Anthropologische Forschung - Arnold Gehlen - E-Book

Anthropologische Forschung E-Book

Arnold Gehlen

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Beschreibung

■ Zur Geschichte der Anthropologie ■ Vom Wesen der Erfahrung ■ Das Bild des Menschen im Lichte der modernen Anthropologie ■ Mensch und Institutionen ■ Über Kultur, Natur und Natürlichkeit ■ Die Technik in der Sichtweise der Anthropologie ■ Die gesellschaftliche Situation in unserer Zeit ■ Enzyklopädisches Stichwort: Philosophische Anthropologie ■ Literaturhinweise ■ Personen- und Sachregister

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Arnold Gehlen

Anthropologische Forschung

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

■ Zur Geschichte der Anthropologie

 

■ Vom Wesen der Erfahrung

 

■ Das Bild des Menschen im Lichte der modernen Anthropologie

 

■ Mensch und Institutionen

 

■ Über Kultur, Natur und Natürlichkeit

 

■ Die Technik in der Sichtweise der Anthropologie

 

■ Die gesellschaftliche Situation in unserer Zeit

 

■ Enzyklopädisches Stichwort: Philosophische Anthropologie

 

■ Literaturhinweise

 

■ Personen- und Sachregister

Über Arnold Gehlen

Arnold Gehlen (1904–1976) war ein deutscher Philosoph, Anthropologe und Soziologe.

Inhaltsübersicht

1. Zur Geschichte der Anthropologie (1957)III2. Vom Wesen der Erfahrung (1936)IIIIIIIVV3. Ein Bild vom Menschen (1942)Der doppelte Anspruch der AnthropologieEinseitigkeit bisheriger DeutungsversucheGrundzüge einer Gesamttheorie vom Menschen: Mängelwesen und PrometheusDer Mensch – ein handelndes WesenEntlastungsfunktion der Sprache4. Das Bild des Menschen im Lichte der modernen Anthropologie (1952)Zeitbedingtheit jeder Lehre vom MenschenDie Außen–Innenverschränkung im MenschenLehre von der Selbstdomestizierung des MenschenZurück zur Kultur!Triebumwandlung, Instinktreduktion, TriebüberschußIntellektuelle ÜberbelastungGefahr der Entlastung vom ‹Negativen›Der Ausweg der Askese5. Mensch und Institutionen (1960)Die Entlastungsfunktion der InstitutionenÜbersteigerung der Subjektivität durch InstitutionsabbauIdee und Institution6. Über Kultur, Natur und Natürlichkeit (1958)Die ‹Natürlichkeit› des KulturellenKonventionalität als Kennzeichen erschütterter KulturstilisierungenDie ‹Natürlichkeit› der modernen MalereiDas ‹Anomale› als Bestandteil der ‹neuen Natürlichkeit›7. Die Technik in der Sichtweise der Anthropologie (1953)Die Naturüberlegenheit der TechnikSinn der Technik: Organersatz, Organentlastung, OrganüberbietungTechnik und MagieUnbehagen an der Technik – Symptom weltweiter Kulturtransformation8. Über instinktives Ansprechen auf Wahrnehmungen (1961)IIIIII9. Die Gesellschaftliche Situation in unserer Zeit (1961)Die subjektiven Folgen der IndustrialisierungDie objektiven Folgen der IndustrialisierungFunktionale Autorität statt KlassenschichtungSoziale Entschärfung der BesitzungleichheitAnfangsstadium einer Welt-Industrie-KulturBeschränkung auf ‹Erfahrung zweiter Hand›Wandel ethischer WertungenMoralische Überforderung des IndividuumsEntwicklung einer ‹Moral zweiter Hand›Enzyklopädisches Stichwort: Philosophische Anthropologie (Zur vorherigen Lektüre empfohlene Einführung in den Problemkreis, dem das Thema entstammt)Über den VerfasserLiteraturhinweisePersonen- und SachregisterPersonenregisterSachregister

1. Zur Geschichte der Anthropologie

I

Der Mensch als wissenschaftliches Zentralthema

Anthropologie ist die Lehre vom Menschen. Hinter der heute recht allgemeinen Verwendung und Ausbreitung des Wortes steht nun eine wichtige Zeittendenz, zu der wir uns zurückfragen müssen. Es ist nämlich kein Zweifel an einer gerade in den letzten Jahrzehnten wachsenden Popularität der Fragestellung, im neuen Brockhaus gibt es sogar schon einen Abschnitt ‹Theologische Anthropologie›. Die Theologie hatte immer eine Lehre vom Menschen, aber sie nannte sie nie Anthropologie. Es ist also kein Zweifel, daß wir es mit einer gewissen Kursgängigkeit des Wortes zu tun haben; dahinter steckt eben doch eine weitverbreitete und tiefe Interessenverschiebung, und auch innerhalb der Theologie, könnte ich mir denken, gewinnt die Frage nach dem Menschen anscheinend ein steigendes Gewicht.[*] Außerhalb der Religionen, in den Wissenschaften überhaupt, auch in der Philosophie, wird der Mensch geradezu zu einem Zentralthema, um das herum sich viel Zusammenhang herstellen läßt, ich werde Ihnen davon berichten. Und diese allgemeine Interessenzuwendung ist nun merkwürdigerweise von HEGEL in den folgenden Worten vorausgesehen worden, die ich Ihnen zitieren will, gleich versichernd, daß das eigentlich die einzigen etwas schwierigen Sätze dieses Vortrages sein werden; HEGEL sagte nämlich einmal: ‹Da der feste Standpunkt, den die allmächtige Zeit und ihre Kultur für die Philosophie fixiert haben, eine mit Sinnlichkeit affizierte Vernunft ist, so ist das, worauf solche Philosophie ausgehen kann, nicht Gott zu erkennen, sondern was man heißt den Menschen.› An diesen merkwürdigen Worten ist zweierlei bemerkenswert: Die Zeitform des Geistes, sagt HEGEL, und wir werden ihm das zugeben, ist die sinnlich durchsetzte Vernünftigkeit, nicht etwa eine weltabgewandte Spiritualität. Diese Konstatierung erscheint als wahr; dann müsse, sagt er, das Problem des Menschen in den Vordergrund treten, weil diese Art der Geistigkeit dem Erkennen Gottes nicht gewachsen ist. Es ist hier die Rede von einer philosophischen Lehre vom Menschen, die aus Gründen der allmächtigen Zeit in den Vordergrund trete, eine sehr kluge Ansicht, die mit meint und mit aussagt, daß eine anthropologische Philosophie keineswegs atheistisch sein muß, aber die Frage nach Gott doch nicht eigens aufwirft. Dies ist auch mein Standpunkt, wie Sie noch hören werden. Mir kam es jetzt darauf an zu wissen, woher diese merkwürdige anthropologische Wendung in fast allen Wissenschaften kommt. Wir leben ja doch wohl in einem Zeitalter der, wie HEGEL sagte, von der Sinnlichkeit affizierten Vernunft; also wird der Mensch sich selbst zum Thema und Problem. Dafür gibt es genug Gründe in der allmächtigen Zeit, auch nicht zum letzten den Grund, daß in der Massenhaftigkeit seines Daseins der Mensch anfängt, sich selbst die Natur zu verstellen.

Nach diesen einleitenden Worten, die ja nur eigentlich den Sinn hatten, Ihnen zu sagen oder eine Vermutung aufzuwerfen, weshalb heutzutage das Thema Anthropologie so lebhaft sich entwickelt, wende ich mich der Charakterisierung der eigentlichen wissenschaftlichen Interessen zu, die sich so nennen.

Anthropologie als Fachwissenschaft

Erstens, es gibt schon lange eine physische Anthropologie als Ergänzung – müßte man geradezu sagen – der Zoologie. Die physische Anthropologie ist zunächst in der Tat eine Seite der Zoologie, sie studiert den menschlichen Körper. Das ist die Wissenschaft, die die berühmten Schädelmessungen machte, die Ende des vorigen Jahrhunderts als Inbegriff anthropologischer Gelehrsamkeit galten. Diese Wissenschaft wurde aber gleich von Anfang an auch als Rassenkunde betrieben, da es nun einmal schwarze, rote, gelbe usw. Rassen gibt, und in dieser mehr ins einzelne, mehr in das Spezifischere gehenden, immer noch physischen Fragestellung sah man sich nun doch genötigt, auch diesen Rassen nachzureisen, d.h. auch Ethnologie, auch Völkerkunde zu treiben, sofort bei ihrem Auftreten verschwistert mit dem Kuriositäteninteresse an fremden und fernen Völkern. Sie sehen das, wovon ich jetzt spreche, etwa in einer späten Schrift KANTs vor sich, die in der Tat ‹Anthropologie in pragmatischer Hinsicht› heißt, wo er von den verschiedensten Rassen und Völkern, von Mulatten und was weiß ich spricht und überall dazu die Sitten und Gebräuche dieser Leute erklärt, ein Konglomerat physischer und ethnologischer Forschung. Dieses ethnologische Interesse gibt es schon lange, man kann sagen, es ist so alt wie die westliche Kultur, seit HERODOTs Reiseberichten und seit der ‹Germania› des TACITUS – damals waren wir die fremden und kuriosen Völker, die sich die Gebildeten ansahen, über die sie Bücher schrieben. Wir haben also von vornherein eine völkerkundliche Seite mit Zoologie und Anatomie verknüpft als einen doppelten Aspekt des Themas, und ein Daseinsbeweis dieser so entstandenen rein erfahrungsmäßigen Wissenschaft vom Menschen besteht darin, daß im Jahre 1869 die ‹Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte› gegründet wurde. Da sehen Sie gleich alle Interessen, die damals noch sozusagen im Rahmen einer Gesellschaft und einer Wissenschaft betrieben wurden, zusammen, einer der führenden Köpfe dieser Gesellschaft war damals der Mediziner RUDOLF VIRCHOW. Aber, wie der Titel sagt: Ethnologie und Urgeschichte nahm man gleich mit in diese Forschungen hinein. Ich mache Sie ausdrücklich auf diesen doppelten Aspekt ein und derselben Wissenschaft aufmerksam. Kennzeichnend für diese Zeit ist die Zusammenarbeit von Anatomen, von Völkerkundlern, Urgeschichtsforschern, Mediziner, Statistikern usw., eine enge Zusammenarbeit, die in den Vereinigten Staaten noch einigermaßen erhalten geblieben ist; doch enthält auch die Zeitschrift ‹Mitteilungen der anthropologischen Gesellschaft Wien›, die im Jahre 1870 gegründet wurde, noch viel ethnologisches, prähistorisches und fossilkundliches Material, dort ist also von dieser alten Zusammenarbeit noch etwas zu spüren. Es trat dann aber doch mit der Zeit auch hier, wie überall, eine Trennung und Aufspaltung ein, die Spezialisierung drang vor, und vor allem gliederte sich nun auch die alte physische Anthropologie in verschiedene Wissenschaften auf. So entstand seit Beginn des Jahrhunderts eine selbständige Genetik oder Erblichkeitsforschung, die der Sache nach von der Botanik bis in die Anthropologie reicht und neuerdings wegen des Problems der Strahlengefährdung der menschlichen Erbsubstanz wieder Aufmerksamkeit auf sich zieht.[*] Als ein anderer selbständiger Zweig hat sich die Abstammungslehre entwickelt, die vorwiegend an Hand von Fossilfunden ihre Erörterungen anstellt. Die eigentlich beschreibende Rassenkunde wiederum stützt sich auf Messungen, sie fordert aber darüber hinaus einen besonderen, fast künstlerischen Blick für Gestaltqualitäten und Formtypen. Ihrer wissenschaftlichen Herkunft nach kommen die meisten Anthropologen von der Zoologie, Medizin oder Botanik her (Genetiker), die Zuteilung der Fächer zu den naturwissenschaftlichen oder medizinischen Fakultäten wechselt, und was damals im Rahmen von VIRCHOWs Gesellschaft noch zusammenhing, ist in Deutschland jetzt in der Regel auf mehrere Einzelwissenschaften und zwei Fakultäten verteilt, und deswegen ist das Wort ‹Anthropologie› nicht so ganz streng bestimmt. Diese verschiedenen Meinungen, in denen das Wort gebraucht werden kann, glaubte ich hier auseinandersetzen zu müssen, ehe ich auf die philosophische Anthropologie komme.

Nachdem so eine gewisse Übersicht hergestellt ist, muß ich aber noch hinzufügen, daß es auch eine Disziplin gibt, die sich Sozialanthropologie nennt, deren Sinn und Nutzen man sofort einsieht, wenn man überlegt, daß es z.B. zwischen der gesellschaftlichen Schichtung, der Erblichkeit und der Begabung gewisse Zusammenhänge geben könnte. Es ist ein legitimes Problem, sich folgende Frage zu stellen: Wenn durch den Prozeß der gesellschaftlichen Auslese, des gesellschaftlichen Aufstieges die Träger etwa vorhandener erblicher Begabungen aus den Unterschichten allmählich aufsteigen, was schon seit Jahrhunderten vor sich gehen dürfte, und wenn sie jetzt oben, in den gouvernementalen oder akademischen Schichten angelangt, der ja nachweislich dort vorhandenen geringeren Fruchtbarkeit unterliegen, muß da nicht auf die Dauer der Begabungsstamm eines Volkes sich verbrauchen? Das ist ein übrigens populäres Problem, wie es die Sozialanthropologie sich stellt. Oder eine andere Frage: Gibt es Zusammenhänge von Erbkrankheiten, etwa Schwachsinn, mit Kriminalität? Das sind Beispiele, die Ihnen zeigen sollen, daß es einen Sinn hat, so etwas wie Sozialanthropologie auszugliedern. Die berühmte Managerkrankheit z.B. stellt ein sozialanthropologisches Problem: Gibt es vielleicht innerhalb der modernen bürokratischen, industriellen Gesellschaft ein erhöhtes Ausgesetztsein der führenden Persönlichkeiten an alle möglichen Belastungen, die das Nervensystem nicht verträgt? Das wäre eine mögliche Fragestellung.

Ich will alle diese Fragen hier nicht beantworten, ich will Ihnen nur zeigen, was sinnvollerweise in einer Wissenschaft gefragt wird, die man der Soziologie angliedern kann, vorausgesetzt, daß die betreffenden Soziologen etwas von Medizin verstehen. Oder man kann sie der Medizin anhängen, vorausgesetzt, daß die Mediziner etwas von Soziologie verstehen, und das erwarten wir ja z.B. von den Hygienikern. In der Regel finden Sie, daß die schönsten sozialanthropologischen Studien von Hygienikern, also innerhalb der medizinischen Fakultät, gemacht werden. Da handelt es sich also um eine Kombination biologischer und soziologischer Fragen, die mit einigem Recht als selbständige Wissenschaft auftritt. Ich hoffe, Ihnen jetzt einen gewissen Überblick über das gegeben zu haben, was sich innerhalb der Erfahrungswissenschaften Anthropologie nennt.

Nun sagte ich schon, daß in den Vereinigten Staaten die alte Verbindung von Völkerkunde, von Kulturforschung, Statistik, Brauchtumskunde und auch Soziologie erhalten blieb, allerdings unter Ausklammerung der anatomischen Seite; letztere ist dort, genauso wie bei uns, jetzt den medizinischen Fakultäten zugefallen. Aus diesem alten Konglomerat, das sich also nicht wie bei uns auf verschiedene Wissenschaften und Lehrstühle aufteilt, sondern das man gern in einem Griff behalten möchte, hat sich daher etwas entwickelt, wovon Sie heute in der Zeitung öfter lesen können und das sich ‹cultural anthropology› nennt, ‹Kulturanthropologie›. Das ist eine sehr interessante Forschungsrichtung, und sie wird praktisch vorwiegend an kleinen und übersehbaren Gesellschaften, also primitiven, aus sogenannten Naturvölkern bestehenden betrieben; teils in Amerika selbst, wo man unter den Indianern solche im Lande sitzen hat, teils sehr gern auch im Pazifischen Ozean, und man hat für diese Forschungen vorzügliche Spezialisten und riesige Mittel. Diese Völkchen bilden meist eigene Kulturen, sie werden von ganzen Stäben von Gelehrten besucht und in oft jahrelanger Arbeit erforscht. In Ozeanien, auf einzelnen kleinen Inseln, gibt es in sich komplette Kulturen, die man nach allen Dimensionen untersucht, nach Kopfzahl und Gesundheitsbefund, nach Brauchtum und Sitte, nach ihrer Sprache, die die betreffenden Forscher oft vorher in mühseligen Jahren erst erlernen, nach ihrem Verhalten, ihren Affekten und Leidenschaften, ihrer Moral, ihrer Kriminalität, ihrer Religion und Mythologie, ihrer Wirtschaftsweise und Arbeitsteilung. Sämtliche Dimensionen des sozialkulturellen Lebens werden vermessen, und daraus gewinnt man dann ganz außerordentlich interessante Monographien. Ein glänzendes Beispiel davon ist das weltberühmte Buch von RUTH BENEDICT‹Patterns of Culture›, ein kleines Büchlein, das uns drei sogenannte Naturvölker, die Dobu bei Neu-Guinea, einen Indianerstamm in Nordwest-Amerika und die Pueblos in Neu-Mexiko in der eben beschriebenen Weise schildert und einen erstaunlichen Reichtum von eindrucksvollen Beispielen menschlicher Intelligenz, Phantasie und Gestaltungskraft bei solchen Naturmenschen vor uns entstehen läßt. Die Arbeit erschien zuerst 1934 und liegt jetzt als Band 7 der rde unter dem Titel ‹Urformen der Kultur› in deutscher Übersetzung vor. Das nenne ich Ihnen als ein ausgezeichnetes und mit Recht weltberühmt gewordenes Beispiel dieser kulturanthropologischen Forschungsrichtung, von der Sie jetzt also wissen, daß in ihr die ursprüngliche Einheit aller Fragen nach dem Menschen (unter Ausklammerung der anatomischen und stammesgeschichtlichen Probleme) erhalten und konserviert, ja weiterentwickelt worden ist. Bei uns in Deutschland bekümmert man sich neuerdings auch um diese Seite der Forschung. Solche sehr ergiebigen Methoden haben in der Tat zu einem Innenverständnis fremdartiger Kulturen geführt, und man hat sich in den Vereinigten Staaten die kühne und großzügige Frage vorgelegt, ob man nicht dieselben Methoden, die man so wirkungsvoll an übersehbaren kleinen, unter einfachen Verhältnissen lebenden Völkern ausprobiert hat, auch auf eine moderne Riesengesellschaft anwenden kann, z.B. auf die hochzivilisierte nordamerikanische selber. Und das hat man getan. Rätselhafte Züge des amerikanischen Lebens, die wir nicht so leicht verstehen, wie z.B. die große politische Rolle, die dort die Frauenvereine spielen, oder die Erfolgseinstellung der Amerikaner oder ihr pädagogischer Eifer werden da in einem inneren Zusammenhang sehr klar in einer Arbeit übersehbar, die ich jetzt gleich anschließend nenne, das ist Band 9 der rde, ein Buch von G. GORER: ‹Die Amerikaner›, es bietet ein gutes Beispiel dieser kulturanthropologischen Forschungsrichtung in ihrer Anwendung auf ein großes, modernes, hochzivilisiertes Volk.

Sie werden sich hoffentlich in der Fülle der Absichten und Fragestellungen, die sich alle Anthropologie nennen, nicht verlaufen haben. Wir brauchen auch nur ganz wenige Hauptgedanken nochmals herauszustellen, nämlich daß es eine mehr anatomisch-biologische Seite der Sache gibt und eine kulturkundlich-völkerkundlich-soziologische Seite; daß diese Themen ihren früheren Zusammenhang, in dem sie noch bei KANT standen, gelöst haben, indem sie sich in mehrere Fächer trennten; aber die kulturkundlich-völkerkundliche Betrachtung, verbunden mit gesellschaftswissenschaftlichen Fragestellungen, ist die Methode einer sehr leistungsfähigen und sehr komplexen Forschungsrichtung, der Kulturanthropologie geblieben, wie sie die Amerikaner betreiben. Ich bin nicht ethnologischer Fachmann, aber ich habe den Eindruck, daß diese Forschungsrichtung bei uns auf die isoliert gebliebene Völkerkunde einen wichtigen und befruchtenden Einfluß haben wird.

Zur Geschichte der philosophischen Anthropologie

Was ich Ihnen bisher darstellte und klarzumachen suchte, ist eigentlich nichts anderes als eine von vornherein in einer Wissenschaft, die sich um den Menschen kümmert, auch zu vermutende Doppelseitigkeit der Fragestellung. Es gibt evidenterweise da eine biologische und eine kulturwissenschaftliche Thematik. Diese alte Verbindung, in der man die beiden Seiten der Sache zunächst sah und in der KANT sie noch sah, ist ja wohl nicht zufällig, sie hat sicher ihr gutes Recht. Der Mensch ist ein kompliziertes Wesen, bei dem diese beiden Aspekte offenbar von gleicher Bedeutung sind. Es entstand daher die Frage, ob man nicht eine Vorstellung, ein Bild des Menschen entwickeln kann, wenn man diese beiden Hauptaspekte wieder zusammenführt, indem man etwa die kulturschöpferische Aktivität eines biologisch gerade so verfaßten Wesens und seine biologische Struktur sich gegenseitig erklären läßt. Ich lasse diese Frage jetzt im Moment liegen, nehme sie nachher wieder auf und führe sie hier ein, um zu sagen: ganz wohl war philosophischen Köpfen bei dem Auseinanderfallen unserer Wissenschaft eben doch nicht. Ich wende mich nun zuerst einer kurzen Darstellung der Entwicklung zu, die in der philosophischen Anthropologie im engeren Sinne vor sich gegangen ist. Bisher nämlich habe ich nur von Forschungsinteressen berichtet, die sich Anthropologie nennen, die aber allesamt fachwissenschaftlicher Art sind und empirische Fragestellungen und Untersuchungen anstellen, indem sie jeweils gewisse Seiten des Gesamtthemas ‹Mensch› herausstellen. Nun gibt es aber auch eine philosophische Anthropologie. Sie liegt eigentlich allein in meinem Thema, ich mußte aber doch auf die anderen Dinge eingehen, gerade um Ihnen die neueren Fragestellungen dieser philosophischen Anthropologie nahezubringen.

Beginnen wir nunmehr mit einer kurzen Entwicklungsgeschichte. Eine Theorie oder eine Idee vom Menschen hatte die europäische Philosophie selbstverständlich und im Sinne der Geschichte unserer Kultur zwangsläufig mit der Theologie sehr lange gemeinsam, ja so lange, als beide Disziplinen noch zusammengingen und sich die Philosophie von der Theologie noch gar nicht emanzipiert hatte, also bis in das 17. Jahrhundert. Bis dahin gibt es keine philosophische Anthropologie, es gibt aber natürlich innerhalb der Theologie eine Frage nach dem Menschen. Hier handelt es sich also ausdrücklich nicht um Erfahrungswissenschaft. Ich darf Ihnen diese Ansicht kurz ins Gedächtnis zurückrufen: Der Mensch nach theologischer Ansicht und so, wie er in der scholastischen Philosophie von der Theologie her gesehen wurde, ist ein Geschöpf Gottes. Gott hat den Menschen unmittelbar geschaffen, indem er mit einem materiellen Leib eine geistige, individuelle und unsterbliche Seele vereinigt hat. Von den so erschaffenen Stammeltern stammen alle Menschen dem Leibe nach ab, während die Seele jedes einzelnen Menschen auch weiterhin unmittelbar erschaffen wird. Das ist die dogmatische christliche Ansicht.

Sie sehen sofort, daß das nicht irgendwelche Erfahrungssätze sind, die hier ausgesagt werden, und solange die Philosophie eigentlich nur als interpretierender Teil der Theologie Bestand hatte, war sie selbstverständlich an diese Ansicht gebunden. Aber die Philosophie hat sich nun doch im 17. Jahrhundert mit DESCARTES von der theologischen Bindung emanzipiert, ohne atheistisch zu werden, und zwar so, daß dieser das Schöpfungsthema, ohne es zu bestreiten, gar nicht ausdrücklich aufwarf und nicht behandelte, es sozusagen in die Klammer setzte, und indem er im Sinne der neuentdeckten Naturwissenschaften den Leib des Menschen als einen Körper unter anderen Körpern interpretierte. Man kam auf diese Weise zu einem strengen Dualismus: der Mensch ist eine Maschine, von einem Geiste beseelt. Auf die Frage, wie das zustande komme, ging DESCARTES, wie gesagt, gar nicht ausdrücklich ein. Aber diese dualistische cartesische Lehre, die für uns zunächst bedeutsam ist, weil sie die Emanzipation der Philosophie von der Theologie bezeichnet, sie hat noch ein zweites Interesse: das Schema war nämlich ungemein dauerhaft, weil es dualistisch war und deswegen – ich möchte sagen – eine gewisse empfehlenswerte Primitivität hatte. Es ließ sich nämlich ganz von theologischen Gedankengängen, denen DESCARTES noch in mancher Hinsicht gefolgt war, ablösen, und dann gewann man ein wundervoll brauchbares einfaches Modell. Auf der Innenseite konnte man auf die Psychologie und die Geisteswissenschaften hinweisen: jawohl, der Mensch hat eine Seele, damit beschäftigt sich die Psychologie, mit ihren Ausdrucksformen beschäftigen sich Sprachwissenschaften, Logik und andere Geisteswissenschaften. Soweit diese psychologisiert werden konnten, war es möglich, sie auf der einen Seite dieses Dualismus zusammenzufassen, und den Leib überließ man den Medizinern, den Biologen, den Physiologen und Chemikern. Dann konnte man die ganze Universität in diesem Schema unterbringen, mit Ausnahme der theologischen Fakultät, die hatte man ja ausdrücklich schon lange ausgegliedert. Diese Tatsache, daß der Kosmos der Wissenschaften sich auf ein einfaches, dualistisches Schema verteilen ließ, machte dieses Schema außerordentlich langlebig und brauchbar. Man konnte das Ganze auch noch zu einem Vulgärdualismus vereinfachen, der heutzutage weltanschauungsähnlich sehr verbreitet ist, der Ihnen auf Schritt und Tritt entgegenkommt, und wenn Sie versuchen, sich von ihm zu emanzipieren, dann erscheint er in Form eines Einwandes. Durchbrochen wurde diese Entwicklung nur zeitweise und kurzfristig, in Deutschland durch den deutschen Idealismus, jene philosophische Epoche, die sich an die Namen KANT, FICHTE, HEGEL und SCHELLING knüpft. Sie haben nicht dualistisch philosophiert, sondern sie haben den Menschen noch einmal völlig spiritualisiert, und zwar deswegen, weil sie die Philosophie wieder an die Theologie heranführen wollten, was der spätere FICHTE, HEGEL und SCHELLING ausdrücklich als ihr Interesse in Anspruch nahmen; aber schon SCHOPENHAUER, der letzte in der Reihe, wurde wieder Dualist, wenn auch gegen seinen Willen, und so stand die Sache am Anfang dieses Jahrhunderts.

Sie sehen, in einer einigermaßen übersehbaren Entwicklung habe ich Ihnen jetzt eine kurze Geschichte der philosophischen Anthropologie skizziert, die, zunächst noch unselbständiger Teil der Theologie, sich noch gar nicht so nennt. Aber in dem Augenblick, in dem die Philosophie anfängt, sich von der Theologie zu emanzipieren, wird ja die Frage: Was ist der Mensch? in neuen Kategorien aufzuwerfen und zu beantworten sein. Und das tat DESCARTES etwa mit der Formel ‹Der Mensch ist eine Maschine, in der ein unsterblicher Geist wohnt›. Mit diesem Dualismus war wenigstens eine Antwort gegeben, und sie erwies sich jetzt als anwendbar für eine dualistische Organisation aller Wissenschaften, die entweder Geistes- oder Naturwissenschaften sein konnten. Daher auch die außerordentliche Lebensdauer dieses cartesischen Schemas.

Schelers Antwort auf die Frage nach dem Menschen

Damit sind wir am Anfang dieses Jahrhunderts angelangt, und jetzt erschien 1928 ein kleines Werk des Philosophen MAX SCHELER, es hieß ‹Die Stellung des Menschen im Kosmos›. Es erschien im Todesjahr dieses berühmten Philosophen und brachte eine merkwürdige und erstaunliche Wendung, indem es den Menschen nicht in Vergleich oder in Beziehung zu Gott interpretierte, sondern indem es nach dem Wesensunterschied von Mensch und Tier fragte. Das Büchlein von SCHELER ist in dieser Hinsicht sehr interessant und epochemachend, weil es die Frage nach dem Menschen nicht als solche zur Diskussion stellte, sondern einen Vergleich zum Problem machte. Der Mensch in Beziehung auf etwas gesehen – nicht in der Ähnlichkeit zu Gott, sondern in dem Gegensatz zum Tier wurde der Mensch interpretiert. SCHELER fragte also nach dem Wesensunterschied dieser beiden Seinsweisen, und indem er das tat, wurde sofort das biologische Problem wieder in die Frage nach dem Menschen eingeführt, eben dieses biologische Problem, das man gewöhnt war, den Zoologen oder Medizinern als sogenannte ‹physische Anthropologie› zu überlassen. Und SCHELER sagte nun: was den Menschen zum Menschen mache, sei im Vergleich zu den intelligentesten Tieren weder Intelligenz noch Phantasie noch Gedächtnis, denn in Intelligenz, Phantasie, Gedächtnis, Wahlfähigkeit, Werkzeuggebrauch – in all diesen Dingen bestehe nur ein Gradunterschied zwischen den höchsten Tieren und den Menschen, aber kein prinzipieller Unterschied. Das besondere menschliche Prinzip, das den Wesensunterschied setze, sei vielmehr ein dem Leben überhaupt entgegengesetztes, das er Geist nannte. Das Wesen aber des Geistes bestimmte er als seine Ablösbarkeit vom Drucke des Biologischen, seine Ablösbarkeit von der Abhängigkeit vom Leben: ein geisttragendes Wesen ist nicht mehr triebgefesselt, es geht nicht mehr wie ein Tier in seiner Umwelt auf, sondern es vermag die Umwelt zur Gegenständlichkeit zu erheben, sich von ihr zu distanzieren. Diese Sachlichkeit, diese Freiheit von innen her, die Bestimmbarkeit des menschlichen Erkennens und Handelns durch das So-Sein der Dinge selbst, gleichgültig ob sie ein biologisches Interesse haben oder nicht, das sei das spezifisch Menschliche.

Daher sagte SCHELER: Der Mensch hat die ‹Welt›, hat eine offene Sphäre von Sachen um sich, er ist ‹weltoffen›; auch sich selbst kann der Mensch vergegenständlichen, er hat Selbstbewußtsein, und dieses Sichselbst-Vergegenständlichen, Distanz-zu-sich-Nehmen, dieses Sich-Verfremden und Neben-sich-Stellen mache ihn schließlich auch fähig, zu sich selbst und zu den Lebenserscheinungen in ihm nein zu sagen, seine eigenen Antriebe und Strebungen zu hemmen, mache ihn der Möglichkeit nach zu einem moralischen Wesen. Er ist ein ‹Nein-Sager› zum Leben in sich selbst, wenigstens der Möglichkeit nach, und fähig, sich prinzipiell asketisch zu verhalten, die Triebimpulse in sich unterdrückend oder doch regulierend. Erst durch diese Selbstversagung gewinne der Geist seine eigentliche Energie. Darauf kam es SCHELER sehr an, der Geist erschien ihm in seinen letzten Lebensjahren in der Tat als eine Art Widersacher des Lebens. Nicht diese großzügigen Ansichten allein, sondern der Einbau vieler damals aktueller Erkenntnisse, zumal aus den Bereichen der Biologie und der Psychoanalyse, sicherten dem Buch sofort eine durchschlagende Beachtung.

Ich bitte, als neue Resultate SCHELERs im Gedächtnis zu behalten, daß er den Hintergrund, die Folie tierischen Lebens entwarf, ferner die Lehre von der Weltoffenheit des Menschen und auch die Behauptung, daß das Seelische, nämlich Empfindung, Phantasie, Gedächtnis, Gefühl usw. Lebenserscheinungen seien, dem Wesen nach von den eigentlich biologischen nicht unterschieden, während der Geist etwas schlechthin anderes bedeute. Das alles war weitgehend überzeugend und meisterhaft dargestellt. Aber man sieht gleich, daß SCHELER den Dualismus, der ja altbekannt war, im Grunde nur verschob. Er lag jetzt nicht mehr zwischen ‹Leib› und ‹Seele›, sondern er lag jetzt zwischen dem ‹Geist› auf der einen Seite und dem beseelten Leib auf der anderen, und SCHELER verschärfte ihn sogar so weit, daß er den Geist ganz ausdrücklich dem Leben entgegensetzte. Dieses ‹Zentrum› aber, sagte er, von dem aus der Mensch die Erkenntnisakte vollzieht, durch die er die Welt, seinen Leib und seine Seele vergegenständlicht, dieses Zentrum könne nicht selbst ein Teil dieser Welt sein, es könne nur in einem metaphysischen Seinsgrund gelegen sein, über den er nichts weiter aussagte. Der Geist war dann nicht nur etwas anderes als das Leben, er war eigentlich bei SCHELER etwas anderes als die Welt geworden, das bloß noch in einem Jenseits, über das er keine Aussagen machte, mit dem Leib und der Seele des Menschen zusammenhängen konnte.

II

Der Mensch als handelndes Wesen

Der vorhin erwähnte Umstand, daß bei SCHELER doch schließlich ein metaphysischer Dualismus zwischen dem Geist auf der einen Seite und der Leib-Seele auf der anderen herauskam, schien eigentlich alle Gewinne in Frage zu stellen, und es entstand das Problem, das man heute, wenn man zurücksieht, vereinfachend fast als ein Problem der Fragestellung darstellen könnte: ob man nämlich nicht in der Anthropologie weiterkäme, wenn man, genauso wie früher einmal der theologische Aspekt neutralisiert wurde, jetzt darüber hinaus versuchte, jeglichen Dualismus zu vermeiden. Denn offenbar dachte man ja innerhalb eines Dualismus doch immer im Kreise, die möglichen Problemstellungen schienen übersehbar und auch erschöpft zu sein. Über die Frage, wie sich Leib und Seele, oder Leib, Seele und Geist letztlich und metaphysisch zueinander verhielten, war trotz jahrhundertelangen Nachdenkens nichts zu erfahren gewesen, und so konnte man ja versuchen, jede Fragestellung und Begriffsbildung zu suspendieren, die in Richtung eines solchen Dualismus führte. Es ist ja doch eindrucksvoll, wenn ein vielhundertjähriges Nachdenken über die Beziehungen beider Seiten im Menschen zu keinen überzeugenden Resultaten geführt hat; und auch SCHELERs Hypothese erschien kaum als hoffnungsvoller.

Es ist in den empirischen Wissenschaften, und als solche wollte ich die Philosophie ansehen, ein legitimes Verfahren, wenn man die Fragestellung einmal ändert. Ja, aus gewissen Beispielen in der Physik, aber auch in der Psychologie konnte man erwarten, daß sich gerade durch Änderungen der Art, wie man fragte, die verblüffendsten Resultate erreichen ließen. Könnte man nicht, so ließ sich jetzt formulieren, eine Art Schlüsselthema finden, bei dem das Leib-Seele-Problem überhaupt nicht aufgeworfen würde; und das müßte ein erfahrungswissenschaftlich zu behandelndes sein, wenn man den Vorteil wahrnehmen wollte, zugleich mit dem Dualismus überhaupt alle metaphysischen, d.h. unbeantwortbaren Fragen auszugrenzen. Und als einen solchen Ansatz empfahl sich die Handlung, d.h. die Auffassung des Menschen als eines primär handelnden Wesens, wobei ‹Handeln› in erster Annäherung die auf Veränderung der Natur zum Zwecke des Menschen gerichtete Tätigkeit heißen soll. Dies also schlug ich vor, nicht unbeeinflußt von einer Pragmatismus genannten amerikanischen philosophischen Richtung[*], behielt aber sonst zwei Hauptthesen SCHELERs bei, nämlich den Ausgangspunkt von dem Vergleich zwischen Mensch und Tier und die Lehre von der Weltoffenheit, d.h. von der Beeindruckbarkeit durch beliebig mannigfache Außenweltdaten, auch dann, wenn sie biologisch gleichgültig oder gar schädlich sind. Es ergab sich dann, wenn man in den Konsequenzen dieser veränderten Fragestellung weiterdachte, etwa die folgende Auffassung: zunächst eine scharfe Unterscheidung von Mensch und Tier, denn in aller Regel sind Tiere durch festgelegte, angeborene Instinkte auf je artbesondere, ihnen arteigene Umwelten eingeschränkt. Denken Sie etwa daran, daß die Umwelten der Spinne, der Elster und des Rehs in demselben Walde nichts miteinander zu tun haben: keine dieser Arten bemerkt das, was die andere wahrnimmt, keine verhält sich ähnlich der anderen, jede Art dagegen nimmt mit angeborener Sicherheit und angeborener Engigkeit nur das auf, was ihr lebenswichtig ist, was an Unterschlupf, an Partner, Feind, Beute ihr zugemessen ist. Und innerhalb dieses Kreises, eines ja sehr engen, verhält sich das Tier mit angeborener Richtigkeit, und eben das nennen wir ‹instinktiv›. Und auch seine Lernfähigkeit, soweit sie vorhanden ist, arbeitet innerhalb dieses angeboren festgelegten Rahmens[*].

Nun kann man auf dieser Folie ganz gut den Menschen sich abheben lassen und seine Sonderstellung in der Natur einsehen, wenn man sich klarmacht, daß der Mensch schon physisch durch seine mangelhafte Ausstattung mit organischen Waffen oder organischen Schutzmitteln, durch die Unsicherheit und den rückgebildeten Zustand seiner Instinkte, durch die bescheidenen Sinnesleistungen so qualifiziert ist, daß ich es für vertretbar hielt, den einmal von HERDER verwendeten Ausdruck ‹Mängelwesen› in dieser Beziehung anzuwenden. Wie es nun einmal das Schicksal solcher überprägnanter Formeln ist, gerade dieser Begriff hat sich inzwischen verselbständigt und führt ein Eigenleben, nicht ganz mit meiner Zustimmung. Das jedenfalls kann man sagen: der Mensch wäre, der rohen Natur wie ein Tier ausgesetzt, mit seiner ihm angeborenen Physis und seiner Instinktmangelhaftigkeit unter allen Umständen lebensunfähig. Kompensiert werden diese Mängel aber durch die Fähigkeit, die der dringendsten Notwendigkeit entspricht: diese rohe Natur, und zwar jederlei beliebige Natur, wie immer sie beschaffen sein möge, so zu verändern, daß sie ihm lebensdienlich wird. Seine aufrechte Haltung, seine Hand, die einzigartige Lernfähigkeit, die Plastizität seiner Bewegungen, seine Intelligenz, seine Sachlichkeit – die SCHELER gemeint hatte –, die ‹Offenheit› seiner zwar wenig leistungsfähigen, aber nicht auf das nur Instinktwichtige eingeengten Sinne, alles das kann als ein System betrachtet werden, als ein Zusammenhang, der den Menschen befähigt, unter allen denkbaren Außenumständen, im Urwald, im Sumpf, in der Wüste oder wo immer, in arktischen Zonen oder unter dem Äquator die jeweils vorhandenen Naturkonstellationen intelligent so zu bearbeiten, daß er sich halten kann.

Zur Verdeutlichung dieses Gedankens ist vielleicht ein Begriff ganz nützlich, der im Umkreis VICTOR V.WEIZSÄCKERs in Heidelberg, also eines Mediziners, zu der Zeit aufkam: der ‹Handlungskreis›. Ich sagte vorhin, daß sich die Handlung als ein Schlüsselthema des Menschen angeboten hätte, und habe eben diesen Gesichtspunkt der Handlung als der eigentlich kulturbegründenden Naturveränderung erläutert, eines biologisch notwendigen Vorgangs, weil ein so problematisch von der Natur ausgestattetes Wesen die veränderte Natur zur Stütze seiner eigenen, fragwürdigen Lebensfähigkeit einsetzen muß.

Ich sehe jetzt die Handlung noch unter einem anderen Gesichtspunkt an; der Handlungskreis ist ganz einfach darzustellen, etwa an folgendem Beispiel: Wenn Sie mit einem Schlüssel an einem Schloß herumprobieren, so gibt es eine Folge von sachlichen Veränderungen, die in der Ebene von Schlüssel und Schloß vor sich gehen, wenn es etwa klemmt, und Sie müssen noch etwas hin- und herprobieren. Dabei gibt es eine Serie von Erfolgen oder Mißerfolgen in der Sachebene, die Sie aber sehen und hören und fühlen, die also zurückgemeldet werden, die Sie wahrnehmen; und nach dieser Wahrnehmung wieder verändern Sie die Zugriffsrichtung Ihres Handelns, verändern Sie Ihre Probierbewegungen, und schließlich kommt dann doch in der Sachebene der Erfolg, und das Schloß schnappt auf. So geht der Vorgang im Kreise, d.h. man kann einen solchen Vorgang als einen einzigen Kreisprozeß beschreiben, der läuft dann aber über psychische Zwischenglieder, die Wahrnehmungen, und über motorische Zwischenglieder, die Eigenbewegungen, in die Sachebene weiter und zurück.

An diesem Beispiel habe ich vielleicht klargemacht, daß man, wenn man von der Handlung spricht, den ganzen Dualismus einfach ausklammert. Eine Zerlegung des Vorganges in Leibliches und Seelisches würde nichts beitragen und bei der Beschreibung nur hindern, genauso, wie jede Reflexion auf diesen Unterschied während des Vollzuges, beim Probieren mit dem Schlüssel, nur stören würde. Das Handeln selber ist – würde ich sagen – eine komplexe Kreisbewegung, die über die Außenweltsachen geschaltet ist, und je nach der Rückmeldung der Erfolge ändert sich das Verhalten. Man kann hier sehr gut zeigen, daß im Vollzuge der Handlung jederlei Reflexion, die nicht in eine Änderung der Zugriffsrichtung zum Zwecke glatteren Verlaufes übergeht, nur Hemmungen setzt. Da aber alle menschliche Arbeit nach diesem eben gebrauchten Modell des Mannes mit dem Schlüssel in Handlungskreisen abläuft, vom Feuerbohren bis zum Häuserbauen, so hatten wir ja nun eine Basis, die uns gestattete, über den Menschen nachzudenken, ohne in solche dualistische Formeln zurückzufallen, wie sie SCHELER ja doch noch mitzog[*].