Anna und der Winter - Rüdiger Woog - E-Book + Hörbuch

Anna und der Winter E-Book und Hörbuch

Rüdiger Woog

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Beschreibung

Wenn der letzte Schnee oben am Steinbruchberg unter der kräftigen Märzsonne verdampft und die ersten Sprießlinge auf den noch harten Ackerschollen in derart lebendigem Grün schießen, dass man sie nach einem halben Jahr Kälte, Nässe und Dunkelheit für künstliche Requisiten halten möchte, wenn die von den Aussiedlerhöfen herabkommenden Spaziergänger Schal und Mütze zu Hause gelassen haben und sich das Abendlicht kaleidoskopisch über die leeren Hopfengärten, die roten Dächer der neuen Siedlung und den zerdrückten, ausgebleichten Rasen in unserem Garten legt, dann weiß ich, dass ich es wieder einmal überstanden habe … Eine starke, lebenshungrige Frau, eine Literaturdozentin in den besten Jahren und eine Heilige – drei Menschen, drei Schicksale, ein Jahrhundert und tausend Geschichten. In Rüdiger Woogs neuem Roman zeichnet der Autor die aufregenden, witzigen, traurigen und magischen Lebenslinien dreier Menschen nach und erzählt zugleich – fast nebenbei – die Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Woogs Sprache fesselt von der ersten Zeile an (Donaukurier)

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Seitenzahl: 267

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Zeit:6 Std. 31 min

Sprecher:Julia von Tettenborn

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Leseprobe eBook Ausgabe 2015
©2015 SPIELBERG VERLAG, Regensburg
Umschlaggestaltung: James Beckett
Lektorat: Beate Brosig
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung, Speicherung oder Übertragung

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

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Für alle, deren Namen man in keinem Geschichtsbuch findet – außer auf den Rückseiten, die meist achtlos überblättert und vergessen werden.

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Wenn der letzte Schnee oben am Steinbruchberg unter der kräftigen Märzsonne verdampft und die ersten Sprießlinge auf den noch harten Ackerschollen in derart lebendigem Grün schießen, dass man sie nach einem halben Jahr Kälte, Nässe und Dunkelheit für künstliche Requisiten halten möchte, wenn die von den Aussiedlerhöfen herabkommenden Spaziergänger Schal und Mütze zu Hause gelassen haben und sich das Abendlicht kaleidoskopisch über die leeren Hopfengärten, die roten Dächer der neuen Siedlung und den zerdrückten, ausgebleichten Rasen in meinem Garten legt, dann weiß ich, dass ich es wieder einmal überstanden habe.

Tatsächlich geht es mir wie vielen anderen Menschen in unseren trüben Breitengraden: Ich leide an Winterdepressionen, und jedes Jahr werden sie schwerer zu ertragen. Der schlimmste Monat ist für mich der Februar. Meine körperlichen und geistigen Akkus sind völlig leer, so leer, dass mir die Vorstellung von Frühling, Licht und Heiterkeit schon wie ein schönes Märchen erscheint, das man sich immer wieder erzählt, um sich davon abzulenken, dass die Welt für immer in Eis und Finsternis versunken ist. Und dann kommt sie doch wieder, diese unverhoffte Kraft, eine gewaltige Natursymphonie, deren Dirigent, eine große orange geschnäbelte Amsel, jedes Jahr auf der hohen Blautanne vor meinem Fenster sitzt und die Krokusse, die Schlüsselblumen, Forsythien und Palmkätzchen, die Hasen und Rehböcke und letztlich auch den blauen Himmel in einem brausenden Crescendo ihrer Todesstarre entreißt.

Im Französischen heißt Amsel merle. Ich weiß durchaus, dass die etymologische Verbindung zu Merlin nicht ganz sauber ist, aber mir hat immer die Geschichte des Zauberers gefallen, der durch seine Liebe zur Fee Viviane für alle Zeiten in einen Weißdornbusch verbannt wurde. Dass nun eben dieser kleine gefiederte Magier jedes Frühjahr in meinem Garten die Auferstehung der Natur zelebriert, halte ich für einen hübschen Gedanken, der nur mir alleine gehört.

Aber ich schweife ab. Die Herrlichkeit eines neuen Jahreszyklus mit allem, was er auch bringen mag, wird Miriam verwehrt bleiben. Die Spaziergänge drüben im Forst, das erste kalte Bad im Weiher, Erdbeerpflücken und Marmeladekochen im Juni, das verlängerte Wochenende am Gardasee oder in Salzburg, Ferien auf Rügen, Pilzesammeln, die Hopfenernte mit ihrem köstlichen Duft und der Mindelstettener Markt, Laternenumzüge, Plätzchenbacken und Christbaumstehlen – all dies und noch viele tausend andere gewohnte Dinge wird sie nicht mehr erleben. Die Ärzte geben ihr nur noch wenige Tage. Alles, was ich tun konnte, war, sie in ein Zimmer verlegen zu lassen, von wo aus sie über die Donauauen blicken und von Baum und Feld Abschied nehmen kann.

Miriam hat den ganzen Körper voll von Metastasen, sie ist der großartigste Mensch, den ich in meinen zweiundvierzig Lebensjahren kennen lernen durfte, sie ist achtundneunzig und sie ist meine Großmutter.

Jeder, der Miriam – sie wollte nie, dass ich sie Großmutter oder Omi nannte – zum ersten Mal sah, war sofort in ihren Bann geschlagen. Sie war zeitlebens eine atemberaubend schöne Frau. Die Spuren eines fast biblisch langen Lebens voller Arbeit und Fleiß waren natürlich nicht von der Hand zu weisen. Ihrer Würde und Schönheit konnten sie aber keinen Abbruch tun. Ich denke, wenn sie Fotomodell geworden wäre, hätte sie in jedem Alter Erfolg gehabt und die Agenturen hätten sich um sie gerissen. Manchmal beobachte ich die Menschen um mich herum – meine Kollegen an der Uni, die Leute im Supermarkt, die Nachtfalter in den Studentenkneipen – und frage mich, wie sie wohl eines Tages aussehen werden, wenn Formlosigkeit und Schlaffheit ihre Körper regieren, die Ohren immer größer werden und ihre Haare nur noch an Stellen wachsen, wo keiner welche haben will. Dann verspüre ich meistens eine gewisse Schadenfreude, weil ich mir einrede, dass Miriams Gene auf mich übergegangen seien. Nun ja, ich bin sicherlich nicht unattraktiv; genau genommen bin ich eigentlich mit meiner äußeren Erscheinung sogar sehr zufrieden. Auch wenn man schon von Weitem sieht, dass mein blondes Haar aus der Tube kommt, ich schon lange keine T-Shirts mehr ohne BH trage und sich die Studenten im Grundstudium immer seltener nach mir umdrehen.

Aber ich spreche schon wieder nur von mir! Miriam färbte ihre Haare nie. Ich kenne sie nur mit langem, kräftigem, silbernem Haar, das sie, ganz im Gegensatz zu ihren Altersgenossinnen, meistens offen trug. Ihre Haut war das ganze Jahr über gebräunt und duftete nach einer Frische, die ich mit nichts vergleichen kann. Auffallend waren auch ihre langen Arme. Zuweilen sagte sie, sie sei in einem früheren Leben sicher ein Affe gewesen. Doch was niemand, den sie nur einmal kurz angesehen hatte, jemals wieder vergessen konnte, waren ihre klaren, cyanblauen Augen. Miriam hatte nie eine Brille getragen, und was das Verblüffende dabei ist, sie brauchte auch keine, nicht einmal mit achtundneunzig! Auf Zureden verschiedener Familienangehöriger und weil man das eben so macht, hatte sie durchaus immer wieder Optiker und Augenärzte aufgesucht, die sie alle gleichermaßen zum Frohlocken wie zum Verzweifeln brachte. Das Sehvermögen meiner Großmutter blieb ein Phänomen, das seinesgleichen suchte.

Mittlerweile hat es zu dämmern begonnen. Ich habe den ganzen Nachmittag an meinem Schreibtisch über Bergen von Briefen und Aufzeichnungen gesessen, ohne ein Wort zu Papier gebracht oder auch nur einen klaren Gedanken gefasst zu haben. Ich fühle mich ebenso konzeptlos und überfordert wie ein Erstsemestler bei seiner ersten wissenschaftlichen Arbeit. Die Bäume verstecken sich nun unter einer dünnen, dunklen Decke. Für heute haben sie genug ihrer eitlen Pracht gezeigt. Und doch kommt es mir so vor, als ob sich draußen, dort hinten, wo die große Blautanne steht, etwas bewegt, zu mir herein ins Büro sieht und auf schwarzen Schwingen würdevoll entschwebt – zumindest für heute.

• • •

Ich liebe die dreiviertelstündige Autofahrt zur Universität. Nein, ich bin keine passionierte Autofahrerin im technischen Sinne. Mein inzwischen fast lackloser Golf mit seinen zweihundertachtzigtausend Kilometern ist auch nicht gerade das, was autophile Herzen höher schlagen ließe. Es ist vielmehr die Zeit des Unterwegsseins, das Ausklinken aus der lokalen Verfügbarkeit mit all ihren Pflichten und die – wenn auch nur sehr theoretische – Möglichkeit, immer weiter zu fahren, vorbei an der Universität, vorbei an unserem Haus, weit weg von der Gewohnheit und allen Erinnerungen. Ich höre selbst gebrannte CDs und tauche mit meinem alten Auto wie in einem Unterseeboot durch die Landschaft.

Das Schönste an meinem Arbeitsplatz ist tatsächlich der Weg dorthin. Größtenteils schlängelt sich die Straße auf dem Rückgrat der Juraalb. Mal öffnet sich der Blick nach Süden, wo bei klarer Luft weit hinter der Hallertau die Zugspitze auszumachen ist, mal taucht man in die nördlichen Wälder ein, deren größte Kronen aus dreiarmigen, mich fortwinkenden Rotoren bestehen. Zuweilen fühle ich mich wie eine Figur auf einem Spielbrett, das eine weitläufige, vielfältige Landschaft vorstellt. Im Osten, am nördlichen Rand der Hallertau, liegt unser 350-Seelen-Dorf, im Westen, im barocken Eichstätt, ist die Uni, irgendwo im Norden, wo genau, weiß ich nicht und will es auch gar nicht wissen, lebt Hubert – ich habe gehört, er hat wieder jemanden gefunden – und im Süden, in Ingolstadt, befindet sich die Palliativstation des städtischen Klinikums mit der sterbenden Miriam.

Ich weiß nicht, wer über diesem Brettspiel sitzt und wie viele Punkte er dafür erhält, wenn ich abends um sieben noch einen Anruf vom Professor bekomme und mich nochmals – ohne über Los zu gehen und ohne zweitausend Euro zu bekommen – nach Eichstätt aufmachen muss. Aber ich weiß, dass jede Spielfigur über die Fähigkeit verfügt, sich während eines Zuges zu befreien und ihrem Spielführer aus der Hand zu rutschen. Ich schaue aus dem Dreck verspritzten Schiebedach, um mich zu vergewissern, dass keine gewaltigen Finger aus dem Nichts auf mein Auto heruntergreifen und es direkt in die Schlossallee setzen wollen, kichere hysterisch vor mich hin und drehe am Rad des CD-Wechslers.

Als ich am Abend im Klinikum ankomme, habe ich einen sonnigen und erfolgreichen Tag hinter mir. Und genau das ärgert mich. Natürlich rollt kein Stein vom anderen, wenn ein Menschenleben zu Ende geht. Aber muss denn dieser Abgang von Bilderbuchfrühlingstagen, an denen einem alles ohne jegliche Anstrengung in den Schoß fällt, verhöhnt werden?

Jeden Tag, wenn ich die Station betrete, versuche ich, in den Gesichtern der Stationsschwestern, die ich mittlerweile alle kenne, zu lesen, ob es so weit ist. Sie sind wie immer sehr geschäftig zugange und demonstrieren ihren Zeitmangel durch kurze, höfliche Blicke, die zu abgeschnitten wirken, als dass sie den Luxus wirklicher Anteilnahme bedeuten könnten.