal, beim Rundgang durch das Haus, fing die Frau an zu weinen. Sie tat Sally schrecklich leid, Sally dachte, die Frau ziehe bestimmt ins Altersheim.

Als Sally und Alfred wenige Tage später zurückkamen, um den Kauf perfekt zu machen, erfuhren sie, dass die Tochter der Besitzerin in dem Haus gewohnt und sich das Leben genommen hatte. Sally fand das schockierend, aber zu ihrem Erstaunen sagte ausgerechnet Alfred, dass alles Friedliche eine unruhige Vergangenheit besitze; dabei beließen sie es. Tatsächlich schien es, als habe das Haus den Tod nicht akzeptiert, dafür war es nicht alt genug. Und es schien auch, als habe die Tochter der Besitzerin dem Haus nicht wirklich ihren Stempel aufdrücken können. Es fehlte alles, was einen auf den Gedanken hätte bringen können, es würde geistern.

Sie unterschrieben einen provisorischen Kaufvertrag, Alfred blies die Luftmatratzen auf, dann verbrachten sie die erste Nacht im eigenen Haus. Obwohl es Strom gab, zündeten sie Kerzen an. Sie weihten das Haus mit Schampus ein, und zu Alfreds Verwirrung tanzte Sally nackt in dem praktisch leeren Raum, so glücklich war sie. Ihr Bauch wölbte sich bereits wieder.

An den eigentlichen Einzug konnte sich Sally nur mehr in wenigen Details erinnern, ein sonniger Tag, die Schwangerschaft mit Emma hatte ein Stadium erreicht, in dem Sally nicht mehr schwer tragen durfte. Jakob, Alfreds jüngerer Bruder, brachte die Sachen in einem gelben VW-Bus, in drei oder vier Fuhren. Jakob ging ihnen im Haus zur Hand, das kann aber auch später gewesen sein, im Winter. Woran sich Sally sehr gut erinnerte, war, dass der viele unausgenützte Platz sie zunächst erstaunt und dass das Haus dann jeden Tag kleiner ausgeschaut hatte und auch Jahr für Jahr kleiner zu werden schien. Durch die Ablagerungen der Jahre und des Lebens, das sie zu leben beschlossen hatten, war das Haus allmählich nach innen zugewachsen.

Alfred war ein Mensch, der nichts ohne schlechtes Gewissen wegwarf, Sally ging es ähnlich, und die Kinder hatten es geerbt oder die gleiche Angewohnheit entwickelt in Bezug auf ihre Kleider, Spielsachen, Buttons, Abzeichen, Bleistifte, Magazine, Bücher und sogar Bilder. Zu dem Zeitpunkt, als Alfred und Sally in den Urlaub gefahren waren, war das arme, dreckige, kleine Haus ausgebeult gewesen von Dingen, die andere Leute als Plunder einschätzen würden. Vom Keller bis unters Dach hatte es sich in einem Zustand befunden, in dem jeder neue Gegenstand, selbst ein kleines Heftchen, das hinzukam, es nötig gemacht hatte, dass ein anderer Gegenstand bewegt wurde.

Der Einbruch hatte stellenweise Platz geschaffen, aber nach Kubikmetern fiel die Einbuße nicht ins Gewicht. Vor allem hatten die Einbrecher die kompakte und mühsam verwaltete Ordnung umgewälzt, und zwar so gründlich, dass man in dem entstandenen Durcheinander die Menge des Vorhandenen vorgeführt bekam auf eine Art, die alles wie Plunder aussehen ließ. Welche wunderbaren Dinge! Und wie langweilig und hässlich und verzichtbar sie am Fußboden ausschauten! Sally hatte eine Beruhigungstalette genommen, um sich für das Bevorstehende zu wappnen, sie hätte besser zwei geschluckt, so schockiert war sie von der Traurigkeit dieses Ortes, an dem jeder Gegenstand das Echo der Einbrecherstimmen zurückwarf: Behaltet es, es ist nichts wert! Im Wohnzimmer versuchte Sally eine Weile, das trostlose Chaos einzuschätzen, dann sagte sie:

»Sie haben uns offenbar nicht das Haus ausgeräumt, sondern nur die Schränke.«

Alles lag wie Kraut und Rüben, und man konnte nicht glauben, dass Erik und Nadja schon einige Zeit mit dem Aufräumen beschäftigt waren, Nadja, diese schmale, zähe Frau mit ihren langen Armen und ihren präzisen Bewegungen. Sie behauptete, Alfred und Sally würden lediglich eine vom Teufel schon ein bisschen befreite Version des Desasters zu sehen bekommen. Dabei herrschte noch immer ein heilloses Durcheinander, und man konnte sich nicht vorstellen, wie die Zimmer ausgesehen hatten, bevor der unerwünschte Besuch gekommen war. Umgestürzte Möbel, Eier und Eierschalen, die in die Wüstenornamente der Teppiche getreten waren. An den Wänden klebte der Kirschsirup, den Alfred aus dem Burgenland bezog. Die Gläser in der Küche ließen darauf schließen, dass die Einbrecher den Sirup zuerst probiert und erst anschließend beschlossen hatten, möglichst viel Schaden damit anzurichten. Rote Rinnsale flennten in allen Zimmern des unteren Stockwerks über die weißen Wände, nur nicht im Spielzimmer, dort lag die leere Flasche neben Emmas demoliertem Cello.

Alfred hob das Cello hoch, als Musikinstrument war es eindeutig gestorben, allenfalls als Brennholz hatte es noch ein kleines Leben vor sich. Die Rückseite war durchgetreten, vorne fehlte neben dem rechten F-Loch ein faustgroßes Stück, und das Holz klaffte an der Bruchstelle in hellen Zacken. Die noch einigermaßen gespannten Saiten gaben bei der Berührung klägliche Geräusche von sich, wie unendlicher Trostlosigkeit sich entringend.

»Ich denke, da kann man nichts mehr machen«, sagte Nadja.

»Ja, es ist wohl ein für alle Mal kaputt.«

Alfred ließ das Cello wieder zu Boden fallen. Das Geräusch, das dabei entstand, war ein passender Kommentar. Alfred hielt einen Augenblick inne und suchte nach einer Formulierung für das, was er empfand.

»Es kommt einem vor wie ein Blick ins Schlachthaus«, sagte er schließlich. »Wie blutiges Fleisch.«

Der Vergleich traf es ganz gut, fand Sally, ein Zucken der Abscheu lief über ihr Gesicht. Wohin sie blickte, überall die Ergebnisse von gesetzeswidrigen Handlungen, schlimmer noch, von Dummheit und purem Hass auf das Leben.

Alfreds Stimme zitterte, als er fortfuhr.

»Warum jemand so etwas tut, ist mir ein Rätsel. Warum können sie sich nicht damit begnügen, einzubrechen und zu stehlen? Wozu noch diese kleinen Schäbigkeiten?«

Sally legte ihren Arm um seine Schultern, endlich, sie drückte ihn zu sich heran, sie schaute – na, was? – Was soll man sagen? – Nichts? – Sie biss sich auf die Lippen, sie sah, dass Nadja sie beobachtete, still, damit beschäftigt, wahrzunehmen und einzuschätzen.

»Kopf hoch, Dicker«, sagte Sally. »Diese Leute denken nicht so viel, wie wir es gerne hätten. Sie kommen herein, schauen sich um, tun, wonach ihnen ist, und gehen wieder. Es ist ihnen egal, ob wir sensible Gemüter haben oder nicht.«

»Es ist gegen den gesunden Menschenverstand!« empörte sich Alfred. »Es ist – – vernunftwidrig!«

Vernunftwidrig? Als Lehrerin wusste Sally, die größte Gefahr liegt immer in der Gedankenlosigkeit.

»Wenn du sie fragen würdest«, sagte sie, »gäben sie dir womöglich zur Antwort, es sei ohne böse Absicht passiert.«

»Und ich würde ihnen in eindeutiger Absicht den Garaus machen, am besten mit einem Spaten, das spart die Kugel.«

Es entstand eine kurze Stille, während der alle die Köpfe verdrehten oder die Mundwinkel verzogen. Dann sagte Erik:

»In Alfred brodelt gerade die Volksseele.«

Es entstand nochmals eine Pause. Die Luft schien die boshaften Stimmen der Einbrecher auszudünsten, knappe Legenden wie in der Zeitung unter den Bildern.

Wir hatten ein paar Bier getrunken und waren nicht gut drauf.

Nicht gut drauf? Ich schlage vor, ihr kniet nieder und macht den Hals frei.

Das Unbekannte, mit dem das Haus geladen schien, verunsicherte alle, ganz besonders aber Alfred. Er hatte das Gefühl, es befinde sich etwas in der Nähe und er müsse nur den Kopf drehen, um dunkle Gestalten an sich vorbeihuschen zu sehen. Dieses Gefühl war so stark, dass es ihm Angst machte und er sich Luft verschaffen musste. Ganz plötzlich pfefferte er ein Schimpfwort in eine Zimmerecke, ganz so, als würde sich dort jemand verstecken.

»Das ist doch Wahnsinn hier«, sagte er. »Das ist mehr, als ich verkraften kann.«

Jetzt bemühte sich auch Nadja, ihm gegen seine Schmerzen ein paar Pillen zu drehen, es fiel ihr schwer, etwas Heilsames zu finden, über gutgemeinte Phrasen kam auch sie nicht hinaus. Immerhin: Als sie sich nach einem Lavendelsäckchen bückte und dabei zu Alfred aufsah, so dass sich der Ausschnitt ihrer Bluse ein zusätzliches Stück öffnete, blickte Alfred hin wie ein Halbwüchsiger. Kann sein, Nadja hatte ihm das kleine Geschenk absichtlich gemacht, diese ansonsten mit ihrem Sex so knausrige Frau.